Illustrationen von Stefani Kampmann

KOSMOS

Umschlagillustration von Stefani Kampmann, Berlin

Umschlaggestaltung von Michael Kimmerle, Stuttgart

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© 2013, Franckh-Kosmos Verlags-GmbH & Co. KG, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-440-13718-5

Satz: DOPPELPUNKT, Stuttgart

eBook-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

„Scharf!“

Ağan Enç sah Jenny aus großen Augen bewundernd an. Das blonde Mädchen mit der hellen Haut trug einen schwarzen Overall, auf dessen Rückseite die Anfangsbuchstaben ihres Vor- und Nachnamens in einem verschlungenen Muster geheimnisvoll leuchteten. Das „J“ und das „S“ wanden sich umeinander wie zwei glänzende Schlangen. Darunter stand in knallroten Buchstaben: Racing Team.

„Jenny Schneider Racing Team“, sagte Ağan und schnalzte mit der Zunge. „Klingt ziemlich gut. Das heißt auf Deutsch: Jenny Schneider Rennmannschaft, ja?“

Jenny nickte lässig. „In der Rennfahrerszene spricht man meistens Englisch. Ist irgendwie cooler. Die Buchstaben habe ich aus echter Seide gemacht. Aus einem alten Kleid von meiner Oma, das sie früher beim Tanzen anhatte.“

„Lieber seine alten Kleider flicken, als neue borgen!“, bestätigte Ağan.

„Was?“

„Das sagt mein Vater manchmal. Und da sieht man mal wieder, dass Sprichwörter nicht lügen. Du siehst nämlich in deinem selbstgemachten Anzug genauso schön aus wie eine Schlangenbeschwörerin oder ein Fakir in einem ganz neuen Gewand.“

Jenny runzelte die Stirn. „Wieso denn wie ein Fakir? Das sind doch die Typen, die auf einem Nagelbrett schlafen!?“

„Ja“, sagte Ağan. „Aber es würde mich nicht wundern, wenn du in deinem schönen Rennanzug ähnliche Wunder vollbringst.“

Jenny warf ihm ein strahlendes Lächeln zu. Die beiden Freunde waren auf dem Weg zu Addi Felsfisch, dem Dritten der Unsichtbar-Affen, wie sich die Detektivbande seit ihrem ersten erfolgreich gelösten Fall nannte. Frühlingsduft durchzog die gewundenen Kopfsteinpflasterstraßen des Villenviertels im Berliner Grunewald, das sie durchquerten. In einem dieser Prachtbauten wohnte Addi zusammen mit der Haushälterin Emma, seinem meist abwesenden Vater und dem Geoffroy-Klammeraffen Goffi, einem ausgebildeten Taschendiebaffen aus Kirgistan, den Addis Vater einmal von einer Geschäftsreise mitgebracht hatte.

Plötzlich meinte Ağan: „Aber Jenny, wieso eigentlich Racing Team? Ein Team sind doch immer mehrere. Und du bist doch nur eine …“

„Na ja …“ Jenny hob die rechte Hand und ließ sie Ağan locker auf die Schulter fallen. „Nicht, wenn du mitmachst!“

Der schmächtige Junge blieb überrascht stehen. „Du meinst mit meinem Board?“ Ağan trug wie immer, wenn er nicht darauf fuhr, sein Skateboard im Rucksack bei sich.

„Eher weniger“, erwiderte Jenny. „Es geht nämlich um eine ganz andere Art von Rennen. Und, ehrlich gesagt, sollst du auch nicht mitfahren. Ich dachte, dass Addi und du als meine Mechaniker dabei sein könntet. Aber das erkläre ich euch beiden gleich zusammen. Ich habe nämlich keine Lust, alles zweimal zu sagen. Okay?“

„Okay“, nickte Ağan, fügte aber noch hinzu: „Obwohl ich mir kaum vorstellen kann, dass Addi als dein Mechaniker arbeiten will.“

Jenny grinste. „Auch nicht, wenn es seine einzige Chance ist, bei einem absolut sensationellen, ultramäßig coolen Rennen dabei zu sein, das es jedes Jahr nur genau ein einziges Mal gibt?“

„Auch dann bleibt es abzuwarten“, meinte Ağan. „Addi liebt es nämlich nicht besonders, für andere zu arbeiten.“

Jenny biss sich auf die Lippen. Ağan hatte mit seinen Bedenken wahrscheinlich recht. Aber auch sie hatte ja immer noch einen ziemlich überzeugenden Trumpf im Ärmel …

Wenig später standen Jenny und Ağan vor dem schweren schmiedeeisernen Tor, das die Villa Felsfisch vom Rest der Stadt abgrenzte.

„Das ist wirklich eine einsame Burg.“ Wie jedes Mal, wenn sie hier ankam, schüttelte Jenny beim Anblick der Villa den Kopf. „Ich denke immer wieder, Addi müsste gleich in einer Ritterrüstung und mit einer Armbrust bewaffnet oben auf dem Dach erscheinen.“ Sie drückte auf den goldenen Klingelknopf und lauschte, wie der Gong allmählich in den Tiefen des Hauses verklang.

Kurz darauf wurde die Haustür geöffnet und Addis blonder Schopf erschien.

„Da seid ihr ja endlich! Ich dachte schon, ihr habt euch verlaufen. Und dabei gibt es doch angeblich so was irre Wichtiges, oder?“ Neugierig sah er Jenny an.

Noch ehe diese antworten konnte, schoss ein graues Wesen aus der großen Eingangshalle hervor und sprang mit einem gewaltigen Satz über Addis Schulter direkt in Ağans Arme.

„Goffi!“ Ağan fing den kleinen Affen auf und fuhr ihm zärtlich über den Kopf. Sogleich begann Goffi zufrieden und wohlig zu knurren.

Grinsend beobachtete Addi die beiden. „Wenn Goffi dich sieht, Ağan, wird er echt zu einer verliebten Katze. Fehlt nur noch, dass er schnurrt.“

„Goffi spürt eben, dass ich ihn ins Herz geschlossen habe.“ Ağan lächelte glücklich, wie immer, wenn der kleine Affe ihn begrüßte.

„Was hat Ağan nur, was ich nicht habe?“ Addi sah Jenny kopfschüttelnd an. Dabei fiel sein Blick auf ihren Overall. „Was hast du denn da an? Bist du unter die Handwerker gegangen? Pass bloß auf! Wenn Emma dich so sieht, fragt sie dich bestimmt, ob du ihr den tropfenden Wasserhahn im Keller reparierst.“

Jenny verdrehte die Augen und stolzierte hocherhobenen Hauptes an Addi vorbei. „Das ist kein Monteuranzug, sondern ein Rennstalloverall!“

Addi folgte ihr mit Ağan und Goffi in die kühle Eingangshalle, unter deren Decke ein gewaltiger Kronleuchter hing. „Rennstall? Was denn für ein Rennstall? Bist du jetzt ein Pferdemädchen geworden?“

Jenny blieb stehen und holte tief Luft. „Überhaupt nicht. Obwohl ich jede Wette halte, dass ich besser reiten kann als du. Nein, es geht um was ganz anderes. Übrigens extrem cool und absolut einmalig.“ Sie legte eine kunstvolle Pause ein. „Ich habe nämlich bei mir an der Schule einen Startplatz für das große Berliner Seifenkistenrennen erobert. Und dafür brauche ich zufällig noch zwei Mechaniker.“

Addi bekam große Augen. „Du machst beim Seifenkistenrennen mit?“

„Ja, und wenn du willst, kannst du als mein Mechaniker auch mit dabei sein.“

„Das, äh … das wird schlecht möglich sein.“ Addi pustete sich das Haar aus der Stirn. Dann platzte er heraus: „Da fahre ich nämlich selbst mit! Für meine Schule!“

Jenny zuckte zusammen. „Echt? Ist das wahr?“

Ağan sah auf. Er konnte sehen, wie es auf einmal in den Augen seiner beiden Freunde konkurrenzmäßig glitzerte, als stünden sie unmittelbar vor einem Tennismatch auf Addis Platz im Garten der Villa. „Heißt das, ihr beide fahrt ein Rennen gegeneinander? In Seifenkisten?!“

„Könnte wohl sein“, nickte Jenny.

Addi ballte die Fäuste. „Geil! Ich werde dich hinter mir lassen wie einen blinden Regenwurm, Jennymädchen.“

„Oh, du Oberträumer!“ Jenny richtete sich hoch auf: „Du wirst mein Gummi riechen, wenn ich an dir vorbeizische!“

„Haha!“ Addi lachte auf. „Du fährst also auf Vollgummireifen? Tut mir ja leid, dass ich dich enttäuschen muss, aber ich fahre auf richtigen Luftreifen! Und die rollen viel schneller.“

Verständnislos blickte Ağan zwischen seinen Freunden hin und her. Wovon redeten die beiden da? Aber natürlich nutzten sie die Gelegenheit mal wieder, um sich zu beweisen, wie gut sie waren und was sie alles konnten.

Auch Goffi spürte die Konkurrenz. Der kleine Affe sprang davon in den großen Kronleuchter, und es klirrte leise, als er sich zwischen den glänzenden Kristallstücken anklammerte. Aus seinem glitzernden Versteck beobachtete er die Unsichtbar-Affen.

Jenny grinste Addi breit an. „Ich fahre selbstverständlich auch auf Luftreifen! Trotzdem haben die einen Gummimantel, du Schlaumeier. Du hast doch wohl nicht gedacht, ich hätte Vollgummireifen. Ist doch Baby!“

„Ach, so?“ Addi drückte die Schultern durch. „Na ja. Ich werde dich auch so gründlich eintüten. Und eins kannst du dir auf alle Fälle abschminken – ich werde bestimmt nicht dein Mechanikerhansi.“ Er wandte sich Ağan zu. „Und du musst das auch nicht machen. Wenn du willst, kannst du nämlich mein Mechaniker sein!“

„Ne gezer!“, rief Ağan.

Jetzt sahen Jenny und Addi ihn fragend an.

„Das ist türkisch und heißt: Ich glaube es nicht!“ Ağan lächelte freundlich. „Ihr spinnt beide komplett, wenn ihr denkt, ich würde bei einem von euch Mechaniker. Außerdem könnt ihr in euren Seifenkisten noch so schnell sein, auf meinem Board lasse ich euch sowieso hinter mir. Ich bin leichter und wendiger, rolle schneller und das übrigens mit echten Vollgummireifen. Ja, ich bin der albtraumhafte Vollgummi-Blitzdschinn auf Rollen, der euch beide locker überholt, in den Schatten stellt und –“

„Stopp!“, unterbrach ihn Jenny. „Keine Dschinns bitte.“ Sie verdrehte die Augen, denn Ağan hatte eine große Vorliebe für Geistergeschichten, und wenn er einmal davon anfing, konnte es Stunden dauern, bis er wieder damit aufhörte. „Natürlich bist du mit deinem Skateboard schneller als eine Seifenkiste. Aber so ein Seifenkistenrennen ist cool. Und es findet nur einmal im Jahr statt. Bei uns an der Schule haben wir dieses Mal sogar eine richtige Seifenkistenwerkstatt eingerichtet.“

Ağan lachte. „Ich bin dabei! Ich nehme Goffi mit und passe auf ihn auf, während ihr euch vorwärtsschneckt. Wann ist das Rennen denn?“

„Am Sonntag!“, riefen Jenny und Addi gleichzeitig.

„In drei Tagen“, fügte Jenny hinzu. Dann sagte sie mit Bedauern in der Stimme: „Ich wollte euch ja eigentlich fragen, ob ihr Lust habt, mit in unsere Werkstatt zu kommen und mir zu helfen, meine Seifenkiste fertig zu bauen. Aber wenn Addi da jetzt rumspioniert und sich was abguckt, geht das natürlich nicht mehr.“

Addi stemmte wütend die Hände in die Hüften. „Meine Seifenkiste ist schon längst fertig. Und ich muss überhaupt nichts abgucken!“

„Trotzdem!“ Jenny schüttelte den Kopf. „Unser bester Seifenkistenbauer sagt, es gibt immer was zu verbessern. Wie in der Formel 1.“

„Mein Wagen rollt mindestens Formel 1a“, entgegnete Addi. „Und er steht auch nicht in der Schule, sondern hier in der Garage. Ihr dürft ihn gerne sehen.“

„Hast du den etwa alleine gebaut?“ Erstaunt sah Jenny Addi an.

„Na ja …“ Addi wich ihrem Blick aus.

Plötzlich schlug sich Jenny mit der Hand gegen die Stirn. „Dein Vater hat dir eine fertige Kiste gekauft! Habe ich recht!?“

„Na und?“, fauchte Addi. „Die ist super gut. Mit der fege ich alle von der Piste. Außerdem ist das nicht schlimm, eine Seifenkiste geschenkt zu bekommen. Muss ja nicht jeder ein guter Konstrukteur sein.“

„Das ist wahr“, meinte Ağan. „Ich bin auch kein guter Handwerker. Aber neugierig auf eure Werkstatt in der Schule bin ich schon. Ich würde mir die wirklich gern angucken. Und ich finde, Addi darf das auch.“

Jenny knibbelte an den Spitzen ihrer langen blonden Haare. „Okay, dann zeige ich euch morgen unsere Werkstatt.“ Sie wandte sich Addi zu. „Aber du versprichst, dass du nichts, was du an meiner Seifenkiste siehst, an deiner nachbaust. Oder nachbauen lässt. Und deine Kiste will ich erst sehen, wenn du meine gesehen hast. Damit du später nicht sagen kannst, ich hätte mir was abgeguckt. Ist das klar?“

Addi verdrehte die Augen. „Ja, ja. Schon klar, Jennymädchen.“

„Gut!“ Jenny blitzte ihren Freund an. Dann meinte sie fröhlich: „Und jetzt schlage ich vor, dass wir eine Runde Tennis spielen. Da können wir uns schon mal warm laufen für das Rennen.“

Ağan grinste. „Sehr gut, ihr Kampfhähne. Oder sollte ich sagen Kampfhahn und Kampfhenne?“

Addi und Jenny sahen ihn an. Dann stürzten sie sich auf ihn. Lachend rannte Ağan voraus in den Garten.

Jennys Schule befand sich in einem grauen Gebäude in Lichtenberg, tief im Osten Berlins. Es war früher Freitagnachmittag, als die Unsichtbar-Affen den Schulhof betraten. Goffi saß auf Addis Schulter und sah sich aufgeregt um. Um die Schule herum ragten viele Hochhäuser auf, die lange Schatten auf den Hof warfen.

Jenny führte ihre Freunde in das Schulgebäude. Durch eine Glastür und das Treppenhaus ging es nach unten. Dort folgten die Unsichtbar-Affen einem langen Gang.

Plötzlich rümpfte Ağan die Nase. „Hier riecht es aber komisch.“

„Das ist wegen der Heizung“, sagte Jenny. „Die kann man nicht richtig ausschalten. Hier unten ist immer so warme Luft.“

„Auch im Sommer?“, fragte Addi.

„Ja, das ist so.“ Jenny blieb stehen und trat an einen Spind. „Da sind meine Sachen drin.“

„Puh!“ Addi wischte sich über das Gesicht. „Echt heiß hier.“

„Heiß ist cool!“, sagte in diesem Moment eine Stimme hinter ihm. „Also hör besser auf zu schwitzen.“

Addi drehte sich um. Vor ihm stand ein blonder Junge. Er war vielleicht drei oder vier Jahre älter als die Unsichtbar-Affen, trug einen verwaschenen Kapuzenpullover und sah Addi ein bisschen von oben herab an.

Das war ein Blick, den Addi überhaupt nicht leiden konnte. Und auch Goffi, der bis eben noch affenversonnen in Addis Haaren gespielt hatte, stand auf einmal das Fell zu Berge, und er spannte sich wie zum Angriff.

„Ruhig, Goffi!“, flüsterte Addi.

„Hallo Felix!“ Jenny klatschte den Jungen ab. Dann wandte sie sich wieder Addi und Ağan zu: „Felix ist der beste Seifenkistenpilot an unserer Schule. Der einzige, den ich bisher noch nicht geschlagen habe.“

Bisher?!“ Der blonde Junge grinste breit und trat an seinen Spind.