Verbotene Wege. Roman (9286) ·Die Sterne von Marmalon. Roman (9776) · Sturmzeit. Roman (41066) · Wilde Lupinen. Roman (42603) · Die Sünde der Engel. Roman (43256/44599) ·Die Stunde der Erben. Roman (43395) · Der Verehrer. Roman (44254) · Das Haus der Schwestern. Roman (44436) Die Täuschung. Roman (45142) · Die Rosenzüchterin. Roman (45583) · Der fremde Gast. Roman (45769) · Am Ende des Schweigens. Roman (46083) · Das Echo der Schuld. Roman (46853) · Die letzte Spur. Roman (46458) · Das andere Kind (Blanvalet,gebundene Ausgabe, 00279)
Charlotte Link ist die erfolgreichste deutsche Autorin der Gegenwart. Ihre psychologischen Spannungsromane in bester englischer Krimitradition (u.a. »Das Haus der Schwestern«, »Die Rosenzüchterin«, »Am Ende des Schweigens«) stehen regelmäßig über viele Monate an den Spitzen der Bestsellerlisten. Die zumeist mehrteiligen TV—Verfilmungen ihrer Bücher werden mit riesigem Erfolg im ZDF ausgestrahlt. Charlotte Link, seit vielen Jahren engagierte Tierschützerin, lebt mit ihrer Familie und ihren Hunden in der Nähe von Frankfurt/Main.
Obwohl David wie an jedem Abend eine Schlaftablette genommen hatte, wachte er bereits um drei Uhr morgens auf und wälzte sich ruhelos hin und her. Schließlich wurde auch Laura wach.
»Was ist denn? Kannst du wieder nicht schlafen?«
»Nein. Aber kümmere dich nicht um mich. Ich gehe rüber in mein Arbeitszimmer.«
»Du solltest einen Arzt aufsuchen, David. Es gibt ja kaum noch eine Nacht, in der du durchschläfst!«
»Ich war beim Arzt. Er hat mir diese Tabletten verschrieben, aber sie helfen nicht richtig. Wahrscheinlich brauche ich etwas Stärkeres. Aber mach dir keine Sorgen.« Er schob die Bettdecke zurück und stand auf. Im Dunkeln konnte er Lauras Gesicht nicht sehen, daher bemerkte er auch nicht ihre Feindseligkeit.
Ich mache mir bestimmt keine Sorgen, dachte sie.
Er ging in sein Arbeitszimmer, Andreas’ einstiges Arbeitszimmer, das er nach dessen Tod vor nunmehr beinahe einem Jahr völlig neu hatte einrichten lassen. Nur der Schreibtisch am Fenster war geblieben. Darauf stand eine gerahmte Fotografie von Andreas.
David setzte sich. Er war müde und er fror. Die Tabletten, die er inzwischen in rauhen Mengen schluckte, hatten eine seltsame Wirkung auf ihn; sie machten ihn schläfrig, nahmen ihm aber nichts von seiner Unruhe, er hätte hundert Jahre schlafen mögen, aber zugleich schlug ihm das Herz bis zum Hals.
»Ein Scheißzeug«, murmelte er, »Tabletten...sie machen einen immer kränker!«
Er war ein gutaussehender Mann, sehr groß, dunkelhaarig, mit schmalen, hellen Augen. Den Frauen fielen zuerst immer seine schönen Hände und seine breiten Schultern auf. Er war ein Mann, der um seine Wirkung auf Frauen wußte und sie gelegentlich nutzte. Jetzt aber, als er da übernächtigt am Schreibtisch kauerte, fühlte er sich eher miserabel. Seine Finger zitterten leicht, als er eine Schublade aufzog und die Pistole herausnahm, die zuoberst auf einem Berg gebündelter Briefe lag. Vorsichtig strich er über das schwarzglänzende Metall. Eine Spur Ruhe kehrte zurück.
Seit Andreas’ Tod konnte er nicht mehr schlafen. Seit er an jenem Neujahrsmorgen in die Wohnung zurückgekehrt war und ihn tot vor dem Schreibtisch gefunden hatte, schien ihm sein Leben aus der Bahn geraten zu sein. Beruhigungspillen wurden auf einmal seine ständigen Begleiter, retteten ihn über die Stunden hinweg, in denen ihn Schuldgefühle und Ängste peinigten. In denen er wieder und wieder die letzte Szene der Silvesternacht vor sich sah:
»Ich werde zu Laura gehen!« hatte er gesagt. Sein Blick war gleichzeitig auf den Schreibtisch gefallen, auf den Telefonapparat. Andreas kannte Lauras Telefonnummer; Laura wohnte damals in einem kleinen Appartement über dem Hudson, das David ihr bezahlte.
Und du wirst mich dort nicht stören, dachte David, nicht noch einmal!
Andreas hatte einige Male bei Laura angerufen, wenn er wußte, daß sich David bei ihr aufhielt. Es hatte ein paar unerfreuliche Szenen gegeben. In dieser Nacht wollte David sich nicht stören lassen.
Der Teppich verschluckte seine Schritte, als er zum Schreibtisch ging; außerdem spielte noch immer der Plattenspieler. Ein Handgriff, und er hatte das Telefon fort vom Schreibtisch auf den Aktenwagen in der Ecke gestellt. Nicht ausgeschlossen, daß Andreas es dort fand, aber zumindest würde er eine ganze Weile suchen müssen.
»David, geh nicht fort! Laß uns reden! Laß uns...«
David verließ das Zimmer und warf die Tür hinter sich zu. Draußen atmete er tief durch. Manchmal wünschte er den alten Mann zum Teufel. Warum nur glaubten Menschen jenseits der Fünfzig immer, sie könnten sich ungefragt in alles einmischen, was sie nichts anging?
Er erinnerte sich, als sei es gestern gewesen: Durch einen ruhigen Morgen voller Kälte und Schnee war er nach Hause gefahren. Er hatte den Wagen selber gesteuert, sich in das Polster zurückgelehnt. Er würde sich bei Andreas entschuldigen, weil er so unbeherrscht reagiert hatte, und dann konnten sie vielleicht in aller Ruhe über das Problem »Laura« reden. Womöglich gab Andreas seine Vorurteile auf – Vorurteile, dachte David heute oft bitter. Mehr und mehr gelangte er inzwischen zu der Ansicht, daß Andreas recht gehabt hatte. Aber damals war er überzeugt gewesen, daß Laura ihn liebte. Es gefiel ihm, wie sie lachte, redete, gestikulierte, wie sie mit geradezu leidenschaftlichem Gesichtsausdruck Champagner trank, wie sie durch ein Zimmer ging oder sich zum Fenster hinauslehnte und Schneeflocken auf ihrem Gesicht zerschmelzen ließ. Er mochte es auch, wenn der Ausdruck ihrer Augen plötzlich von Fröhlichkeit in Melancholie wechselte und eine wehmütige Nachdenklichkeit auf ihren Zügen erschien. Nie konnte sie das kleine, blasse, hungrige Mädchen aus der Bronx verleugnen, das sie einmal gewesen war, auch dann nicht, wenn sie ein Kostüm von Ungaro oder einen Pelz von Fendi trug. In ihrem Gedächtnis existierten Kälte und Armut, Angst und hundertfach erlittene Gewalt. Manchmal schmiegte sie sich an ihn, dann kam es ihm vor, als sei sie ein kleines Tier, das sich im Fell seiner Mutter verkriecht. Den Kopf an seiner Brust vergraben, flüsterte sie: »Ich will nie wieder arm sein, David. Nie wieder. Ich habe solche Angst, daß ich eines Morgens aufwache, und ich bin wieder in dem verfallenen Haus in der Bronx, mein besoffener Vater schnarcht nebenan, und Mutter ist nicht heimgekommen, ich laufe wieder durch die Straßen und suche nach ihr ...«
»Keine Angst, Laura. Ich beschütze dich. Du gehörst zu mir.«
»Ich weiß, David. Aber manchmal habe ich so schreckliche Träume, und ich habe Angst, wenn es dunkel wird oder wenn viele Menschen um mich sind ...«
»Du sollst dich nicht fürchten, solange ich bei dir bin, Laura.« Er hielt sie gern in den Armen und tröstete sie, und er hatte es auch in der Silvesternacht getan, als plötzlich gegen Morgen ihre Zukunftsangst wieder wie eine hohe, schwarze Mauer vor ihr aufgestiegen war. Er liebte die Rolle des Beschützers, weil sie ihm Macht verlieh, aber er hatte wenig psychologisches Einfühlungsvermögen und merkte nicht, daß er zwiespältige Gefühle in Laura auslöste: Sie hing an ihm, weil er der erste Mann war, der ihr Geborgenheit gab, und sie haßte ihn zugleich, weil er die einzige dünne Wand darstellte, die sie von ihrem früheren Leben trennte, und weil er sie deshalb vollkommen in der Hand hatte. Daß er sie aufgewühlt und elend zurückgelassen hatte, war ihm nicht im mindesten bewußt, als er durch den verschneiten Neujahrsmorgen zu seiner und Andreas’ Wohnung zurückfuhr. Er glaubte Laura in derselben guten Stimmung, in der er sich selber befand. Später würde sie einmal über ihn sagen: »Er war auf geradezu sensationelle Weise unsensibel.«
Er begriff sofort, daß Andreas tot war, als er ihn vor dem Schreibtisch liegen sah, und er begriff auch schon in der nächsten Sekunde, wie der Gang der Handlung gewesen sein mußte. Das Telefon! Andreas hatte in seinen letzten Minuten versucht, das Telefon zu erreichen.
David wußte nicht, wie lange er in dem Zimmer gestanden und jeden Gegenstand, jedes Möbelstück in sich aufgenommen hatte. Jede Einzelheit brannte sich für immer in sein Gedächtnis: Der Tisch mit dem kalten Buffet vom Abend, Erbrochenes auf dem Teppich, angeklebte Speisereste auf den Tellern, wenig appetitlich anzusehen im fahlen Wintermorgenlicht, halbvolle Weingläser. Auf dem Plattenspieler lag bewegungslos die Platte, die sie gehört hatten, kalter Zigarettenrauch hing zwischen den Wänden. Auf dem Weg zum Schreibtisch mußte Andreas einen Hausschuh verloren haben; er lag mitten auf dem Teppich. Im beleuchteten Aquarium auf dem Regal jagten sich pfeilschnell ein paar Fische.
David zuckte zusammen, als plötzlich das Telefon schrillte. Mit zitternden Händen nahm er den Hörer ab. »Ja bitte?«
»Mr. Bredow?« Das war der Portier. David räusperte sich.
»Nein. Hier ist David Bellino.«
»Ah, Mr. Bellino! Guten Morgen. Die Leute vom Restaurant sind hier und möchten das Geschirr wieder abholen. Kann ich sie hinaufschicken?«
»Es ist... es ist leider etwas Furchtbares passiert...,‹
»Mr. Bellino? Sie klingen ja ganz merkwürdig. Was ist denn los?«
»Als ich eben nach Hause kam, fand ich meinen Onkel vor seinem Schreibtisch liegen. Er...ist tot ...«
Diese Worte hingen bis heute im Raum. Und die Erinnerungen. Die Erinnerung vor allem daran, wie er, noch ehe der Arzt und die Polizei eintrafen, das Telefon an seinen alten Platz gestellt hatte. Nachher dachten alle, Andreas habe nicht mehr die Kraft gefunden, den Hörer abzunehmen. Niemand ging der Sache weiter nach. Über Andreas’ Tod wurde in allen Zeitungen berichtet, aber dann war alles rasch wieder vergessen. David, der Erbe, rückte in den Mittelpunkt der New Yorker Gesellschaft, er lieferte nun den Stoff für die Gazetten, seine Liaison mit Laura Hart gab den farbigen Hintergrund für Klatsch und Tratsch. Kein Mensch machte ihm einen Vorwurf, obwohl man wußte, daß er in der Silvesternacht Streit mit Andreas gehabt und ihn allein gelassen hatte. Wie hätte er ahnen sollen, daß Bredow gerade in dieser Nacht einen Infarkt erleiden würde?
David dachte viel nach über Andreas, jetzt, wo er tot war, sehr viel mehr als früher. Er hatte den alten Mann gemocht, genauer gesagt: Er hatte keinen Grund gefunden, ihn nicht zu mögen, und er hatte sich immer geschämt, wenn da doch etwas war, was an ihm nagte, was ihn innerlich opponieren ließ. Andreas war nur nett zu ihm gewesen, auch der Streit um Laura Hart war der Besorgnis entsprungen, und er hatte zweifellos darunter gelitten, in Unfrieden mit seinem Schützling zu leben. David erinnerte sich an die vielen Ferien, die er in New York verbracht hatte: Andreas hatte alles für ihn getan. Er sollte es schön haben, er sollte etwas erleben, er sollte gern wiederkommen wollen. Er hatte dem Jungen eine Menge Zeit gewidmet, ihm die ganze Stadt gezeigt, hatte ihn einmal auch mit nach Los Angeles genommen und einmal nach Colorado zum Skifahren. Daheim hatte David nie gewußt, wo er mit dem Erzählen anfangen sollte. Und dennoch... da war dieses leise Unbehagen. Die Melancholie in Andreas’ Augen war dieselbe, die in den Augen von Davids Mutter stand. Diese Entrücktheit, dieses Festhalten an Vergangenem. Es hatte ihn bei Christine bedrückt, und es bedrückte ihn bei Andreas. Manchmal bekam er ein schlechtes Gewissen, weil er sich freute und lustig war und ihre Traurigkeit nicht teilen konnte. Niemals würde er das Gespräch vergessen, das Andreas mit ihm führte, als er gerade sechzehn geworden war. Weihnachten 1976. David war am 25. Dezember nach New York geflogen. In Andreas’ Penthouse erwartete ihn ein riesengroßer, über und über mit bunten Kugeln geschmückter Tannenbaum, unter dessen ausladenden Zweigen wahre Berge von Geschenken lagen. Andreas bot ihm ein Glas Champagner an. Der Plattenspieler spielte Weihnachtsmusik, es roch nach Kerzenwachs und Tannennadeln. David saß inmitten seiner Geschenke und fühlte sich wohl. Einfach nur richtig wohl.
Er hielt eine Uhr in der Hand, eine wunderschöne Armbanduhr mit schwarzem Zifferblatt und schmalen, goldenen Zeigern. Ein Geschenk von Andreas. Er schaute auf und lächelte. »Danke, Andreas. Die ist wirklich toll! Woher wußtest du, daß ich mir genau eine solche Uhr gewünscht habe?«
»Deine Mutter hat es mir verraten«, erwiderte Andreas. Er betrachtete den Jungen, und irgendwie wurde es David ungemütlich unter seinem Blick. »Ich freue mich, wenn sie dir gefällt, David. Ich freue mich...wenn es dir überhaupt gefällt, hier bei mir zu sein.«
»Du weißt, daß ich immer gerne nach New York komme«, sagte David vorsichtig.
Andreas nickte. »Wenn du in England mit der Schule fertig bist, wirst du ja für immer in Amerika leben. Ich hatte oft Angst, du könntest es dir anders überlegen und plötzlich feststellen, daß du das Land vielleicht nicht magst. Aber du magst es, nicht wahr? Und du... magst auch mich?«
»Natürlich mag ich dich ...«
Andreas nickte langsam. Er blickte nachdenklich in den Flammenschein der Kerzen auf dem Baum. »Weißt du, David, ich bin immer sehr allein gewesen. Schon als Kind. Deine Mutter war der einzige Mensch, der für mich da war. Sonst hatte ich niemanden. Mit dreizehn war ich Vollwaise, aber davor gab es auch niemanden, der sich wirklich um mich gekümmert hätte. Ich habe mich stets danach gesehnt, einmal einen Menschen ganz für mich zu haben. Jemanden, der mich liebt, der mich braucht, der mir vertraut. Jemanden, dem ich etwas bedeute ...«
O Gott, dachte David mit leiser Panik.
Andreas schaute ihn an. »Du weißt, du bist für mich wie ein Sohn, David. Ich werde dir alles geben, was ich habe. Ich freue mich so auf die Zeit, wenn du für immer hier lebst.«
»In New York, meinst du?«
»Hier bei mir. Sieh mal, dieses Penthouse ist für mich allein viel zu groß. Warum ziehst du nicht hier ein? Wir wären dann beide nicht mehr länger allein. Ich meine, ich werde dich bestimmt nicht stören. Du bist dann erwachsen, und natürlich willst du dann auch manchmal für dich sein. Aber wir könnten abends zusammensitzen und miteinander sprechen, wir könnten zusammen frühstücken oder uns in die Sonne setzen. Es würde Spaß machen, über alles zu reden, was uns bewegt und beschäftigt. Es gäbe immer jemanden, der zuhört.« Andreas hatte leidenschaftlich gesprochen, und David sah, daß Tränen in seinen Augen blinkten. Überrascht erkannte er, wie einsam der reiche Mann aus New York war. Die Traurigkeit und Sehnsucht im Gesicht des anderen lähmten ihn.
Verdammt, dachte er, hier mit ihm wohnen!
Er hatte fest damit gerechnet, eine eigene Wohnung in New York zu bekommen. Es müßte auch keine furchtbar feine oder komfortable sein, einfach ein Ort, an den er sich zurückziehen und wo er für sich sein konnte. Die Vorstellung, mit Andreas zu leben, der so entsetzlich gütig, so entsetzlich fürsorglich, so entsetzlich erdrückend war, erschreckte ihn. Aber wie schon früher bei seiner Mutter vermochte er sich nicht zu wehren. In Mums Gegenwart hätte er manchmal schreien mögen, so unerträglich von ihr vereinnahmt hatte er sich oft gefühlt. Als Kind hatte er bei ihr im Bett schlafen müssen, und sie hatte ständig darüber gejammert, daß sie niemanden habe außer ihn, seit sein Vater gestorben sei. Er erinnerte sich gut an das schlechte Gewissen, mit dem er sich gewünscht hatte, er bräuchte nicht immer für Mum dazusein. Wie oft hätte er sonntags mit den anderen Kindern spielen mögen und war statt dessen daheim geblieben, weil er das traurige Gesicht seiner Mutter nicht ertrug.
»Ich werde dann eben allein meinen Kaffee trinken«, sagte sie in solchen Situationen. »Ich hatte mich so auf den Nachmittag mit dir gefreut, David. Aber natürlich, wenn es dir mehr Spaß macht, mit den anderen Kindern zusammenzusein, als mit deiner langweiligen Mutter ...«
»Ich bin viel lieber bei dir, Mum«, sagte er dann, teils wütend, teils resigniert, und schließlich beschämt, weil er sie offenbar nicht genug liebte, um wirklich gern mit ihr zusammenzusein. »Ich bleibe hier!«
Jetzt sah ihn Andreas mit demselben Ausdruck in den Augen an, den Mum immer gehabt hatte, und wieder überkam David das Gefühl von Wehrlosigkeit und hilflosem Ärger. Wenn er jetzt »nein« sagte, wenn er jetzt erklärte, daß er lieber allein sein würde, das wäre ungefähr so, wie wenn man ein unschuldiges Kind schlägt, das es nur gut gemeint hat. Andreas meinte alles nur gut. Er war die verkörperte Güte selbst, und es war die wohlvertraute Scham, die David empfand, weil er jetzt am liebsten hätte schreien mögen.
»Das ist eine gute Idee, Andreas«, sagte er höflich. »Natürlich wohne ich gern bei dir.«
Bei sich dachte er: Verfluchte Scheiße!
Heute, nachdem Andreas tot war, war er froh, daß er nie die Beherrschung verloren hatte. Es hätte den alten Mann bekümmert und verstört, und er hätte es nicht verstanden.
Gedankenverloren drehte David nun an dem breiten, goldenen Ring der Bredows, den Andreas ihm immer versprochen hatte und den er dem Toten damals am Neujahrsmorgen vom Finger gezogen hatte. Erleichtert ging es ihm durch den Kopf: Wenigstens war ich nicht undankbar. Ich habe ihm nicht weh getan!
Er zog die Schreibtischschublade noch einmal auf und entnahm ihr ein mit einem Gummiband zusammengeschnürtes Bündel Briefe. Sie trugen keinen Absender, waren mit Maschine geschrieben und enthielten wüste Beschimpfungen und Drohungen. Morddrohungen.
»Fühl dich nicht zu sicher, du Schwein. Dein Mörder ist schon ganz nah!« »Du wirst für deine Sünden bezahlen, David Bellino, und der Tag der Rache rückt immer näher.«
David Bellino war zeitlebens ein hochgradiger Hypochonder gewesen. Mußte er niesen, schluckte er sogleich ein schweres Medikament gegen Grippe. Bekam er mehrmals hintereinander Schluckauf, wurde er von der Vorstellung besessen, er habe Speiseröhrenkrebs, und suchte einen Spezialisten auf. Wenn er in der Zeitung auf die Schilderung einer Krankheit stieß, spürte er wenige Minuten später sämtliche Symptome. Der Gedanke an Schmerzen und Siechtum bereitete ihm tiefes Grauen, das Bewußtsein seiner eigenen Sterblichkeit machte ihm schwer zu schaffen. Im wesentlichen beschäftigte er sich damit, einem frühen Tod vorzubeugen.
Mancher hätte die Briefe, die seit einem Vierteljahr in zweiwöchentlichen Abständen eintrafen, als Unsinn abgetan. Ein Mann in Davids Position hatte selbstverständlich immer Feinde, aber keineswegs waren die ständig drauf und dran, tatsächlich zur Waffe zu greifen und das Objekt ihrer Aggression vom Leben zum Tod zu befördern. David hatte die Briefe von einem Psychologen analysieren lassen, und der hatte gemeint, der Schreiber finde eine tiefe Befriedigung im Verfassen solcher Schriften, sei aber keineswegs entschlossen, die Drohungen in die Tat umzusetzen. »Der Schreiber ist intelligent und sensibel. Ich würde ihn nicht als gewalttätig einschätzen.«
David empfand diese Aussage zwar als beruhigend, beschloß aber, sich nicht zu sehr darauf zu verlassen. Er war dabei gewesen, als man auf Andreas geschossen hatte, eine Szene, die sich tief in sein Gedächtnis eingegraben hatte, und jedesmal, wenn er ein Gebäude verließ und auf die Straße trat, erwartete er halb und halb, daß ihm dasselbe widerfuhr. Die Angst wurde zu seinem schlimmsten Feind, sie tyrannisierte ihn, wo er ging und stand. Die Briefe machten ihn fertig, ob sie nun ernst gemeint waren oder nicht. Er mußte herausfinden, wer sie schrieb, er mußte das abstellen, er würde sonst noch verrückt werden.
Natürlich kamen eine Menge Leute in Frage. Geschäftspartner, denen er zuletzt zugesetzt hatte, Angestellte, die entlassen worden waren, politische Gruppierungen, Umweltschützer, die mit irgend etwas, was Bredow Industries tat, nicht einverstanden waren. Er mußte das nach und nach abchecken. Und er würde jetzt damit beginnen. Er nahm einen Bogen Papier und schrieb in ordentlichen Druckbuchstaben vier Namen darauf:
Mary Gordon
Steven Marlowe
Natalie Quint
Gina Artany
Vier Namen, vier Menschen, vier Schicksale. Vier alte Freunde von ihm. Er wußte nicht mehr, wie oft er die Namen notiert, wie oft er an die Personen dahinter gedacht hatte. Aber je öfter er nachdachte, desto wahrscheinlicher schien es ihm, daß es einer von ihnen war, der ihn rachsüchtig zu zerrütten suchte.
Jeder hatte ein Motiv. Jeder konnte es sein.
Er hatte seine Freunde zu sich eingeladen, und zu seiner Überraschung hatten alle zugesagt. Vom 27. 12. 1989 bis zum 1.1.1990 sollten sie seine Gäste sein, und das, nachdem sie einander seit Jahren nicht mehr gesehen hatten. Nachdem sie ihn jahrelang nicht hatten sehen wollen.
David stand auf und trat dicht ans Fenster. Noch kein Licht kündigte den Morgen an. November... dieser düstere, graue, kalte Monat. Nebel überall, und hinter dem Nebel unbekannte Gefahren.
»Nebel. Nebel, Nebel, die ganze verdammte Zeit. Man sieht nicht, wohin man geht, nichts«, hieß es in O’Neills »Anna Christie«. Das genau waren David Bellinos Empfindungen.
David Bellino war keineswegs ein glücklicher Mensch, und daher ging er regelmäßig zum Psychotherapeuten, genauer gesagt: Er ging zu sehr vielen Therapeuten, denn seine Geduld war nicht groß, und wenn ihm nicht sofort geholfen wurde, beschloß er, jemand anderen aufzusuchen.
»Es ist eine langwierige, mühevolle Aufgabe, in die Psyche eines Menschen einzutauchen«, hatte ihm einer seiner Ärzte einmal erklärt. »Dinge, die Sie als Kind erlebt und vollkommen verdrängt haben, müssen erforscht und ganz vorsichtig aufgedeckt werden. Wer hier ungeduldig ist, schadet mehr als daß er nützt!«
»Meine Kindheit war in Ordnung, Doktor!«
Der Arzt hatte nachsichtig gelächelt. »Wenn Sie das so felsenfest glauben, ist es der beste Beweis dafür, daß da etwas ganz und gar nicht in Ordnung war.«
David wechselte den Arzt.
Er wußte nicht einmal genau, was er eigentlich wollte. Schließlich war er gesund. Aber dann – wenn er sich gerade entschlossen hatte, auf die Hilfe eines Seelendoktors zu verzichten – passierte wieder irgend etwas: Er wurde hysterisch, weil er sich einbildete, seine Knochen weichten auf. Oder er hatte Träume, in denen sich grauenvolle Gewaltszenen abspielten. Oder seine Migräneanfälle hielten ihn tagelang von der Arbeit ab. Dann saß er doch plötzlich wieder auf einem Sofa.
»Warum heißen Sie David?« fragte der Arzt. »Ein jüdischer Name!«
»Meine Mutter hat das so bestimmt... sie ist Deutsche, sie war ein Kind während der Nazizeit. Zur Erinnerung an die Millionen ermordeter jüdischer Kinder wollte sie ihrem Sohn einen jüdischen Namen geben.«
»Sie selber ist nicht jüdisch?«
»Nein. Aber ihr Vater starb im KZ.«
Zeitlebens hatte das Bild ihres Vaters einen Ehrenplatz im Wohnzimmer gehabt, daran konnte sich David erinnern – es war vielleicht überhaupt die erste Erinnerung seines Lebens. Eine Art Altar hatte Mum errichtet, Kerzen, Blumen, eine Madonna. Mum war katholisch. In England gab es keine katholischen Kirchen, aber sie hielt an ihrem Glauben fest. David hatte einmal nach der Madonna greifen und mit ihr spielen wollen, er hielt sie für eine schöne Puppe mit einem blauen Kleid und einem roten Schleier auf dem Kopf. Mum hatte sie ihm entrissen und ihm rechts und links auf die Wangen gehauen. »Tu das nie wieder, David!«
Dann, als er brüllend und schreiend auf dem Teppich saß – ihn hatte noch nie jemand geschlagen, und er konnte es nicht fassen – hatte ihn Mum in die Arme genommen. Sie weinte auch.
»David, Liebling, es tut mir leid. Es tut mir so leid. Du mußt verstehen... mein Vater...David, ich will dir von ihm erzählen, und du wirst verstehen ...«
»Hat Ihre Mutter oft von ihrem Vater gesprochen?« fragte der Arzt, als könnte er Gedanken lesen.
»Ja.«
»Was hat sie erzählt?«
»Ich...weiß nicht mehr genau ...«
»Sie erinnern sich an gar nichts?«
Er erinnerte sich an seine Träume. Sie waren angefüllt mit Geschichten seiner Mutter, aber oftmals hatten sie sich mit Märchen vermischt, die man ihm erzählt hatte, oder mit Bildern, die im Fernsehen zu sehen gewesen waren. Wenn er aufwachte, panisch nach dem Lichtschalter suchte, um sich zu vergewissern, daß er in Sicherheit war, wußte er gar nicht mehr, woraus sich die Schreckensbilder im einzelnen zusammengesetzt hatten.
»Ihre Mutter hat Sie immer sehr geliebt?« fragte der Arzt behutsam.
David nickte. »Ja. Ich war der einzige Mensch, den sie hatte. Sie hatte ihren Vater und ihren Mann verloren, und alles, was sie an Liebe hatte, gab sie mir.«
»Und dann war da noch jener Mann in New York, der Sie zu seinem Erben bestimmt hatte. Verbrachten Sie sehr viel Zeit mit ihm?«
»Ich war in beinahe allen Ferien drüben. Zwischendurch besuchte er uns.«
»Und er hat Sie auch sehr geliebt?«
»Ja, hat er.« David wurde ungeduldig, er sah nicht, worauf das hinauslaufen sollte. »Er hatte ja auch niemanden sonst. Hören Sie, Doktor, ich ...«
»Das ist ein durchaus wichtiger Punkt, Mr. Bellino. Hatten Sie manchmal das Gefühl, erdrückt zu werden? Sich wehren zu wollen, ohne zu wissen, wogegen?«
Er hatte eine empfindliche Stelle angekratzt. David verspürte das würgende Gefühl im Hals, das ihn so oft schon gepeinigt hatte.
»Ach...glaubte zu ersticken, Doktor. Ja, das kam immer wieder. Ich war voller Wut, aber ich konnte sie gegen niemanden richten. Sie waren so gut zu mir. Sie wollten nur das Beste. Ich sollte das Beste bekommen und der Beste sein. Manchmal wollte ich schreien, aber ich schrie nie. Ich hatte Angst vor dem Entsetzen, mit dem sie mich anschauen würden.«
»Ihr Problem, Mr. Bellino, beruht meiner Ansicht nach nicht einmal so sehr auf den Dingen, die man Ihnen erzählt hat, auf den Schrecken, mit denen sich Ihre Mutter herumschlug und die sie zweifellos auch auf Sie übertrug. Das ist eher die Ursache, die Wurzel, für eine ganz andere Entwicklung. Ihre Mutter und auch Mr. Bredow haben Sie in Liebe – und in Ansprüchen, die sie an Sie stellten! – förmlich... ja, wie Sie es nannten, erstickt. Sie waren soviel Liebe gegenüber ohnmächtig. Sie haben nicht die Aggressionen ausleben können, die ein junger Mensch gerade in den Entwicklungsjahren ausleben muß. Und jetzt kauen Sie so verzweifelt darauf herum.« Der Arzt seufzte. »Wenn Sie an sich als Kind denken, und Sie müßten dieses Kind, das Sie waren, mit ein paar Worten beschreiben – welche Attribute fallen Ihnen da ein?«
»Verwirrt«, sagte David sofort, und fügte dann hinzu: »Ich ängstigte mich oft vor etwas, wovon ich nicht wußte, was es war. Ich war...überempfindlich und ein bißchen hysterisch. Ich hatte schreckliche Träume.«
Er merkte nicht, daß er eine exakte Beschreibung dessen abgegeben hatte, was er heute war.