Inhaltsverzeichnis
Prolog: Ein praktisches Brevier beliebter Beschimpfungen
Was wäre die Welt ohne unsere Feinde. Furiose Verachtung, Wut und Ablehnung sind Gefühle, die das Leben erträglich machen. Feinde bringen Schwung und Ordnung in eine laue und unübersichtliche Welt. Man braucht sie, als Ursache von Wirkungen, wenn alles andere zwischen den Fingern zerbröselt. Feinde sind fassbar, liefern Bilder, geben dem Unbehagen einen Namen und lindern den Schmerz über den eigenen Abstieg in die Bedeutungslosigkeit. Und apropos Bedeutungslosigkeit: Schon der Volksmund lehrt: viel Feind, viel Ehr! Und zudem: Ist die Welt nicht wirklich voll von Menschen, die einem auf die Nerven gehen? Und die gesellschaftlichen Umgangsformen werden immer absurder. Manchmal vermutet man, der einzig noch übrig gebliebene Normale zu sein. Hilft aber nichts: Man muss mit all den Verrückten leben.
Je ähnlicher sich die Menschen werden, desto stärker das Bedürfnis, sich von anderen abzusetzen, desto stärker der Wunsch, die anderen als Konkurrenten zu kritisieren, niederzumachen, desto lauter der Ruf nach Strafe, Verboten und Ausschluss. Es herrscht Uniformität. Die scheinbare Vielfalt ist die der Schrebergartenkolonie, kleine Parzellen, individuell liebevoll gestaltet, aber eben eine wie die andere – ob nun Audi und Aldi oder H&M und Hybridantrieb. Gucci ist überall, als Original, Kopie oder Kopie von der Kopie.
Jeder für sich und doch alle gemeinsam getrieben vom Verdacht, der Nachbar könnte besser abschneiden. Da mag keine Solidarität heranwachsen. Manche Leute fangen in der Situation an sich zu grämen. Früher, bevor es ganz unmodern wurde, bekam man davon ein Magengeschwür, heute macht das Stress und ist schlecht für Herz und Kreislauf. Wer das vermeiden will, schimpft. Allerdings ist die Kunst des Schimpfens, der fantasievollen Beleidigungen und Flüche, auch nicht mehr, was sie vor dem Niedergang der Tabus einmal war, und zudem außerhalb der geschlossenen Kabine des Automobils nicht ohne Risiko.
Hier helfen gute Feinde. Sie bringen die Leute zusammen: denn was verbindet mehr als gemeinsame Ablehnung? Und in der Gruppe ist die Furcht vor dem Bösen sowieso am schönsten.
Das Wir, mit dem uns Politiker, Medien und Werbung ansprechen, setzt die Anderen voraus, diejenigen, die anders sind als unsereiner. Wir Fußgänger, Frauen, Facharbeiter, wir Deutsche, Europäer, Inländer, wir Nichtraucher und Mülltrenner – Uns gibt es nur, weil es Autofahrer, Männer und Ungelernte, Franzosen, Afrikaner und Ausländer, Raucher und Umweltsünder gibt.
An ihren Feinden sollt ihr sie erkennen. Die Liste derjenigen, die Uns übelwollen, ist lang, und auf dem Misthaufen der Geschichte verrotten abgelegte Feindbilder. Wer erinnert sich noch an die Langhaarigen und Gammler, die vor nicht allzu langer Zeit den Bürgerschreck gaben und den Untergang des Abendlandes ankündigten. Früher gern genommen als Feindbild auch der, die, das Linke in der Form von Kommunisten, Studenten und den Lehren des Karl Marx. Überhaupt war die Welt rein feindbildtechnisch gesehen schon mal einfacher. Damals gab es eine zweigeteilte Welt, in der im Osten das Böse hauste und im Westen das Gute blühte. Da forderte man in West-Deutschland die Gegner gerne auf, doch »nach drüben« zu gehen. Dorthin, wo heute die neuen Bundesländer sind. Irgendwie hat sich diese Differenz in der Form von Wessi gegen Ossi gehalten, aber sie ist vielschichtiger geworden. Heute sollen im Osten eher die demokratiefeindlichen radikalen Rechten sitzen – sagen die Besserwessis!
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Woher kommen diese Feindbilder? Werden sie erfunden, tauchen sie in der richtigen Welt plötzlich auf, warum haben heute diese und morgen jene Konjunktur? Warum konnte man sich über Punks in Fußgängerzonen erregen, über Frauen in Miniröcken, über eine politische Partei, die auf die Endlichkeit der Energiereserven hinwies?
Man könnte vermuten, dass eine Gruppe so lange als Feindbild gilt, wie sie mit ihrer Position in der Minderheit und damit ihrer Zeit und der Mehrheit voraus ist. Oder funktioniert es auch in der anderen Richtung: all jene, die nicht auf der Höhe der Zeit sind, die Rückständigen, ewig Gestrigen, die Fortschrittsbremser – sind nicht auch sie es, die man zu Feinden erklärt?
Sehr passend hier der Unterschied zwischen Uns in der Mitte, bedroht von denen da oben und denen da unten. In der sozialen Vertikalen kann man gut die Entstehung von Feindbildern studieren. Fürchtet der Kleinbürger den sozialen Abstieg, dann schimpft er nach beiden Seiten, auf die Schmarotzer, Ausländer und Nichtstuer, die Uns auf der Tasche liegen und auf die Sanierer, Manager und Nieten in Nadelstreifen, die zu viel verdienen und nichts dafür leisten.
Besonders erheiternd ist die Differenz von Einzelnem und Masse nach dem Motto: Tourist ist immer der andere! Für den Stau, in dem ich stehe, sind die anderen Autofahrer verantwortlich, und über das niedrige Niveau der Massenunterhaltung kann ich auch nur dann schimpfen, wenn ich sie selbst fortlaufend konsumiere.
Ein Feindbildklassiker ist der Unterschied zwischen innen und außen, Arbeitsplatzbesitzer gegen Arbeitslose, Inländer gegen Ausländer, diejenigen, die einen warmen Platz drinnen haben gegen diejenigen, die draußen frierend im Regen stehen.
Über all den offensichtlichen, grellbunt bebilderten Feindbildern, von denen Talkshows, Boulevardpresse und Stammtisch leben – übrigens auch dies alles selbst Kandidaten für ein ordentliches Feindbild! -, sollte man nicht vergessen, dass es subtile Formen der Verächtlichmachung gibt, die nicht in der Schlagzeile, sondern im Kleingedruckten wirken. Empfindsam geworden für Diskriminierung hat zum Beispiel die Frauenbewegung auf die in die Alltagssprache eingelassenen Formen der Abwertung hingewiesen, wo die männliche Form als dominanter Normalfall gilt und die weibliche als abgeleitete Variante erscheint.
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Hat man die Dynamik und Mechanik der Feindbildkonstruktion erst einmal durchschaut, so kann das wohltuende Wirkungen auf die alltäglichen Erregungen haben. Denn Ärger ist die emotional aufgeladene Form des Staunens, welches wiederum bekanntlich der Beginn aller Philosophie ist. Man tut also gut daran, diese Gelegenheiten zu nützen: Sie sind hervorragende Anlässe für Einsichten über Gott und die Welt und die Zustände an sich und für sich. Dazu darf man den Ärger nicht unterdrücken, schon gar nicht deshalb, weil er sich nicht gehören würde. Man muss ihn vielmehr sensibel wahrnehmen und sorglich pflegen. Man muss zu seinen Vorurteilen stehen, weil sie dabei sichtbar werden. Dann aber empfiehlt es sich, daran zu arbeiten: Wo kommen sie her, wo gehen sie hin? Mit wenig Mühe kann man aus dem gemeinen Ärger reflektierten Ärger erzeugen, der ausgesprochen Spaß macht. Die Psychoanalytiker nennen das Sublimierung: Aus dem Wunsch, jemandem eine reinzuhauen, wird genaue Kenntnis der Person. Aus Ärger wird Vergnügen.
Man sieht klarer, wenn man, so geläutert, mit der einfachen Hypothese arbeitet, dass alle Menschen im Wesentlichen ziemlich ähnlich sind. Es erfordert zugegebenermaßen eine gewisse Anstrengung und regelmäßige Übung, aber der Erfolg stellt sich ein in der Form eines schärferen Blicks, sinkender Besorgnis und schlichtweg größerer Freundlichkeit. Das alles ohne jede Form von östlicher Heilslehre, unter Verzicht auf körperliche Anstrengungen und finanzielle Verpflichtungen.
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Die hier versammelten Feindbilder sind als Beispiele gedacht. Die Darstellung ist weder umfassend noch erhebt sie den Anspruch, die wichtigsten und größten Feinde zu versammeln. Manche fehlen ganz offensichtlich. Auf andere mag man nicht mehr eindreschen, die sind einfach durchgenudelt. Wenn man anderen von der Idee erzählt, dann trägt jeder seinen Lieblingsfeind bei und es ist erstaunlich, wer und was sich alles als Feindbild eignet. Selbst die Müsliverpackung taucht da auf: erst lässt sie sich nicht öffnen und dann reißt sie mitten durch und der Inhalt verteilt sich über den Küchenboden. Dergleichen Mikroärgernissen wurden hier keine eigenen Kapitel gewidmet, wiewohl sie einem durchaus den Tag verderben können. Die auf den folgenden Seiten präsentierte Auswahl ist subjektiv, aber nicht willkürlich. Sie folgt einer Reihe von Überlegungen, die man etwas hochtrabend als Vorarbeiten zu einer Taxonomie von Feindbildern bezeichnen könnte. Die Feindbilder sind in Gruppen geordnet, die jeweils einen Typus repräsentieren sollen. Man hätte sie, weil sie nicht eindimensional sind, auch anders anordnen können. Vor jedem der Kapitel kann man nachlesen, warum die jeweils folgenden Beispiele dort stehen.
Ursprünglich war geplant, den verschiedenen Feindbildern immer auch mit vorbildlich analytischer Distanz zu begegnen. Im Prozess des Schreibens trat aber an manchen Stellen dann genau das ein, wovon dieses kleine Büchlein handelt: die Freude am ausgestreckten Zeigefinger, nach dem Motto: Seht sie euch an! – und dann reißt hemmungslose Häme ein. Man sollte einfach nicht als Heiliger auftreten wollen, das endet meistens in Bigotterie. Also lieber mal vom Leder ziehen, als noch den letzten Mist mit dem Mantel christlicher Nächsten- oder Feindesliebe verständnisvoll zudecken. Daher kommen nicht alle Feinde gut weg hier – zu langweilig ist das ewige Verstehen.
Wer mit offenen Augen durch die Welt geht, im Kopf die Idee zu einem Buch wie diesem, der wird bald feststellen, dass die Satire die Realität nie einholen kann. Die schrägsten literarischen Einfälle verblassen vor dem real existierenden Irrsinn des Alltags. Diese Einsicht hat viele Autoren inspiriert und sie Demut gegenüber dem trivialen Akt des Beobachtens unspektakulärer Alltagsereignisse gelehrt. So auch hier. Als gelernter Soziologe hat man mit etwas Glück eine gewisse Übung für diese Art des Beobachtens (wenn man vorher die akademische Ausbildung in dieser Disziplin ohne Schaden zu nehmen überstanden hat). Es handelt sich bei den hier vorgelegten Analysen und Sottisen also auch um ein Stück Gesellschaftstheorie und Zeitdiagnose, wie sie die Sozialwissenschaft in bierernsten Büchern gelegentlich auch noch versucht. Ein bisschen so etwas wie Fröhliche Wissenschaft.
Wenn Sie, verehrte Leserinnen und Leser, weitere Feindbilder deponieren wollen, so haben Sie die Möglichkeit, dies an unserer virtuellen Klagemauer im Internet zu tun. Sie sind dazu herzlich eingeladen. Unter der Adresse: . finden Sie alles Weitere.
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Dieses Buch wäre – wie jeder halbwegs lesbare Text – nicht zustande gekommen ohne die Unterstützung vieler anderer. Die Idee wurde geboren in einem Gespräch mit Martin Scherer und Susanne Fink unter einer zu kleinen Markise vor einem Cafe während eines sommerlichen Regengusses. Hilfreiche Unterstützer von Anfang bis zum Schluss waren Heinz Steinert und Christine Resch, von Kreissl, Steinert & Partner, die beide von dem Plan zu diesem Buch begeistert waren und so manchen Feind sowie jede Menge kritischer Anmerkungen beigesteuert haben. Einzelne Feindbilder habe ich guten Freunden geschickt, die sich geduldig von mir als Testleserinnen ausbeuten ließen. Carolin Dietrich, Katja Mertin und Claudia Mühlhäuser haben ausgiebigst kommentiert, mich auf Auslassungen und Fehler hingewiesen, Anregungen für Zuspitzungen gegeben und nicht mit Hinweisen auf hier und da noch einzubauende Gemeinheiten gespart. Ihnen sei an dieser Stelle, wie allen anderen rothaarigen Frauen auch, nachhaltig gedankt. Zu Dank verpflichtet bin ich im Übrigen auch all jenen anonymen Inspiranten, die mir als Empirie vor der Haustüre, durch ihr Auftreten oder Verhalten unabsichtlich hilfreiche Anregungen für diesen oder jenen Feind geliefert haben.
Schließlich sollte ich das Buch auch noch widmen, das gehört sich so und ist praktisch, da man durch Widmungen alte Schulden bei jenen begleichen kann, die einem weitergeholfen haben. Also widme ich dieses Buch meinem Vater, dem ich die Haltung der distanzierten Ironie verdanke, und meiner Tochter, die mich davor bewahrt hat, dieser Haltung hemmungslos zu verfallen.
München / Wien
Erste Abteilung: Die uns bedrohen
Es gibt Dinge, da hört der Spaß auf. Über manche Menschen kann man nicht unterschiedlicher Meinung sein. Da muss man einfach dagegen sein und klare Bekenntnisse ablegen. Oder sind Sie dafür, dass in Kindergärten bei geschlossenem Fenster geraucht wird, dass Ausländer hierzulande wie Inländer behandelt werden, dass man die Verbrecher laufen lässt? Solche Figuren gehören klar abgestraft, sie müssen lernen, wo ihr Platz ist, dass es so nicht geht und man sich hierzulande nicht alles bieten lässt. Und dennoch. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich auch hier, dass der Teufel sich hinterm Detail versteckt, dass in jeder Schimpfkanonade immer auch ein sekundärer Krankheitsgewinn lauert und das eigene Ego hier zetert oder die gern verdrängten dunklen Seiten unschön ins Licht geraten.
Vielleicht ist es nicht nur die Bedrohung, vor der wir uns schützen müssen, sondern auch eine Anziehung: Vielleicht wären wir auch gern so lässig, so südländisch sorglos und so rücksichtslos gegen Vernunft und Zukunft, wie wir es verschiedenen anderen unterstellen zu sein, und müssen uns deshalb aggressiv gegen die Möglichkeit sichern. Vielleicht ist es sogar so, dass wir das, was wir verachten, zusätzlich noch treten möchten und uns dazu auch legitimiert fühlen?
An den bedrohlichen Beispielen können wir uns selbst bedrohlich werden. Deshalb muss man nun wiederum nicht gleich vor sich selbst erschrecken. Es ist gar nicht nötig, im Gedachten und Fantasierten ein Heiliger zu sein. Es ist nur bei viel an Gedachtem und Fantasiertem günstig, wenn es in diesem geschützten Bereich bleibt – und dort durch geeignete Pflege und humorvolle Zivilisation in reflektierten Ärger übergeleitet wird.
Betrachten Sie also die folgenden Beispiele: den Raucher, den Ausländer sowie den Kriminellen, und vielleicht fallen Ihnen am Ende dieser Abteilung noch weitere Kandidaten ein.
Der Raucher
Sehr schöne Studien über die Erregbarkeit der Bürger kann der anstellen, der – am besten in einer nicht eindeutig definierten Zone, die es erstaunlicherweise immer noch gibt – eine Zigarette anzündet. Zum Beispiel im Vorraum eines Kinos. Es beginnt piano mit missbilligenden Blicken, geht crescendo über in laute Bemerkungen, die nicht direkt an den Raucher gerichtet, doch für sein Ohr bestimmt sind und, wenn man Glück hat, platzt bei einem der Umstehenden die Moralblase und es ergießt sich ein Schwall von Vorwürfen und Beschimpfungen über den rauchenden Zeitgenossen. Es sind sogar Fälle verbürgt, in denen Nichtraucher handgreiflich wurden und wütend ihrem Gegenüber die brennende Zigarette aus dem Mund zogen.
Das Interessante an der Aufregung über den Raucher ist ihre Grenzenlosigkeit. Es ärgert sich der gesundheitsbewusste Kleinbürger ebenso wie Angehörige der darunter und darüber liegenden Klassen – quer durch Europa. In Amerika sowieso. Wer in New York im Tabakladen nach einer Packung Camel ohne Filter fragt, den behandelt man wie den Käufer eines Kinderpornomagazins. Die Ware wird unter dem Ladentisch hervorgezogen und unauffällig über den Tresen geschoben. Six Dollar Sir, thank you.
Was hat das zu bedeuten? Was treibt erwachsene Menschen dazu, ein Verhalten zu verteufeln, das über Jahre hinweg als normal, ja eine Zeit sogar als elegant, weiblich schick und männlich cool galt? Sind wir alle aus der Marlborohypnose aufgewacht? Eines Morgens fiel es mir wie Schuppen von den Augen, dass aus den rot-weißen Pappschachteln eigentlich nie wilde Pferde herausgaloppiert waren, denen ich in die Prärie hinterher reiten konnte. Ich habe dann noch mal mein Ohr an eine leere Packung gehalten, kein Hufgetrappel zu hören und niemand rief mit sonorer Stimme »Come to Marlboro Country …« – Nein, solche Erlebnisse hatten wohl die wenigsten aus der wachsenden Mehrheit militanter Nichtraucher.
Was aber hat die Figur des Rauchers in kürzester Zeit zu einem derart potenten Katalysator für vehemente Wut- und Hassreaktionen in den Medien und auf der Straße gemacht? Hätte es nicht genügt, wenn Rauchen einfach aus der Mode kommt, so wie der Kommunismus und die Linke? (➜ Der Kommunist) Bricht sich jetzt der jahrzehntelang aufgestaute Ärger der Nichtraucher Bahn, die sich nicht trauten, gegen den Qualm der anderen etwas zu sagen, um nicht als Spießer dazustehen? Ist die Menschheit über Nacht vernünftig geworden und will auf einmal das Risiko eines langsamen schmerzhaften Todes durch Tabakrauch minimieren?
Der Raucher, feindbildtechnisch ein Paradebeispiel, stellt uns feindbildtheoretisch vor ein ziemliches Rätsel. Wie lässt sich dieses Feindbild erklären und was steckt dahinter? Am einfachsten und auch in der Wissenschaft beliebt ist die multifaktorielle Erklärung. Die besagt, dass viele (daher »multi«) Faktoren eine Rolle spielen. Faktoren die sich gegenseitig beeinflussen und verstärken können. Das ist wie beim Lungenkrebs: Rauchen ist ein Faktor, aber viele andere, genetische und Umwelteinflüsse, Lebensstil und Wohnort, spielen ebenfalls eine Rolle. Beim Feindbild Raucher gehören zu diesen Faktoren die Politiker, denen außer Verboten nichts mehr einfällt und die verbieten, was ihnen unter die Finger kommt, sobald sie glauben, eine Mehrheit und die Medien damit für sich einnehmen zu können. Ferner das veränderte Verhältnis der Geschlechter, der rauchende Mann ist nicht mehr der tolle Mann, weil die Frauen jetzt selbst rauchen, statistisch gesehen umso mehr, je weniger Bildung sie haben. Der Wandel der Arbeitswelt, das allgemein gestiegene Gesundheitsbewusstsein (das nichts anderes ist als die positiv gewendete Angst vor allen möglichen Krankheiten) – und wie gesagt, alle diese Faktoren verstärken und beeinflussen sich.
Solche Erklärungen sind langweilig. Sie erklären genaugenommen nichts und sind auch nicht zu widerlegen. Vielversprechend und spannender ist der Ansatz bei der Biopolitik: Der Körper ist nicht mehr nur der mehr oder weniger wohlgeformte und funktionstüchtige Behälter des eigentlichen Menschen, der dem natürlichen Lauf der Dinge folgend verschrumpelt und irgendwann den Geist auf- und freigibt. Der Körper ist eine Art Selbstproduktionsmittel, etwas, das man hegen und pflegen muss. Der Mensch ist der Körper. Und er ist für seinen Körper verantwortlich. Wenn der Körper unförmig, der Mensch dick ist, dann ist es seine Schuld. Wenn er krank ist, dann auch – wäre der Mensch-Körper halt zur Vorsorgeuntersuchung gegangen und hätte er sich gesund ernährt.
Was ist neu an dieser Verlagerung vom Spirituell-Immateriellen aufs Biologisch-Materielle? Erinnert das nicht an Turnvater Jahn, oder gar an die alten Römer? Mens sana in corpore sano? Nicht ganz. Der Unterschied liegt im Verhältnis von mens und corpus, von Körper und Geist. Dem alten Römer wäre Gesundheit oder gar Fitness nie als Selbstzweck erschienen. Man stelle sich fünf dicke alte Römer in Toga und Sandalen beim Nordic Walking vor. Die lagen, wenn sie reich waren, lieber bei Tische und überließen das Schönsein ihren jungen nubischen Sklaven. Bei Vater Jahn war das anders. Da ging es um die Zurichtung des Arbeiterkörpers für die körperliche Arbeit in der Produktion. Aber die bringt heute nichts mehr ein. Stark, ausdauernd und kräftig zu sein – damit erzielt man auf dem Arbeitsmarkt keine guten Preise. Zudem: der Malocher rauchte und der Römer soff.
Was heute zählt, ist Fitness als Wert an sich. Fitness ist dauerhafte Anspannung und angespannte Bereitschaft. Und der größte Feind der Fitness ist der Genuss, das achtlose Sich-Hingeben an die Versuchungen, wie es Oscar Wilde noch predigte. Und da kommt der Raucher wieder ins Spiel: Er verbindet mangelnde Beherrschung, denn Rauchen macht süchtig, mit hemmungslosem Genuss, denn Nikotin ist auch ein prima Nervengift. Er demonstriert wie seine Feind-Ebenbilder: der Übergewichtige, der Alkoholiker und der Drogensüchtige, die Folgen nachlassender Anspannung und Selbstbeherrschung. Das Selbst zu beherrschen heißt eben nichts anderes mehr, als den eigenen Körper im Griff zu haben. Das kann auf die Dauer ziemlich anstrengend sein und darüber hinaus auch noch ärgerlich, weil man trotz angestrengtester Selbstbeherrschung und wellblechlächelnder Dauerfitness nie sicher sein kann, ob man morgen nicht schon wie die dicken arbeitslosen Raucher mit der Bierflasche in der Hand am Hintereingang des Getränkemarkts steht. Die haben einen Vorteil, sie haben was zu trinken und was zu erzählen. Davon träumt der einsam seine Runden ziehende Jogger oder an den Geräten des Fitnessstudios schwitzende Kunde nur. (Der annonciert bestenfalls auf : männl. 28, 180, 72, NR, sucht Sie als Begleitung für gemeinsame Mountainbiketouren.)
Kehren wir mit unserem Feindbild Raucher noch einmal in die Antike zurück. Es waren die alten Griechen, die für das Wort Leben zwei verschiedene Ausdrücke kannten: Bios und Zoe. Mit Bios bezeichneten sie das, was wir vielleicht das nackte Leben nennen würden, die Mühsal der biologischen Existenz. Zoe hingegen bezog sich auf das gute Leben, für die alten Hellenen immer ein Leben in der Gemeinschaft mit Gleichgesinnten und Gleichgestellten. In diesen Runden wurde, soweit man heute weiß, weder über Orangenhaut am Oberschenkel noch über Röntgenschatten auf dem Lungenflügel diskutiert. Es waren dies vielmehr Zusammenkünfte, die der genussvollen Geselligkeit und intellektuell-hedonistischen Bereicherung dienten. Man hat im Angesicht unserer modernen körperdefinierten Feindbilder – Raucher, Trinker, Dicker – das Gefühl, das Leben sei auf das Bios reduziert, das Zoe wirkt bedrohlich. Oder wie es ein Wiener Kaffeehausbetreiber im Rahmen der Diskussion über ein allgemein einzuführendes Rauchverbot in der Gastronomie sagte: I hob a Wirtshaus und kaa Lungenheilanstalt. Der Mann sah aus, als wäre er über die Jahre hinweg selbst sein bester Kunde gewesen. Ein wahrer Philosoph, ein toleranter und robuster Zeitgenosse. Friede seiner Leber und seiner Lunge.
Der Ausländer
Hier handelt es sich, rein feindbildmäßig gesehen um eine Art Mehrzweckwaffe. Steht doch der Ausländer für das Andere schlechthin. Der Ausländer ist das Gegenteil vom Inländer, in unserem Fall also dem Deutschen. Der Ausländer existiert in verschiedenen Varianten, je nachdem ob er zu Hause bleibt oder hier lebt, ob er sich anpasst oder nicht, ob er alleine oder in Gruppen auftaucht. Unterscheiden kann man ferner zwischen dem guten und dem schlechten Ausländer.
Ein guter Ausländer ist beispielsweise der fleißige Türke von der Dönerbude gegenüber, der zu günstigen Preisen und bei Öffnungszeiten, die der Deutsche mit seiner gewerkschaftlichen Orientierung nie akzeptieren würde, frisch zubereitete Falafel in seinem blitzsauberen Schnellimbiss anbietet. Aber Vorsicht. Fliegt ein Fleischskandal auf, dann wird aus dem fleißigen Türken schnell ein Mitglied der Dönermafia, der rücksichtslos seine vergammelten Lammfleischlappen an die Deutschen verkauft. Daheim isst der so was sicher nicht. Kann einer wie er zumindest zeitweise dem Status des Feindbilds entkommen, so haben es andere wie der Asylant schwerer.
Der Asylant ist ausländertechnisch gesehen, das Gegenteil vom Touristen. Für den einen müssen wir aus unseren Steuermitteln aufkommen, der andere bringt sein Geld ins Land. Es gibt nur wenige Bereiche, wo beide gleichermaßen geschätzt werden. Eine dieser Ausnahmen ist die folkloristische Gastronomie: Die verkauft nämlich an die Touristen typische deutsche Spezialitäten und lässt die abgegessenen Teller in der Küche vom schwarz und illegal beschäftigten Asylanten wieder spülen. Apropos schwarz. Als besonders ausländisch gilt »der Neger«, dem man wie kaum einem anderen den Ausländer schon von weitem ansieht. Das begründet im Übrigen auch den Erfolg von Roberto Blanco oder Billy Mo (der kam aus Trinidad, starb 2004 in Deutschland und wurde in den Sechzigerjahren bekannt mit der Bierdeckel-Polka und Liedern wie »Ich kauf mir lieber einen Tirolerhut«). Solche Figuren nützen den Überraschungseffekt: ein Neger der unsere Lieder singt und deutsch spricht! Auch spielen sie gezielt mit dem Image des Fremdländischen.