Helene Tursten
Der Novembermörder
Roman
Aus dem Schwedischen
von Christel Hildebrandt
btb
Buch
Der reichste Mann Göteborgs, Richard von Knecht, stürzt an einem regnerischen Novembertag von seinem Balkon in den Tod, fast direkt vor die Füße seines Sohnes Henrik von Knecht und seiner Frau Sylvia. Das Team unter Kommissar Andersson soll den Fall klären, der sich umso mysteriöser gestaltet, als drei Tage später das Haus in die Luft fliegt, in dem von Knecht sein Büro hatte.
Andersson verteilt die Aufgaben unter seinen Mitarbeitern nach deren Fähigkeiten, so darf Irene Huss, eine Inspektorin in den Vierzigern, Trägerin des schwarzen Jiu-Jitsu-Gürtels und erfahrene Polizistin, sich Zugang zu der snobistischen Familie verschaffen und versuchen, von der Witwe Informationen zu bekommen. Sylvia war früher Primaballerina, ihr Herz schlägt noch heute fürs Ballett und ihre Trauer und Sorge nimmt deutlich ab, als sie erfährt, dass ihr Mann ermordet wurde und es sich nicht um Selbstmord handelt – schließlich zahlt sonst die Versicherung nicht. Ihr Sohn Henrik, Antiquitätenhändler mit Leib und Seele, ist verheiratet mit Charlotte, einem Fotomodell, das alle Männer in Atem hält, jetzt aber erzählt, dass sie ein Kind bekommt. Was ihre Schwiegermutter sonderbarerweise in Ohnmacht fallen lässt. Die Nachforschungen werden von der Familie nicht gerade unterstützt, man verbittet sich die Neugier der Polizei, und auch Richards Freunde gehören nur zu den besten Kreisen. Lange Zeit tappen die Polizisten im Dunkeln, bis ein zweiter Mord passiert und die Ermittlungen in Schwung kommen…
Autorin
Helene Tursten wurde 1954 in Göteborg geboren. »Der Novembermörder« ist ihr erster Roman, der in Schweden einschlug wie eine Bombe.
Helene Tursten bei btb
Der zweite Mord. Roman (72624)
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Die Originalausgabe erschien 1998 unter dem Titel
»Den krossade Tanghästen« bei Anamma Böker, Göteborg
Deutsche Erstveröffentlichung Mai 2000
Copyright © by Helene Tursten
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2000
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
einem Unternehmen der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH
Covergestaltung: semper smile
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
RK · Herstellung: Augustin Wiesbeck
ISBN 978-3-641-06652-9
V003
www.btb-verlag.de
FÜR HILMER UND CECILIA
Niemand sah, wie er durch die kompakte Novemberdunkelheit fiel. Mit einem schweren, dumpfen Ton schlug er auf den regennassen Pflastersteinen auf. Obwohl eigentlich noch Feierabendverkehr herrschte, befanden sich außergewöhnlich wenige Menschen auf dem Bürgersteig. Die Fußgänger stemmten sich gegen den Wind, während ihre Regenschirme sich umstülpten, und schoben ihr Kinn tief in hochgeschlagene Kragen, um ein wenig Schutz vor dem eisigen Regen zu finden. Jeder, der konnte, fuhr lieber mit dem Auto oder drängte sich in die feucht dampfende Wärme eines Busses oder einer Straßenbahn.
Eine ältere Frau, die einen widerspenstigen durchnässten Dackel an der Leine hinter sich her zog, war am nähesten dran. Das Aufjaulen des Hundes und seiner Herrin verkündete den Menschen in der Nähe, dass etwas Ernstes passiert war. Die vorbeieilenden Fußgänger verlangsamten ihre Schritte. Die Neugier siegte und zog sie zu dem Unglücksort.
Ein weißer Mercedes stand nachlässig am Kantstein geparkt. Ein Mann in einem hellen Ulster war gerade um den Wagen herumgelaufen und hatte die Tür auf der Beifahrerseite geöffnet, als die Dame mit dem Dackel anfing zu schreien. Der Mann drehte sich schnell um, spähte durch den Regen und entdeckte das Bündel, nur dreißig Meter von ihm entfernt. Seine Hand umklammerte weiter den Griff der offenen Wagentür, während er langsam den Kopf nach hinten beugte und zur obersten Wohnung des stattlichen Hauses hinaufsah. Ein leiser Jammerton entfuhr seiner Kehle, aber er blieb weiterhin wie gelähmt stehen. Die Frau auf dem Beifahrersitz sprang behände aus dem Wagen, ohne sich einen Mantel überzuziehen, und lief auf die unbewegliche Gestalt auf dem Boden zu. Die Frau war klein und dünn, was durch das elegante Chanelkostüm noch betont wurde. Die Kunst, auf hohen Hacken zu laufen, beherrschte sie formvollendet. Hektisch bahnte sie sich mit ihren Ellbogen einen Weg durch das Menschengedränge und gelangte so ins Zentrum des Geschehens.
Der Streifenwagen war als Erster zur Stelle. Der Unfallwagen kam nur fünf Minuten später. Die Sanitäter konnten nur noch feststellen, dass nicht mehr viel zu tun war. Die beiden Polizisten versuchten die sensationslüsternen Zuschauer zurückzudrängen, die plötzlich klaglos Wind und Regen trotzten. Einer der Polizisten setzte sich in den Wagen und forderte Verstärkung an. »Schickt das Einsatzkommando zur Ecke Aschebergsgatan-Molinsgatan. Ein Mann ist aus dem fünften Stock gesprungen. Scheint dieser berühmte Typ zu sein. Knäck- irgendwas. Seine Frau und sein Sohn befinden sich hier, sie stehen unter Schock. Wir brauchen für beide einen Krankenwagen. Ja, genau… von Knecht.«
Kriminalkommissar Sven Andersson war auf dem Weg zu seinem alten Volvo 240 und wollte gerade den Schlüssel ins Schloss stecken, als er eine nur allzu vertraute Frauenstimme rufen hörte:
»Sven warte! Es gibt Arbeit!«
Verärgert drehte er sich um und seufzte:
»Was ist denn nun wieder los?«
Die Stimme der Inspektorin klang ein wenig sensationsheischend, als sie sagte:
»Richard von Knecht ist vom Balkon gesprungen!«
»Richard von Knecht! Der Richard von Knecht…?«
»Ja. Klingt unglaublich, nicht? Vielleicht gab’s ja gerade irgendwo einen Börsencrash?«
»Steig ein. Hast du die Adresse?«
Es goss in Strömen, und der Kommissar musste die Scheibenwischer auf Höchstgeschwindigkeit stellen, um überhaupt etwas erkennen zu können. Göteborg machte seinem Spitznamen »Blöteborg« = Nassburg alle Ehre. Erst eine Woche zuvor hatte hier das nackte Chaos geherrscht, nachdem ein halber Meter Schnee gefallen war, was die ganze Stadt für mehrere Tage lahm gelegt hatte. Die Folgen davon würden sich sicher Anfang August des nächsten Jahres in hohen Geburtenraten zeigen. Jetzt herrschten erneut einige Plusgrade, und es war keine einzige Schneeflocke weit und breit mehr zu finden.
Inspektorin Irene Huss rief zu Hause bei ihren Teenagertöchtern an und teilte ihnen mit, dass es später werden würde. Das waren sie gewohnt, da ihre Mutter seit vielen Jahren bei der Kriminalpolizei arbeitete. Sie versprachen, mit dem Hund rauszugehen, ihm zu fressen zu geben und es Krister zu sagen. Er war es natürlich auch gewohnt. Wie üblich würde er seinen Töchtern etwas Leckeres kochen. Alles funktionierte reibungslos, auch ohne ihr Dazutun.
Sie musste laut geseufzt haben, denn Kommissar Sven Andersson warf ihr einen schnellen Blick zu und fragte:
»Hast du Sorgen?«
»Nein, nichts. Es ist nur dieses trübe Wetter. Und dann noch ein Selbstmord. Alles ist so grau. Grau, grau, grau!«
Der Kommissar nickte zustimmend und starrte mit finsterer Miene in den schwarzen Regen hinaus, der von den Sturmböen gegen die Windschutzscheibe geworfen wurde. Schließlich fragte er:
»Woher weiß die Einsatzzentrale, dass es wirklich Richard von Knecht ist, der da gesprungen ist?«
»Dem Wachhabenden zufolge befanden sich seine Frau und sein Sohn unten auf der Straße. Offenbar hat der Sohn die Polizei gerufen.«
»Weißt du, aus welchem Stockwerk er gefallen ist?«
»Nein, aber anscheinend war es ziemlich hoch.«
Ein paar Minuten herrschte Schweigen. Dann räusperte sich der Kommissar und fragte:
»Weißt du was über diesen Richard von Knecht?«
»Das, was die meisten wissen. Stammt aus adligem Haus und ist reich. Ein Geschäftsmann, wie er im Buche steht, mit allen Wassern gewaschen, Mitglied von Göteborgs High Society. Glaubt man dem Wirtschaftsmagazin, dann ist er ein Geschäftsgenie, aber laut meinem Mann hat er nur unglaubliches Schwein gehabt.«
»Ist Krister jetzt auch noch unter die Wirtschafts- und Aktienexperten gegangen?«
»Nein, nein. Aber er hat vor ein paar Jahren durch die Umstrukturierung zwanzig Trygg-Hansa-Aktien bekommen. Trotzdem ist er immer noch bloß Küchenchef im Glady’s Corner.«
»Aber das ist doch ein guter Job, oder? Die Adresse soll im Augenblick richtig in sein, wie ich gehört habe.«
»O ja.«
Durch die hektisch arbeitenden Scheibenwischer konnten sie jetzt das pulsierende Blaulicht der Einsatzfahrzeuge sehen. Das Einsatzkommando war da und die Besatzung hatte einen größeren Bereich abgesperrt. Der Platz, wo der Körper aufgeschlagen war, wurde von einem weichen Lichtschein erleuchtet, der durch die Scheiben in der Eingangstür eines exklusiven Herrenausstatters fiel. Die Tür war in die Ecke des Granitsockels des Hauses eingelassen worden. Kommissar Sven Andersson konnte sich schwach daran erinnern, dass sich in seiner Kindheit eine Apotheke hier befunden hatte. Aber ganz sicher war er sich nicht, da er in Masthugget aufgewachsen war.
Über der Tür befand sich ein Erker. Jedes Stockwerk hatte einen derartigen Eckerker mit Fenstern, die in drei Richtungen gingen. Außer dem obersten, das dafür mit einem Balkon protzte, der mit einem turmförmigen Dach versehen war. Von dort war Richard von Knecht auf die Straße hinuntergestürzt. Kommissar Andersson ließ seinen Blick über das huschen, was von ihm übrig geblieben war, schaute aber schnell wieder weg. Auch Inspektorin Huss erschauerte. Keine schöne Art zu sterben, dachte sie. Einer von der Spurensicherung gesellte sich zu ihnen.
»Der Gerichtsmediziner kommt gleich.«
»Weißt du, wer Dienst hat?«, fragte der Kommissar.
Ein Achselzucken war die Antwort. Mit Irene Huss im Kielwasser ging Kommissar Andersson zu dem parkenden Streifenwagen. Er beugte sich zu dem Polizisten hinunter, der auf dem Fahrersitz saß.
»Hallo, Kommissar Sven Andersson von der Kripo.«
»Hallo, Hans Stefansson von PO1. Haben sie euch schon hergerufen?«
»Ja, das ging erstaunlich schnell. Wir wurden angeblich schon eine Viertelstunde, nachdem es passiert ist, gerufen, was wohl bedeuten würde, dass er um siebzehn Uhr fünfundvierzig gestürzt ist. Stimmt das?«
»Nicht ganz. Wir waren als Erste hier, und ich war Punkt siebzehn Uhr fünfunddreißig vor Ort. Er kann höchstens fünf Minuten früher runtergesegelt sein. Mein Kollege und ich befanden uns auf dem Korsvägen, als der Einsatz kam. Ich nehme an, die genaue Zeit des Sturzes war siebzehn Uhr dreißig.«
Ihr Gespräch wurde unterbrochen durch die Ankunft der Gerichtsmedizinerin Yvonne Stridner. Sie war Professorin für Rechtsmedizin und unbestritten eine der besten Pathologen des Landes. Aber Kommissar Andersson hatte so seine Probleme mit ihr. Professor Stridner war nämlich eine Frau, die wusste, was sie konnte, und keinen Grund sah, damit in irgendeiner Form hinter dem Berg zu halten. Irene Huss war schon bei mehreren Fällen dabei gewesen, bei denen die Hypothesen der Polizei durch die sorgfältigen gerichtsmedizinischen Gutachten von Yvonne Stridner ad absurdum geführt worden waren. Und bis jetzt hatte sie jedes Mal Recht behalten. Aber nicht das machte es Kommissar Andersson so schwierig, mit ihr auszukommen, sondern ihre autoritäre und akademische Art. Irene Huss hatte den starken Verdacht, dass der Kommissar insgeheim der Meinung war, dass die Gerichtsmedizin kein passendes Berufsfeld für eine Frau war.
Der weiße Ford Escort mit der Aufschrift »Arzt« auf beiden Vordertüren war am Rand des abgesperrten Gebiets abgestellt. Heraus segelte die Professorin der Gerichtsmedizin. Auch die, die keine Ahnung von ihrem Beruf hatten, wichen ihrer selbstverständlichen Autorität. Ihr flammend rotes Haar harmonierte ausgezeichnet mit dem weichen, senffarbenen Wollcape. Sie ging zu der Leiche, nahm das Cape ab und bat einen Polizisten, es zu halten. Ein schneeweißer Arztkittel kam zum Vorschein. Sie öffnete die kleine Tasche, die sie bei sich trug, zog ein Paar Gummihandschuhe über und hockte sich neben von Knechts Überreste. Die Kriminaltechniker hatten gerade einen Scheinwerfer installiert, sodass sie besser sehen konnte. Nicht einen Blick hatte sie in die Runde geworfen. Professor Stridner hatte über ihre exklusiven Lederschuhe ein Paar Plastikhüllen gezogen. Um die Leiche herum gab es viel Blut, vermischt mit anderen Dingen und verdünnt durch das Regenwasser. Ziemlich matschig die ganze Angelegenheit.
Um das Gefühl zu haben, etwas Nützliches zu tun, beschloss Irene Huss, erst einmal die anwesenden Polizisten zu befragen. Den Leiter der Bereitschaftspolizei, Håkan Lund, kannte sie gut. Vor fünfzehn Jahren hatten sie gleichzeitig in dem damaligen dritten Distrikt, dem jetzigen PO1, angefangen. Lund war nicht viel größer als sie, höchstens einsachtzig. Aber seine Taillenweite würde bald die gleichen Ausmaße annehmen, wenn er nicht aufpasste.
Die Leute von Einsatzkommando hatten ihre Instruktionen bekommen. Håkan Lund wandte sich Irene Huss zu und begrüßte sie freundlich: »Hallo, Huss! Ist die Kripo auch schon da?«
»Grüß dich. Ja, diesmal sind wir rechtzeitig gerufen worden. Wann seid ihr da gewesen?«
»Wir haben den Alarm kurz nach halb sechs von der Einsatzzentrale gekriegt. Wir sind direkt hergefahren. ›Höchste Priorität! Richard von Knecht liegt tot Ecke Molinsgatan-Aschebergsgatan!‹«
»Wie sah es aus hier?«
»Das reinste Chaos! Die Geier hatten sich schon versammelt. Wir wären fast nicht durch die Gaffer gekommen. Aber wir haben geschoben und ein paar Drohungen ausgestoßen und dann die Sperren aufgestellt. Und zwar ziemlich großzügig, wie du siehst. Der eine oder andere hat trotzdem noch versucht, unter den Plastikstreifen hindurch zu schlüpfen, aber denen habe ich den Marsch geblasen. Und nicht zu leise!«
Irene Huss konnte sich die Szene lebhaft vorstellen. Sie fragte schnell weiter. »Wer hat Richard von Knecht identifiziert?«
»Seine Frau und sein Sohn. Als wir durch die Menschenmenge kamen, stand da eine total durchnässte Frau und weinte. Ein junger Mann versuchte sie zu stützen. Das waren Frau von Knecht und ihr Sohn. So weit ich verstanden habe, befanden sie sich gerade auf der Straße, als er fiel«, sagte Håkan Lund voller Mitgefühl.
»Und wo sind sie jetzt?«
»Der Krankenwagen hat sie zum Sahlgrenska gefahren. Mit ihr kannst du bestimmt ein paar Tage lang nicht reden, und der Junge war kreidebleich. Der hat sich schon übergeben, als sie noch gar nicht richtig im Krankenwagen saßen.«
Håkan Lund wirkte nachdenklich, aber dann hellte sich sein Gesicht auf und er meinte:
»Du, ich habe da eine interessante Person aufgetan, die musst du unbedingt sprechen. Komm!«
Irene Huss folgte ihm zum Einsatzwagen. Mit einer theatralischen Geste öffnete er die Seitentür und sagte:
»Das hier ist Frau Karlsson. Frau Karlsson, das ist Inspektorin Irene Huss.«
Er wandte sich der kleinen Frau in hellgrauem Trenchcoat zu, die nur stumm zur Begrüßung nickte. Auf ihrem Schoß saß ein brauner Dackel, der offensichtlich nicht an Stummheit litt. Durch das wütende Gebell des Hundes hörte Irene Huss Håkan Lund sagen:
»Das ist die Zeugin, die am nächsten dran war. Sie befand sich ungefähr sieben Meter vom Aufprallpunkt entfernt.«
Irene wandte sich der Frau zu. Eine dünne weiße Hand streckte sich ihr zitternd entgegen. Sie umfasste vorsichtig die gebrechliche, kalte Hand. Mit therapeutischem Tonfall begann sie: »Frau Karlsson, ich würde gern mit Ihnen über das tragische Geschehen sprechen, das sie heute Abend haben mit ansehen mussten…«
»Es war schrecklich! Ich bin jetzt bald siebenundsiebzig Jahre, und das hier ist das Fürchterlichste, was mir in meinem ganzen Leben passiert ist! Mit ansehen zu müssen, wie ein Mann vor den eigenen Füßen zerschmettert wird! Er ist ja fast auf Snobben gefallen!«
Ein dünner weißer Finger zeigte anklagend auf die Reste von Richard von Knecht. Irene trat sofort den Rückzug an. Es war das Beste, die alte Dame nach Hause zu bringen und erst später zu versuchen, sie zu vernehmen.
Hinten bei der Leiche war Yvonne Stridner dabei, ihre Sachen einzupacken. Mit geübten Bewegungen riss die Professorin sich die Gummihandschuhe ab, zog ihren Kittel aus und stopfte alles in eine Tasche. Die Plastiküberzüge hatte sie bereits von den Füßen gezogen. Ohne auch nur einen Blick auf ihn zu werfen, machte die Stridner eine majestätische Geste in Richtung des jungen Polizeiassistenten, der geduldig mehr als eine Viertelstunde lang ihren Mantel gehalten hatte. Erst jetzt schien sie zu bemerken, dass Leute um sie herumstanden. Laut sagte sie:
»Gibt’s hier jemanden von der Kripo?«
Kommissar Andersson sank in sich zusammen, seufzte und trottete zu ihr hinüber.
»Ach ja, der Andersson. Kommen Sie näher. Aber treten Sie nicht ins Blut«, sagte die Pathologin.
Irene Huss schlich hinter dem Kommissar her. Stridner hatte aus dem Seitenfach ihrer Tasche einen Stab gezogen. Sie zupfte kurz an dem einen Ende und zog einen ein Meter langen Zeigestock hervor. Das passte perfekt zu Yvonne Stridner, mit einem Zeigestock in der Tasche herumzulaufen. Auffordernd sagte sie:
»Sehen sie mal auf die Oberseite seiner rechten Hand. Ich habe die Hand umgedreht, damit das Licht drauf fällt. Schauen Sie!«
Sie zeigte mit ihrem dünnen Stock. Die beiden Kriminalbeamten sahen es. Quer über den ganzen Handrücken lief eine scharfe Furche. Nicht so schmal wie nach einem Messerschnitt, aber eindeutig durch etwas Scharfes verursacht.
Andersson traute sich zu fragen:
»Kann er sich das nicht beim Fallen zugezogen haben?«
»Nein. Zu gerade. Die Wunde muss ihm mit einem Instrument oder einer Waffe beigefügt worden sein. Da ich von Knecht kenne… oder kannte, berührt mich der Todesfall auch persönlich. Eigentlich habe ich morgen den ganzen Vormittag Unterricht, aber ich werde zusehen, dass ich die Obduktion selbst machen kann. Ich werde spätestens um acht anfangen und so nach elf Uhr von mir hören lassen.«
»Wäre es nicht möglich, ihn schon heute Abend kurz anzusehen?«
Der Kommissar sah sie ohne große Hoffnung an. Sie schob ihre rote Haarpracht kurz mit den Fingerspitzen nach oben. Ihre Frisur hatte mittlerweile erheblich gelitten.
»Nicht nötig, Andersson. Wir haben es hier mit größter Wahrscheinlichkeit mit Mord zu tun«, entgegnete sie nur kurz.
Irene Huss ertappte sich, wie sie die Pathologin ungläubig anstarrte. Wut stieg in ihr auf; wie bei den meisten Menschen stimulierte ein herablassender Tonfall ihren Adrenalinspiegel. Mit scharfer Stimme mischte sie sich ein.
»Einen Augenblick! Womit begründen Sie das? Und woher kennen Sie von Knecht?«
Stridner sah sie überrascht an, als würde sie erst jetzt bemerken, dass noch eine Person anwesend war. Sven Andersson murmelte erklärend Namen und Titel von Inspektorin Irene Huss. Bevor Stridner antworten konnte, kamen Sanitäter und fragten, ob sie die Leiche in die Pathologie bringen könnten. Die Gerichtsmedizinerin nickte. Sie zeigte zum Hauseingang.
»Stellen wir uns dort unter, dann stehen wir nicht im Weg. Und nicht im Regen.«
Der ganze Trupp ging zum Eingang, einer soliden Tür mit schön geschliffenem Fensterglas in der oberen Hälfte. Es gab keine Namensschilder der Hausbewohner, nur ein Codeschloss mit Gegensprechanlage. Man musste den Code wissen, um überhaupt Kontakt mit den Hausbewohnern aufnehmen zu können.
Yvonne Stridner kam sofort zur Sache:
»Wir waren keine engen Freunde, von Knecht und ich. Er ist manchmal mit meinem Mann segeln gewesen. Oder besser gesagt, mit meinem Exmann. Mein jetziger Mann kennt die Familie von Knecht gar nicht.«
Die Stridner war also verheiratet, und das auch noch mindestens zweimal. Irene Huss’ Wut wich der Überraschung. Die Verwirrung der Inspektorin gar nicht bemerkend, fuhr die Professorin fort:
»Es ist genau fünfzehn Jahre her, seit ich ihn das letzte Mal gesehen habe. Aber ich bin überzeugt davon, dass Richard nie, niemals von einem Balkon aus fünfundzwanzig Metern Höhe springen würde! Auch wenn er Selbstmord machen wollte. Er hatte nämlich Höhenangst. Wenn ein Schot oder eine Wante sich am Mast verhakte, versuchte er es möglichst zu umgehen hinaufzuklettern.«
»Woher kannte Ihr Exmann Richard von Knecht?«
Wieder war es Irene Huss, die fragte. Yvonne Stridner warf ihr einen schnellen Blick zu, nickte dann aber, als verstünde sie, warum diese Frage gestellt werden musste.
»Sie gehörten während der Gymnasiumszeit zur gleichen Clique. Damals gingen sie füreinander durch dick und dünn. Mit der Zeit kamen dann diverse Freundinnen und Ehefrauen dazu. Wir durften jedes Jahr beim Frühlingsball und zu Silvester dabei sein. Ansonsten standen die Frauen ziemlich außen vor. Das war fast wie ein Herrenclub, eine Art Orden.«
»Wie viele Jahre lang hatten Sie Kontakt mit den von Knechts?«
»Tore und ich waren knapp vier Jahre verheiratet. In der Zeit habe ich sie vielleicht zehnmal getroffen. Und das ist, wie gesagt fünfzehn Jahre her. Mit der Scheidung brach jeder Kontakt mit den von Knechts ab.«
Irene Huss bemerkte, wie die Professorin auf ihre elegante Armbanduhr schaute, und wusste, dass sie sich mit ihrer letzten, wichtigen Frage beeilen musste. Schnell fragte sie:
»Wer war alles Mitglied in diesem Herrenclub?«
Jetzt sah Yvonne Stridner wütend aus. Vielleicht hatte sie das Gefühl, zu mitteilsam gewesen zu sein.
»Einige heute ziemlich bekannte Männer«, sagte sie schroff. Nach einer Weile fuhr sie freundlicher fort.
»Lassen Sie es uns so machen. Ich fertige euch eine Liste von denen an, die zur Gruppe gehörten. Die kriegt ihr morgen mit dem vorläufigen Obduktionsbericht.«
Mit schnellen Schritten ging sie zu ihrem weißen Ford Escort. Irene Huss schaute ihr nach und sagte:
»Sie ist doch ganz menschlich.«
Sven Andersson schnaubte:
»Die und menschlich! Sie hat so viele Gefühle wie ein Bagger!«
Inspektor Huss musste kichern und stellte mal wieder fest, dass der Kommissar reichlich nachtragend war. Dann drehte sie sich zur Haustür und schaute sie nachdenklich an.
»Und wie kommen wir jetzt hier rein? Das ist das reinste Fort Knox, wenn man weder Code noch Schlüssel hat«, stellte sie fest.
Kommissar Andersson schien gar nicht zuzuhören, er war offensichtlich in Gedanken versunken. Schließlich holte er tief Luft und sagte:
»Es wird eine Weile dauern, bis sie in der Zentrale den Staatsanwalt erreicht haben und die Erlaubnis für eine Hausdurchsuchung haben. In der Zeit werde ich wohl hier stehen müssen und auf die Erlaubnis und einen Schlüsseldienst warten. Könntest du zum Sahlgrenska-Krankenhaus fahren und nachfragen, wie es der Ehefrau und dem Sohn geht? Wäre doch schön, von denen die Schlüssel zu bekommen. Auf diese Weise müssen wir diese wundervolle Haustür hier nicht beschädigen.«
Ein müder und bitterer Unterton verriet, dass Sven Andersson wohl stärker von dem Fall betroffen war, als er zugeben wollte.
Wie üblich war es hoffnungslos, einen Parkplatz finden zu wollen, obwohl die Abendbesuchszeit fast vorbei war. Irene zeigte dem Wächter ihren Dienstausweis und bekam die Erlaubnis, hineinzufahren. Das klappte nicht immer, wenn man in Zivil kam und niemanden im Auto hatte, der versorgt werden musste.
Da es ein normaler Dienstagabend war und immer noch ziemlich früh, war es in der großen Notaufnahme ruhig. Irene ging zum Schwesternbüro und sah dort einen blonden Krankenpfleger sitzen und telefonieren. Sie hatten sich aus dienstlichen Gründen schon häufiger gesehen. Er winkte ihr freundlich zu und machte Zeichen, dass er das Gespräch gleich beenden würde.
Irene Huss schaute sich um. Direkt vor dem Büro lag ein älterer Mann auf einer Trage. Seine Gesichtsfarbe war bleich und von hässlichem Grau, die Lippen waren in dem blassen Gesicht kaum zu sehen. Er lag mit geschlossenen Augen da und schien von seiner Umgebung nichts wahrzunehmen. Neben ihm auf einem Stuhl saß eine kleine, pummelige Frau und strich ihm unaufhörlich über den Arm. Sie schluchzte lautlos, sprach aber nicht mit ihm. Weiter hinten im Warteraum saß ein Jüngling, eine Menge blutiges Haushaltspapier um die Hand gewickelt. Ein älterer Gentleman, den Huss von der Säuferbank im Brunnspark kannte, lag laut schnarchend auf einer Trage. Er war sicher in keiner akuten Gefahr, denn das Blut um die Wunde auf seiner Stirn war schon geronnen. Eine junge Frau saß kerzengerade auf ihrem Stuhl und starrte vor sich hin. Abgesehen von dem Schnarchen war es fast friedlich in der Aufnahme.
Pfleger Roland hatte sein Gespräch beendet und winkte Huss vom Flur zu sich herein mit einem fröhlichen:
»Hallo, Irene! Lange nicht gesehen! Ich glaube, ich weiß, warum du hier bist!«
»Hallo! Hast du Frau von Knecht und ihren Sohn gesehen?«
»O ja, die Sanitäter haben mich zum Krankenwagen gerufen. Sie waren der Meinung, dass es wohl besser wäre, sie gleich zur Psychiatrie zu bringen. Und bei dem Zustand, in dem sie sich befand, konnte ich dem nur zustimmen.«
»Und wie erschien der Sohn?«
»Er hat nur vor sich hin gestarrt. Er stand natürlich auch unter einem ziemlichen Schock. Willst du einen Kaffee, bevor du gehst? So auf die Schnelle?«
Roland winkte einladend zum Personalzimmer. Irene Huss spürte einen unwiderstehlichen Sog im Magen, lehnte aber dankend ab. Die Zeit lief zu schnell davon. Sie ging gerade zum Ausgang, als eine sonderbare Gestalt durch die Türen hereinkam. Er war lang und unglaublich mager. Das rattenfarbene Haar war dünn und hing fettig auf den Rücken der Lederjacke hinunter. An den Füßen trug er ein Paar unglaublich schmutzige, ausgetretene Joggingschuhe, die mit seinen Jeans in puncto Dreck in Konkurrenz treten konnten. Die wadenlange Lederjacke hatte einen Schnitt wie aus den Sechzigern und war wahrscheinlich bei Myrorna gekauft oder aus einem Container nach einer Wohnungsräumung gezogen worden. Aber es war nicht seine dreckige, altmodische Kleidung, die Irene Huss zusammenzucken ließ.
Sein Kopf war so gelb, dass er schon ins Grüne schillerte. Der Kerl hatte eine Gelbsucht von fulminantem Kaliber. Wortlos öffnete der Gelbhäutige seine Jacke. Die Vorderseite seines T-Shirts war blutdurchtränkt. Die reglosen Pupillen, umgeben von schwefelgelbem Weiß, sahen die Inspektorin starr an. Er packte den unteren Rand seines T-Shirts und zog es hoch.
Da schrie Irene Huss auf:
»Roland! Schnell! Roland!«
Pfleger Roland steckte seinen Kopf aus der Bürotür. Nach mehr als zehn Jahren Arbeit in der Aufnahme hatte er kein Problem, die Situation sofort zu erfassen.
»Verdammt, das ist eine Darmschlinge, die da aus dem Bauch hängt!«
Er sprang zurück ins Büro. Sie hörte ihn aufgeregt in die Gegensprechanlage rufen.
»…Messerstich im Bauch. Das ist die reine Hepatitis und HIV auf zwei Beinen.«
Wie der Blitz kam er aus der Tür geschossen. Im Laufen zog er sich einen gelben Schutzkittel, Plastikhandschuhe und eine Schutzbrille über. Genau in dem Moment, als er zu dem Mann mit dem Messerstich kam, verdrehte dieser die Augen nach oben, ließ sie ein paar Mal kreisen und sank zu Boden.
Vom Flur hörte man schnelle Schritte näher kommen. Die Leute aus der Notaufnahme kamen hastig angelaufen, wobei sie gleichzeitig ihre Schutzbekleidung überzogen.
Die Inspektorin drückte sich vorsichtig seitwärts an der Gestalt vorbei, hinaus in die schwarze Novemberfeuchtigkeit. Es war richtig schön, in die Kälte zu kommen. Der Wind hatte abgeflaut, und der Regen hing nur noch wie ein Eisnebel in der Luft.
Die Psychiatrienotaufnahme war natürlich verschlossen. Irene Huss musste an der Tür klingeln. Ein langer, muskulöser Pfleger in weißer Arbeitskleidung kam und öffnete. Er baute sich in der Türöffnung auf, und seine Schultern füllten diese fast aus. Seine Gesichtszüge waren offen und kraftvoll, und er hatte eine ziemlich dunkle Haut. Vielleicht ein Inder? Mindestens zehn Jahre jünger als sie, aber er war einer der schönsten Männer, die sie je gesehen hatte.
»Hallo, worum geht es?«
Er hatte eine tiefe, angenehme Stimme ohne Akzent.
»Hallo, ich bin Inspektorin Irene Huss von der Kripo. Ich würde gern mit dem Sohn von Richard von Knecht sprechen. Nein, keine Vernehmung. Ich weiß, dass er vor einer Weile mit seiner Mutter hierher gebracht wurde. Wir brauchen nur seine Hilfe. Der Krankenwagen war schon abgefahren, als wir am Unglücksort eintrafen.«
Irene Huss zeigte ihren Polizeiausweis. Der Pfleger, der laut Namensschild Thomas hieß, nickte lächelnd. Er führte sie hinein in den kleinen, engen Warteraum. Dort wandte er sich wieder zu ihr und sagte mit leiser Stimme:
»Wir haben beide erst einmal in einem Behandlungszimmer untergebracht. Setzen Sie sich, dann gehe ich und sage Henrik von Knecht Bescheid, dass Sie mit ihm sprechen wollen.«
Wieder schenkte er ihr ein wunderbares Lächeln, bevor er ging. Irene sah seinen breiten Rücken den Flur hinunter verschwinden. Er klopfte an eine verschlossene Tür und öffnete sie dann. Aus dem Zimmer waren jammernde Schluchzer zu hören. Der Pfleger brauchte nicht länger als eine Minute. Als er zurückkam, hatte er einen blassen Mann in den Dreißigern bei sich. Auf dem hellbeigen Ulster des Mannes waren Blutflecken zu sehen, vor allem auf den Ärmeln und auf der Brust.
Aus dem Behandlungsraum war jetzt lautes Schluchzen zu hören.
»Geh nicht, Henrik. Lass mich nicht allein hier!«
Henrik von Knecht schloss die Tür und lehnte für einen Moment seine Stirn dagegen. Dann richtete er sich auf, holte tief Luft und folgte dem Pfleger. Die beiden waren fast gleich groß. Aber alles, was bei dem dunklen Pfleger Stärke und Wärme ausstrahlte, schien bei Henrik von Knecht genau das Gegenteil auszudrücken. Sicher, er war groß, ging aber gebeugt. Der teure Ulster hing ihm lose um den Leib. Sein blondes Haar war am Scheitel bereits schütter. Um das zu verbergen, hatte er seinen langen Pony nach hinten gekämmt. Sein Gesicht war scharf geschnitten. Es war eigentlich ein hübsches Gesicht, aber die Blässe und der helle Ulster verliehen ihm ein sonderbar ausgewaschenes Aussehen.
Er ging auf Irene zu. Seine Stimme klang schroff und rau, als er zögernd sagte:
»Ja bitte, Sie wünschen?«
»Ich bin Inspektorin Irene Huss. Wir wären Ihnen äußerst dankbar, wenn Sie uns bei einer Sache behilflich sein könnten.«
»Und die wäre?«
»Wir bräuchten den Schlüssel zur Wohnung Ihrer Eltern.«
»Den Schlüssel? Wozu denn?«
»Damit wir die Tür nicht aufbrechen müssen, um die Wohnung zu durchsuchen. Das ist in so einem Fall immer notwendig. Und es ist doch nur gut, wenn man das Schloss nicht kaputtmachen muss. Oder die Tür.«
Es schien, als wolle er protestieren, aber stattdessen schluckte er und drehte sich auf den Hacken um. Über die Schulter sagte er:
»Mama hat den Hausschlüssel in ihrer Handtasche.«
Er verschwand im Behandlungszimmer. Irene konnte von dort ein aufgeregtes Gemurmel von Stimmen und lautes Schluchzen vernehmen. Henrik von Knecht kam nach ungefähr fünf Minuten zurück. Sein Gesicht hätte zu einer verwitterten Marmorstatue gehören können. Aus dem Zimmer war eine angespannte, dünne Frauenstimme zu hören:
»…die Schlüssel zurück. Auch wenn sie…«
Der Wortschwall wurde abgeschnitten, als Henrik von Knecht fest und entschlossen die Tür schloss.
Henrik von Knecht sprach während der fünfminütigen Autofahrt kein einziges Wort. Er saß da, den Kopf vornübergebeugt, die Stirn in die Hände und die Ellbogen auf die Knie gestützt.
Inspektorin Huss forderte ihn nicht auf, sich anzuschnallen, sie ließ ihn versunken in seine Trauer und sein Schweigen sitzen. Als sie in die Molinsgatan einbogen, sah Irene Huss, dass nicht nur Kommissar Andersson und die Leute von der Spurensicherung vor von Knechts Haus warteten. Zwei Personen, die sie nur zu gut kannte, drückten sich vor der Eingangstür des Herrenausstatters herum. Sie fuhr an ihnen vorbei und bog nach links in die Engelbrektsgatan ein. Irene Huss berührte vorsichtig Henrik von Knechts Arm, worauf er zusammenzuckte, als hätte sie ihn geweckt.
»Was ist los?«, fragte er verwirrt.
»Ich will einen Bogen machen und in der Aschebergsgatan parken. In der Ecke vorm Herrenmodengeschäft stehen zwei Typen von der Zeitung. Können wir über den Hinterhof ins Haus kommen und von dort aus den anderen die Tür öffnen? Dann entkommen Sie den Hyänen«, erklärte Irene Huss.
Ein angespannter Zug fuhr über sein Gesicht, und plötzlich schien er hellwach zu sein.
»Parken Sie rechts bei den Erik-Dahlbergs-Treppen. Stellen Sie sich auf einen der beiden äußersten Plätze«, dirigierte er.
Sie hatten Glück, einer der Plätze war frei. Irene Huss sah den blutbefleckten Ulster an. Sie bat Henrik von Knecht, noch sitzen zu bleiben, während sie zum Kofferraum ging. Dort fand sie einen alten, öligen, blauen Helly-Hansen-Pullover und die schwarze Kappe ihrer Tochter, mit »N.Y.« bestickt. Sie gab ihm die Sachen und sagte:
»Ziehen Sie den Mantel aus und das hier an.«
Ohne eine Miene zu verziehen, zog er sich schnell im Auto um.
Sie gingen mit raschen Schritten über den Zebrastreifen. Das war der kritische Moment. Sie musste sich zwingen, nicht zur Ecke fünfzig Meter weit entfernt zu gucken. Mit erzwungener Ruhe gingen sie noch ungefähr zehn Meter weiter. Henrik von Knecht hielt vor einer massiven Holztür an, zog einen Schlüsselbund aus der Tasche seiner maßgeschneiderten Hose und schloss die Tür auf. Einer der Fotografen steckte seinen Kopf um die Ecke, schien aber nicht auf die Kontraste von Henrik von Knechts Kleidung zu reagieren.
Sie schlüpften durch die Tür und gelangten in einen Fahrradraum. Es war ein kombinierter Fahrrad- und Müllraum, eigentlich ein etwa zwanzig Meter langer Durchgang, der an beiden Enden von abgeschlossenen Türen begrenzt wurde. Neben der Tür zur Straße standen fünf grüne Mülltonnen.
Schnell durchquerten sie den Raum, öffneten die hintere Tür und traten auf einen kleinen, quadratischen Hinterhof. Er wurde von einem großen Baum mitten auf dem Hof beherrscht, beleuchtet von einer altmodischen Straßenlaterne. Die Wände entlang liefen Blumenrabatte. In jeder Hauswand befand sich eine kleine Tür mit Fenster und jede Tür war mit einer soliden Lampe beleuchtet. Henrik von Knecht steuerte ohne zu zögern die linke Tür an, schloss sie auf und hielt sie für Irene Huss auf. Er streckte seine Hand zu dem selbst leuchtenden Knopf, um die Treppenbeleuchtung einzuschalten.
»Kein Licht! Sonst sehen die Zeitungsfritzen, dass was im Gange ist«, zischte Irene Huss.
Sie holte ihre kleine, lichtstarke Taschenlampe aus der Tasche ihrer Popelinejacke. Dem nach unten gerichteten Lichtstrahl folgend gingen sie fünf schmale Treppenstufen hinauf. Durch die schmale Türöffnung traten sie in ein großes Treppenhaus. Im Lichtkegel glänzte der bunte Marmor des Bodens. Rechts von sich sahen sie das Licht eines Fahrstuhlfensters. Irene Huss löschte die Taschenlampe und ging zur Eingangstreppe, die zur Haustür hinunterführte. Als sie auf der Höhe der Fahrstuhltür stand, konnte sie den oberen Teil der schön geschliffenen Glasscheiben der Haustür sehen. Sie trat noch ein paar Schritte vor und konnte die Köpfe des Kommissars und der Techniker erkennen. Vorsichtig schlich sie an eine Seite der breiten Treppe, hielt sich an dem geschnitzten Treppengeländer fest und glitt lautlos die zehn Treppenstufen zur Tür hinunter. Sie tappte über die weiche Fußmatte, riss die Tür hinter ihren Kollegen auf und zischte laut:
»Schnell! Beeilt euch, ehe die Zeitungsfritzen kommen!«
»Uns beeilen! Wie soll man das denn anstellen, wenn man sich vor Schreck in die Hose geschissen hat!«, wollte Svante Malm von der Spurensicherung wissen.
Kommissar Andersson behauptete später, er wäre nie in seinem Leben einem Herzinfarkt näher gewesen.
Sie schlüpften durch die Tür hinein, bevor die Zeitungsheinis an der Ecke überhaupt begriffen hatten, was da vor sich ging. Irene Huss drückte auf den Knopf für die Flurbeleuchtung. Der Kommissar zwinkerte wütend mit den Augen und fragte schroff:
»Was zum Teufel machst du denn jetzt schon wieder?«
Aber Irene Huss antwortete ihm nicht, sie betrachtete voller Bewunderung die Wände des Treppenaufgangs. Die Wandgemälde waren wunderschön, spielende Kinder zwischen Buschwindröschen und der Frühling, der in einem Wagen angeflogen kam, welcher von großen exotischen Schmetterlingen gezogen wurde. Alles in frühlingshaften hellen Pastelltönen gehalten. Auf der gegenüberliegenden Wand gab es ein Mittsommernachtsfest in deutlich kräftigeren, bunteren Farben zu sehen. Erwachsene und Kinder tanzten in der Sommerdämmerung, und der Spielmann strich auf seiner Geige, was das Instrument nur hergab. Sein Gesicht war schweißnass, und die Augen funkelten vor Spielfreude.
»Das Gemälde hat Carl Larsson gemalt, Anfang der Neunzigerjahre im letzten Jahrhundert.«
Alle Polizisten wandten ihr Gesicht zum Treppenabsatz, von wo die trockene Stimme kam. Henrik von Knecht sah in seiner Verkleidung zweifellos sonderbar aus. Er schaute auf die vier Polizisten herunter und nickte Irene zu, als er weitersprach:
»Die Inspektorin Huss war so freundlich und hat mich an den Presseleuten vorbeigelotst. Wollen wir jetzt nach oben?«
Er zeigte mit einer Hand zur Fahrstuhltür. Die Polizisten trotteten die Stufen hoch und drängten sich in den kleinen Aufzug. »Max. 5 Personen«, informierte ein Messingschild. Irene hoffte heimlich, dass es sich dabei um ausgewachsene Personen handeln durfte. Sie nutzte die Gelegenheit, Henrik von Knecht den anderen drei vorzustellen: Kommissar Andersson und den Leuten von der Spurensicherung, Svante Malm und Per Svensson. Letzterer trug die schwere Beleuchtungsausrüstung und diverse Kameras.
Ohne Zwischenstopp fuhr der Fahrstuhl in den vierten Stock. Sie stiegen aus und gingen zu der großen, geschnitzten Doppeltür. Ein zierliches schmiedeeisernes Gitter in Form ineinander verschlungener französischer Lilien bedeckte das in die Tür eingelassene Fenster. Die Schnitzereien auf der unteren Türhälfte stellten springende und spielende Hirsche dar. Svante Malm spitzte die Lippen zu einem lautlosen Pfiff beim Anblick der imposanten Tür.
Irene Huss schien es, als hätte Henrik von Knecht sich während ihres Versteckspiels mit der Presse ein wenig erholt. Aber als er nun aus dem Aufzug stieg, erstarrte sein Gesichtsausdruck von neuem. Auch Kommissar Andersson bemerkte das.
»Sie müssen nicht mit in die Wohnung kommen«, sagte er freundlich.
»Doch, das will ich aber!«
Die Antwort kam wie ein Peitschenknall. Der Kommissar war überrascht davon und murmelte:
»Ja, ja, können Sie ja. Aber Sie müssen sich dann dicht hinter uns halten. Sie dürfen nichts anfassen, sich auf keinen Stuhl setzen und kein Licht anmachen. Wir sind natürlich dankbar, wenn Sie uns durch die Wohnung führen würden. Wie groß ist sie eigentlich?«
»Dreihundertfünfzig Quadratmeter. Es ist eine Maisonette-wohnung. Die anderen drei Wohnungen im Haus sind immer nur auf einem Stockwerk. Papa hat das Haus hier Ende der Siebziger gekauft und es sehr sorgfältig renovieren lassen. Es steht natürlich unter Denkmalschutz«, berichtete er.
»Es gibt also nur drei andere Wohnungen im ganzen Haus?«
»Ja.«
Während sie miteinander sprachen, hatte der Kommissar sich ein Paar dünne Gummihandschuhe übergezogen. Mit einer Geste bat er Henrik von Knecht um den Türschlüssel. Er bekam ihn und schloss auf.
Mit einem leichten Druck auf das äußerste Ende der Türklinke drückte er diese nach unten und öffnete die Wohnungstür.
»Fasst keinen Lichschalter hier im Flur an. Benutzt lieber eure Taschenlampen«, ermahnte Svante Malm sie.
Leicht seufzend fuhr er fort:
»Der Laser ist kaputt, deshalb muss ich die gute alte Pulvermethode benutzen.«
Währenddessen suchte er mit dem Lichtkegel seiner Taschenlampe nach dem Lichtschalter. Als er ihn direkt neben der Tür gefunden hatte, bat er Irene Huss, die Taschenlampe direkt auf den Schalter zu richten. Er blies über die ganze Plastikscheibe um den Knopf herum Metallpulver. Vorsichtig pinselte er das überflüssige Pulver weg, drückte eine dünne Plastikfolie auf die Fläche und zog diese dann wieder ab. Ein Ausdruck der Überraschung zeichnete sich auf seinem länglichen Gesicht ab.
»Total blank. Kein Krümelchen zu sehen. Jemand muss den Schalter abgewischt haben«, sagte er erstaunt.
»Deshalb riecht es hier wohl auch nach Ajax«, sagte Irene Huss.
Sie schnüffelten alle. Es gab noch mehr zu riechen. Zigarre. Das erklärte auch, warum sie ein Gefühl von Weihnachtsstimmung empfunden hatte, als sie in den Flur getreten war. Eine Erinnerung an die Weihnachtsfeiern ihrer Kindheit. Mutters Ajax und Vaters Weihnachtszigarre. Sie wandte sich an Henrik von Knecht.
»Rauchte Ihr Vater Zigarren?«
»Ja, ab und zu. Bei festlichen Gelegenheiten…«
Seine Stimme erstarb zu einem Flüstern. Er schluckte schwer, denn auch er hatte den Zigarrenduft wahrgenommen. Mit verkniffenen Lippen fragte er Irene flüsternd:
»Warum nehmen Sie Fingerabdrücke?«
Irene dachte daran, was die Gerichtsmedizinerin gesagt hatte, beschloss jedoch, nur einen Teil der Wahrheit zu sagen.
»Reine Routine. Das machen wir immer so, wenn wir bei einem überraschenden Todesfall an den Unglücksort gerufen werden«, erklärte sie.
Er kommentierte ihre Aussage nicht weiter, sondern biss so fest die Zähne aufeinander, dass die Kiefermuskeln wie steinharte Polster am Ende der Kieferlinie hervortraten.
Svante Malm knipste die Lampe im Flur an. Die Wände ragten sicher vier Meter in die Höhe. Die Eingangshalle war beeindruckend groß und geräumig. Der Boden war aus hellgrauem Marmor. Rechts von der Tür reihten sich fünf Garderobenfächer mit geschnitzten Türen aus dunklem Holz aneinander. Die mittlere war mit einem ovalen Spiegel versehen, der fast die ganze Tür bedeckte. Zusätzlich thronte einer der größten und am reichsten verzierten Spiegel, die Irene Huss je gesehen hatte, an der gegenüberliegenden Wand. Unter ihm stand eine ebenso kunstvoll geschnitzte und vergoldete Konsole.
Kommisar Andersson wandte sich Henrik von Knecht zu.
»Können Sie uns kurz einen Überblick über die Wohnung geben?«
»Ja, natürlich. Die Tür neben dem Spiegel führt zu einer Toilette. Die nächste Tür geht zur Küche.«
»Und die Tür gegenüber der Küche, neben den Garderoben?«
»Die führt in die Gästesuite hier unten. Dort drinnen gibt es ein separates Badezimmer mit WC. Geradeaus haben wir die Tür zu dem großen Wohnzimmer. Ganz dahinten, linker Hand, ist die Treppe zum oberen Stockwerk. Dort oben liegen die Bibliothek, ein kleineres Arbeitszimmer, die Sauna, das Schlafzimmer, das Fernsehzimmer und der Billardraum. Und ein Bad mit WC und Jacuzzi.«
Svante Malm war vor einer glänzend polierten Kommode mit vergoldeten Beschlägen, runden Formen und einem Furnier aus hellen und dunklen Hölzern stehen geblieben. Mit Ehrfurcht in der Stimme fragte er:
»Darf ich fragen: Ist das eine Haupt-Kommode?«
Henrik von Knecht schnaubte unbewusst.
»Nein, die steht in der Bibliothek. Diese hier hat mein Vater in London gekauft. Der Versicherungswert beträgt fünfhundertfünfzigtausend. Auch ein hübsches Stück«, erklärte er.
Keinem der Polizisten fiel dazu eine Bemerkung ein. Der Kommissar wandte sich Irene zu.
»Am besten bleibst du mit Herrn von Knecht hier, während wir uns umsehen«, sagte er.
»Ich komme gern mit. Es ist ja möglich, dass etwas nicht so aussieht, wie es normalerweise aussieht«, widersprach Henrik von Knecht schnell.
Er schob sein Kinn vor und bekam einen eigensinnigen Zug um den Mund. Andersson sah ihn nachdenklich an und nickte dann zustimmend. Er wandte sich den Leuten von der Spurensicherung zu.
»Als Erstes überprüfen wir den Balkon«, bestimmte er.
Alle gemeinsam marschierten sie zu der breiten Türöffnung zum Wohnzimmer. Vorsichtig traten sie auf den weichen Teppich in der Mitte der Eingangshalle. Irene musste stehen bleiben, um das golden schimmernde Muster zu bewundern, das einen schönen Baum mit Vögeln und stilisierten Tieren darstellte, umgeben von einem weinrankenähnlichen Gewächs auf dunkelblauem Grund. Sie merkte, wie Henrik von Knecht sie ansah.
»Das ist ein semiantiker Motashemi-Keshan«, erklärte er sachkundig.
Vor ihren Augen erschien kurz die Vision ihrer letzten Investition an der Teppichfront, ein rostroter Teppich mit kleinen, naiv gezeichneten Strichmännchen in den Ecken. Der Verkäufer bei IKEA hatte ihr versichert, dass das ein echter, handgeknüpfter Gabbeh war, zu dem günstigen Preis von zweitausend Kronen. Sie liebte diesen Teppich und war der Meinung, er würde ihr ganzes Wohnzimmer erhellen, wie er dort unter dem Couchtisch lag. Plötzlich überfiel sie wütend das Gefühl, ihren Teppich verteidigen zu müssen. Sie fauchte schärfer, als sie geplant hatte.