FÜR SUCHENDE
des urreligiösen Einweihungsweges, dargestellt in der
„rituellen Verborgenen Geometrie“

„TANDEM FIT SURCULUS ARBOR“

(Schließlich wird aus dem kleinen Zweig ein großer Baum)

Wahlspruch des Prinzen Maurits von Oranien (1567–1625)

mit beigefügtem Wahlspruch seines Vaters, des Prinzen Willem I. von Oranien

JE MAINTIENDRAY (Ich werde durchhalten)

in Anspielung auf die Verborgene Geometrie, die, seit etwa 1810 vergessen, in ihrer Bekanntheit anwachsen möge.

Delfter Kachel um 1660:
Ein Schütze einer Bürgerwehr in Holland,
der seine Muskete mit Pulver lädt

INHALTSANGABE

[Abb. 1] Rembrandt: „Selbstbildnis mit dem federgeschmückten Barett“, Radierung, 1638 (B 20), Reprodunktionsradierung, 1871. [s. Schwartz 1978, B 20]

1.    VORWORT

Rembrandt Harmenszoon van Rijn [Abb. 1] [Anm. 1] malte im Auftrag von Frans Banningh Cocq [Abb. 2], des Kapitäns der Kloveniers-Schützen des Amsterdamer Wehrbezirkes II und der Leiter (Overmannen) des Cloveniersdoelen (des Büchsenschützen-Zielhauses) [1] für deren Festsaal [Abb. 3] im neu errichteten Anbau an den alten Turm „Swight Utrecht“ [Abb. 4], wo die Schützen ihren Versammlungsort (mit weiteren Schützenkompanien) hatten, das Bild „Kapitän Frans Banningh Cock gibt seinem Leutnant den Befehl zum Aufmarsch der Bürgerkompanie“, genannt „Die Nachtwache“ [2] das Rembrandt 1642 fertig stellte [Abb. 5]. Das Bild, mit Öl auf Leinwand gemalt, hat die Maße von 379,5 × 453,5cm [3] (ursprünglich ungefähr 440 × 500cm [4]); und es befindet sich im Rijksmuseum in Amsterdam.

[Abb. 2] „Frans Banning Kok, Heer van Purmerland en Ilpendam“ (s. „Nachtwache“), radiert von J. Houbraken (1698–1780), in: Vaderlandsche Historie 1749, XII, nach S. 100.

[Abb. 3] Versammlung der Patrioten im Bürgersaal im Schüztenhaus der Cloveniere zu Amsterdam im August des Jahres 1748 (an der linken Wand waren sechs Fenster).

1.1.  DER GRUND FÜR EINE ERNEUTE INTERPRETATION DER „NACHTWACHE“

1.1.1. Das erweiterte Interpretations-Instrument der Verborgenen Geometrie

Der Grund für eine neuerliche Interpretation des Bildes ist die vom Autor neu entdeckte „Verborgene Geometrie“, die in diesem Bild enthalten ist. Ihre geometrischen Figuren zeigen die „Einweihungswege“ der „Königlichen Kunst“ der Wandlung des Menschen aus einem „rauen Stein“ mit dominanter Triebwelt in einen „behauenen (kubischen) Stein“ [5], dessen Geist die Triebwelt überwunden hat (d. h. dass deren körperliche und egoistische Begierden vom „Höheren Ich“ reguliert werden, wodurch Geist und Seele aus dem „Käfig des erdlichen und materiellen Gefängnisses“ [6] entlassen sind und frei für ihre Hinwendung zum Göttlichen [s. die „Einführung in die Verborgene Geometrie“ mit dem Verzeichnis der „Abkürzungen“ im Anhang vorliegender Monographie unter A5 und A6].

Gegenüber den bekannten Rembrandt-Forschern [s. das Literatur-Verzeichnis], die diesen neuen Ansatz noch nicht kannten, wird hier also die hermetische, symbolische Ebene der „Königlichen Kunst“ – (der Wandlung des Menschen, vergleichbar der Wandlung der unedlen Metalle zum edlen Metall, zum Reinen und Ewigen, in der Sprache der Alchemie) – in der „Nachtwache“ in der Sprache der Verborgenen Geometrie erkannt und vor Augen geführt.

[Abb. 4] Das Schützenhaus der Cloveniers-Doele zu Ehren der moskowitischen Gesandtschaft am 29. August 1697 (Radierung von I. Moucheron, Ausschnitt).

[Abb. 5] Rembrandt „Die Nachtwache“ (Heliogravüre, um 1900).

Eigentlich hat schon lange die „Königlichen Kunst der Wandlung des Menschen“ im Stadtbild von Amsterdam „auf ihre Entdeckung gewartet“, denn das Symbol der „Königlichen Kunst“, das von einer Krone überwölbte „magische Dreieck“ der Maurerkelle, ist am Gebäude des St. Anthonis-Tores, das ab 1618 in die St. Anthonis-Waage (mit Kammern für verschiedene Gilden) umgebaut wurde [Abb. 6], über der Tür zur Steinmetzen-Gilde (Metselaars-gilde, früher: Onze Lieve-Vrouwengilde) zu sehen [Abb. 7] [7]:

Das Dreieck der Maurerkelle bedeutet das „schöpferische Wort“, das Gott (dessen Symbol das Dreieck ist [8] [s. Anm. 2]) sprach und, hermetisch/ bauhüttenmäßig/ freimaurerisch gesehen, über die beiden Aufseher (Vernunft und Gewissen) an die werktätigen Bauleute weiter gab [s. die Einführung in die Verborgene Geometrie]. Hermetisch gesehen bedeutet dieses Dreieck das „magische Dreieck“, bestehend aus „Gott“ an der Dreiecks-Spitze, aus dem „Wort bei Ihm“ in der Mitte des Dreiecks und aus den beiden „Instanzen“ (zuständigen Stellen) Vernunft und Gewissen auf der Grundlinie des Dreiecks, welche Instanzen bei Gott und im Menschen anzutreffen seien, so dass der Mensch Sein Wort verstehen könne. Es ist das gleichseitige Dreieck, aus dessen Mitte heraus über beide Aufseher das gestaltende Wort kommt und in der Welt (in den Menschen) wirksam werden kann, wenn es von Gott suchenden Menschen vernommen und erforscht wird: Hierzu rufen also die „gebeitelten figuren boven de deur an dit oudste gedeelte van het gebouw“ [9] (die gemeißelten Figuren über der Tür an diesem ältesten Teil dieses Gebäudes) auf: den Betrachter dieses „Über-der-Tür-Bildes“, den Betrachter der „Nachtwache“ wie jeden Betrachter eines „Kunstbildes“ (mit enthaltener Königlicher Kunst in Gestalt der Verborgenen Geometrie) – und, so möchte man meinen, auch jeden Kunsthistoriker.

[Abb. 6] „Die Waage auf dem St. Anthonis Markt“ (von Süden gesehen, heute Nieuw Markt), Radierung, in: Zesen, 1664, nach S. 102.

Und das Besondere an dem aus jenem Dreieck kommenden Wort ist, dass es in der „Bildenden Kunst“ in Gestalt (verborgener) geometrischer Figuren auftritt, dass es also in einer anzufertigenden Aufzeichnung der verborgenen Geometrie zu sehen ist (und nicht zu hören ist). Wer also Sein Wort sucht und aufnimmt, erfährt etwas über Gott, über Seine schöpferische Kraft (denn „Er sprach und es ward“ [10]) und gleicht sich dem Verstehenkönnen des Gotteswortes an, wird Gott ähnlich, so dass Gleiches Gleiches zu verstehen lernt [11].

[Abb. 7] „Tür der Steinmetzengilde am alten Waage-Gebäude“, in: Wenckebach, S. 52.

Neben diesem seit längerem bestehenden Grund für eine neue (hermetische) Betrachtung der „Nachtwache“ gibt es auch jenen, dass des Autors Erforschungen hinsichtlich des Systems der Verborgenen Geometrie und hinsichtlich der verborgenen Aussagen der „Nachtwache“ weiter fortgeschritten sind.

1.1.2. Der Nachweis des Bezuges der „Nachtwache“ zum Besuch der Maria de´ Medici 1638 in Amsterdam

Der in der kunsthistorischen Literatur nicht eindeutig angenommene Bezug des Medici-Besuches 1638 in Amsterdam zum Inhalt der Nachtwache kann aufgrund weiterer Texte und weiteren Bildmaterials nun positiv dargestellt werden. Ebenso kann nun auch verborgen-geometrisch dieser Bezug belegt werden.

Hier im Vorwort sei das zu erwartende Ergebnis der verborgen-geometrischen Interpretation der „Nachtwache“ genannt: ihr „verborgenes Thema“ ist die (in der Republik der Vereinigten Provinzen der Niederlande vom Statthalter Prinz Frederik Hendrik von Oranien angestrebte) dynastische Vereinigung des Hauses von Oranien mit dem englischen Königshaus in Gestalt der Verbindung von Prinz Willem (II.) von Oranien mit der Prinzessin Maria Stuart von England, – womit zugleich ausgesagt wird, dass die „Nachtwache“ auf den Besuch der französischen Königin/ Regentin Maria de´ Medici (verwitwete Gattin des französischen Königs Heinrich IV. und Mutter Ludwigs XIII. und der englischen Königin Henriette-Marie und der spanischen Königin Isabella, sowie eben Großmutter der soeben angesprochenen Prinzessin Maria Stuart) im September 1638 in Amsterdam anspielt, was folgend gezeigt wird.

Die „Nachtwache“ stellt „verborgen-geometrisch“ nicht nur Bezüge zur dynastischen Politik der Oranier dar, sondern auch Bezüge zu den Werten der Religions- und Gewissensfreiheit, die den Amsterdamer Bürgern von Wichtigkeit waren. Sie steht also in dieser Hinsicht im Kontrast zur Maria de´ Medici [Abb. 8]. Die „Nachtwache“ vermittelt, wie bereits häufig beschrieben, in der ästhetischen Ebene einen lebendigen Eindruck vom niederländischen Hochbarock, sowie nun, in Erweiterung ihrer erkennbaren Aussage-Ebenen um die der „Verborgenen Geometrie“, von den Interessen der nichtkatholischen Oranier und der spanisch-gesinnten katholischen Maria de´ Medici.

Es wird sich zeigen, wie die „philosophisch-religiöse Geheimsprache“ der Verborgenen Geometrie auch zu weltlichen Aussagen über die Verbindung zweier Herrscher-Häuser und über die aristokratischen und bürgerlichen Werte in einer Weltstadt fähig ist.

Wegen der hier angedeuteten Wichtigkeit der Aussagen der „Nachtwache“ zu jenem Zeitgeschehen (betreffend: die Herrscher-Häuser, die Stadt-Aristokratie und die Bürger) werden zur Veranschaulichung hauptsächlich alte Stiche gezeigt, die einen Hauch des Alten (jener alten Technik der Bildüberlieferung und der Bildung von inneren Vorstellungen) verbreiten mögen.

Auch wird sich zeigen, dass die Schwierigkeit, viele Stiche zu zeigen, im Layout dazu führt, dass die Bilder nicht immer nahe beim zugehörigen Text stehen werden.

1.1.3. Der Beginn der Serie der Monographien

Während das Thema der „Nachtwache“ in der vorliegenden Schriftenreihe „Geometrische Strukturen der Kunst“ schon zweimal behandelt wurde, zum einen in der Nr. 16 von 2011 (in dynastischer Hinsicht des Hauses von Oranien) und zum anderen in der Nr. 18 von 2012 (in sozialer Hinsicht der im Bild angesprochenen Gesellschaftskreise), werden hier beide Aspekte zusammen gefasst und durch weitere Beobachtungen und durch weiteres altes Bildmaterial ergänzt.

[Abb. 8] „Maria de´ Medici, Mutter dreier Königreiche.“ Radierung nach A. van Dyck.

[Abb. 9] nach: Rembrandt „Die Nachtwache“ (Holzstich, 19, Jhdt.].

Mit der Serie der Monographien – bisher über das „Externstein-Relief“ (Nr. 21), über den „Verlorenen Sohn“ von Bosch (Nr. 22) und über „Die Malkunst“ von Vermeer (Nr. 23) – wird nun auch der Gedanke verfolgt, nicht in Sammelbänden mit übergreifenden Themen einzelne Bildwerke unter zu bringen (und möglicherweise zu verstecken), sondern jedes behandelte Bildwerk im Titel einzeln erkennbar zu zeigen zu seiner besseren Auffindbarkeit.

1.2.  EINE BILDBESCHREIBUNG

Farbige Abbildungen sind zu finden in: Gerson (1968), S. 73, Ausschnitt; Haak (1976), Farbtafel 8; Hijman (1978), S. 52 f, 56 f; Schwartz (1983), S. 211; Tümpel (1986) S. 218; Bockemühl (1991), S. 50 f; Vels-Heijn (1991), S. 65; Dominicus-van Soest (2009), S. 134.

[Abb. 10] nach: Rembrandt „Die Nachtwache“ (La Garde de Nuit), Radierung, in: „Europeesch Museum“, nach S. 10 (links noch nicht beschnitten).

Schwarz-weiße Abbildungen sind zu finden in: Tümpel (1977, 1995), S. 82 f, Haak (1984), S. 107.

[Abb. 9, 10]Aus einer dunklen Toröffnung mit zur Tiefe hin ansteigenden Stufen drängen Schützen nach vorne zum Vorplatz, der wie eine Brücke an seiner linken Seite mit einem Geländer versehen ist, wo sich bereits andere mit ihren Waffen (Piken, Lanzen, Helle-barden, Schwertern, Messern und Musketen) vor der Hauswand aufhalten.

Vor diese Gruppe der wartenden und der hervortretenden Männer sind wenige Personen gestellt, die entsprechend ganzfigurig erscheinen: Leicht rechts von der Mitte der ursprünglichen Bildgröße schreitet der dunkel gekleidete Kapitän, gestützt auf seinen Kommandostab (rotting) und mit erhobener linker Hand nach links vorne gewendet mit seinem Leutnant im Gleichschritt nach vorne, wobei er redet und mit seiner linken Hand einen Schatten auf den vom Sonnenlicht golden beschienenen Rock des Leutnants wirft. Zum Dunkel-hell-Kontrast der beiden zentralen Offiziere gesellt sich der Kontrast des aufrechten Stockes des Kapitäns mit der annähernd waagerecht geführten Partisane des Leutnants.

[Abb. 11] nach: Rembrandt „Die Nachtwache", mit: eine Darstellung von Elementen des „magischen Dreiecks“: Senkrechte, Waagerechte, ein höchster Punkt.

[Abb. 11] Der dritte in ganzer Gestalt links vom Zentrum dargestellte und rot gekleidete Schütze schreitet auch voran, das aber noch in individueller Weise. Er entleert im Gehen eine Pulver-Patrone in den Lauf seiner aufrecht gehaltenen Muskete, wobei er diese mit seiner linken Hand derart hält, dass er sie aus einer Schwungbewegung heraus mit den fünf Fingern in ihrer zentrifugalen Bewegung stützt, ohne sie mit dem (den vier Fingern entgegen gestellten) Daumen zu umgreifen. – Dieser Punkt wurde Rembrandt als ein Darstellungsfehler angekreidet.

[Abb. 12] nach: Rembrandt „Die Nachtwache“, mit 1. Frans Banningh Cocq, 2. Willem van Ruytenburgh, 3. Jan Visscher, 4. Reijer Engelen, 5. Rambout Kemp, 8. Herman Worms kerk (?), 17. Rembrandt, 25. Jacob de Roy (?), 30. Jacob Jorisz. (?) (nach Haverkamp, Abb 2].

Am rechten Bildrand lässt der Trommler einen Trommelwirbel ertönen, passend zum Namen des Wehrbezirkes „Kolk“ (Schleusenkammer, Strudel, Wirbel), der den Namen „Schleuse, Wirbel“ im Hinblick auf die dortige Schleuse trägt, welcher Name aber auch auf einen Wirbel anspielen mag, den Maria de' Medici mit ihrem (römisch-katholisch gesonnenen) Erscheinen auslösen mag, – auf welchen Wirbel oder Besuch hier der Hund anscheinend heftig bellend reagiert.

Der Trommelwirbel soll (zumindest vordergründig) zur Bewegung und zum Aufbruch ermuntern. Am linken Bildrand läuft ein „Pulverknabe“ mit einem großen Pulverhorn nach vorne und entfernt sich dabei vom schweren an der Wand befestigten Eisenring, möglicherweise als ein Zeichen für ein Fliehen vor einer möglichen Ankettung.

[Abb. 13] nach: Rembrandt „Die Nachtwache“, mit: die „Querläufer“: zwei englische Prinzessinnen und der Prinz Willem (II.) von Oranien.

Es fallen noch weitere Personen auf: Da ist zwischen dem Kapitän Cocq und dem roten Schützen das als „Marketenderin“ (Händlerin mit Lebensmitteln und Kleinbedarf für die Truppe im Feld) bezeichnete Mädchen in ihrem Sonnen beschienenen hellgelben Festkleid. Oberhalb ihres Standortes hält Jan Visscher die Flagge von Amsterdam in die Höhe. Weiterhin tut sich hervor der Pikenträger unter dem Steinschild (das die Namen der ihr Abbild bezahlenden Schützen trägt) am rechten Rand des Torbogens, denn seine Waffe überquert die beiden x-förmig an die Hauswand angelehnten Piken und bildet derart eine besondere Figur. Auch fällt der rechts oberhalb des Trommlers stehende Rambout Kemp auf [Abb. 12], der mit seinem ausgestreckten rechten Arm und dem Zeigefinger der rechten Hand nach links weist, vielleicht auf den soeben abgegebenen Schuss des Jungen?

Dieser Hinweis deutet auf eine weitere separate und doch in sich zusammen hängende Gruppe hin, es sind die „Querläufer“ [Abb. 13]: Die Marketenderin und das hinter ihrem Kopf fast versteckte, etwas jüngere Mädchen, und der voraus eilende Junge, der den Schuss abgibt Diese drei Figuren durchkreuzen (nach rechts gewendet) die nach links vorne weisende Ausrichtung der Schützen. Die beiden Mädchen deuten, historisch gesehen, auf die beiden Stuart-Töchter, die ab 1638 als Heiratskandidatinnen für Prinz Willem (II.) von Oranien galten, womit der dritte Querläufer als dieser anzusehen ist.

Was noch geometrisch verdeutlicht werden wird, sei hier kurz angedeutet: Die „Marketenderin“ als golden leuchtendes Mädchen ist, wie auch der den Schuss abgebende Junge, in einer Sonderstellung dargestellt. Das Mädchen ist für eine Dienstperson zu kostbar gekleidet, und der Junge unterwirft sich nicht der Disziplin der antretenden Schützen. Beide „Querläufer“ (und dazu das zweite Mädchen hinter der „Marketenderin“) gehören nicht zur antretenden Gruppe der Schützen. Sie führen in Kleidung, im Schießen und in ihrer Laufrichtung ein Eigenleben. Im noch darzustellenden historischen und geometrischen Zusammenhang wird deutlich werden, dass es sich bei ihnen um die Prinzessin Maria Stuart von England und um ihre jüngere Schwester, sowie um den jungen Prinzen Willem (II.) von Oranien handelt, die, wie aus einer anderen Welt stammend, in dieses Bild eingebaut/ einmontiert sind:

Sie eröffnen das eigenständige Thema einer dynastischen Beziehung zwischen den Häusern der Stuarts und der Oranier. Sie durchkreuzen das Schützenstück als Folge des Medici-Besuches in Amsterdam 1638, durch den jene Brautwerbung eingeleitet wurde:

2.   EINLEITUNG

2.1.   KUNSTHISTORISCHE AUSSAGEN ZUR „NACHTWACHE“

Es werden zur Darstellung der kunsthistorischen Deutung Zitate vorgetragen mit gelegentlich in eckigen Klammern eingefügten Anmerkungen des Autors.
Hamann 1933:

„Rembrandt… eröffnet mit der Nachtwache die zweite Phase des holländischen Naturalismus. Aus dem Beobachten wird ein Zusehen, ein Übersehen eines reichen zerstreuten und den Geist zerstreuenden Festzuges. Der Geist will mit den Augen nicht lernen, sondern genießen, die Augen schwärmen mit den ausschwärmenden Mitgliedern der Schützengesellschaft.“ [1]
Hüttinge 1956:

„In diesem Bild erfährt das Gruppenporträt eine von Grund auf revolutionäre Formung und zugleich seine Überwindung.… Nichts vermöchte deutlicher zu machen, daß das Gruppenbildnis ins traumhaft Phantastische wächst: vor dunklem Raumgrund, hervorquellend scheinbar aus einer gähnenden Toröffnung, einer dampfenden, flutenden Atmosphäre überantwortet, ein sinfonisch vielstimmiges, verwirrendes Hin und Her von Figurenhaufen, von Licht und Schatten, Formen und Farben und Gegenständen: Waffen, Trachten, Hüten“ [2]
Wallace 1971:

„Das vorbeihuschende kleine Mädchen, einen weißgefiederten Vogel am Gürtel, mag unter tapferem Bürgermilitär fehl am Platze sein… Auch zu der Figur des mutwilligen Jungen, der vor dem Ohr des Leutnants eine Muskete abfeuert, hätte sich ein minder begabter Maler kaum verstanden [getraut, es zu malen].“ [3]

„Der kräftige Kontrast von Licht und Schatten steigert den Eindruck der Bewegung; doch man tut gut daran, die Behandlung des Lichtes in diesem Bild wie in vielen anderen unter ästhetischen und nicht strikt logischen Gesichtspunkten zu betrachten. Rembrandt war, wie ein Kritiker es ausdrückte >sein eigener Sonnengott<. Der von der Hand des Hauptmanns auf den Rock des Leutnants geworfene Schatten läßt vermuten, daß die Sonne in einem Winkel von ungefähr 45 Grad zur Linken steht; der Schatten, den das Bein des Hauptmanns wirft, deutet einen anderen Winkel an. Natürlich hatte Rembrandt das Bild im Atelier [in welchem?] gemalt, die Offiziere hatten ihm nicht unter freiem Himmel Modell gestanden, und so mag die Beleuchtung im einzelnen der Natur entsprechen, aber nicht in allen Fällen. Er regulierte und manipulierte das Licht – indem er die Läden seines Ateliers öffnete oder schloß –, um eine zugleich traumhafte und dramatische Atmosphäre zu schaffen. “ [4]
Haak 1976:

„Innerhalb der Entwicklung von Rembrandts Schaffen muß man in dem Bild [der „Nachtwache“] den Abschluß einer Periode sehen, in der er sich hauptsächlich um die Intensivierung von Lebendigkeit und Bewegung bemühte, so wie es durch Komposition und Lichteffekte zum Ausdruck kommen kann.“ [5]
Tümpel 1977:

„Etwa zu der Zeit, als Rembrandt in die Jodenbreestraat zog [1639], dürfte er den Auftrag für die sogenannte Nachtwache erhalten haben, sein berühmtestes und von Legenden umwobenes Gemälde. Drei weitverbreitete Ansichten über dieses Bild sind schlichtweg phantasievolle Erfindungen. Erstens: Der Titel Nachtwache entspricht nicht dem Bildinhalt. Zweitens trifft es nicht zu, daß Rembrandt die Porträtierten in einer Szene eines bekannten zeitgenössischen Theaterstücks dargestellt hat. Und drittens stimmt es nicht, daß Rembrandt durch die ungewöhnliche Komposition dieses Gruppenbildes als Porträtist in Verruf gekommen sei.“ [6]

„Porträtiert sind Kapitän Cocq mit Leutnant Willem van Ruytenburgh und Mitgliedern der Bürgerkompanie. Diese gehörten zu den >Clovenieren<, den Büchsenschützen.… Die Aufgaben der [ursprünglichen, früheren] Gilden waren vielseitig: In Notzeiten sollten sie die Stadt gegen Feinde verteidigen; sie mußten die Nachtwachen halten und außerdem bei feierlichen Anlässen paradieren. Regelmäßig traf sich jede einzelne Gilde auf ihrem Schießplatz [Abb. 14], und diese Übungen [Abb. 14a) bis 24] waren stets mit Versammlungen in den Gildehäusern verbunden, die >Zielhäuser< (doelen) hießen. [Abb. 25 bis 27]… Im Jahre 1580 wurde die Bürgerwehr eingerichtet, in die jene drei alten Schützengilden integriert wurden. Man teilte die Stadt in Bezirke ein, und die Bürger eines Bezirks wurden jeweils einer Kompanie zugewiesen, die ihre Offiziere aus einer der führenden Familien der Stadt erhielten.“ [7]

„Die Cloveniersgilde hatte den Swijg Utrecht-Turm, der an der strategisch wichtigen Straße nach Utrecht stand, als ihr Gildehaus mit angrenzendem Schießplatz eingerichtet [s. Abb. 14 oben]. In den dreißger Jahren des 17. Jahrhunderts erbauten sie ein neues Schützenhaus in der nahen, kurz zuvor erschlossenen Nieuwe Doelenstraat. [Abb. 28 bis 30 und s. Abb. 4]Da die Gildehäuser oft an vorzügliche Wirte verpachtet waren und zudem einen repräsentativen Festraum hatten, wurden sie auch für Empfänge benutzt. 1638 wurde dort Maria von Medici mit ihrem Gefolge bewirtet, nachdem sie zuvor, von den Schützengilden feierlich eskortiert, in die Stadt gebracht worden war. Zur Ausschmückung des Festsaals der Cloveniersgilde wurden in den Jahren zwischen 1638 bis 1645 insgesamt sieben Gruppenporträts bestellt, wobei die meisten Aufträge an den Rembrandt-Kreis gingen…“ [8]

[Abb. 14] Der Turm „Swigt Utrecht“, Radierung, in: Wagenaar I, nach S. 184.

[Abb. 14 b)] Schütze, Radierung von Jacques de Gheyn II., in seinem Waffenhandbuch.

[Abb. 15–18] Schützen beim Laden der Muskete [Beschreibungen: s. Anm. 3].

[Abb. 19–22] Schützen beim Laden der Muskete [Beschreibungen: s. Anm. 4].

[Abb. 23] Antreten der Musketen-Schützen.
[Abb. 24] Schieß-Ordnung der Schützen: Schießen und Abtreten der Schützen.

„Auf Anordnung des Kapitäns Frans Banningh Cocq erteilt Leutnant Willem van Ruytenburgh den Marschbefehl. Die zentrale und bestimmende Person des Kapitäns [s. Abb. 2] sammelt also die Gruppe hinter sich.“ [9]

„Das Emblem der Cloveniersgilde war die Klaue [Abb. 31, 32] und das Gewehr. (Das Wort >clovere< für Gewehr war im 17. Jahrhundert fälschlich von dem Wort Klaue abgeleitet worden.)… Auch das alte Emblem der Klaue hat Rembrandt im zweiten Zentrum der Komposition dargestellt. Ihm war aufgefallen, daß auf alten Militärstichen neben den Pulverknaben auch noch Marketenderinnen erschienen, die offensichtlich zur Kompanie gehörten; sie waren im Bedeutungsmaßstab des 16. Jahrhunderts oft wie Kinder dargestellt. Diese Marketenderinnen trugen, da sie für das leibliche Wohl der Soldaten zuständig waren, meist ein Huhn oder anderes Geflügel am Gürtel bei sich. Dadurch wird Rembrandt auf den Gedanken gekommen sein, gleichsam als allegorische Verkörperung der Gilde, kleine Mädchen darzustellen. Eines trägt am Gürtel ein Huhn, dessen Klauen sichtbar und voll beleuchtet sind…“ [10]

[Abb. 25] „Schützenhaus-Turm der Cloveniers-Schützen, 1607“, Radierung von A. Rademaker (1675–1735), in: „Nederlandsche Outheeden en Gezigten“.

Es ist überliefert, dass die Schützen „für ihre Dienste an bestimmten Tagen von der Stadt Wein bekamen und zu einem großen Mahl einladen durften. Und für den Festsaal, in dem die Schützenmähler stattfanden, war die >Nachtwache<… bestimmt. So gelingt es Rembrandt in seiner bewegten, bis ins Letzte durchdachten Komposition nicht nur, die symbolischen Verkörperungen der Gilde [Anm., hier zitiert: Klaue und Gewehr] hervorzuheben, sondern zugleich auch die wichtigsten militärischen Personen der Kompanie [Anm., hier zitiert: Kapitän und Leutnant] an zentraler Stelle wiederzugeben.“ [11]

[Abb. 26] „Das Rondeel und der Schützenhaus-Turm, 1630“, Radierung von A. Rademaker (1675–1735), in: „Nederlandsche Outheeden en Gezigten“.

„Innerhalb der Geschichte des Schützenporträts bietet Rembrandts Werk die konsequenteste Lösung.“ [12] [welche?]
Tümpel 1986:

„Der Marschbefehl ist eben erst an den Leutnant ergangen, einzelne aus der Kompanie haben dies bemerkt und beginnen sich zu formieren, aber die Marschordnung ist noch nicht hergestellt. Dieser Idee der zu erreichenden Ordnung ist das Bildganze zugeordnet, auch die Komposition.“ [13] [wie?]
Vels Heijn 1991:

„Die Ankunft von Maria de' Medici, der französischen Königsmutter [der Mutter des französischen Königs Ludwig XIII.], in Amsterdam im Jahre 1638 war ein großes Ereignis für die Bürgerkompanien, die die Gelegenheit wahrnahmen, sich ausgiebig zur Schau zu stellen. Vermutlich hatten Pomp und Prunk die Kompanie der Schützengilde angeregt, die neue Versammlungshalle ihres Hauptquartiers kurz darauf mit einer Reihe von Bildern auszuschmücken.“ [14]

„Rembrandt integrierte in geschickter Form eine Reihe von Fakten über die Militärkompanien in sein Bild. Die Schützenbrigade hatte seit Urzeiten Feuerwaffen benutzt, zuerst Büchsen und dann Musketen. Entsprechend arbeitete Rembrandt die verschiedenen Arbeitsgänge ein [vergl. Abb. 15–24], die für den Gebrauch einer Büchse notwendig sind: der rot gekleidete Mann im linken Vordergrund lädt seine Büchse mit Pulver, direkt hinter Van Ruytenburghs Kopf wird eine Büchse [Muskete?] entladen [abgeschossen], und ein Mann rechts reinigt die Waffe, indem er das Pulver aus dem Rohr [von der Pfanne?] bläst.“ [15]
Bockemühl 1991:

[Abb. 27] „Kloveniers-Doelen/ Zielhaus in Amsterdam, 1607“ (links mit dem übergang zum Schießplatz, [s. Abb. 141], Radierung von A. Rademaker (1675–1735), in: „Nederland-sche Outheeden en Gezigten“

„Daß Rembrandt der Entfaltung der übergreifenden Handlung den Vorrang vor der getreulichen Ausarbeitung einzelner Porträts [mit welchen Mängeln?] gibt, ist hier auf den ersten Blick zu sehen.“ [16]

„All dies sind die Tätigkeiten, welche die Gruppe als Schützenkompanie ausweisen. Zugleich wird jeder einzelne mit den für ihn oder seine Aufgabe kennzeichnenden Tätigkeiten charakterisiert mit der Folge, daß jeder zu tun scheint, was ihm beliebt, ohne auf das gesamte Geschehen Bezug zu nehmen. Auch hier ist es einzig das Wort [das von Van Ruytenburgh noch nicht weiter gegeben ist und das hermetisch gesehen aus dem Mund des Kapitäns für die Schützen noch keine Anweisung darstellt], das all die divergierenden Handlungen zusammen bindet.“ [17]

[Abb. 28] „Die Cloveniers-Doelen an der Amstel“ (mit dem neuen Anbau von ca. 1638) Radierung.

[Abb. 29] „Der Turm „Swycht Utrecht zu Amsterdam, 1871“. (lose Buchdruckseite).

[Abb. 30] „Kloveniersburgwall“, in Witkamp, Farbabbildung (lose Buchdruckseite).

[Abb. 30 b)] Nieuwe Doelenstraat, rechts: Kloveniers-doele (Radierung, 1730).

[Abb. 31] Eine Klaue, Ausschnitt aus der Radierung „Het Oude Mannen en Vrouwen-huis“ (verehrt dem Herren Joachim Rendorp…), Radierung, von R Fouquetjunior.

[Abb. 32] Grabplatte eines Cloveniers-Schützen in der Oude Kerk (dort im Süd-Westen) in Amsterdam (Foto 1998).

[Abb. 33] Rembrandt „Die Nachtwache mit „Kreuzschraffuren“ in einer Ordnung von gerichtet angelegten Bildgegenständen als Hinweise auf geometrische Ordnungen.

Es „kann hier Rembrandt die Situation zur Entfaltung der höchsten und differenziertesten äußeren Bewegung nutzen, weil die einzelnen Gestalten noch nicht dem formalen Schema der gemeinsamen Marschordnung eingegliedert sind.“ [18]

„Fragen blieben offen bei den Versuchen, einzelne Motive in ihrer Bedeutung zu ergründen. Nur ein Beispiel unter vielen: Die helle weibliche Gestalt und die fast verdeckte dahinter lösten das meiste Rätseln aus. Obschon im Vergleich zu den anderen Figuren klein wie Kinder, gaben ihre Proportionen [Maßverhältnisse ihrer Körper] [19]