Träume, weich wie Daunenkissen,
trunken, wie von schwerem Wein
schweb` ich hin, wie gut zu wissen,
bald der Mann im Mond zu sein.
Süßen Nektar saugen Wesen,
schillernd wie der Morgentau.
Wirst Du kommen, bist gewesen?
Elfengleiche Märchenfrau.
Nach des Tages Wüstenhitze
tauch` ich in das kühle Meer.
Von der hohen Wolkenspitze
schaut ein Kranich zu mir her.
An den Sträuchern reifen Trauben,
Sonne auf dem Schattenbaum,
Mensch, Du musst doch nur dran glauben,
geh` und lebe Deinen Traum.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
© 2014 Andreas Meyer
Satz, Umschlaggestaltung, Herstellung und Verlag:
BoD – Books on Demand GmbH
ISBN 978-3-7357-7315-9
»Hier hinten in die Ecke« sagte Frau Sobottka und deutete mit ihrem linken Arm in den rückwärtigen Teil des Kellers, in dem sich neben einer imposanten Kartoffelkiste auch ein Stapel mit Brennholz befand. Eine nackte Glühbirne, die archaisch an zwei Kabeln befestigt, oberhalb der Kellertür aus der Wand ragte, bemühte sich vergeblich, die Szenerie zu erhellen.
»Alles klar«, entgegnete Fred kurz, während er in gebückter Haltung in die zugewiesene Richtung eilte, die rechte Hand an der Krempe des Kohlensackes, der als Zentnerlast auf seinem Rücken lag. Den linken Arm benutzte er in diesen Fällen zum Balancieren sowie zum Öffnen der Kellertüren. Einige seiner Kollegen trugen die Säcke mit je zwei Händen am Kohlensack, die Fuhre in gebeugter Haltung ausbalancierend. Fred fühlte sich mit seiner Technik sicherer, insbesondere wenn es daran ging, die sehr steilen Kellertreppen mitsamt der Last hinabzugehen. Hatte man auch noch regennasse Schuhe an, so konnte der feuchte Kohlenstaub auf den Holztreppen zu einer gefährlichen Rutschpartie werden, während der Träger hochbeladen abzustürzen drohte. Solche Unfälle gab es nicht selten und sie gingen häufig mit ernstzunehmenden Blessuren einher. Im letzten Jahr ist es Fred sogar einmal geschehen, dass er mitsamt seinem Sack Kohlen auf einer maroden, steilen Holzstiege, durch eine Stufe hindurchgebrochen ist. Noch heute erinnert eine große Narbe an seinem Oberschenkel an diesen Vorfall.
Hier bei Sobottkas drohte dergleichen nicht zu geschehen. Es war das erste mal, dass Fred diesen Kunden belieferte, daher auch die Einweisung durch Frau Sobottka vor Ort im Keller.
Den Großteil der Kunden belieferte Fred seit Jahren und er war daher mit den Gesetzmäßigkeiten vor Ort bestens vertraut und wusste ganz genau, wie die Kundschaft die Belieferung wünschte.
Mit reichlich Schwung schleuderte Fred den Kohlensack in die durch Frau Sobottka zugewiesene Ecke. Daraufhin positionierte er sich direkt neben dem Sack, packte mit etwas Mühe die unteren Sackenden und schüttete den Inhalt aus, indem er den Sack ruckweise nach oben zog und mit seinem rechten Knie den Vorgang unterstützte. Die Eierkohlen kullerten kurz umher und blieben schließlich als kleiner Haufen in der Ecke liegen.
Fred faltete den leeren Sack zusammen und ging die steile Kellertreppe hinauf auf die Straße.
Dort angekommen legte er den Sack auf den Bürgersteig neben den Kohlenwagen.
Mit einem Griff langte er nach dem nächsten Sack, beförderte diesen auf seinen Rücken und ging sofort wieder zurück in den Keller, um mit dieser zweiten Ladung genauso zu verfahren wie mit der Ersten. Frau Sobottka hatte eine Tonne Eierkohlen bestellt, also lautete die Devise: Noch achtzehn Säcke einzukellern und dabei achtzehn mal die Treppe herauf und herunter zu laufen.
Während dieser überaus anstrengenden Tätigkeit geschah in Freds Bewusstsein das, was eigentlich immer geschah: Anstatt ausschließlich die verbleibenden Kohlensäcke zu zählen, was die Pein sicherlich nur vergrößert hätte, begab sich sein Geist auf eine völlig eigenständige Reise, während sein Körper präzise und zuverlässig arbeitete. Er rezitierte »Freude schöner Götter Funken« und sang es, wenn nicht laut, so doch innerlich.
Seine Gedanken schweiften zu majestätischen Burgzinnen an der Mosel und zu sturmumbrausten Halligen der Nordsee. Er stellte sich vor, ein berittener Bote im Mittelalter oder ein Italienischer Edelmann zu sein. Er betrieb eine einsame Käserei in den Alpen und befand sich im Exil auf Elba. Vor allen Dingen befand er sich aber in der Natur und er musste sich immer und immer wieder vorstellen, wie er den hohen Dom des Waldes besuchte, den er über alles liebte. Wie ihn während der Gluthitze des Sommers die Kühle des Waldes umschmeichelt und sich auf den Höhen atemberaubende Panoramen eröffnen. Wie der Bach durch Sommerwiesen gurgelt und hoch am Himmel die Bussarde erhaben ihre Kreise ziehen.
Zwanzig! Letzter Sack! Noch einmal hinab, ausschütten, zusammenfalten, und dann alle leeren Säcke ordentlich auf die Ladefläche des Kohlenwagens legen. Möglichst ganz nach vorne in den Windschatten des Führerhauses, damit keiner während der Fahrt wegfliegt!
Fred war nun schweißnass, insbesondere am Rücken, wo zuvor die Kohlensäcke lagen. Er atmete schnell und obwohl dies die erste Tour des Tages war, hatte sein Gesicht bereits eine beträchtliche Schwärze angenommen. Bei Schichtende würde man nur noch zwei weiße Augen aus einem pechschwarzen Gesicht erkennen können. Er hatte diese Tonne Kohlen heute schon einmal bewegt, beim Beladen des LKW, und nicht nur diese.
Fred schellte erneut bei Frau Sobottka an, übergab die Rechnung und kassierte den Betrag.
Die Kundin gab Fred einige Scheine und sagte: »Der Rest ist für Sie, hat ja alles gut geklappt. Sie können sich gar nicht vorstellen, was ich hier schon für schräge Vögel hatte. Kamen mitten in der Nacht und haben mir den Aufgesetzten aus dem Keller geklaut. Und die Kohlen haben auch nix getaugt. Nächstes mal kaufe ich wieder bei Euch. Tschüsskes dann!«
Fred bedankte sich mit einer leichten Verbeugung und sprang leichtfüßig in den Kohlenwagen. Im Führerhaus überprüfte er erneut den Geldbetrag, verstaute diesen sicher in einer großen schwarzen Geldbörse und lehnte sich einen Moment zurück. Er atmete tief ein und aus und spürte, wie sich seine Atmung und sein Puls langsam normalisierten. Er griff nach dem Stapel mit den Lieferscheinen um nachzuschauen, welcher Kunde als nächster beliefert werden müsste.
Dann betätigte er die Zündung, zog den Starterknopf zur Hälfte um den Motor vorzuglühen und als er den kleinen Glühfaden im Cockpit aufleuchten sah, zog er den Starterknopf ganz durch. Unmittelbar schüttelte sich alles und der dunkelgrüne HANOMAG sprang an, wobei er eine tiefschwarze Russfahne ausstieß.
Vorsichtig rangierte Fred den Wagen zwischen parkenden Autos hindurch auf die Straße. Wann immer möglich, versuchte er mit seinem LKW so weit wie möglich an die Anlieferstellen heranzukommen, da die Schlepperei ansonsten ausartete. Erst neulich musste er auf der gegenüberliegenden Straßenseite parken und die Zentnersäcke zwischen den fahrenden Autos hindurch zum Ziel bugsieren.
So setzte sich der HANOMAG mit einem lauten, metallischen Nageln in Bewegung und Fred lächelte, denn er liebte diese Momente, in denen er allein in seinem Führerhaus sitzend zum nächsten Kunden fuhr. Die Fuhre rumpelte zunächst über eine breite Straße mit Straßenbahnschienen, auf der es einige Kilometer nur geradeaus gehen sollte.
Dieses Revier, durch welches Fred fuhr, war ein Kohlenrevier. Na klar, Fred lieferte Kohlen ins Kohlenrevier. Hatte er nicht schon Menschen spotten hören, dass man keine Kühlschränke am Nordpol brauchen würde? Das mochte sein. Vielleicht war das so. Kohlen im Kohlenrevier hingegen, das wusste Fred genau, wurden gekauft. Nicht zu knapp. Schließlich trug er sie – seit Jahren. Vor allen Dingen war dies aber auch sein – Freds – Revier.
Es war ein Häusermeer im wahrsten Sinne des Wortes. Es war ein Labyrinth aus Straßen, nochmals Straßen und einer Vielzahl von Städten. Alles war Chaos, alles war Anarchie, nichts war geplant. Hier folgten alle Gesetzmäßigkeiten, jegliche Logik, alles folgte der geologischen Lage des Karbons. Nur dies zählte. Alle sichtbare Infrastruktur richtete sich nach der unsichtbaren Kohle. Alle Menschen, alle Häuser, alle Straßen, alles lechzte nach Kohle. Hier zischten die Dampfmaschinen, hier ratterten die Loks. Hier fuhren ganze Armeen von Arbeitern in die Schächte der Bergwerksgesellschaften ein. Deutsche, Polen, Masuren, Schlesier, Ostpreußen, Italiener, Türken und viele andere mehr. Seit hundert Jahren Goldgräberstimmung und ein Ende noch nicht wirklich in Sicht. Fred betrachtete sich indes als kleines, aber bedeutsames Teilchen dieser gewaltigen Maschinerie, denn er setzte die Arbeit der Hauer unter Tage, der Bergleute in der Kohlenwäsche, der Wiegemeister und Lokomotivführer fort, er vervollständigte diese Arbeiten, indem er die Kohlen zum Verbraucher brachte.
Und diese Kunden dankten es ihm. Sie waren dankbar, ja glücklich, wenn sie Fred erblickten.
Die Freude stieg, je niedriger die Außentemperaturen waren und je mehr der Vorrat bereits zur Neige gegangen, oder auch schon völlig erschöpft war.
Aber sie mochten Fred auch gern, weil dieser immer fröhlich schien und ein offenes Ohr hatte. Ein Großteil der Kundschaft bestand aus älteren, alleinstehenden Damen. Hier war Fred nicht nur Kohlenlieferant, sondern auch Zuhörer, Ratgeber, Unterhalter und nicht selten auch »Mann im Haus«, wenn es darum ging, Glühbirnen auszutauschen, etwas Brennholz zu spalten oder einfach nur ein fest verschlossenes Marmeladenglas zu öffnen.
Viele dieser Damen lebten in ärmlichen Verhältnissen, bestellten nur zwei oder drei Zentner, eben soviel sie gerade zu bezahlen in der Lage waren. Wenn Fred dann zu ihnen kam, waren ihre letzten Vorräte oftmals längst aufgebraucht und sie öffneten mit rot gefrorenen Gesichtern und die Hände aneinander reibend die Türen. Viele von ihnen hätten Unterstützung seitens der Stadt oder des Staates gehabt. Fred wusste, dass es Gutscheine für Brennstoffe und dergleichen gab und dass bei diesen verarmten Damen die notwendigen Voraussetzungen vorlagen, war offensichtlich. Doch sie schämten sich ihrer Situation zu sehr, als dass sie jemanden um Hilfe hätten fragen wollen. Auch gab es alleinstehende Damen, die so genannte Deputate, also kostenfreie Kohlenlieferungen seitens der Bergwerksgesellschaften erhielten. Ihre Männer waren oft vor vielen Jahren verstorben, nicht selten an Silikose, der tückischen Erkrankung vieler Bergleute. Nach vielen Jahren unter Tage husteten sie sich elend dem Ende entgegen. Ihre Lungen waren ein einziger großer Entzündungsherd und fast niemand hatte nicht zumindest irgendjemanden in der Verwandtschaft, der nicht sein qualvolles Ende durch die Steinstaublunge fand.
Doch auch rohe und dem Trunke sowie der Verwahrlosung zugeneigte Gesellen belieferte Fred. Sie wussten sehr wohl um die Möglichkeit einer kostenlosen Kohlenlieferung durch die Stadt und diese Erkenntnis floss permanent in ihre Lebensplanung ein. Sie saßen häufig schon morgens in Grüppchen in ihren Kammern, der Kohleofen glühte wie ein kleines Inferno und auf den Tischen stapelten sich leere Bier- und Schnapsflaschen dergestalt, dass man die Tischplatte kaum noch erkennen konnte. Der überaus dichte Tabakrauch verlieh der Szenerie etwas zusätzlich Gespenstisches und Abschreckendes. Die organisatorischen Dinge, die Fred schließlich auch bei der Belieferung dieser Kunden abwickeln musste, beispielsweise eine Empfangsbestätigung für die gelieferte Ware durch den Empfänger in Form einer Unterschrift, gestalteten sich bei solchen Gruppierungen oftmals als sehr schwierig. Nur unter Gespött und dumpfem Gejohle der Anwesenden war ein solches Unterfangen überhaupt zu bewerkstelligen, wobei sich die anwesenden Damen häufig als die aktivsten Agitatoren erwiesen, indem sie mit schrillen, angetrunkenen Stimmen ihre Witze über den »schwarzen Mann« machten.
Lediglich eine Kategorie war noch übler: Wohnheime, die mit ausschließlich bereits entmündigten Alkoholikern belegt waren und die auch regelmäßig beliefert werden mussten.
Hier gab es selten die fröhlichen und ausufernden Zechgelage mit Witzchen über Fred.
Hier regierte der blanke Wahnsinn. Männer, die mit weit aufgerissenen Augen und in gebückter Haltung über das mit Unrat und Sperrmüll übersäte Areal stolperten. Kreaturen, die kein Gespür mehr für ihre Taten hatten und permanent im Delirium lebten.
Eines dieser Heime befand sich im Norden der Nachbarstadt. Es bestand aus zwei tristen, heruntergekommen Blöcken. Die Gebäude hatten je zwei Etagen, die lediglich über eine Außentreppe miteinander verbunden waren. Die Insassen lebten in Einzelzimmern, in denen unbeschreibliche Zustände herrschten, sowohl die Einrichtung, als auch die Sauberkeit betreffend. Hier war Endstation, dies war kein Ort, von dem es noch einmal irgendeine Perspektive gab, in welche Richtung auch immer.
Wenn also einer dieser Entmündigten Kohle brauchte, so besorgte sich sein individueller Vormund eine entsprechende Bescheinigung von der Stadt. Diese wurde sodann bei Bollmeyer & Sohn, der Kohlenhandlung für die Fred arbeitete, vorgelegt. Daraufhin wurde ein Liefertermin vereinbart und dann kam Fred an die Reihe.
Für gewöhnlich versuchten die Empfänger, Fred davon zu überzeugen, die Kohle zu behalten und stattdessen Bargeld auszuzahlen, das sie dann wiederum gegen Schnaps einzutauschen gedachten. Fred lag nichts ferner als ebendies zu tun und verneinte ausdauernd.
Als bei einem dieser Vorfälle ein Entmündigter versuchte, Fred, als sich dieser mit dem Kohlensack auf dem Rücken näherte, mit einer leeren Bierflasche auf den Kopf zu schlagen, musste Fred den Angetrunkenen niederringen.
Seit diesem Vorfall wurde das Wohnheim nur noch zu zweit, also Fred in Begleitung eines zweiten Kohlenfahrers, beliefert.
Gottlob waren dies die krassen Ausnahmen, denn der überwiegende Teil der Kundschaft bestand aus sehr netten, in jedem Fall originellen, bisweilen auch sehr interessanten Zeitgenossen. Viele von ihnen hatten, in der Regel ungefragt, ihre Geschichten zu erzählen, denen Fred auch gern zuhörte.
Während Fred so über die ein oder andere Begebenheit nachdachte, erreichte er mit seinem LKW einen geschlossenen Bahnübergang. Es war dies die Schranke einer vielbefahrenen Zechenbahn. In kurzen Abständen stampften und rumpelten lange, vollbeladene Kohlenwagen an den Wartenden vorbei, wobei sich der Hauptlärm eben an jener Schnittstelle entwickelte, an der die Schienen der Zechenbahn sich mit jenen der Straßenbahn kreuzte, die Teil der Straße waren, auf der Fred schon seit einigen Kilometern fuhr.
»Da hasse aber gut geladen, heute, Fred! Gute Schicht!« Die Stimme kam aus dem direkt neben der Straße befindlichen Bahnwärterhäuschen und gehörte Alfred, dem Bahnwärter.
»Geht schon«, rief Fred quer über die Straße zurück. »Mach´ mal langsam wieder auf hier, Alfred, hab´noch ein paar kalte Kunden zu fahren«.
»Immer langsam, immer langsam, ich habe hier wesentlich mehr Kohlen zu verfrachten als Du mit Deiner Nuckelpinne.«, scherzte Alfred zurück. »Na, immerhin musst Du sie bis heute Abend nicht alle getragen haben.«, konterte Fred.
Alfred hatte das Bahnwärterhäuschen zu einem regelrechten Refugium umgestaltet, hatte Tür und Fensterläden in einer Art und Weise mit Rauten bemalt, wie man sie sonst an Landhäusern oder Schlössern findet. Vor dem Fenster und am Geländer des Einganges hingen Blumenkästen, aus denen im Sommer die Geranien blühten. Manchmal drangen aus dem Inneren des Häuschen Volksmusikklänge nach draußen. Oft sah man, wie Alfred sich an den neben dem Gebäude befindlichen Beeten zu schaffen machte, oder wie er ganz ruhig und entspannt auf der ebenfalls bemalten Bank vor seinem Bahnwärterhäuschen saß und eine Pfeife rauchte. Alfred liebte seinen Job, soviel war klar. Bis zu einem schweren Unfall unter Tage, bei dem er fast sein Leben verloren hätte, hatte auch er in der Zeche gearbeitet. Es war für ihn immer eine Qual gewesen, tagtäglich in den Schacht einzufahren, während draußen das »richtige Leben« stattfand, wie Alfred immer sagte. Abgeschnitten von der Frühlinsluft, von den Jahreszeiten, von jeder Natur ging es immer nur hinab in den Berg, jahrelang, schwül, stickig, dreckig und gefährlich.
Eine Glocke ertönte und der bis dahin völlig regungslose Alfred setzte sich in Bewegung.
Mit großer Geste betätigte er eine gewaltige Kurbel, worauf sich die Schranke langsam und wippend öffnete. Fred sah noch einen Augenblick dem letzten Eisenbahnwaggon hinterher, winkte Alfred und setzte seine Fahrt fort.
Nach einer Weile bog er von der Haupt-in eine der zahlreichen Nebenstraßen ab, durchquerte ein Torhaus und befand sich plötzlich in einer ganz eigenen Welt, einer Zechensiedlung. Zahlreiche solcher Siedlungen prägten das Bild dieses gigantischen Ballungsraumes und trotz ihrer Urbanität und teilweise beachtlichen Ausdehnung hatten sie etwas Dörfliches. Die Häuser waren recht niedrig, in der Regel anderthalb Etagen hoch und verfügten über vier Eingänge, wobei man von der Straße aus zumeist nur einen oder zwei Eingänge erblicken konnte. Die Wände waren aus roten, unverputzten Ziegelsteinen gemauert. Vor den Häusern konnte man zumeist schön bepflanzte, kleine Vorgärtchen entdecken in denen nicht selten Ruheständler auf Bänken saßen und das Treiben auf der Straße kommentierten. Die gesamte Szenerie versprühte eine ruhige, friedliche Atmosphäre. Lediglich einige Kinder spielten recht lautstark auf der Straße, die sie mit Kreide in Quadrate eingeteilt hatten und in diesen herumsprangen, indem sie Abzählreime vortrugen. Hinter den Häusern befanden sich durchweg Ställe und Schuppen, in denen sich die Bewohner entweder Tauben hielten, Brennstoffe lagerten, oder sich zum Teil liebevoll umgebaute Lauben befanden. Der dörfliche Charakter dieser Siedlungen wurde abgerundet durch relativ schmale, jedoch sehr lange Gärten, die sich ausnahmslos hinter jedem dieser Häuser befanden und die vornehmlich in den hinteren Teilen mit altem Baumbestand besetzt waren.
Auch Fred bewohnte ein solches Haus einer anderen Siedlung und fühlte sich daher hier wie zu Hause. Er stoppte seinen HANOMAG vor einem dieser Häuser und sprang aus dem Führerhaus. Er zog seine Handschuhe an, öffnete die schwere Klappe an der Ladefläche und rückte einen Sack in Position. »Glückauf, du Kohlenschieber«, dröhnte es Fred schon entgegen. Die Stimme gehörte zu seinem Kunden, Erwin Makowski, der Fred schon entgegenschlurfte. »Hallo Herr Makowski«, wählte Fred die förmlichere Anrede. Herr Makowski trug, wie immer, eine blaue Latzhose, wie sie Teil eines Arbeitsanzuges ist, darunter einen ehemals weißen Wollpullover mit stilisierten Hirsch- oder Rentiermotiven und an seinen Füßen braune Breitcordpantoffeln. Fred belieferte Herrn Makowski seit Jahren, doch hatte er ihn nie in anderer Bekleidung erlebt. »Er muss in den Klamotten pennen, es geht nicht anders«, ging es Fred nicht zum ersten mal durch den Kopf.
Auch wie immer war die Bestellung: Zehn Zentner Briketts und drei Bündel Anmachholz, gottlob alles nur in den Schuppen und nicht die Kellertreppe ´runter.
Fred langte also nach dem ersten Sack Briketts, zog sich diesen auf den Rücken und ging los.
Briketts waren ungleich unangenehmer als Kohlen, und zwar sowohl bei der Abfüllung und Beladung, als auch insbesondere beim Transport zum Kunden. Während sich die Kohlen im Sack recht gut den Rückenkonturen des Trägers anpassten, standen bei Briketts permanent Ecken und Kanten hervor, die den Kohlenmann in übelster Art und Weise malträtieren konnten.
Fred schleppte also die zehn Säcke nacheinander in den Schuppen, kippte sie dort aus und legte, wie gewohnt, die leeren Säcke auf die Ladefläche. Anschließend beförderte er auch noch die wesentlich leichteren Bündel mit dem Anmachholz in den Stall und schloss die Tür hinter sich zu. »Schnell wie die Feuerwehr«, feixte Herr Makowski und machte eine anerkennende Bewegung in Richtung Fred. Da er immer das Gleiche bestellte, kannte Herr Makowski natürlich den Rechnungsbetrag, den er sich bereits vorab in der Brusttasche seiner blauen Latzhose zurechtgelegt hatte und überreichte Fred das Geld.
»Bis zum nächsten Mal«, riefen Fred und Herr Makowski fast gleichzeitig, während dieser in seinen LKW sprang und jener sich umwandte, um den Schuppen wieder zu verschließen. Zurück an der Hauptstraße hielt Fred kurz vor einer Bäckerei, um sich ein belegtes Brötchen und eine Flasche Kakao zu kaufen. Die Arbeit machte hungrig und Fred aß während der Fahrt, wobei der Kakao mehrfach aus der Flasche zu schwappen drohte. Noch zwei weitere Kunden, dann würde der HANOMAG entladen sein. Nachdem dies geschehen war, fuhr Fred zurück auf den Kohlenplatz, von dem er morgens seine Tour begonnen hatte. Nun kam der unangenehmste Teil seiner Arbeit, das Beladen des LKW von Hand. Fred kontrollierte die Lieferscheine, auf denen oftmals Zeitangaben vermerkt waren und stellte sich die nächste Tour entsprechend zusammen. »So ein Mist« dachte Fred, als er realisierte, dass nun fast ausschließlich die ungeliebten Briketts an der Reihe waren. Auf dem Kohlenhof lagen mehrere, große Haufen Kohle verschiedenster Art und Körnung. Einer dieser Berge war mit einer riesigen, teilweise geflickten Plane versehen, die von zahlreichen alten Autoreifen beschwert wurde, um sie im Falle eines starken Windes am Wegfliegen zu hindern. Dies hätte momentan ohnehin nicht geschehen können, da zahlreiche Wasserlachen in den Niederungen der Plane standen, da es in den Vortagen teilweise ergiebig geregnet hatte. Nun musste Fred mühsam auf den riesigen Briketthaufen klettern, indem er die ebenfalls vollgeregneten Autoreifen zur Seite warf, nicht ohne dabei den ein oder anderen Wasserstoß zu erhalten wenn die Reifen auf den Boden stießen und das Wasser dabei heftig zurückschwappte. Danach musste die schwere Plane teilweise zur Seite gezogen werden, um einen Teil des Briketthaufens freizulegen. Diese Arbeiten entfielen bei Kohlen komplett, da man Kohle bedenkenlos im Freien lagern konnte. Natürlich wusste Fred genau, dass Briketts durch die Plane nicht etwa gegen Regen, sondern ausschließlich gegen Sonne geschützt werden mussten, da sie sonst brüchig wurden und zerfielen. Endlich konnte Fred die Kohlenwaage neben dem freigelegten Briketthaufen platzieren und damit beginnen, mit einer riesigen Gabel Briketts in die Waage zu schaufeln. Nach etwa fünf vollen Gabeln schwenkte die Waage herum und nun entnahm Fred einige Briketts von Hand, bis sich die Waage einpendelte.
Fünfzig Kilogramm Briketts neutralisierten sich nun mit einem bauchigen, fünf Kilo schweren Kontergewicht auf der anderen Seite der Waage. Fred nahm ein leeren Kohlensack, stülpte diesen mühevoll über die Spitze der Wanne, in der die Briketts lagen und drückte die Wanne nun herab, so dass die Briketts polternd und staubend in den Sack fielen. Sodann folgte die körperlich schwerste Tätigkeit, das Heben des vollen Sackes auf die Ladefläche des LKW, die sich etwa in Brusthöhe Freds befand. Herzu nahm er die beiden Sackenden, fasste diese so kurz wie möglich und hob die Zentnerlast ruckartig an, wobei Fred mit seinem rechten Knie zusätzlich den Sack nach oben drückte, bis dieser auf der Ladefläche stand. Nachdem auf diese Art und Weise drei bis vier volle Säcke nahe der Ladekante standen, musste Fred auf die Ladefläche klettern, um die Säcke in die endgültige Transportposition zu schieben, wobei er einen Teil der Fracht abermals anheben musste, da die fertigen Säcke teilweise noch übereinander gestapelt werden mussten.
Das Beladen seines HANOMAG war eine einzige Schufterei, nicht unterbrochen von Fahrtzeiten zum Kunden und aufgelockert von netten Plaudereien, sondern ein einziges, stringentes Streben unter Einsatz sämtlicher Kräfte. Selbst gestandene »Malocher«, wie man die Arbeiter hier nannte, waren oftmals außerstande, diese körperlich äußerst anspruchsvolle Tätigkeit zu verrichten. Nicht selten fingen neue Arbeiter bei Bollmeyer & Sohn als Kohlenträger an, die es nicht einmal bis zur Mittagspause schafften und schon, entweder resigniert, oder aber über das wahre Ausmaß der Plackerei erbost, noch während der ersten Arbeitsstunden die Flinte ins Korn warfen. Ausrufe wie »ich bin doch nicht bekloppt, mir hier die Knochen kaputt zu machen«, waren dabei keine Seltenheit.
Fred dachte über solche Dinge schon lange nicht mehr nach. Das Beladen des LKW gehörte genauso zu seinem Job wie die aufgehende Sonne über dem Kohlenrevier. Er funktionierte ganz einfach als Teil dieser gigantischen Maschinerie und über seine Gedanken war ohnehin nur er ganz allein erhaben. Er war hier sein eigener Meister, es gab niemanden, der ihm über die Schulter schaute. Als Herrscher über sein schwarzes Reich hatte er die Regentschaft über die verschiedenen Kohlensorten, Körnungen und Kunden. Sein Chef vertraute ihm, er wusste, dass er in Fred das perfekte Bindeglied zwischen Bestelleingang und Auslieferung hatte. Als einzige Direktive gab es teilweise auf den Lieferscheinen eine vermerkte Uhrzeit, zu welcher der Kunde die Belieferung wünschte, doch zumeist gab es nur den Hinweis »vormittags« oder »nachmittags«. Fred war in der Regel nur zweimal täglich kurz im Betrieb: Morgens, wenn er die Lieferscheine abholte und abends, zur Abrechnung. Dazwischen war er fast immer allein unterwegs. Auch dass Fred zum Ende eines langen Arbeitstages mit zum Teil nicht unerheblichen Geldbeträgen unterwegs war, war ein Indiz für das Vertrauen Bollmeyers in Fred. Bei anderen, neuen Arbeitern mussten diese die Teilbeträge zwischendurch in der Kohlenhandlung abgeben, oder die Kunden bezahlten den Rechnungsbetrag bereits vorab, noch vor der Belieferung.
»Geschafft«, sagte Fred zu sich selbst, indem er sich den Schweiß mit seinem Ärmel abwischte, wodurch sein Gesicht schlagartig an Schwärze zunahm. Auf der Ladefläche standen nun sechzig Säcke feinsäuberlich aufgereiht und übereinander gestapelt. Zwei Tonnen Briketts, zehn Zentner Eier, wie man hier die Eierkohlen nannte, und zehn Zentner Nuss 3. Macht zusammen drei Tonnen, was der maximalen Zuladung des Kohlenwagens entsprach.
Fred sollte nach dieser Tour noch zwei weitere Male seinen LKW be- und wieder entladen, bevor er ihn gegen 18.00 Uhr rückwärts in eine Halle fuhr, die Teil einer einstmals stillgelegten Schachtanlage war. Bollmeyer hatte diesen Teil der alten Zeche angemietet und das Außenlager seines Kohlenhandels damit strategisch günstig positioniert. Neben einer großen, umzäunten Freifläche auf der die Kohlen lagerten, standen der Firma drei separate Hallen zur Verfügung, in denen neben den Fahrzeugen auch ein gewaltiger Stapel leerer Kohlensäcke, eine beträchtliche Menge gefüllter und leerer Ölfässer, Schaufeln, Gabeln, Kohlenwaagen, Werkzeuge und allerlei Krimskrams ihren Platz fanden. Zudem befand sich das Lager innerhalb des großen Ballungsraumes günstig, da relativ zentral positioniert. Nachdem Fred den HANOMAG abgestellt und die Halle verschlossen hatte, zog er sich seine Lederjacke, Helm und Handschuhe an und setzte sich auf sein Moped. Das war der Moment des Tages, auf den er sich während der gesamten Schicht gefreut hatte. Er trat zwei, drei Mal auf den Kickstarter und der Motor brummte sonor vor sich hin. Am Haupttor des Kohlenlagers angekommen hielt er kurz an, schloss die Pforte mit einer schweren Eisenkette ab und brauste los.