Von Gabriele und Jürgen Jost bereits erschienen :

Kriminalromanreihe Die Taunus-Ermittler:

Band 1 – Steinige Wege

Band 2 – Spuren

Band 3 – Endstation Linie 3

Band 4 – Wo ist Verena?

Andere Romane:

Meeresrauschen für Lara

Weitere Infos unter :

www.Gabriele-und-Jürgen-Jost.de

Anmerkung:

Während die meisten unserer Schauplätze real existieren und nur selten der Dramaturgie zuliebe leicht verfremdet beschrieben werden, handelt es sich bei der Paul-Oberhoff-Schule im Frankfurter Stadtteil Höchst und der Krakauer Straße in Kelkheim um reine Fantasieprodukte. Allerdings wird das Umfeld der kurzen Kelkheimer Verbindungsstraße (das Gebiet zwischen Breslauer, Danziger, Beuthener und Görlitzer Straße) auch in Zukunft so authentisch wie möglich geschildert.

Gabriele und Jürgen Jost

Die Taunus-Ermittler 5 –
Blanke Gewalt

Kriminalroman

1.

Es war ein milder Wintermorgen wie schon lange nicht mehr. Die Sonne lachte vom Himmel, als hätte sie nichts Besseres zu tun. Die dicken Eiszapfen, die schon seit Wochen von der Dachrinne herabhingen, lösten sich innerhalb weniger Stunden in Wohlgefallen auf, obwohl der Wetterbericht starke Schneefälle gemeldet hatte. Noch drei Tage zuvor hatte das Thermometer heftige Minusgrade angezeigt, aber an diesem Samstag Anfang Februar kletterten die Temperaturen auf elf Grad Celsius. Der heftige Schneesturm, der am vergangenen Wochenende über den Taunusrücken gefegt war, hatte zwar einige Bäume wie Streichhölzer geknickt und den Inhalt mancher Mülltonne auf den sonst so sauber gefegten Straßen Kelkheims verteilt, dafür aber auch die Kälte vertrieben.

Verena stand am Wohnzimmerfenster ihrer neuen Wohnung in der Krakauer Straße, in die sie erst vor Kurzem mit Stefan gezogen war, und sah verträumt hinaus.

»Wenn es nur so schön bleiben könnte«, seufzte sie. »Das trübe Wetter der letzten Wochen war nicht zum Aushalten.«

Vielleicht lag ihre Unruhe auch daran, dass ihre Kinder in etwa acht Wochen zur Welt kommen würden. Irgendwie konnte sie es immer noch nicht so recht fassen, dass sie bald Mutter werden sollte. Und dann gleich zwei auf einmal …

Ihr Onkel Peter hatte es im Scherz vorausgesagt. Als sie schon nach wenigen Wochen stark zugenommen hatte, hatte er sie angegrinst und gemeint: »Man könnte fast auf den Gedanken kommen, dass du Zwillinge bekommst.«

»Gott steh mir bei«, war ihre erste Reaktion gewesen.

»Der hilft uns dann auch nicht mehr«, war es ihrem Verlobten Stefan spontan herausgerutscht. Schnell hatte er lässig hinzugefügt: »Na ja, warten wir erst mal den nächsten Ultraschall ab.«

Diese Untersuchung hatte dann alle Zweifel beseitigt. Dass ihr Schreck darüber, Zwillinge zu bekommen, schnell der Vorfreude gewichen war, hatte sie auch Stefan zu verdanken. Voller Liebe dachte sie an ihren Verlobten, der von der ersten Sekunde an, als er von ihrer Schwangerschaft erfuhr, völlig vernarrt in den Gedanken war, Vater zu werden. Der Junior-Partner in der Detektivagentur ST+W – Die Taunus-Ermittler hatte sofort versprochen, in den ersten Monaten nach der Geburt kürzer zu treten und sie zu entlasten. Dann würde ihr Onkel Peter, der Senior-Partner, eben die Hauptlast tragen müssen.

Doch kaum hatte Verena an den Beruf ihres Verlobten gedacht, da fuhr ihr dieses beklemmende Gefühl wieder in die Magengegend, und sie bekam einen heftigen Schweißausbruch, denn damit standen ihr auch die furchtbaren Erlebnisse vom letzten Sommer, in ihren ersten Schwangerschaftswochen, wieder vor Augen. Sie zwang sich, den Rat ihrer neuen Therapeutin, zu der sie seit einiger Zeit zweimal wöchentlich ging, zu befolgen, und führte sich ihre Erlebnisse von damals ganz bewusst vor Augen, statt sie wie bisher zu verdrängen.

Aber die Gedanken daran waren schon sehr beklemmend. Einen Tag, nachdem sie von ihrer Schwangerschaft erfahren hatte, war sie von Marc Meisenberger, einem berüchtigten Schwerverbrecher, und Jan Hinkebein, seinem naiven Gehilfen, quasi aus Versehen entführt worden. Eigentlich hatten die beiden eine reiche Unternehmertochter in ihre Gewalt bringen wollen, die Verena zum Verwechseln ähnlich sah. Noch einmal spielte sich vor ihrem inneren Auge ab, wie sie an jenem Tag im August am Stadtrand von Kelkheim betäubt worden und erst in einer Jagdhütte im Hintertaunus wieder zu sich gekommen war.

Ohne dass sie es gleich bemerkte oder gar hätte verhindern können, begannen ihr Tränen die Wangen herabzurinnen, und als es ihr auffiel, schimpfte sie laut mit sich selbst: »Jetzt hör endlich mit dem Geflenne auf! Du und die Kinder, ihr habt alles gut überstanden. Außerdem hat die Therapeutin gesagt, du wärest schon bald darüber hinweg. Also Schluss jetzt.«

Außerdem, so sagte sie sich, hatte das ganze Martyrium doch auch etwas Gutes bewirkt. Sie dachte an die Hochzeit, bei der sie letzte Woche Trauzeugin gewesen war. Bei der groß angelegten Suchaktion nach der verschwundenen Verena, die ihr Onkel Peter mit Freunden organisiert hatte, hatten sich Kim Li Wung und Jörg Stuhlbein kennengelernt. Kim Li war die Tochter von Dao Tae Wung, dem Inhaber der Kampfsportschule Wung Fu, und Verena hatte bei Kim Li ihre Judokenntnisse aufgefrischt. Wie Dao war auch Jörg Stuhlbein ein alter Freund von Peter und zudem Polizeibeamter in Wiesbaden.

Verena musste bei dem Gedanken schmunzeln, wie schnell es zwischen der Deutsch-Asiatin und dem biederen Beamten gefunkt hatte. Da beide Sportfreaks waren und schon an verschiedenen Marathonläufen teilgenommen hatten, drehten sie seit damals ihre Runden gemeinsam. Die Hochzeit hatte in Daos Haus in Bad Camberg stattgefunden, und als Kim Li gefragt hatte, ob Verena ihre Trauzeugin sein wolle, hatte sie trotz ihres beachtlichen Babybauches mit Freuden zugesagt.

»Schön war die Hochzeit«, sagte Verena laut in den Raum und dachte verträumt und inzwischen wieder völlig ruhig an ihre eigene, die für den kommenden August geplant war. Da würde Kim Li dann Trauzeugin sein. Außerdem hätten ihre Eltern dann ihr berufliches Engagement in Australien beendet und wären zurück in Deutschland.

Wie schön wär’s, wenn Stefan jetzt hier wäre, dachte sie. Aber er und Peter mussten sich unbedingt um das leidige Thema Buchführung kümmern, in der ihre Detektiv-Agentur permanent zu ersticken drohte. Zumindest so lange, bis Peters Freundin Annika mit ihrem Sohn Sven nach Kelkheim zog, würden die beiden wohl allein damit zurechtkommen müssen. Sie selbst hatte des Öfteren ausgeholfen und neben der Buchführung hin und wieder auch mitermittelt.

Schade, dachte sie ein wenig wehmütig, daraus wird ja in den nächsten Jahren nichts werden. Aber als ihr die Berge achtlos auf den Schreibtischen verstreuter Rechnungen und Belege wieder einfielen, wusste sie, dass sie zumindest darauf gut verzichten konnte. Peter und Stefan hatten ein unnachahmliches Talent darin entwickelt, das Chaos einfach zu übersehen.

»Trotzdem liebe ich diesen Chaoten«, sagte sie laut und musste schmunzeln, als sie daran dachte, dass Stefan sie am liebsten bereits Anfang November, kurz nach ihrer völligen körperlichen Genesung, zum Standesamt geschleppt und geheiratet hätte. Aber diesen Zahn hatte sie ihm ganz schnell gezogen. Schließlich wollte sie weder im Winter noch ohne ihre Eltern heiraten.

Verena riss sich aus ihren Gedanken, ging in die Küche hinüber und räumte die Spülmaschine aus, was ihr inzwischen schon recht schwerfiel. Kein Wunder, hatte sie inzwischen doch gut und gern achtzehn Kilo zugelegt. Danach bereitete sie sich einen Espresso, ließ sich vorsichtig auf einen Küchenstuhl sinken und dachte daran zurück, wie ihre Mutter bei einem Telefonat im letzten September Stefans und ihre Hochzeitspläne ruck, zuck unter einen Hut gebracht hatte.

»Heiratet doch im Herbst erst einmal standesamtlich, und im Sommer, wenn du wieder in das Brautkleid passt, das du dir so sehr wünschst, holt ihr die kirchliche Trauung nach.«

Diese Idee von Sabine Stettner hatte nicht nur Verena, sondern auch Stefan begeistert.

Dass dann doch alles anders als geplant gekommen war, hatte daran gelegen, dass Verenas Psyche auch im Herbst noch nicht so stabil war, wie alle geglaubt hatten. Wenige Tage nach dem Telefonat – die regelmäßigen Sitzungen bei ihrem Psychotherapeuten waren gerade erst deutlich reduziert worden – hatte sie einen schweren Rückfall erlitten. Eines Morgens, Verena war gerade aufgestanden und ins Bad gegangen, wurde sie von einem derart heftigen Weinkrampf gepackt, dass Stefan sich gezwungen sah, sich für einige Tage aus der Arbeit auszuklinken. Er war mit ihr kurzerhand zu einer anderen Therapeutin gefahren, die er für kompetenter hielt. Diese hatte gemeint, dass alles viel zu schnell gehe. Ihr dringender Rat war, die Hochzeit so lange zu verschieben, bis Verena wieder stabiler war und das alles nicht mehr nur Stress für sie bedeutete.

Peter Stettner stöhnte auf, als er den nächsten Aktenstapel auf seinen Schreibtisch legte und eine Rechnung vom letzten Herbst in die Hand nahm.

»Meine Güte«, murmelte er vor sich hin. »So lange liegt das Zeug jetzt schon hier rum. Warum wollen diese Idioten von Finanzbeamten eigentlich immer alles ganz genau wissen? Was habe ich von wem eingenommen? Welche Spesen sind angefallen? Welche Investitionen habe ich getätigt, und was weiß ich noch alles? Warum muss ich mich mit solch einem sinnfreien Kram beschäftigen? In dieser Zeit könnte man besser ermitteln.« Sie brauchten dringend wieder jemanden für den Bürokram, bevor die Detektei vollends im Aktenberg erstickte. Verena fiel ja leider auf Jahre aus. Ob vielleicht Annika …

Seine Gedanken schweiften von der Buchhaltung weg.

Ach, Annika, dachte er, was machst du gerade? Wenn du jetzt hier wärst, würdest du es schaffen, mich in Sekundenbruchteilen von der blöden Büroarbeit abzulenken. Immerhin, wenn nichts dazwischenkommt, wirst du zum Schuljahresende mit Sven zu mir ziehen. Dass der kleine Bursche davon begeistert ist, hätte ich ja schon nicht gedacht. Aber dass sein bester Freund auch hier in die Gegend zieht, weil sein Vater Arbeit im Industriepark bekommen hat, das ist ein wahrer Glücksfall.

Noch während er das dachte, fiel sein Blick auf den riesigen Aktenstapel am rechten Schreibtischrand, und sein gerade noch versonnenes Lächeln verzog sich zu einer Grimasse.

Stefan, der am Schreibtisch gegenüber saß und selbst mehr an kulinarische Genüsse als an Arbeit dachte, sah grinsend zu ihm hinüber.

»Geht’s dir genauso wie mir?«

»Kann man wohl sagen. Was können wir dagegen tun?«

»Erst mal eine Stärkung zu uns nehmen. Und heute Nachmittag eine Stellenanzeige für eine Bürokraft aufgeben.«

»Gleich zwei prima Ideen. Und wo gehen wir zum Essen hin?«

»Zum Griechen. Da waren wir schon lange nicht mehr.«

»Ja, genau seit einer Woche.«

»Na, dann wird’s ja Zeit. Ich bin froh, dass die jetzt wieder mittags aufhaben.«

Einige Minuten später waren die beiden bereits in dem Restaurant angekommen und steuerten ihren Lieblingsplatz an.

Sonst herrschte im gesamten Lokal gähnende Leere. Während er die Speisekarte studierte, meinte Stefan: »Wenn das so weitergeht, ist das Experiment Mittagsöffnung leider bald wieder Geschichte. – Nimmst du eine Vorspeise?«

»Klar doch, Büroarbeit macht hungrig.«

»Stimmt. Und wir haben nichts Gescheites zum Frühstücken im Haus. Verena hat im Moment einen Tiefpunkt erreicht, wo ich ihr einen Großteil der Hausarbeit abnehme. Aber ich komme auch zu nichts.«

Nachdem sie bei der Wirtin den Schafskäsesalat bestellt hatten, besprachen sie die schwierige Situation, in der Stefan und Verena zurzeit steckten. Bald darauf hatten sie schon das zweite Glas Apfelwein vor sich stehen. Peter nahm erst einmal einen großen Schluck und sagte grinsend: »Reden macht immer so durstig.«

»Denk daran, wir haben noch eine Menge Arbeit im Büro liegen.«

»Die liegt auch morgen noch.«

»Wie du meinst.«

Die Gaststättentür öffnete sich, und vier Frauen, alle zwischen dreißig und vierzig Jahre alt, betraten die Gaststube und setzten sich an den Nebentisch.

Kurz darauf kam die Wirtin mit den Speisekarten zu ihnen, und eine der Frauen bestellte vier Gläser Demestica und vier Ouzo.

»Na die haben’s aber gut vor«, sagte Stefan schmunzelnd, und Peter, dem bereits aufgefallen war, dass eine der Frauen bedrückt zu sein schien, konnte es nicht lassen, mal wieder mehr den anderen zuzuhören als Stefan.

Als Stefan bemerkte, dass er zu seinem Freund und Kollegen kaum noch durchdrang, gab er es auf und hörte nun seinerseits den Frauen zu.

»Sag mal, Anke«, sagte die blonde Frau, die Stefan am nächsten saß, »was ist denn heute mit dir los? Du bist schon die ganze Zeit so still und machst ein Gesicht wie drei Tage Regenwetter.«

»Sturm und Eiseskälte hast du noch vergessen«, gab die Angesprochene postwendend zurück, grinste schief und sagte dann vollkommen ernst: »Aber nach Scherzen ist mir eigentlich gar nicht zumute.«

»Wieso denn nicht? Selbst nach deiner Scheidung von Uwe hast du nicht so belämmert dreingeschaut.«

»Ach, Sonja«, stöhnte Anke auf, »wenn du gesehen hättest, wie fertig meine kleine Pia gestern aus der Schule kam. Sie wird ja nicht nur bestohlen und gemobbt …«

»Wie, was denn noch?«, kam es dreistimmig zurück.

Ohne auf die Frage der Freundinnen einzugehen, sagte Anke bitter: »An allem ist nur Uwe schuld. Mit einer Jüngeren durchbrennen reicht ihm ja nicht. Nee, vorher löst er die Firma auf, schafft das Geld beiseite und behauptet dreist, er hätte nichts mehr. Ich blödes Hausmütterchen hab davon nicht mal was mitbekommen. Wenn er wenigstens für Pia Unterhalt zahlen würde! Aber selbst dafür ist sich der gnädige Herr zu fein. Was meint ihr wohl, warum wir immer noch in dieser Bruchbude leben und Pia auf diese unsägliche Schule gehen muss. Von meinem Teilzeitjob und dem bisschen Hartz IV dazu bringe ich uns gerade so über die Runden. Nicht einmal ein Auto kann ich mir mehr leisten. Dabei haben wir mal zu den wohlhabendsten Familien in Königstein gehört.«

»Was ist denn passiert? Mit uns kannst du reden«, ermunterte Sonja ihre Freundin und die anderen nickten zustimmend.

»Das ist lieb von euch«, sagte Anke und sah misstrauisch in die Runde, merkte aber schnell, dass ihr enormer sozialer Abstieg kein Grund für die drei anderen war, ihre Freundschaft infrage zu stellen.

»Für mich alleine wäre das alles nur halb so schlimm. Aber dass Pia so leiden muss, zerreißt mir das Herz. Gestern kam die Kleine heulend und mit einem blauen Auge aus der Schule. Wie kaputt muss jemand sein, der einer Zehnjährigen so etwas antut. Das kommt alles nur von dieser Scheißschule und unserer angespannten finanziellen Lage.«

»Oh Gott«, rief Iris bestürzt aus und trank ihr Glas in einem Zug leer.

»Sag nur ein Wort, und wir leihen dir so viel Geld, dass du dort wegziehen kannst«, versuchte Nicole ihre Freundin zu trösten.

»Kommt gar nicht infrage. Das muss ich selbst schaffen. Geld anzunehmen geht nicht nur gegen meine Ehre, ich würde damit auch unsere Freundschaft aufs Spiel setzen, falls ich es euch nicht zurückzahlen könnte. Und jetzt Schluss damit. Ich wollte ja eigentlich von Pia erzählen. Als ich sie gefragt habe, woher das blaue Auge sei, hat sie gemeint, sie wäre gestolpert und mit dem Gesicht aufs Treppengeländer geknallt.«

»Im Leben nicht«, sagte Iris entschieden. »Da holt man sich vielleicht eine blutige Nase, aber kein blaues Auge.«

»Du hast recht, aber soll ich Pia zwingen, mir die Wahrheit zu sagen? Sie hat es schwer genug.«

»Aber es muss doch etwas dagegen unternommen werden.«

»Ja, es ist allerhöchste Zeit. Heute Morgen hat Pia nur geweint und sich strikt geweigert, in die Schule zu gehen.«

»Oh, Scheiße. Aber sie ist bestimmt auch traurig wegen ihres Papas, oder?«

»Das glaub ich nicht mal. Obwohl der Depp im Moment nur seine neue Flamme im Kopf hat und sogar die Besuchstermine bei Pia vergisst. Die Kleine ist jedes Mal ganz fertig, wenn sie auf ihren Papa wartet und er kommt nicht. Danach komme selbst ich kaum an sie ran. Aber das Allerschlimmste ist, dass sie in der Schule dramatisch nachlässt. Letzte Woche hat sie ein Diktat mit nach Hause gebracht, das vor Fehlern nur so strotzte. Das wäre früher undenkbar gewesen. Dass sie im Sommer aufs Gymnasium überwechselt, ist im Moment undenkbar. Ich bin schon froh, wenn sie nicht sitzen bleibt.«

»Und jetzt noch das blaue Auge …«

»Wenn es nur das wäre! So nach und nach habe ich ja einiges aus ihr herausbekommen. An dieser Schule müssen Zustände herrschen, es ist kaum zu glauben. Da gibt es Cliquen von Jungen, die tyrannisieren und mobben Jüngere. Das heißt, sie bestehlen und erpressen sie oder quälen sie sogar. Pia ist ein bevorzugtes Opfer, obwohl bei ihr kein Geld zu holen ist. Dafür hat sie schon öfters Prügel einstecken müssen. Das Pausenbrot haben sie ihr auch schon abgenommen – aber nicht, um es selbst zu essen, sondern um darauf herumzutrampeln. Pia hat in ihrer Klasse nur eine Freundin, die zu ihr hält, die Lisa. Aber die bezieht dafür auch Prügel. Der Rest der Klasse hält sich raus. Wahrscheinlich, um nicht selbst in die Schusslinie dieser Möchtegern-Ganoven zu kommen. Gestern haben diese kleinen Teufel Lisa die Geldbörse mit fünfzehn Euro abgenommen, und weil ihnen das zu wenig war, Lisa getreten und Pia geschlagen. – Aber jetzt wird’s noch ernster.«

»Geht denn das?«, wunderte sich Iris, und die anderen nickten schockiert.

»Allerdings. Als Pia heute Morgen ihr Nachthemd auszog, war ihr Rücken mit blauen Flecken nur so übersät. Und die können zum Teil nicht von gestern stammen. Ich war mit ihr beim Arzt und habe ihm erzählt, was ich weiß. Er kennt die Probleme an der Schule sehr gut und hat mir geraten, mich an die Polizei zu wenden, aber keine großen Hoffnungen gemacht, dass sich dadurch etwas ändern würde.«

»Das darf doch nicht wahr sein!«, rief eine der Freundinnen so laut, dass die wenigen Gäste im Lokal sich verwundert zu dem Damenkränzchen umdrehten.

Einige Zeit später, die Freundinnen hatten die Mahlzeit inzwischen beendet, nahm Anke den Faden dort wieder auf, wo sie vor dem Essen mit ihrem Bericht stehen geblieben war.

»Ich habe mir schon einen Termin bei Pias Klassenlehrerin geben lassen. Mal sehen, was sie zu diesen Zuständen sagt.«

»Du musst uns unbedingt berichten, was du erreicht hast«, sagte Nicole, und Anke freute sich darüber, dass alle so viel Verständnis zeigten, obwohl sie das Gefühl hatte, nicht mehr wirklich zu ihnen zu gehören. Schließlich hatte sie nach ihrer Scheidung einen Abstieg hingelegt, wie er krasser kaum hätte ausfallen können: im Direktflug von der Königsteiner High Society in die Frankfurter Armut.

»Lasst uns noch ein Glas trinken, und dann machen wir uns auf den Weg zur S-Bahn«, schlug sie vor, »denn fahren kann sowieso keiner mehr von euch.«

»Stimmt«, sagten Iris und Sonja nahezu gleichzeitig. Nur Nicole, die von allen am elegantesten gekleidet war, sagte: »Pah, S-Bahn? Wir nehmen ein Taxi, und dich lassen wir am Bahnhof aussteigen.«

Als die vier Frauen gerade ihren Abschluss-Ouzo tranken, stand Peter schnell auf und wollte sich elegant zwischen den Tischen hindurchschlängeln. Dabei blieb er wie unbeabsichtigt mit dem Ärmel an der Tischkante hängen, sodass der Tisch der Damen einen heftigen Stoß bekam und die Dunkelhaarige, die Nicole hieß, sich heftig verschluckte.

»Entschuldigen Sie bitte, das wollte ich nicht.«

»Nicht so schlimm, es war nur ein Schluck Ouzo.«

»Umso schlimmer.«

»Wieso? Sie haben ihn doch abbekommen«, sagte Nicole grinsend.

Das hab ich doch ganz gut hinbekommen, dachte Peter, und sagte laut: »Dafür spendiere ich Ihnen einen Neuen.«

»Nein, das ist nicht nötig«, sagte Nicole so bestimmt, dass Peter sofort merkte, dass er noch direkter auf sein Ziel lossteuern musste. »Entschuldigen Sie bitte, wenn ich Sie darauf anspreche. Mein Freund und ich haben versucht, Ihrer Unterhaltung nicht zu folgen, leider ist es uns nicht gelungen.«

»Waren wir so laut?«

»Das auch, aber vor allem bei dem Thema wurde ich hellhörig. Schließlich habe ich einen Stiefsohn im Alter Ihrer Tochter. Die zunehmende Gewalt an unseren Schulen ist ein weit verbreitetes Übel, dem man konsequent und energisch zu Leibe rücken muss, wenn es nicht zu einer unbeherrschbaren Plage werden soll. Außerdem sind mein Partner und ich hier Privatdetektive und könnten Ihnen unsere Hilfe anbieten, falls Sie das wünschen.«

Während er das sagte, zog er eine Visitenkarte der Detektei aus der Hosentasche und hielt sie Anke hin.

»Danke, aber ich fürchte, das kann ich mir nicht leisten.«

»Wenn uns ein Fall interessiert«, kam Stefan seinem Freund und Kollegen zu Hilfe, »dann machen wir auch mal Sonderkonditionen, Frau …«

»Neuner.«

In diesem Augenblick ging die Tür des Lokals auf, und der von Nicole bestellte Taxifahrer kam herein.

2.

Mit einem beklemmenden Gefühl in der Magengegend legte Annika den Telefonhörer auf die Gabel des alten, fast schon antik wirkenden Telefons zurück. Jetzt hatte sie bestimmt schon zehnmal versucht, Peter zu erreichen. Da sie noch immer damit beschäftigt war, die Stiftung einzurichten, die ihr verstorbener Mann schon lange geplant hatte, konnten sie sich im Moment nicht so oft sehen, wie sie es gern getan hätten. Aber Annika war Perfektionistin und wollte alles im Sinne ihres Mannes erledigen, der vor eineinhalb Jahren ermordet worden war.

Sie stand am Panoramafenster im Wohnzimmer ihrer Doppelhaushälfte und sah versonnen in den Garten hinaus. In wenigen Wochen würde dieses Haus in der Paul-Wagner-Straße in Darmstadt-Bessungen der Stiftungssitz werden. Im Grunde war sie froh, hier alles zu räumen und in Kelkheim neu anfangen zu können. Das Haus erinnerte sie zu sehr an Alfred und dessen Ermordung, für die sie einige Wochen unschuldig hinter Gittern saß, bis Peter sie gerettet hatte. In diesen Wochen war sie um Jahre gealtert, und Sven, der zwischenzeitlich bei seiner Oma in Düsseldorf untergebracht worden war, war froh, seine Mutter endlich wiederzuhaben.

Die trüben grauen Wolken, die urplötzlich über dem Odenwald aufgezogen waren und den Himmel immer weiter verdunkelt hatten, bis es schließlich wie aus Kübeln zu schütten begann, waren kein bisschen dazu geeignet, Annikas Stimmung zu heben. Stattdessen dachte sie umso intensiver an diese dunkle Zeit zurück. Niemand, vor allem nicht Kommissar Beierlein von der Darmstädter Kripo, hatte ihr geglaubt, dass sie ihren Mann geliebt hatte. Und doch war es trotz der fast fünfunddreißig Jahre Altersunterschied so gewesen. Der Kommissar war überzeugt gewesen, in ihr die Mörderin gefunden zu haben, und erst als sie Peter, den Ex-Mann ihrer Jugendfreundin Michaela, engagiert hatte, war Licht ins Dunkel der Tat gekommen. Dafür war sie ihm und natürlich auch Stefan und Verena unendlich dankbar. In der Folgezeit waren Peter und sie sich behutsam nähergekommen und seit Peters Fünfzigstem ein Paar.

Energisch riss Annika sich von ihren traurigen Erinnerungen los und ging in die Küche. Sie kochte sich einen Kaffee und schaltete das Radio ein, um wenigstens etwas Ansprache zu haben.

Zwei Tage später klingelte am frühen Morgen Peter Stettners privates Telefon. Er war gerade erst aufgestanden, noch halb verschlafen und brummte leidend vor sich hin.

»Was ist denn jetzt schon wieder los? Nicht mal um halb sieben in der Frühe hat man seine Ruhe.«

Übelgelaunt schlurfte er vom Bad ins Wohnzimmer und nahm das Mobilteil zur Hand. Da er sich am Vorabend mit Annika am Telefon gestritten hatte, vermutete er sie am anderen Ende der Leitung, und rief etwas ungehalten in den Apparat: »Bist du denn von allen guten Geistern verlassen?« Nur um dann heftig zu schlucken und zu sagen: »Oh, Verzeihung, Burkhard, dich hab ich nicht gemeint …«

Mit einem Schlag war er hellwach.

»Ist schon gut«, sagte der Anwalt, »ist mir auch schon mal passiert.«

»Was gibt’s denn so Wichtiges, dass du mich zu Hause anrufst?«

»Ich habe eine Bitte an dich.«

»Na, dann schieß mal los.«

»Es ist eine sehr heikle Geschichte. Es geht um gewalttätige Übergriffe von Jugendlichen auf Kinder an einer Schule in Frankfurt-Höchst. Könntest du da etwas für mich recherchieren? Ich muss aber gleich dazu sagen, dass es dafür kein großes Honorar gibt, denn die Mutter des Mädchens hat nicht viel. Darf ich die Sache kurz umreißen?«

»Na klar, das mit dem Geld ist kein Problem«, sagte Peter, der sofort an die Frauenrunde beim Griechen dachte.

»Ich habe vor nicht allzu langer Zeit eine Mandantin aus Königstein in einem Scheidungsprozess vertreten und für die Tochter und sie einen ansehnlichen Unterhalt erstritten. Doch leider kann oder besser will ihr Ex-Mann nicht zahlen, obwohl er immer noch sehr reich sein dürfte. Die Frau musste nach Frankfurt-Höchst in eine schäbige kleine Altbauwohnung ziehen und …«

»Darf ich dich kurz unterbrechen? Kann es sein, dass es sich bei der Frau um Anke Neuner handelt?«

»Donnerwetter, woher weißt du denn das schon wieder?«

»Reiner Zufall. Ich habe kürzlich in einem Lokal ein paar Gesprächsfetzen zwischen Frau Neuner und ihren Freundinnen mitbekommen.«

»Gesprächsfetzen?«, fragte der erfahrene Anwalt schmunzelnd. »Ach was. Ich kenne dich und dein Gehör viel zu gut.«

»Okay, ich bin mit den meisten Details vertraut. Aber um welche Schule es geht, weiß ich noch nicht.«

»Die Paul-Oberhoff-Schule in der Kurmainzer Straße in Höchst, gleich neben der Arbeitsagentur. Es ist eine Grund-, Haupt- und Realschule mit tausend, vielleicht auch fünfzehnhundert Kindern, die auf viel zu engem Raum zusammengepfercht sind.«

»Von dieser Schule habe ich schon gehört – allerdings nichts Gutes.«

»Sag ich ja. Da ich Frau Neuner als grundanständige Frau kennengelernt habe, möchte ich ihr gern helfen. Bist du und dein Partner mit dabei?«

»Was mich angeht, immer, und bei Stefan wird’s nicht anders sein. Ich frag ihn gleich, wenn ich um elf ins Büro komme.«

»Brauchst du so lange zum Frühstücken?«

»Das nicht, aber ich muss noch zum Zahnarzt.«

»Herzliches Beileid.«

»So schlimm wird’s hoffentlich nicht werden.«

»Okay, dann … ach ja, wie geht es denn deiner Nichte? Hat sie die Belastungen der Entführung gut überstanden?«

»Ja, alle drei.«

»Was? Wie soll ich das verstehen?«

»Verena war damals, was noch keiner wusste, schwanger. In Kürze wird sie Mutter von Zwillingen.«

»Donnerwetter, das ist mir neu. Wann ist es denn so weit?«

»Wenn ich richtig gerechnet habe, ist sie jetzt im achten Monat. – So, jetzt muss ich mich aber beeilen, mein Zahnarzt wartet nicht gern.«

Gewalt an Schulen

»Kommissar Josef Hundt?«

»Kennen Sie ihn?«

»Ja, von früher. Damals war er noch zweiter Mann im Raubdezernat. Danke, Frau Weißgerber, Sie haben mir ein ganzes Stück weitergeholfen.«

Während Peter zu seinen Wagen ging und in Richtung des Städtischen Krankenhauses davonfuhr, rief er Burkhard Pfannmöller an. Er erreichte nur den Anrufbeantworter. Peter wollte von dem Anwalt wissen, was aus den Kommissaren Hundt und Jäger geworden war, und bat um einen Rückruf am Abend.