1.
VON WILDEN LÖWEN IN PARIS UND EINER SCHEUEN KATZE IN HAMBURG
Meine Freundin sagt, manchmal ist das Leben ein Sack Reis mit einem Loch. Einem Loch, das so klein ist, dass man es beim Tragen gar nicht bemerkt, aber der Reis rieselt raus und der Sack wird leichter und leichter, bis er irgendwann leer ist. Und wenn man sich umschaut, sieht man, welchen Weg man gegangen ist, wo man angefangen hat und wo man am Ende steht.
Ich stand mit meiner Freundin vor dem kleinen Grab im Garten, ganz in der Nähe unserer Wohnung, aber das ist das Ende der Geschichte. Angefangen hat alles in Paris – mit mir und sieben Löwen. Die Löwen waren sehr wild gewesen, aber ich hatte sie gezähmt. Das war meine Aufgabe, dafür war ich bekannt: Als weltberühmte Filmtiertrainerin hatte ich mir in Deutschland und der ganzen Welt einen Namen gemacht. Ich war Lola Löwenherz und meine Stars, die Tiere, gehorchten mir aufs Wort. Ich hatte Steppenwölfen das Steppen beigebracht, Füchsen den Foxtrott und Hühnern den Hip-Hop – aber solche Aufträge waren für mich die leichteste Übung. Mit sieben Löwen durch Paris zu laufen, war schon schwieriger, denn die Löwen kamen natürlich nicht aus der Stadt, sondern aus dem Urwald. Dort hatte ich mich mit ihnen vertraut gemacht, um sie anschließend in einem Spezialflugzeug nach Paris zu bringen. Hier würde ich sie auf ihren Auftritt für den Spielfilm vorbereiten. Es sollte eine wilde Verfolgungsjagd über die Champs-Élysées – die berühmte Einkaufsstraße in Paris – werden, aber zunächst probten wir das Flanieren. Ich liebe dieses Wort. Flanieren. Es hinterlässt so einen süßen Geschmack auf der Zunge, wenn man es ausspricht, als würde es Karamellpudding-vom-Finger-ablecken heißen. Aber bedeuten tut es etwas anderes. Flanieren heißt, im gemächlichen Tempo an den teuren Geschäften vorbeischlendern, hier und dort hereinschauen und etwas kaufen. Und genau das taten wir. Ich brachte den Löwen bei, vor den Kabinen zu warten, während ich die Pariser Mode anprobierte, und die Verkäuferinnen waren sehr, sehr höflich, was sicher an meiner königlichen Begleitung lag. Sie beschwerten sich nicht mal, als einer der Löwen ein großes Geschäft in ihr Geschäft machte und zum Abschied schenkten sie mir eine goldbraune Federboa.
Dann probten wir die Verfolgungsjagd. Auf mein Kommando rasten die Löwen über die Champs-Élysées, sprangen über brennende Autoreifen und umzingelten schließlich den Bösewicht, den sie im Spielfilm verfolgen sollten: Monsieur Koppenrat, einen gefürchteten Kinderjäger, der junge Dämchen an wilde Löwen verfütterte. Doch schließlich verbündeten sich die Löwen gegen ihn und fraßen ihn selbst auf. Während Monsieur Koppenrat wie ein Kartoffelkäfer am Boden lag, sollten ihm die sieben Löwen ihren tödlichen Atem ins Gesicht hauchen. Wir probten die Szene siebenundzwanzig Mal, dann wurde es Monsieur Koppenrat schlecht und ich kraulte den Löwen ihre Mähnen, bis sie schnurrten wie sieben kleine Katzen. Darüber schlief ich zufrieden ein.
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war ich nicht mehr in Paris, sondern in meinem wirklichen Leben: meinem Kinderzimmer in der Hamburger Bismarckstraße. Hier bin ich auch nicht die berühmte Filmtiertrainerin Lola Löwenherz, sondern ganz einfach Lola Veloso. Ihr wisst ja, wenn ich nachts nicht einschlafen kann, stelle ich mir vor, wer ich wohl wäre, wenn ich nicht Ich wäre – und wer ich in Wirklichkeit bin, das wisst ihr sicher auch: Tochter von Mama und Papai, Enkeltochter von Oma und Opa, Nichte von Tante Lisbeth, Freundin von Alex aus Paris und beste Freundin von Flo.
Es gab aber noch jemanden, der zu meinem wirklichen Leben gehörte: Seit genau einer Woche war ich die Besitzerin von Schneewittchen, einer kleinen schwarzen Katze mit einer weißen Schwanzspitze. Sie kam nicht aus dem Dschungel wie die sieben Löwen, sondern aus dem Salon von Clarissa, der Friseurin an unserer Straßenecke.
Das wisst ihr vielleicht auch schon, denn an der Stelle, wo Schneewittchen in mein Leben kam, hat meine letzte Geschichte ja aufgehört. Aber meine Freundin sagt, das mit Schneewittchen hätte ich damals gar nicht ganz genau erzählt – und wenn man diese Geschichte verstehen will, dann müsste ich das nachholen. Also gut:
Als ich Schneewittchen zum ersten Mal sah, war sie noch bei ihrer Katzenmutter Lisa. Clarissa hatte in die Ecke ihres Friseursalons einen Korb gestellt. Er war mit einem weichen Schaffell ausgelegt. Auf dem Fell lag Lisa und an ihrer Brust hingen sechs schwarz-weiß getigerte Katzenbabys. Sie hatten die Augen geschlossen und saugten und schmatzten und sahen so süß aus, dass ich am liebsten laut gequiekst hätte. Ich tat es natürlich nicht, denn ich wollte die kleinen Katzen ja nicht erschrecken.
Dass hinter Lisas Rücken noch ein siebtes Katzenbaby lag, bemerkte ich erst, als sich ein pechschwarzes Pfötchen um ihren Hals schmiegte. Es war so schwarz wie Ebenholz und kurz darauf kam ein ebenso schwarzes Köpfchen zum Vorschein. Dann begann das siebte Katzenbaby, an dem Ohr seiner Mutter zu knabbern. Dabei sah ich seine rosarote Zunge und seine weiße Schwanzspitze. Sie zuckte hin und her wie eine flauschige Schneeflocke.
Das – genau das – war der Augenblick, in dem ich fühlte, dass dieses winzige Kätzchen zu mir gehörte. Ich fühlte es in meinem Blut und dass man solchen Gefühlen trauen muss, das wusste ich, seit ich meine beste Freundin gefunden hatte.
Was meine kleine Katze fühlte, als ich sie zum ersten Mal sah, das wusste ich nicht. Sie schien mich gar nicht wahrzunehmen, aber das, dachte ich, würde sich ändern. Wenn sie erst mal bei mir wohnte.
Dazu musste ich allerdings Mama und Papai bearbeiten, und das war gar nicht so einfach! Papai sagte siebzehn Mal Nein und Mama siebenundachtzig Mal – denn sie hatte ein paar Tage Urlaub und war öfter zu Hause als Papai. Aber nach dem achtundachtzigsten Mal sagte Mama Ja und dann sagte Papai auch Ja, und ich schrie so laut HURRA, dass unsere Nachbarn mit dem Besenstiel an die Decke klopften.
Der Tag, an dem Schneewittchen endlich zu mir kam, war einer der aufregendsten in meinem ganzen Leben, das könnt ihr euch wohl denken! Für den Transport hatte ich natürlich kein Spezialflugzeug gebraucht wie bei den sieben Löwen aus meiner Fantasie, sondern nur einen kleinen Katzenkorb. Den hatte mir Clarissa geliehen. Schneewittchen schlief, als wir sie vorsichtig hineinlegten, und Flo sagt, vielleicht war das ja der Fehler. Aber Flo war in dieser Woche gar nicht da, weil sie die Maiferien bei ihrem Vater Eric in Düsseldorf verbrachte. Und Oma sagt, hinterher ist man meistens schlauer. Ich finde diesen Spruch ziemlich bescheuert, denn was hat man vom Schlausein, wenn man den Fehler schon gemacht hat?
Jedenfalls schlief Schneewittchen und als ich den Korb in meinem Kinderzimmer abstellte, rührte sie sich immer noch nicht. Vorsichtig öffnete ich den Deckel. Millimeter für Millimeter klappte ich ihn auf, und dabei kribbelte meine Kopfhaut, als ob siebentausend Ameisen einen wilden Walzer auf mir tanzen würden.
Gleich, dachte ich. Jetzt gleich zeige ich meiner kleinen schwarzen Katze ihr neues Zuhause. Ich hebe sie aus dem Korb und nehme sie auf den Arm und zeige ihr jeden Winkel unserer Wohnung. Vor allem das Katzenklo natürlich und den Fressnapf und die kleine Wollmaus zum Spielen und die weiche Katzenbürste für ihr Fell und mein Superweltallexpressraumschiff, das ich mir aus einem alten Umzugskarton gebaut hatte, und …
Ja, und dann geschah es.
Als ich den Deckel ganz geöffnet hatte, sprang meine Katze mit einem lauten Fauchen aus dem Korb, sauste unter meinen Schreibtisch und pisste auf den Teppich. Dann flitzte sie unter mein Bett und dort blieb sie und rührte sich nicht. Ich rief ungefähr hundert Mal ihren Namen und dann rief ich hundert weitere Male Miez-Miez, aber nichts passierte.
„Das wird schon noch, Cocada“, versuchte Papai mich zu trösten – aber: Es wurde nicht.
Schneewittchen blieb natürlich nicht sieben Tage und Nächte unter meinem Bett, sondern kam zum Fressen heraus, aber eigentlich nur dann, wenn keiner von uns in der Nähe war. Und die Winkel unserer Wohnung erkundete sie ebenfalls alleine. Einmal sah ich sie an der Katzenbürste schnuppern. Ein anderes Mal kratzte sie ein Loch in die Klappe meines Superweltallexpressraumschiffes und einmal spielte sie mit ihrer kleinen Wollmaus Fußball. Aber das mit dem Fellbürsten oder Auf-den-Arm-Nehmen konnte ich komplett vergessen. Ich kam ja nicht mal in die Nähe ihrer Schwanzspitze! Sobald ich die Finger nach Schneewittchen ausstreckte, duckte sich meine Katze. Oder sah mich an, als wäre ich ein Mammutmonster. Oder raste unter irgendein Möbelstück. Und einmal fuhr sie sogar ihre Krallen nach mir aus. Sie trafen mich nicht an der Haut, aber dafür ins Herz, und das war fast noch schlimmer, denn auf einen Kratzer im Herzen kann man nicht pusten, wenn er brennt.
Zum Glück benutzte Schneewittchen jetzt wenigstens ihr Katzenklo, sonst wäre Mama wahrscheinlich kratzbürstig geworden, denn von dem Pinkelfleck unter meinem Schreibtisch hatten wir noch tagelang was. „Mit diesem Gestank könnte man jemanden aus dem Koma wecken!“, schimpfte Mama, wenn sie abends mit mir kuschelte.
Und Papai kam mir langsam vor wie ein Papagei, denn er sagte jeden Tag aufs Neue: „Das wird schon noch, Cocada.“
Das wird schon noch, das ist so ein richtiger Erwachsenensatz, finde ich. Wie lange sollte es denn noch dauern, bis es wurde? Ich wollte, dass es endlich war! Ich meine, stellt euch das doch bitte mal vor: Es gibt wahrscheinlich Millionen von Kindern, die sich ein Haustier wünschen und keins haben dürfen – und ich durfte eins haben, aber mein Haustier wünschte sich anscheinend nicht mich. Und genau das war auch der Grund, warum ich abends im Bett anfing, wilde Löwen zu trainieren.
So! Nun habe ich hoffentlich genug von meinen ersten Tagen mit Schneewittchen erzählt und die Geschichte kann weitergehen – mit dem Montagmorgen nach den Maiferien.
Als ich aus dem Bett stieg, saß Schneewittchen auf meinem Schreibtisch und spielte mit den Papierkugeln, die ich beim Matheüben aus meinem Heft gemacht hatte.
Auf, dachte ich. Sie sitzt auf meinem Tisch, das ist doch schon mal was! So schleicheleise, wie ich konnte, bewegte ich mich auf meinen Schreibtisch zu. Aber es war wohl nicht leise genug. Zack!, war Schneewittchen von der Tischplatte gesprungen und sauste unter den Kleiderschrank, unter dem das Spielbrett meines Mensch ärgere dich nicht-Spiels hervorlugte.
Vorsichtig zog ich einen Würfel aus der Schachtel heraus und ließ ihn unter den Schrank rollen. Nichts.
Ich kugelte ein grünes Männchen hinterher. Nichts. Ein rotes, ein gelbes, ein blaues Männchen – und dann hörte ich Mama rufen: „LOOOOOLAAA, FRÜÜÜHSTÜCK!“
Seufzend schlurfte ich in die Küche, wo Mama mein Schulbrot schmierte. Papai lag noch im Bett, aber dafür saß Tante Lisbeth am Frühstückstisch und warf mir zur Begrüßung eine Kiwi an den Kopf.
„Hey!“, schimpfte ich. „Du weißt doch ganz genau, dass du nur mit grünen Trauben werfen darfst!“
Tante Lisbeth ist Omas jüngste Tochter. Mittlerweile ist sie dreieinhalb und macht Werbung für Jungenmode, weil sie einen Kurzhaarschnitt hat.
„Wittchen nich tücken mit Ola und Ibsel?“, fragte sie und sah sich in der Küche um.
„Nein“, murmelte ich. „Wittchen tückt nich mit Ola und Ibsel.“
„Sprich deutlich mit deiner Tante“, ermahnte mich Mama. „Oma wird noch ganz verrückt, wenn ihre kleine Maus nicht bald anfängt, ordentlich zu sprechen.“
„Und ich werde verrückt, wenn meine kleine Katze nicht bald anfängt, sich ordentlich streicheln zu lassen“, knurrte ich. „Oma soll sich nicht so anstellen. Wo ist sie eigentlich? Hat sie schon getückt?“
Mama griff nach dem Marmeladenglas, in das meine Tante gerade die Antenne ihres Teletubbies tunken wollte. „Oma schaut sich einen Kindergarten für Lisbeth an. Und du solltest machen, dass du in die Schule kommst. Schreibt ihr nicht heute Mathe?“
„Erinnere mich nicht daran“, sagte ich. Schnell schaufelte ich die letzten Löffel Cornflakes in mich hinein. Dann versuchte ich, mich von meiner Katze zu verabschieden.
„Schneewittchen, ich geh jetzt!“, rief ich auf dem Boden liegend in den Spalt unter meinen Kleiderschrank. Das schwache Glühen von Schneewittchens Augen verriet mir, dass meine Katze da war, aber sonst regte sie sich nicht.
Im Flur probierte ich noch, Alex anzurufen, doch der regte sich ebenfalls nicht. Ich hatte in den letzten Tagen schon mehrmals versucht, ihn zu erreichen, aber immer war entweder besetzt, oder niemand nahm ab, so wie heute Morgen auch. Alex, der mit richtigem Namen Alexandre heißt, lebt bei seiner Mutter in Paris. Er nennt mich Lola Löwin oder Ma Chérie, aber dass ich seit Tagen so gar nichts von ihm gehört hatte, machte mir Sorgen. Meine Katze hockte unter dem Schrank, aber wo steckte Alex?
Zum Glück würde ich heute wenigstens meine beste Freundin wiedersehen!
Vielleicht hat Flo eine Idee, wie ich Schneewittchen mit mir vertraut machen kann, dachte ich auf dem Weg zur Schule. Schneewittchen musste ja nicht über brennende Autoreifen springen oder mit mir über die Champs-Élysées flanieren. Aber konnte sich meine eigene Katze nicht wenigstens von mir streicheln lassen?
Diese Frage spukte durch meinen Kopf, als ich die Tür meines Klassenzimmers öffnete. Doch gleich darauf sollten mich noch ganz andere Fragen quälen.
2.
VIELE ZAHLEN, ZWEI ZIEGEN UND EIN TRAURIGES KIND
In Herrn Grünstängels Garten wachsen jedes Jahr viele Tulpen. 1997 waren es 53 640, im Jahr darauf 48 980, und 1999 zählte Herr Grünstängel sogar 69 310 Tulpen.
Wie viele Tulpen wachsen durchschnittlich jedes Jahr in Herrn Grünstängels Garten?
So lautete die erste Frage, auf die mein Mathelehrer an diesem Morgen eine Antwort haben wollte. Ich war fünf Minuten und dreizehn Sekunden zu spät gekommen, wie mir die Uhr im Klassenzimmer verriet, und das Gesicht, mit dem mir Herr Koppenrat den Aufgabenzettel auf den Tisch legte, war alles andere als freundlich.
„Das Dämchen ist offensichtlich so gut in Mathematik, dass es die volle Schulstunde nicht benötigt“, bemerkte er mit einem bissigen Lächeln.
Ich beschloss, die Antwort auf diese Frage für mich zu behalten. Herr Koppenrat wusste schließlich sehr genau, dass ich in Mathe alles andere als gut war. Und für sein furzkackeblödes Dämchen, mit dem er uns Mädchen ständig ansprach, hätte ich ihm am liebsten eine gescheuert. Wütend starrte ich auf meinen Aufgabenzettel und überlegte, ob dieser Herr Grünstängel nix Besseres zu tun hatte, als in seinem Garten die Tulpen zu zählen. Vielleicht war Herr Grünstängel ja Rentner? Oma sagt, Rentner hätten alle Zeit der Welt, aber wenn ich Rentner wäre, würde ich meine Zeit bestimmt nicht mit Tulpenzählen verbringen. Jetzt dagegen war es höchste Zeit für meine Arbeit. Neben mir hatte Flo bereits eifrig zu rechnen begonnen. Zur Begrüßung hatten wir uns nur ganz kurz die Hände quetschen können.
Als Herr Koppenrat mit dem Klassenbuch nach einer Fliege schlug, versuchte ich, auf Flos Blatt zu linsen. Ging aber nicht, weil ihre Zauselhaare mir die Sicht versperrten. Dafür fiel mir auf, dass Flo anders roch. Anders als vor einer Woche, meine ich. Ganz früher hatte Flo nach kaltem Fischfett gerochen, weil ihre Mutter in einer stinkigen Fischbude gearbeitet hatte, und das war natürlich allen aufgefallen. Jetzt roch sie nach einem anderen Waschmittel oder einem anderen Shampoo oder vielleicht auch einfach nach einer anderen Stadt oder einer anderen Wohnung. Lecker eigentlich, aber eben nicht so vertraut wie sonst.
Im Rollstuhl saß Flo natürlich immer noch, denn sie hatte eine Krankheit mit einem komplizierten Namen und würde frühestens im Juni wieder richtig laufen können. Rechnen konnte sie dagegen wie ein Weltmeister. Ihr Stift sauste über das Papier und ich hätte zu gerne gewusst, wie sie mit den Tulpen in Herrn Grünstängels Garten zurechtkam. Ich stieß sie mit dem Fuß an und Flo strich ihre Zauselhaare hinters Ohr. Auf dem Lehrerpult machte es PENG. Annalisa kreischte und Sol kicherte. Herr Koppenrat hatte die Fliege unter dem Klassenbuch begraben. Dann marschierte er auf meinen Tisch zu und stellte das Klassenbuch zwischen Flo und mich.
„Damit das Dämchen gar nicht erst in Versuchung kommt“, sagte er.
Du blöde Kotzgurke, dachte ich. Nicht mal die toten Fliegenreste hatte er abgekratzt. Ein halber Flügel plus drei Beinchen klebten noch an dem grünen Einband. Ich wünschte Herrn Koppenrat meine sieben Löwen an den Hals und beschloss, Herrn Grünstängels Garten zu verlassen. Seufzend wandte ich mich der zweiten Aufgabe zu:
Herr Packmann war einkaufen. In seiner linken Hand hält er einen Einkaufskorb mit 1 kg 23 dag schweren Wecken, 15 dag Käse, 1 kg 25 dag Wurst, 1 kg 10 dag Birnen und einem 530 g schweren Kohlkopf.
In der rechten Hand hält Herr Packmann einen Sack mit Weihnachtsgeschenken, der 990 dag wiegt. Mit welcher Hand trägt Herr Packmann um wie viel dag mehr?
Hallo? Ich meine, geht’s noch? Oma sagt, Mathe sei sinnvoll fürs Leben, aber was bitte soll daran sinnvoll sein, sich den Kopf über die Einkäufe irgendeines blöden Herrn Packmanns zu zerbrechen? Der Inhalt seines Geschenksacks hätte mich ja gerade noch interessiert, aber darüber stand natürlich nichts in der Aufgabe. Und was war überhaupt ein dag? Kg steht für Kilogramm und g steht für Gramm, das wusste ich. War dag vielleicht die Abkürzung für das andere Gramm?
Zum Teufel mit Herrn Packmanns Einkäufen, dachte ich und ging zur letzten Aufgabe über. Sie war ziemlich kurz.
Subtrahiere die Differenz von 269 und 87 von der Summe von 143 und 276 und multipliziere sie mit der Differenz von 348 und 212.
Oje! Mein Kopf fing an, sich zu drehen und der Sekundenzeiger auf der Uhr im Klassenzimmer drehte sich auch. Rasend schnell, wie mir schien. Eine Summe ist das Ergebnis beim Plusrechnen und multiplizieren bedeutet malnehmen, so viel hatte ich behalten. Aber was musste man noch mal beim Subtrahieren machen? Minus rechnen oder teilen? Und eine Differenz … Ich kaute an meinem Bleistift, bis mir die Zähne wehtaten. Als der Zeiger der Klassenzimmeruhr auf Viertel vor neun rückte, hatte ich genau drei Zahlen auf meinem Mathezettel stehen:
143 + 276 = 418.
Damit hatte ich zumindest einen Teil einer Aufgabe gelöst, das war immerhin besser als nichts. Aber als ich Herrn Koppenrat das Lösungsblatt in die Hand drückte, starrte er erst meine Antwort und dann mich an.
„419“, sagte er.
„Hä?“, fragte ich.
„Erstens heißt es wie bitte“, sagte Herr Koppenrat, „und zweitens ist es falsch. 143 plus 276 ergibt nicht 418, sondern 419. Vielleicht kannst du dir wenigstens ausrechnen, was das für deine Mathenote bedeutet.“
Ja. Das konnte ich. Ich hatte gerade eine Sechs geschrieben – die zweite in diesem Schuljahr. Ich knüllte das Blatt mit den Textaufgaben zu einer Kugel zusammen und stopfte es in meine Hosentasche.
„Ich wünsche dem Dämchen viel Spaß auf der weiterführenden Schule“, sagte Herr Koppenrat. „Und ich hoffe mal nicht, es ist ein Gymnasium.“
Ich öffnete den Mund, aber es kam kein Wort heraus. In meiner Kehle brannte ein Wutklumpen, der bestimmt zehnmal zehn Gramm schwer war.
Die weiterführende Schule war nämlich auch so ein Thema, das in meiner Familie für Kopfschmerzen gesorgt hatte. Meine Klassenlehrerin Frau Wiegelmann hatte Mama geraten, mich nach den großen Ferien auf eine Realschule zu schicken, während Flo ein klarer Fall fürs Gymnasium war. Aber dass Flo und ich zusammenbleiben wollten, war genauso klar, das hatten unsere Eltern einsehen müssen. Deshalb hatten wir uns für eine Gesamtschule entschieden. Und als Herr Koppenrat aus dem Klassenzimmer rauschte, wünschte ich mir plötzlich nichts mehr, als so schnell wie möglich auf die neue Schule zu kommen.
Flo musste meine Gedanken gelesen haben, denn sie legte mir tröstend ihren Arm um die Schulter und schlug vor, Herrn Koppenrat am letzten Schultag einen tausend dag schweren Sack mit Ziegenkacke zu schenken.
Sol verschluckte sich vor Lachen fast an seinem Schulbrot und Ansumana wollte wissen, was dag bedeutet. Er war in Mathe fast genauso schlecht wie ich.
„Ein dag ist die Abkürzung für zehn Gramm“, sagte Flo, und dann fragte sie: „Was ist das denn?“, weil Annalisa ihr einen rosa Umschlag entgegenhielt.
„Eine Einladung“, erklärte Annalisa.
„Äh“, sagte Flo und sah sich im Klassenzimmer um. Wir sind sechs Mädchen in der 4b und allen außer mir hatte Annalisa einen rosa Umschlag in die Hand gedrückt.
„Zu meinem Geburtstag“, fügte sie hinzu. „Morgen werde ich elf und am Samstag feiere ich mit meinen Freundinnen.“
Mit ihren Freundinnen? Ich starrte von Annalisa zu Flo. Was sollte denn der Blödsinn? Dass ich nicht zu Annalisas Freundinnen zählte, war klar, aber dass sie Flo einlud, konnte nur eins bedeuten: Sie wollte mich ärgern.
„Wir machen einen Ausflug nach Blankenese zu meiner Tante“, sagte Annalisa. „Und wenn das Wetter schön ist, grillen wir in ihrem Garten.“
„Tut mir leid.“ Flo gab Annalisa den Umschlag zurück. „Ich bin am Wochenende mit Lola verabredet.“
„Pff“, machte Annalisa und sah spöttisch auf mich herab. „Wohl zum Matheüben, was?“
„Nein“, sagte ich. „Wir machen einen Ausflug nach Paris zu meinem Freund. Und wenn das Wetter schön ist, flanieren wir auf den Champs-Élysées.“
„WAS?“ Sol, der Flos Freund ist, verschluckte sich jetzt wirklich. „Davon weiß ich ja gar nichts“, presste er röchelnd hervor und ließ sich von Ansumana auf den Rücken klopfen, bis die Brotkrümel aus seinem Mund auf die Tischplatte flogen. Als er sich wieder beruhigt hatte, zwinkerte Flo ihm zu. Da grinste Sol und Annalisa machte wieder „Pff“ und dann kam Frau Wiegelmann mit ihrem schwangeren Bauch in die Klasse.
„Der wiegt bestimmt dreihundert Millionen dag“, murmelte Ansumana, und Frau Wiegelmann sagte lachend, das hoffe sie nicht, denn dann bekäme sie keine Zwillingskinder, sondern Zwillingselefanten. Am Ende der Stunde verteilte sie blaue Briefumschläge, die wir unseren Eltern mitbringen sollten, denn heute Abend war der letzte Elternabend vor dem Schulwechsel. Da wünschte ich mir plötzlich doch nicht mehr, die Schule zu verlassen. Herrn Koppenrat hasste ich, aber Frau Wiegelmann liebte ich und würde sie sicher schrecklich vermissen.
In der Pause sagte mir Flo dann erst mal, wie sehr sie mich vermisst hatte. Das war mir natürlich ganz genauso gegangen. Wir hatten in den Ferien nur drei Mal kurz telefoniert und dabei hatte mir immer was gefehlt. Das Wunderbare an einer besten Freundin ist nämlich, dass sie einem vom Gesicht ablesen kann, wenn etwas nicht stimmt. Und so war es auch jetzt. Stirnrunzelnd sah mich Flo aus ihren blauen Augen an.
„Schneewittchen“, sagte ich und schob Flos Rollstuhl zu den Bänken bei der Kampfbrücke. „Irgendwas stimmt mit Schneewittchen nicht. Ich hab das Gefühl, sie hat Angst vor mir. Wenn ich sie streicheln will, läuft sie sofort weg. Und …“
Weiter kam ich nicht. Neben uns waren Sila und Frederike aufgetaucht. Offensichtlich hatten sie gehört, was ich gesagt hatte, denn beide lächelten mich mitleidig an.
„Tausch deine Katze doch um“, sagte Sila und biss in ihr Schulbrot.
Umtauschen? Ich starrte Sila an, als hätte sie mir gerade vorgeschlagen, Tante Lisbeth auf dem Flohmarkt zu verkaufen.
„Meine Katze ist doch keine Jeans mit kaputtem Reißverschluss!“, sagte ich empört. „Sie ist ein lebendiges Wesen. Ich liebe sie!“
Frederike pustete sich eine braune Locke aus der Stirn. „Na hoffentlich liebt sie dich irgendwann zurück. Mein Papa hatte nämlich auch mal eine scheue Katze. Die ist siebzehn Jahre alt geworden, aber gestreichelt habe ich sie kein einziges Mal.“
„Lolas Katze ist aber noch nicht siebzehn“, sagte Flo streng. „Lolas Katze ist noch ganz klein und …“
Weiter kam auch Flo nicht, denn jetzt stand Sol an ihrem Rollstuhl und wollte wissen, wie ihre Ferien waren. Flo erzählte, dass ihr Vater an einem neuen Buch über Wale schrieb und ihr Hunderte von Fotos gezeigt hatte, die auf seinen Reisen nach Neuseeland und Amerika entstanden waren. Auch die Walgesänge hatte er aufgenommen. Natürlich nicht mit dem Fotoapparat, sondern mit einem Tonbandgerät. „Wusstet ihr, dass männliche Buckelwale eine halbe Stunde ohne Pause singen können?“, fragte Flo und machte ein ganz verzücktes Gesicht.
Nein, das wusste ich nicht, aber dafür fiel mir ein, dass Schneewittchen neulich Nacht auch gesungen hatte. Oder vielmehr gejault. Ich war von dem leisen Geräusch wach geworden. Es hatte so traurig geklungen, so sehnsuchtsvoll irgendwie. Ach! Wie gerne hätte ich meine Katze getröstet. „Schneewittchen“, hätte ich gesagt. „Komm zu mir ins Bett und kuschele dich an meinen Bauch. Dann kraul ich dir das Fell und sing dir ein Gutenachtlied oder reise mit dir in meiner Fantasie zum Mond.“
Aber meine Katze wollte meinen Trost anscheinend nicht.
Als wir am Ziegengehege vorbeikamen, erzählte Sol gerade von seiner Oma, die in Quito war, und ich beschloss, unsere Schulziegen Flocke und Tupfer zu besuchen. Mit denen konnte ich zwar nicht über meine Katze sprechen, aber vielleicht würden sie mich trösten. Das hat vor allem Flocke schon oft getan. Sie ist meine Lieblingsziege und als ich das Gatter öffnete, dachte ich an die vielen Pausen, in denen ich Flocke mit Möhren gefüttert, ihr weißes Fell gebürstet oder ihr einfach nur meine Sorgen in die schlappigen Ziegenohren geflüstert hatte. Damals zum Beispiel, als ich neu an die Schule gekommen war. Ich hatte mir eine beste Freundin gewünscht und Flocke hatte mir zugehört und immer genau an den richtigen Stellen Bäh gesagt. Aber heute stand schon ein anderes Sorgenkind bei Flocke im Gehege. Es war Lina, mein Patenkind aus der 1c.
„Was ist denn mit dir los?“, fragte ich, als ich ihre verquollenen Augen sah.
Lina senkte den Kopf. „Mein Opa“, presste sie hervor und fing an zu weinen. Flocke bähte. Es war ein leises, liebevolles Ziegenbähen und Lina schmiegte sich an ihr Fell.
„Was ist denn mit deinem Opa?“, flüsterte ich.
„Er ist krank“, schluchzte Lina. „Ganz krank. Er hat alle Haare verloren und gestern hatte er eine Orepation.“
Ich war zu erschrocken, um Lina zu erklären, dass es Operation hieß. Und was es bedeutete, wenn jemand alle Haare verlor, das wusste ich nur allzu gut. Meine Mama ist Krankenschwester und die Menschen, die auf ihrer Station ihre Haare verlieren, haben meist eine Krankheit, die Krebs heißt, und daran kann man sterben. Das wusste Lina offensichtlich auch. Sie umschlang Flockes Hals, während ihre Tränen auf das Ziegenfell flossen. Am anderen Ende des Geheges wurde Tupfer von zwei Drittklässlern mit Möhren gefüttert.
Ich stand da und wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich kannte Linas Opa – ich hatte ihn mal für einen Kinderfänger gehalten, weil er in seinem langen schwarzen Mantel vor der Schule aufgetaucht war. Aber mittlerweile weiß ich, dass er ein sehr, sehr lieber Opa ist und Linas Nachricht machte mich so traurig, dass ich am liebsten auch geweint hätte.
In der nächsten Stunde hatten wir Erdkunde und sprachen über Städte und Länder in Asien. Doch in meinem Kopf war nur Platz für Menschen und Tiere in Europa. Meine Gedanken hüpften wie Flöhe durch meinen Kopf. Ich dachte an Linas Opa im Krankenhaus und an Alex in Paris und an Schneewittchen in meiner Wohnung – und an Flocke im Ziegengehege. Ohhhh, wie gerne hätte ich sie heute ganz für mich allein gehabt! Aber Flocke gehörte der ganzen Schule und in der nächsten Zeit hatte Lina ihren Trost wohl nötiger als ich.
3.
POSTKARTEN AUS ALLER WELT UND EIN RATSCHLAG VON FLO
Vor der Schule wartete Flos Mutter, um uns zur Perle des Südens zu bringen. Das ist unser brasilianisches Restaurant am Hafen, wo Penelope als Kellnerin arbeitet, wenn sie nicht gerade auf der Bühne steht und singt.
Normalerweise fahren Flo und ich mit der U-Bahn allein dorthin, aber jetzt saß Flo im Rollstuhl – und ich kam schon wieder nicht dazu, sie um Rat zu fragen. Alle paar Meter hielten uns die Nachbarn aus dem Viertel auf, weil sie wissen wollten, was mit Flo passiert war. Flos Gesicht verdunkelte sich mit jedem Mal mehr. Sie hasst es, wenn man sie auf Dinge anspricht, über die sie nicht reden möchte. Deshalb beschloss ich, für sie zu antworten.
„Flo hat die Hauptrolle in einem Vampirfilm bekommen“, erklärte ich einer Mutter, die uns an einer Kreuzung fragte. „Bei der Drachenszene auf Burg Blutenstein ist meine Freundin über ein Kabel gestolpert, aber gehumpelt hat sie schon vorher und beim Sturz ist ihre Wachstumsfuge aus der Hüfte gerutscht, weil sie Epiphysiolysis capitis femoris hatte. Aber wenn ich nicht gewesen wäre, dann wäre der Drache explodiert und dann wäre meine Freundin jetzt vielleicht tot.“
Die Mutter sah entsetzt und auch ein wenig verwirrt aus und Flo war wütend. „Kannst du das nicht kürzerfassen?“, knurrte sie. „Ich habe Hunger und würde gerne in der Perle sein, bevor es dunkel wird.“
„Flo hat ECF“, erklärte ich daraufhin einer älteren Frau, die uns an der nächsten Ampel ansprach. Das war die kürzeste Form, die mir für Flos Krankheit einfiel, und ehe die Frau nachhaken konnte, schob ich meine Freundin über die Straße.
„Das muss ich mir merken“, sagte Penelope lachend. „Ich werde auch ständig gefragt, was mit Flo passiert ist und mit der Zeit geht einem das wirklich auf den Geist.“
Als wir in der Perle des Südens ankamen, war jede Menge Zeit vergangen. Es war schon Viertel nach zwei und der Laden brummte wieder mal. Fast alle Tische waren besetzt und Opa balancierte gerade ein riesiges Tablett mit dampfenden Fischsuppentellern durch das Restaurant.
„Mhm “, sagte Flo und schnupperte.
„Buäh“, sagte ich und hielt mir die Nase zu.
Ich liiiiiiiiebe unser Restaurant, aber dass Papai ständig dieses Stinktier auf der Speisekarte haben muss, finde ich abscheulich.
„Wo wart ihr denn so lange?“, fragte Papai, der hinter dem Tresen stand und Gläser spülte.
„Der Aufzug zur U-Bahn-Station war kaputt“, stöhnte Penelope. „Und niemand hat uns geholfen, Flos Rollstuhl die Treppen runterzutragen.“
Da wurden Papais Augen ganz stumpf. Ich konnte ihm seine Gedanken von der Stirn ablesen.
In Brasilien wäre so was nicht passiert.
Diesen Satz sagt Papai auch manchmal zu Mama, wenn jemand unfreundlich ist oder ihn auf der Straße anrempelt und weitergeht, ohne sich zu entschuldigen. Mama weiß dann immer nicht, was sie sagen soll, denn sie war noch nie in Papais Heimat, genau wie ich. Penelope hat schon mehrere Reisen nach Brasilien gemacht und als wir uns an einen freien Tisch setzten, lief gerade die CD, die sie mit dem brasilianischen Musiker Eduardo Macedo im Studio aufgenommen hatte.