Renate Krüger
Paradiesgärtlein
Ein Tagebuch
ISBN 978-3-95655-572-5 (E-Book)
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
Das Buch erschien erstmals 2008 bei Books on Demand, Norderstedt.
© 2015 EDITION digital®
Pekrul & Sohn GbR
Godern
Alte Dorfstraße 2 b
19065 Pinnow
Tel.: 03860-505788
E-Mail: verlag@edition-digital.com
Internet: http://www.ddrautoren.de
Der Himmel ist wie ein naives Gemälde, voller farbenprächtiger Raketen. Prosit Neujahr!
Erneuerung ist etwas anderes als Neuerung.
Ein stürmischer Geselle
stampft über die Jahresschwelle
mit ungeputztem Schuh
und reißt aus himmlischer Ruh
den Knaben im lockigen Haar
und den Schnee vom vergangenen Jahr.
Viel Neues hat angefangen
bevor das Alte vergangen.
Der Sturm trennt nicht alt und neu
treibt heutige Zeitung als Spreu.
Nun öffne den Schlagbaum der Zeit
und pfeife dem Sturm das Geleit.
Die erste Post des neuen Jahres: verspätete Weihnachts- und Neujahrsgrüße, ein Kontoauszug und ein amtliches Schreiben, in dem mir nicht mehr und nicht weniger mitgeteilt wird, als dass bis Jahresende die Nutzungsrechte an meinem Garten erlöschen. Bis dahin könne ich noch säen und ernten nach Herzenslust. Aber dann ... Das Grundstück sei zum Baugelände erklärt worden. Für das Gartenhäuschen könne ich keine Entschädigung erwarten, es befände sich ohnehin in Treuhandverwaltung, und ich habe es nur zur Nutzung erhalten. Ebenso verhalte es sich mit den Obstbäumen.
Dann folgen Hinweise auf Gesetze, Verordnungen, Durchführungsbestimmungen.
Alles hat seine Richtigkeit, aber wie lange wird es dauern, ehe meine Welt wieder stimmt?
Ich lege den Brief erst einmal weg, er verursacht mir körperliche Schmerzen.
Welch ein Jahresbeginn!
Immer wieder fällt mein Blick auf das PARADIESGÄRTLEIN, eine farbige gerahmte Reproduktion, ein Geschenk von G., sie kaufte es mir bei unserem gemeinsamen Besuch im Städelschen Kunstinstitut in Frankfurt. Ich war damals ungehalten, dass ich diese Rolle nun auch noch transportieren musste.
Dabei gehörte mir dieses Bild doch schon seit Jahren, seit Jahrzehnten. Immer wieder hatte ich mich damit beschäftigt, darüber geschrieben, gesprochen.
Die Darstellung des Paradiesgärtleins war in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts verbreitet, besonders in Deutschland. Man gab dem Thema auch noch andere zärtliche Namen: Maria in der Rosenlaube, Maria im Rosenhag. Solche anrührenden Bilder entstanden in einer Zeit besonderer Verfeinerung, während einer kulturellen Hochblüte. In der Kunstgeschichte prägte man für diesen Zeitabschnitt den Begriff des Weichen Stils, der Schönen Madonnen.
Das Bild lebt noch aus der Mystik des 14. Jahrhunderts, aus dem Bewusstsein, dass sich Gott und Mensch in Liebe und Einssein begegnen, dass der Mensch ganz in Gott aufgeht und das Paradies zum Geschenk erhält. Solch mystischer Höhenflug ist hier freilich herabgemildert zum religiösen Idyll.
PARADIESGÄRTLEIN - es präsentiert mystische Bilder, die man aus den Visionen der Propheten entwickelt hatte, Sinnbilder und Vorbilder Mariens. Der verschlossene Garten, die versiegelte Quelle.
PARADIESGÄRTLEIN - eine Utopie, eine Illusion und doch unausrottbar. Nimmt man dem Menschen diese Illusion, raubt man ihm ein Stück Herz.
Die Versuchung, alles hinzuwerfen, ist groß. Wozu das Bemühen um das Paradiesgärtlein? Das ist doch auch nur ein Abwehrmechanismus, ein Ersatz für nicht selbst erfahrenes Leben, manchmal wie das Vorantreiben eines Stollens bis an eine Stahlwand. Ein ewiges Suchen. Wer garantiert einen Fund?
Der verschlossene Garten ist kein Wertmaßstab, er ist nicht aus sich selbst grundsätzlich besser als der geöffnete, für alle zugängliche Garten, sondern ein Zeichen, das auf mehr deutet. Auf was? Vielleicht war es ein falsches Bild, das mich veranlasste, mir jahrelang gar keine Bilder mehr zu machen, sondern mich mit der unmittelbaren Gegenwart, der sogenannten Realität, zufriedenzugeben. Wohin wird mich mein neues Bild führen? Die Geschichte meines Paradiesgärtleins ist die Geschichte seines Verlustes.
Das Gartentor ist vereist, aber es lässt sich schließlich doch öffnen. Ich kann nicht alle Spuren im Schnee deuten. Viele Tiere waren zu Besuch, Hasen, Eichhörnchen, vielleicht auch ein Fuchs. Die Sträucher stöhnen unter der Schneelast, ich schüttle sie kräftig, und sie recken und strecken ihre Zweige wieder in die Waagerechte. Die Obstbäume scheinen mich um den gleichen Dienst zu bitten, der viele Schnee schade ihnen ...
Auf euch wartet schon die Motorsäge, was kann euch bis dahin noch passieren?
Hoher Schnee und strahlende Sonne. Die Samenkörner liegen tief unter Schnee und Erde. Ich möchte soviel Neues. Dann und wann tauchen Schlangengedanken auf und flüstern: PARADIESGÄRTLEIN - ist das nicht feige Flucht in die Oase? Heitere Resignation im Idyll?
Aber ich muss doch von irgendeinem Punkt ausgehen, aufbrechen, wenn ich einen neuen Weg gehen möchte.
Ich kann nicht stehen bleiben und nach allen Seiten kämpfen.
Unsere Hausnachbarin meiner Kinderzeit hatte Beziehungen zu Schokolade, die ich nur aus frühester Kindheit kannte. Einmal brachte sie mich dazu, für zwei winzige Schokoladenquadrate ihr Gartenrechteck vom Unkraut zu befreien. Ich jätete also bei Hitze und Trockenheit vom frühen Morgen bis zum späten Nachmittag Unkraut, aber ich tat es nicht gern. Ich empfand diese Arbeit als Sklaverei; mein Rücken schmerzte, und meine Zunge klebte am Gaumen.
Der abendliche Genuss der wenigen Quadratzentimeter Schokolade entsprach sogar in meinem kindlichen Bewusstsein nicht der ganztägigen Strapaze des Unkrautjätens und Hackens. Was war das schon: Blasen, Schweiß, Erwartung, ein paar süße Augenblicke am Abend und danach Enttäuschung ...
PARADIESGÄRTLEIN - ich möchte gern fortfahren in der Betrachtung des Bildes, aber die Berücksichtigung aller wissenschaftlichen Zusammenhänge erscheint mir als hohe Schwelle, die mir Widerstand entgegensetzt.
Meine Kollegen wissen das alles. Sie kennen die dazugehörigen Schlüsselworte wie Betrachterperspektive, Immanenz und Transzendenz, Mystizismus, Kolorit und Ikonografie.
Natürlich könnte auch ich die Karteikarte schreiben: Oberrheinischer Meister um 1410, Paradiesgärtlein, Tempera auf Holz, 26,3 mal 33,4 Zentimeter. Auch ich würde noch einmal kritisch hinschauen, ob die Zahl hinter dem Komma stimmt. Ich könnte auch die Literatur, die über dieses Bild erschienen ist, auf die Karteikarte schreiben, wahrscheinlich würde die kleine Fläche für alle Titel gar nicht ausreichen.
Ich scheue mich wieder vor der Schwelle. Darf ich das Bild einfach nur betrachten, wenn die anderen soviel darüber wissen?
Der Blick auf das PARADIESGÄRTLEIN ist wie ein schnelles angestrengtes Spähen durch ein Loch im Zaun, der zwischen dem Alltag und dem Land unserer Sehnsucht liegt. Ich darf diesen Blick zwar aussenden, doch wenn ich ihn als Endpunkt, als Erfüllung ansehe, werde ich das Ziel nicht erreichen.
Es schneit. Die Welt steht still. Diese Zeiten der Ruhe befähigen dazu, unbewältigte Vergangenheit zu verarbeiten, sie auszuhalten, ihr furchtlos ins Auge zu blicken. Der Fließbandalltag bietet bequemere Lösungen an, aber es sind Scheinlösungen. Der Fließbandalltag arbeitet mit kleinen Zielen. Man visiert sie an, sie kommen rasch näher, man hat sie in der Hand. Die Befriedigung jedoch dauert nur einen kurzen Augenblick, dann nähert sich schon das nächste Teilziel, und so muss es wohl sein. Die Zeit der Ruhe schafft einen längeren Atem, aber der entspricht ganz und gar nicht einem längeren Genuss, sondern einer tieferen Wahrheit.
Wie stumpf ich bin, wie müde. Versuche zu spielen, deine Gedanken frei schweifen zu lassen. Du hast ja einen Fundus, über den du verfügen kannst, nämlich spielerisch miteinander zu verbinden, was du für verbindenswert hältst.
Ich glaube zu spüren, wie die Stumpfheit allmählich einer geschärften Aufmerksamkeit weicht.
Bücher entstehen nicht während des Schreibens. Eine harte Erkenntnis. Manchmal wird die Handschrift gefährlich, weil sie zum Träumen und Abschweifen verleitet, möglicherweise noch begünstigt durch allzu harmonische Musik. Bücher entstehen auf den kleinen Punkten zwischen Ankunft und Abschied.
Meine sorgfältig gepflegte Blumenknolle hat eine Blüte hervorgebracht. Heute in aller Frühe hat sie sich geöffnet, eine gefüllte Narzisse, eine kleine Blumensonne. Mir ist, als habe ich Besuch bekommen.
Ich sollte solange mit dem Pinsel hantieren, bis mir ein poetisches Bild gelungen ist, bis ich den einen Punkt erreicht habe, an dem die Wirklichkeit größer ist als das, was mich als sogenannte Realität umgibt.
Chrysanthemen im Winter
fahlgelbes Leuchten
zerbrechlich
zerbrochen
Ich bin vom Tode berührt
Die Blaue Blume wächst nicht im eigenen Garten. Du musst dich immer wieder aufmachen, um sie zu suchen. Sie entschwindet dir immer wieder? Solltest du vielleicht versucht haben, sie auszugraben, um sie im eigenen Treibhaus zu züchten? Hast du ihren Anblick für deinen Besitz gehalten?
Dein Kindheits-Bereich, dein Kindheits-Ich sind keineswegs identisch nur mit dem PARADIESGÄRTLEIN und der Blauen Blume, mit der Terra felix und dem Super-Therapeuticum. Aus deinem Kindheits-Ich entspringen auch Ängste und Zwänge. Warum verursacht dir das Erwachsensein einen so faden Geschmack auf der Zunge? Warum klingt es sofort zusammen mit Verknöcherung und Verkrustung, mit Grautönen und Langeweile?
Jedes Erwachsensein setzt sowohl Kindheit als auch Abschied von der Kindheit voraus. Aufbruch zur Mündigkeit vollzieht sich lebenslang.
PARADIESGÄRTLEIN - ist das auch das Ziel der Fahndung nach mir selbst? Fahndung klingt kriminalistisch. Ich habe mich versteckt, ich suche ein Versteck nach dem andern, aber nicht, weil ich ein Verbrechen begangen habe, sondern weil ich mich nicht zeigen möchte. Und mir ist auch nicht jedes Versteck recht - es muss schon sehr schön sein ...
Sind Enttäuschungen nur ein Ausnahmezustand, etwas grundsätzlich Negatives, das gerade gerückt oder überwunden werden muss, ein Zustand, aus dem ich möglichst schnell in angenehmere Gefilde fliehen sollte? Ins PARADIESGÄRTLEIN?
Ich rette mich oft auf die Insel der Seligen, auch wenn ich mit Worten heftig dagegen auftrat und gegen das harm- und anstrengungslose PARADIESGÄRTLEIN zu Felde zog. Die Alternative zur Enttäuschung, zum Frust ist nicht die Insel der Seligen, ist nicht Kastalien, ist nicht die kultivierte Gesellschaft von Glasperlenspielern.
Es ist gut, Dinge und Erscheinungen in Zusammenhängen zu sehen, aber leider sind es meist nur unsere eigenen Zusammenhänge, in die wir sie stellen, in Typisierungen, Normen, in Wunschdenken. Besser wäre es, wir könnten sie einmal unvoreingenommen und wie am ersten Tag sehen.
Man hat mir einen anderen Garten angeboten, einen Kleinstgarten, pflegeleicht, altersgerecht, auf eine Person zugeschnitten, Aber diese Aussicht verleiht mir keinerlei Aufschwung. Bescheidenheit ist nicht in jedem Fall eine Tugend.
Der Mensch soll möglichst hohe Ansprüche stellen. Das Maß ist immer die Ehrlichkeit: hindere ich durch meine Ansprüche andere Menschen an ihrer Entfaltung? Kann ich das, was ich beanspruche, auch moralisch verwirklichen? Arbeite ich damit, entfalte ich es?
Bescheidenheit kann auch eine Form von Egoismus und Bequemlichkeit sein. Bequeme Selbstbescheidung lässt den Menschen niemals zum Erlebnis von Fülle gelangen.
Es gibt Tage, die sind wie eine Lawine
und ich versinke im Ansturm der Stunden,
ersticke im Schnee des Alltags.
Es gibt Tage, die duften wie Thymian,
und ich gehe hindurch,
wie man an der Seite eines Freundes geht.
Ich halte meine Hände auf
für die einen und die anderen Tage
und bitte nur um eins:
Bewahre mich vor dem Überdruss.
Ob ich lernen könnte, das gegenwärtige Leben von der Zukunft her zu sehen? Die Gegenwart ist freilich wichtig genug. Es kann natürlich auch eine Flucht in die Zukunft geben, so wie es eine Flucht in die Vergangenheit gibt. Aber die Zukunft ist für uns wohl wichtiger als die Vergangenheit.
Unsere Religiosität ist oft so selbstsüchtig, ein schöner kultivierter Rahmen, eine Parklandschaft inmitten einer Müllkippe ... Gott will nicht, dass wir auf der Müllkippe leben. Aber ein religiöses Getto ist ebenso schlimm, und trage es auch den Namen PARADIESGÄRTLEIN ...
Am Steintor in Rostock steht der vielzitierte Satz, der immer wieder als Maß gesetzt wird:
Sit intra te concordia
et publica felicitas.