Bernd Franzinger

Leidenstour

Tannenbergs neunter Fall

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

 

 

 

 

 

 

 

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Lektorat: Isabell Michelberger, Meßkirch

Herstellung / Korrekturen: Katja Ernst / Claudia Senghaas

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © robert van / sxc.hu

ISBN 978-3-8392-3366-5

 

 

 

 

 

»Die Dopingkontrolleure haben keine Chance, manchmal reichen schon kleine chemische Veränderungen, um die aktuellen Blut- und Urintests fast nach Belieben auszuschalten. Und so ist die Wahrscheinlichkeit, dass auch die diesjährige Tour de France keinen sauberen Sieger haben wird, so groß wie in den Jahrzehnten zuvor.«

Der Spiegel

Prolog

 

Mittwoch, 1. Juli

 

Morddrohungen?

Torsten Leppla stieß geräuschvoll Luft durch die Nase.

Eigentlich kein Wunder, nach dem, was gestern passiert ist.

Er blickte hinüber zu seinem Fernsehgerät, auf dem ein Laufband die Liveübertragung einer Pressekonferenz ankündigte.

Sensationelle Enthüllungen eines Kronzeugen?

Bin sehr gespannt, ob die diesmal auch wirklich spektakulär sind. Hoffentlich sind es nicht wieder solche Windeier wie diese lächerlichen Doping-Geständnisse vor ein paar Wochen. Urplötzlich beichten da einige Radprofis ihre Dopingsünden. Und warum? Etwa aus freien Stücken? Von wegen! Nein, nur deshalb, weil sie von einem ehemaligen Masseur schwer belastet wurden. Freiwillig hätten die das doch nie getan. Und was haben sie gebeichtet? Ihre längst verjährten Dopingvergehen! Und der Öffentlichkeit wollten diese Scharlatane auch noch weismachen, dass sie danach nie mehr gedopt hätten. Märchenstunden, nichts als Märchenstunden!

Im Leistungssport wurde schon immer gedopt. Und es wird auch weiterhin gedopt werden. Selbst die Gladiatoren im alten Rom haben sich gedopt. Er grunzte amüsiert. Mit Stierhoden!

Brot und Spiele. Seit der Antike hat sich doch im Prinzip nichts Wesentliches geändert. Im Amphitheater haben die Jungs mit schweren Waffen aufeinander eingeschlagen. Heutzutage bekämpfen sie sich mit Hightech-Rädern bei mörderischen Alpenetappen. Und warum tun sie das? Aus der gleichen Motivation heraus wie vor 2.000 Jahren: Es geht um Ruhm und Ehre – und um Geld, um viel Geld. Und warum geht es um viel Geld? Weil Heerscharen von lüsternen Voyeuren diese Bergdramen begaffen und sich an den Sportlerqualen ergötzen.

Ohne Zuschauer kein Geld.

Ohne Geld kein Doping.

Ist doch eigentlich ganz einfach, oder?

Er presste die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen und atmete tief durch.

Ja, ja, die guten alten Drogen Ruhm und Geld.

Aber wer von uns ist denn nicht süchtig danach?

Leppla drückte die Zigarette aus und schrieb an seinem aktuellen Artikel weiter. Seine Beiträge für die heutige Ausgabe der Pfälzischen Allgemeinen Zeitung hatte er gestern Nacht gerade noch rechtzeitig in der Redaktion abgeliefert. Heute Morgen war er zeitig aufgestanden und hatte den ganzen Tag über recherchiert. Nun konnte er sich endlich wieder dem Text widmen, den er vor ein paar Tagen begonnen hatte und der sehr gut zu den gegenwärtigen, spektakulären Ereignissen passte. Entsprechend der Vorgaben seines Chefredakteurs versuchte er mit seinem provokanten Artikel, die Leser aufzurütteln und sie gleichzeitig mit Hintergrundinformationen zu versorgen.

Doping gehört zum Leistungssport wie der Schweiß der Athleten, überflog er die ersten Zeilen. Solange es Menschen gibt, wird überall dort gelogen und betrogen, wo es ums liebe Geld geht: in der Wirtschaft, in der Politik – und eben auch im Sport. Jeder Insider weiß doch ganz genau, dass heutzutage fast alle Spitzensportler von ihren sogenannten medizinischen Betreuern systematisch an die legalen Grenzwerte herangedopt werden.

Warum nicht einen Schritt weitergehen und Doping völlig freigeben?

Worin besteht eigentlich der Unterschied zwischen einem Berufssportler und einem Stardirigenten, Herzchirurgen oder Zirkusartisten? Da fragt doch auch kein Mensch danach, welche illegalen Substanzen diese Leute einsetzen, um Spitzenleistungen zu vollbringen. Sollte man einem erwachsenen Menschen nicht zugestehen, selbstverantwortlich mit seinem Körper umzugehen?

Im Straßenverkehr und im Supermarkt tut man das doch auch. Ich kann mit 250 Stundenkilometern über die Autobahn rasen oder mir zwei Flaschen Wodka kaufen und mich ins Koma trinken – alles völlig legal!

Leppla nippte an seinem Espresso und blickte nachdenklich zur Zimmerdecke empor. Dann schloss er die Augen und sehnte sich eine Inspiration herbei. Plötzlich klatschte er in die Hände, dann flogen seine Finger regelrecht über die Tastatur:

Durch eine Freigabe der Dopingmittel würde man den Sumpf des mafiösen Schwarzmarkthandels ein für alle Mal trockenlegen. Zudem würde dadurch die scheinheilige Kriminalisierung der Athleten auf einen Schlag beendet.

Sportler sind vor allem Opfer, nicht Täter!

Es kann nicht angehen, dass die Rennfahrer bis hin zum finanziellen Ruin die Zeche zahlen sollen, während sich die Hintermänner die Taschen vollstopfen und dabei auch noch straffrei ausgehen.

Die wahren Täter quälen sich nicht auf einem Rennrad in sengender Hitze den Mont Ventoux hinauf. Sie agieren in einer Schattenwelt und steuern aus klimatisierten Nobelkarossen heraus den internationalen Schwarzmarkthandel mit den illegalen, zum Teil lebensgefährlichen Substanzen.

Auch wenn es vielleicht paradox klingen mag: Das legale, von seriösen Pharmaunternehmen durchgeführte, öffentlich kontrollierte Doping würde die Gesundheit der Leistungssportler schützen.

Außerdem könnte man dadurch dem Sport ein Stück Glaubwürdigkeit zurückgeben.

Die Gefahr eines skrupellosen Dopings bestünde kaum, denn welcher etablierte Pharmakonzern könnte es sich leisten, den Tod eines von ihm betreuten Sportlers zu verkünden? Außerdem würde die medizinische Forschung enorme Fortschritte machen, Fortschritte, von denen wir letztendlich alle profitieren würden.

Seien wir doch mal ehrlich: Wollen wir nicht alle besser aussehen und uns besser fühlen? Ist eine weitgehend risikofreie Optimierung und Leistungssteigerung unseres Körpers und Geistes nicht die Erfüllung eines uralten Menschheitstraums?

Bitte, liebe Leser, schreiben Sie uns Ihre Meinung zu diesem kontrovers diskutierten Thema.

Der freiberufliche PALZ-Sportjournalist lehnte sich entspannt zurück, zündete sich eine weitere Zigarette an und nahm einen tiefen Zug. Während weißer Rauch über Tastatur und Monitor waberte, las er noch einmal über seinen Text. Zufrieden schaltete er den Laptop aus und klappte ihn zu. Anschließend fuhr er zum teuersten Hotel der Stadt, wo die als spektakulär angekündigte Pressekonferenz stattfinden sollte.

Rund um die Nobelherberge herrschte ein regelrechter Belagerungszustand. Auf dem Parkplatz reihten sich dicht an dicht die Übertragungswagen internationaler Radio- und Fernsehanstalten. Die umfassenden Sicherheitsvorkehrungen ähnelten denen von Terroristenprozessen. Überall wimmelte es von Security-Personal und uniformierten Polizeibeamten. Der Zugang zum großen Speisesaal war nur über eine Kontrollschleuse möglich.

Nachdem Torsten Leppla die obligatorische Leibesvisitation über sich hatte ergehen lassen, durfte er endlich den Saal betreten. Schätzungsweise 100 Journalisten, Fotografen und Kameraleute bevölkerten den zum Pressezentrum umfunktionierten Speiseraum. Auf der gegenüberliegenden Seite der Eingangstür war eine breite Tischfront aufgebaut worden. Sie wurde von einem kabinenähnlichen Glaskasten geteilt, der wie eine Duschkabine aussah. Wegen des stark getönten Glases konnte man nur schemenhaft erkennen, dass sich darin ein kleiner Tisch sowie ein Stuhl befand. Auch das Tischmikrofon ließ sich nur erahnen. Hinter der Glaskabine waren große Plakatwände aufgebaut, auf denen die Logos eines Privatsenders und diverser Sponsoren prangten.

Der Sportjournalist sondierte die Reporterschar und ließ sich zielgerichtet neben einer attraktiven, dunkelhaarigen Kollegin nieder. Als er die La Gazzetta dello Sport auf ihrem Schoß erblickte, begrüßte er sie mit einem gehauchten »Buon giorno, Bella«. Als ihm die Schöne ihr Gesicht zudrehte, bedachte sie ihn lediglich mit einem knappen, verächtlichen Blick. Dann wandte sie sich wieder ihrem Begleiter zu – und Leppla sah nichts mehr von ihr außer einem Vorhang aus seidig glänzenden, pechschwarzen Haaren.

Enttäuscht von der Abfuhr ließ er seinen Blick umherschweifen. So ähnlich muss es damals beim Turmbau zu Babel geklungen haben, dachte er in Anbetracht des Sprachenwirrwarrs um ihn herum.

»Hallo, Torsten«, tönte plötzlich eine sonore Männerstimme durch die Geräuschkulisse. Es dauerte einen Moment, bis er den winkenden FAZ-Redakteur entdeckte, der auf der Pressetribüne des Fritz-Walter-Stadions gewöhnlich eine Reihe vor ihm saß. Der etwa 50-jährige, hagere Mann beugte sich zu ihm herunter.

»Stimmt es, dass dieser Klamauk-Sender die Exklusivrechte für einen hohen sechsstelligen Betrag erworben hat?«, fragte er.

»Ja, das hab ich auch läuten hören«, antwortete Leppla. Er zuckte mit den Schultern. »Aber ob’s tatsächlich stimmt?«

Der grau melierte FAZ-Redakteur nahm direkt hinter Torsten Leppla Platz. »Ich denke schon, dass an diesem Gerücht etwas Wahres dran ist. Unser Doping-Kronzeuge wird sich sicherlich fürstlich für seinen Mut belohnen lassen.«

»Das Geld kann er wahrscheinlich auch sehr gut gebrauchen. Da kommt möglicherweise einiges an Forderungen auf ihn zu. Wenn er nachher tatsächlich ein Dopinggeständnis ablegt, wird er wohl ein Jahresgehalt abliefern müssen. Denn wie jeder Fahrer des Turbofood-Rennstalls hat auch er die Ehrenerklärung unterschrieben.«

»Bewundernswert, dieser Mut.«

»Na, mal abwarten, was er uns beichten wird. Vielleicht ist alles ja auch nur heiße Luft«, mutmaßte Leppla. Seine Hand glitt über den kahl rasierten Schädel, während er den Mund zu einem schiefen Lächeln verzog. »Aber wenn er wirklich Tacheles redet, würde ich mir an seiner Stelle weniger Gedanken ums Geld als um mein Leben machen.«

»Hast du irgendeine Ahnung, wer dieser ominöse Kronzeuge ist?«

»Nein. Ich hab zwar heute Morgen in der Zentrale des Turbofood-Konzerns angerufen, aber nur den Pressesprecher erreicht. Die Rennfahrer und Funktionäre des Teams seien zurzeit nicht erreichbar und aufgrund der gegenwärtigen Situation sowieso für niemanden zu sprechen. Das Hotel Antonihof, in dem sie während ihres Trainingslagers wohnen, ist von Security-Leuten hermetisch abgeriegelt. Da kommt keiner von uns rein. Die machen ein Riesen-Rätsel daraus, wer der Verräter ist.«

»Vielleicht ist es ja gar kein Fahrer.«

»Wie dem auch sei.« Leppla lehnte sich zurück und seufzte tief. »Jedenfalls möchte ich nicht in seiner Haut stecken.«

»Gerüchte, wer es sein könnte?«, bohrte der FAZ-Redakteur nach.

»Sicher. Die gibt’s zuhauf. Nur beziehen sie sich auf fast jeden von ihnen.« Torsten Leppla bedachte seinen Kollegen mit einem schelmischen Grinsen. »Vielleicht kann er ja gar nichts mehr sagen, sondern nur noch bellen.«

Sein Hintermann stutzte. »Was meinst du denn damit?«

»Na ja, man munkelt, dass der Turbofood-Konzern seine Fahrer mit Hämoglobin von Hunden dopt. Soll nicht nachweisbar sein.«

In das schallende Lachen des FAZ-Sportredakteurs hinein ertönte plötzlich ein anschwellender Trommelwirbel.

»Jetzt fehlen nur noch die Posaunen«, spottete Leppla. »Dann hätten wir eine Inszenierung wie bei Ben Hur.«

»Das wäre dem Anlass durchaus angemessen«, bestätigte sein Kollege grinsend. »Hast du eigentlich schon mitgekriegt, dass der Bund Deutscher Radfahrer eine Aktion ›Sauberer Radsport‹ startet?«

»Nee.«

»Ab sofort soll nur noch mit Einwegspritzen gedopt werden.« Erneut prustete Lepplas Pressekollege los.

Während die Raumbeleuchtung heruntergedimmt wurde, erklangen nun tatsächlich Fanfarenstöße. Ein Raunen ging durch die Menge. Das Innere der Glaskabine wurde mit mehreren Spots ausgeleuchtet. Eine schätzungsweise 1,70 Meter große Gestalt öffnete die Tür und nahm auf dem Stuhl Platz. Die nicht identifizierbare Person war in einen Mantel gehüllt, wie ihn Boxer gewöhnlich auf dem Weg zum Ring tragen. Den Kopf bedeckte eine weit über Wangen und Stirn hinausragende Kapuze. Aufgrund des Schattenwurfs konnte man vom Gesicht nicht das Geringste erkennen.

Das Spotlight verlöschte und die Kronleuchter flammten auf. Ein sonnengebräunter Mittdreißiger nahm neben der Kabine Platz, begrüßte die anwesenden Journalisten und stellte sich als Geschäftsführer eines privaten Fernsehsenders vor. Der Mann mit dem eingeschalteten Lächeln trug einen grauen Designer-Nadelstreifenanzug, ein blütenweißes Hemd und eine curryfarbene Seidenkrawatte. Seine rostbraunen Haare waren kurz geschnitten und scheitellos.

»Meine sehr verehrten Damen und Herren«, sagte er mit fester Stimme, »ich möchte Sie zunächst um Verständnis für die umfangreichen Sicherheitsvorkehrungen bitten, die wir zum Schutz unseres Topinformanten durchführen mussten.«

»Wer ist dieser ominöse Kronzeuge?«, rief Leppla nach vorne.

»Was soll dieses Kasperletheater?«, blaffte ein schräg vor ihm sitzender Kollege hinterher.

»Gemach, gemach, meine Herrschaften«, wiegelte der Moderator mit einer beschwichtigenden Geste ab. »Ich verstehe natürlich, dass Sie sehr ungeduldig sind«, er machte eine ausladende Handbewegung zur Glaskabine hin, »und wissen möchten, wer sich hinter diesen schusssicheren Scheiben verbirgt.«

»Schusssicheres Glas – wer’s glaubt, wird selig«, raunte Leppla über die Schulter nach hinten. »Alles Show!«

»Sie müssen sich nur noch wenige Minuten gedulden«, fuhr der Redner fort. »Gleich wird diese mehrfach mit dem Tode bedrohte Person zu Ihnen sprechen und alle Ihre Fragen beantworten. Allerdings werden Sie weder ihr Gesicht sehen noch ihre Originalstimme zu hören bekommen.«

Im Saal brandete erneut Unruhe auf. Der Fernsehmacher gebot den aufbegehrenden Journalisten abermals mit einer entsprechenden Geste Einhalt. »Sie müssen sich schon an unsere Spielregeln halten. Zuerst müssen wir noch den Werbeblock abwarten.«

»Scheiß Werbung«, zischte es in der ersten Reihe.

Doch der Moderator ließ sich nicht aus dem Konzept bringen. »Ihre Geduld wird reichlich belohnt werden. Das verspreche ich Ihnen. Sie können sich auf hochbrisante Enthüllungen freuen. Nach dieser Pressekonferenz wird nichts mehr so sein, wie es vorher war.«

Der Geschäftsführer des Privatsenders schnellte in die Höhe, fächerte die Arme vor dem Körper auf und verkündete mit anschwellender Stimme: »Gleich wird hier eine Bombe platzen. Sie wird den Radsport und sein kriminelles Umfeld in einem Ausmaß erschüttern, wie es bis heute niemand für möglich gehalten hätte. Die Mauer des Schweigens wird einstürzen und die Lügengebäude werden wie Kartenhäuser ineinander zusammenfallen.«

»Na, dann mal los«, forderte eine kräftige Frauenstimme in Lepplas Rücken.

»Die Schattenmänner des internationalen Doping-Kartells haben versucht, massiven Druck auf unseren Sender auszuüben. Sie wollten unter allen Umständen diese Pressekonferenz verhindern.«

Der Moderator leerte sein Wasserglas mit hastigen Schlucken.

»Da sind wir jetzt aber gespannt. Vielleicht ist ja doch alles nur eine Riesenshow für hohe Einschaltquoten und lukrative Werbeeinnahmen«, vermutete Torsten Leppla in Richtung seines Kollegen.

»Aber wie Sie sehen, haben es diese finsteren Gestalten nicht geschafft«, fuhr der nobel gekleidete Mann fort. »Wir haben uns nicht einschüchtern lassen. Schließlich hat die Öffentlichkeit ein Recht darauf, die ungeschminkte Wahrheit zu erfahren.« Sein Ton wurde noch schärfer. »Es muss endlich reiner Tisch gemacht werden, damit der saubere Radsport eine Zukunft hat.« Der Geschäftsführer drehte sich zur Glaskabine hin. »Hören wir nun, was unser Kronzeuge im Kampf gegen die skrupellose Dopingmafia zu berichten hat.«

Die Strahler flammten auf und tauchten eine zu einem knallgelben Mikrofon hinabgebeugte, regungslose Gestalt in grelles Licht.

Plötzlich zerriss ein ohrenbetäubender Knall die Luft. Eine enorme Druckwelle warf die Presseleute in den ersten Reihen nach hinten und ließ die Lichtstrahler bersten. Erst das kurze Zeit später aufflackernde Blitzlichtgewitter machte das Blut sichtbar, das auf den Scheiben des Glaskastens klebte.

Blut, zähflüssig wie Honig.

1. Etappe

 

Montag, 29. Juni

 

Unmittelbar nachdem feststand, dass die Tour de France in diesem Jahr zum ersten Mal in ihrer Geschichte in der Pfalz starten würde, hatte der sportliche Leiter des Turbofood-Teams die Unterkunft für seine Mannschaft gebucht. Der Teammanager überließ nichts dem Zufall. Schon während seiner aktiven Zeit war er der Inbegriff für professionelle Arbeit und Perfektionismus gewesen – Kriterien, die ihm einzigartige Erfolge, aber auch viele Neider beschert hatten.

Das Waldhotel Antonihof bot geradezu ideale Voraussetzungen für ein Abschluss-Trainingslager, das den Radrennfahrern den letzten Schliff für die in fünf Tagen beginnende Tour de France verleihen sollte. Im Herzen des Pfälzer Waldes gelegen, diente es auch Hobbyfahrern als Startbasis für abwechslungsreiche Ausfahrten auf einem gut ausgebauten, aber verkehrsarmen Straßennetz. Die regionale Topografie ermöglichte Trainingseinheiten mit nahezu jedem Streckenprofil. Zudem ließ das Viersternehotel bezüglich Service, Verpflegung, Unterkunft, Fitness- und Wellnessbereich keinerlei Wünsche offen.

Gegen 9 Uhr trafen die Fahrzeuge des Profi-Rennstalls vor dem Hotelkomplex ein. Der Hotelmanager und sein Personal empfingen die Sportler und Funktionäre winkend im Freien. Man war sehr stolz darauf, dieses renommierte Radsportteam beherbergen zu dürfen. Nach einer herzlichen Begrüßung erhielten die Leistungssportler die Schlüssel für ihre Unterkünfte ausgehändigt, damit sie sich gleich in ihre komfortablen Appartements zurückziehen konnten.

Für Florian Scheuermann war es das erste Profi-Trainingslager, an dem er teilnahm. Entsprechend aufgeregt war er. Er konnte sein Glück noch immer nicht fassen. Wegen der schwerwiegenden Verletzung eines Rennfahrers war er völlig überraschend nachnominiert worden. Er hatte zwar durchaus einige beachtliche Erfolge im Juniorenbereich vorzuweisen, aber von einem Sprung in solch ein etabliertes Profi-Team hätte er bis vor Kurzem noch nicht einmal zu träumen gewagt.

Die Teamleitung hatte ihn als sogenannten Wasserträger verpflichtet, wobei diese abschätzige Bezeichnung im Profi-Radsport wortgetreu mit Inhalt gefüllt wurde. Die Hauptaufgabe des Wasserträgers bestand nämlich exakt in der ursprünglichen Bedeutung des Begriffs: Während des Etappenrennens mussten diese Sportler Trinkflaschen vom Begleitfahrzeug des Teams zu den Spitzenfahrern transportieren. Im Radsport herrschte eine strenge Hierarchie.

Aber damit hatte Florian keine Probleme. Als Novize musste man eben auf der untersten Sprosse der Karriereleiter beginnen und sich Stufe für Stufe hocharbeiten. Das erreichte man am schnellsten, indem man gewissenhaft seinen Job erfüllte und durch Leistung auf sich aufmerksam machte.

Irgendwann bekomme auch ich meine große Chance, dachte Florian. Und die werde ich nutzen.

Der junge Radprofi stand am Fenster seines Zimmers und blickte gedankenverloren hinunter auf den Innenhof, wo die Teamfahrzeuge geparkt waren. Auf der Seitenfläche des Lkws, in dem die Rennmaschinen und eine kleine, mobile Mechaniker-Werkstatt untergebracht waren, leuchtete ihm das farbenfrohe Turbofood-Logo und der Slogan ›Unsere Gesundheits-Turbos für Ihre Lieblinge!‹ entgegen. Werbefotos mit den bekanntesten Produkten des weltgrößten Herstellers von Futtermitteln und Tiernahrungs-Ergänzungsprodukten rundeten die Eigenwerbung ab: Happycat-Premium-Cookies, Happydog-Power-Food, Happyhorse-Relax-Pellets.

Womit man so alles sein Geld verdienen kann, sinnierte Florian, der noch nie in seinem Leben ein Produkt seines Brötchengebers gekauft hatte. Jedenfalls muss das ein sehr profitables Geschäftsfeld sein, sonst könnte mir dieser Weltkonzern wohl kaum dieses Wahnsinnsgehalt zahlen.

Er rieb sich sie Augen und gähnte. Seit seiner Nachnominierung hatte er viel zu wenig geschlafen. Die auf ihn einstürzenden Ereignisse hatten ihn wie eine Tsunamiwelle mitgerissen und auf eine unbekannte Insel gespült.

Von den Trainingslagern der Junioren-Nationalmannschaft her war Florian eine Unterbringung der Sportler in Mehrbettzimmern gewohnt. Die Betreuer hatten diese Maßnahme stets mit positiven Auswirkungen auf den Teamgeist begründet. Im Profi-Bereich legte man offenbar keinen sonderlichen Wert auf derartige Dinge. Die Teamfähigkeit des Einzelnen wurde anscheinend vorausgesetzt.

Auf der Busfahrt hierher zum Waldhotel saß er neben einem Landsmann, den er bislang nur aus dem Fernsehen kannte. Heiko Bolander war Bergspezialist und hatte bereits acht Mal die Tour de France bis zum Ende durchgestanden. Florians Ehrfurcht gegenüber diesem Helden der ›Tour der Leiden‹ war kaum in Worte zu fassen. Am Anfang traute er sich nicht, ihn anzusprechen, sondern blickte schweigend aus dem Fenster. Erst als sein Nebenmann plötzlich munter draufloszuplappern begann, war er aufgetaut und fragte dem renommierten Kollegen regelrecht Löcher in den Bauch. Wie ein wohlwollender Mentor befriedigte Bolander das Informationsbedürfnis des Jungprofis und gab ihm darüber hinaus auch noch den einen oder anderen wertvollen Tipp.

Besitzer des erfolgreichen Radsportrennstalls war der amerikanische Turbofood-Konzern. Als Teamchef fungierte Bruce Legslow, eine wahrhafte Radfahrer-Ikone. Schließlich hatte er viermal hintereinander die Tour de France gewonnen. Und das, obwohl er seit seiner frühesten Kindheit unter schwerem Asthma litt und zeitlebens auf starke Medikamente angewiesen war.

Aufgrund von Medienberichten war Florian bekannt, dass Legslow mehrere Bücher über seinen jahrelangen Kampf gegen die lebensbedrohliche Erkrankung geschrieben und eine Stiftung mit dem Namen ›Medical Hope‹ gegründet hatte. Den Presserecherchen zufolge flossen die eingesammelten Spendengelder zum überwiegenden Teil in innovative Genforschungsprojekte.

Da Bruce Legslow angeblich als Großaktionär an diesen Biotech-Unternehmen beteiligt war, unterstellten ihm Kritiker primär eigennützige Motive für sein vordergründig soziales Engagement. Zudem munkelte man, dass der Turbofood-Konzern aus wirtschaftlichem Eigeninteresse diese Werbekampagne für die Genforschung großzügig finanziell unterstützte.

Florian Scheuermann war Legslow nur kurz bei der Vertragsunterzeichnung begegnet. Dem Teammanager eilte der Ruf eines knallharten Erfolgsmenschen voraus. Aber das kam Florian gerade recht. Auch er wollte erfolgreich sein und sich den Traum eines jeden Radsportlers erfüllen: einmal im Leben die Tour de France zu gewinnen – und dadurch unsterblich zu werden!

Bruce Legslow reiste dem Tross stets ein paar Tage voraus. Er befand sich für gewöhnlich in Begleitung seiner Ehefrau, einer ›arroganten Amischnepfe‹, wie Heiko Bolander sie wörtlich tituliert hatte. Die beiden waren offenbar ziemlich versnobt, bewohnten stets eine standesgemäße Luxussuite und ließen sich in angemieteten Luxuskarossen durch die Gegend chauffieren.

Auch innerhalb des Fahrerteams dominierten die US-Amerikaner. Und zwar nicht nur zahlenmäßig, sondern auch bezüglich ihres Status innerhalb der Mannschaft. John Williams war der Teamkapitän und Spitzenfahrer für das Gesamtklassement der jeweiligen Rundfahrt. Ihm zur Seite stand Cliff Randolf, sein bester Freund und sogenannter Edelhelfer. Bei den beiden anderen amerikanischen Radsportlern handelte es sich um den amtierenden Zeitfahrweltmeister und einen sogenannten Sprinterkönig.

Die Turbofood-Mannschaft komplettierten ein weiterer Deutscher, zwei Uskeben und ein Belgier – allesamt Wasserträger wie Florian selbst. Zudem nahmen drei osteuropäische Ersatzfahrer an dem Tour-de-France-Vorbereitungslager teil.

Noch vor dem Mittagessen mussten alle Leistungssportler den ersten Teil eines medizinischen Check-ups durchlaufen, der im Fitnessraum des Hotels stattfand. Florian wunderte sich ein wenig darüber, dass kein anderer Rennfahrer dabei war, als er durchgecheckt wurde. Vom Juniorenbereich her kannte er ausschließlich Reihenuntersuchungen, die ähnlich abliefen wie die Musterungen für die Bundeswehr.

Während ihm der Teamarzt Blut abzapfte, sondierte sein nervöser Blick Jenny, eine junge Physiotherapeutin. Sie saß am Schreibtisch und gab Daten in einen Laptop ein. Jenny war 24 Jahre alt, ein dunkler Typ mit adrettem Kurzhaarschnitt und ebenmäßigen, leicht asiatisch anmutenden Gesichtszügen. Die hautenge, sportliche Kleidung brachte ihre atemberaubende Figur derart aufreizend zur Geltung, dass Florians Augen magisch davon angezogen wurden. Als sie zu ihm herüberschaute, riss er blitzschnell den Blick von ihr los und betrachtete die Kanüle in seinem Arm, durch die sein Blut in einen Plastikbeutel floss.

»Na, mein kleiner Flo, tut’s weh?«, rief sie keck.

»Nee«, gab Florian betont lässig zurück.

»Ich darf doch Flo sagen, oder?«

»Logo«, antwortete der Jungprofi. Obwohl er versuchte, sich cool zu geben, spürte er, wie seine Wangen glühten.

Dr. Schneider entfernte die Kanüle und legte einen Tupfer auf die winzige Einstichstelle. »Fest draufdrücken«, befahl er.

Florian Scheuermann tat, wie ihm geheißen. Der Teamarzt nahm unterdessen ein bereitliegendes Pflaster vom Tisch, entfernte die Schutzfolie und klebte es Flo auf den Rücken.

»Was ist das?«, fragte Florian ängstlich.

»Nur ein bisschen Testosteron.«

»Doping?«

»Quatsch!«, zischte Dr. Schneider. »Doping wäre es nur dann, wenn diese minimale Hormonzufuhr den erlaubten Grenzwert überschreiten würde«, schob er in barschem Ton nach. Doch gleich darauf fügte er mit bedeutend sanfterer Stimme hinzu: »Wir optimieren lediglich deine genetische Grundausstattung, mein junger Freund. Du brauchst also nicht die geringste Angst zu haben.«

»Ach so«, bemerkte Florian erleichtert.

»Außerdem hat ein bisschen mehr Testosteron noch keinem richtigen Mann etwas geschadet«, meinte Jenny, während sie Dr. Schneider mit einem verschwörerischen Blick bedachte.

»So ist es, mein süßes Kind«, erwiderte der Mediziner. Er tätschelte Florians muskulösen Oberschenkel. »Und du machst dir keine unnötigen Gedanken mehr. Du kannst dir hundertprozentig sicher sein, dass wir alle hier nur dein Bestes wollen. Vertraue uns einfach. Okay?« Er hielt ihm die Hand hin.

»Okay«, sagte Florian und schlug ein.

»So gefällst du mir schon bedeutend besser. Ich bin mir sicher, dass wir beide uns blendend verstehen werden. Du willst doch Erfolg haben, nicht wahr?«

»Ja, natürlich.«

»Dann musst du einfach nur das tun, was alle deine Radsportkollegen auch tun. Sonst hast du noch nicht einmal die allerkleinste Chance gegenüber deinen Konkurrenten. Denn wenn wir der Natur nicht ein wenig nachhelfen, bist du der Depp, nur du allein. Während die anderen die dicken Prämien kassieren. Und obwohl die meisten von ihnen schlechtere körperliche Voraussetzungen mitbringen als du, wärst du ihnen unterlegen. Wäre das nicht völlig ungerecht?«

»Doch, sicher.«

»Die anderen Fahrer zünden vor einem schweren Anstieg einfach ihre Turbos und«, zischend schleuderte er eine Hand nach außen, »wusch, sind sie weg. Weil sie noch Reservekörner haben, die Glücklichen.« Er bedachte Florian mit einem stechenden Blick. »Klar, oder?«

Der Angesprochene nickte mit betretener Miene.

Dr. Schneider zog die Augenbrauen hoch und ließ sie oben verharren. Er reckte den Zeigefinger empor und verkündete in eindringlichem Ton: »Schreib dir mal Folgendes hinter die Ohren: Indem wir das tun, was die anderen auch tun, erfüllen wir eine eminent wichtige Funktion, denn wir sorgen dadurch für mehr Gerechtigkeit im Sport. Das siehst du doch genauso, nicht wahr?«

»Ja.«

»Sehr gut«, lobte der Sportmediziner.

Er schob seinen Kopf so nahe an Florian heran, dass diesem ein stark nach Zigarettenrauch und Kaffee riechender Atem in die Nase kroch.

Reflexartig nahm Florian den Kopf ein Stück zurück.

Dr. Schneider senkte die Stimme und flüsterte: »Hab ich dir eigentlich schon gesagt, dass Turbofood in Insiderkreisen auch als ›Ferrari-Team des Radsports‹ bezeichnet wird?« Nachdem der eingeschüchterte Jungprofi stumm den Kopf geschüttelt hatte, fuhr er fort: »Und weißt du auch, warum?«

Florian schaute ihn mit großen, fragenden Augen an.

»Ganz einfach: weil wir den anderen Teams immer ein kleines, aber entscheidendes Stückchen voraus sind.«

Der Sportmediziner steckte sich eine Zigarette in den Mund, zündete sie an und nahm einen tiefen Zug.

In den ausströmenden Qualm hinein sagte er: »Dieses ganze Doping-Theater ist sowieso paradox von hinten bis vorne. Ein einfaches Beispiel: Wenn du vier Wochen intensives Höhentraining betreibst, darfst du ganz legal mit erhöhten Hämatokrit-Werten an den Start gehen. Aber was ist mit einem, der sich solch ein Luxus-Trainingslager finanziell nicht leisten kann? Der ist doch extrem benachteiligt, oder?«

Florian Scheuermann nickte stumm.

»Und was ist mit den Rennfahrern, die von Geburt an irgendwo in Südamerika in Hochgebirgsregionen wohnen und lebenslang von einem natürlichen Höhentraining profitieren? Diese Fahrer wären doch den anderen gegenüber enorm begünstigt. So etwas wäre extrem wettbewerbsverzerrend, nicht wahr?«

»Ja, klar.«

»Na, siehst du. Ich habe gleich gewusst, dass wir beide uns prächtig verstehen werden.« Gierig sog er an seiner Zigarette und blies den Rauch aus dem Mundwinkel heraus wie durch eine Düse an die Decke. Dann räusperte er sich ausgiebig.

Jenny reichte Florian unterdessen einen Trinkbecher. »Vitamine und Mineralstoffe«, erklärte sie und wartete, bis der Jungprofi sich die Flüssigkeit einverleibt hatte.

Dr. Schneider schnippte die Asche von seiner Zigarette ab und sagte: »Um diese Benachteiligungen auszugleichen, sind wir geradezu gezwungen, der Natur ein wenig auf die Sprünge zu helfen und für mehr Chancengleichheit zu sorgen. Weißt du, Florian, bei diesem ganzen Doping-Gequatsche herrscht sowieso eine total verlogene Doppelmoral. Jeder weiß schließlich ganz genau, dass ohne medizinische Hilfe niemals die Höchstleistungen erbracht werden könnten, die alle sehen wollen: die Zuschauer, die Veranstalter, die Sponsoren – und auch die Funktionäre der ach so untadeligen Sportverbände.« Abschätzig stieß er Rauch durch die Nase. Einen Moment lang sah er aus wie ein fauchender Drache. »Leistungssport ist eben kein Minigolf.«

»Oder Hallen-Jo-Jo«, kicherte Jenny.

Sie kam auf die beiden Männer zu und fing an, dem Jungprofi vorsichtig die EKG-Saugnäpfe von der unbehaarten Brust zu entfernen.

Dr. Schneiders lüsterner Blick taxierte die attraktiven weiblichen Rundungen vor seinen Augen. Schmunzelnd nippte er an seinem Kaffee.

»Florian, hast du eigentlich gewusst, dass hier bei uns in Europa früher der Kaffeekonsum geächtet wurde?«, fragte er.

Da der junge Radsportler wie paralysiert in Jennys Ausschnitt stierte, konnte er sich kaum auf die Worte des Mediziners konzentrieren. Mechanisch schüttelte er den Kopf.

»Johann Sebastian Bach hat sogar eine Kaffeekantate komponiert, um seine Mitmenschen von dieser angeblichen Teufelsdroge fernzuhalten«, fuhr der Sportmediziner fort. Geradezu andächtig betrachtete er seine Henkeltasse. »Stell dir das mal vor: Ein Leben ohne Kaffee – undenkbar!«

»Genauso undenkbar wie ein Leben ohne Sex«, schnurrte Jenny wie eine rollige Wildkatze. Sie zog den letzten Saugnapf von Florians nacktem Oberkörper und streichelte mit den Fingerkuppen sanft über die gerötete Stelle.

Florian überlief abwechselnd ein heißer und kalter Schauer.

Jenny feuerte ein kesses Lächeln ab und erhob sich. »So, wir zwei sind miteinander fertig, mein kleiner Flo – zumindest fürs Erste.«

Mit betont aufreizendem Hüftschwung stolzierte sie aus dem Fitnessraum hinaus.

»Ein gut gemeinter Rat unter uns Männern, mein Junge: Jenny ist heiße, flüssige Lava«, raunte Dr. Schneider. »Lass ja die Finger von ihr. Du könntest sie dir nämlich mächtig an ihr verbrennen.«

 

Für Punkt 14 Uhr war das Mannschaftstraining des Turbofood-Teams angesetzt. Unter den Fahrern nannte man diese erste Trainingseinheit ›Spritztour‹. Nahezu ideale Witterungsbedingungen sorgten für Hochstimmung unter den Sportlern. Wie so oft um diese Jahreszeit wurden weite Landstriche der Pfalz von der Sonne verwöhnt. Die Luft war trocken und die herrschenden Temperaturen waren genau so, wie sie die Rennfahrer am liebsten mochten: angenehm warm, aber nicht heiß. Außerdem herrschte absolute Windstille.

Im Anschluss an eine lockere Teambesprechung begab sich ein Pulk von zwölf Profi-Radsportlern und zwei Begleitfahrzeugen auf die ausgesuchte Rundstrecke. Sie führte zunächst über die Bundesstraße 48 nach Johanniskreuz und weiter zum Eschkopf. Von diesem vorläufig höchsten Punkt aus schlängelte sich die Landesstraße die engen Serpentinen hinunter nach Annweiler am Trifels. Unterhalb der imposanten Burgen bewegte sich der kleine Pulk am welligen Rand der Haardt entlang nach Sankt Martin. Mit stoischer Ruhe ignorierten die in Zweierreihen nebeneinander herradelnden Rennfahrer die drängelnden und hupenden Auto- und Motorradfahrer.

Florian Scheuermann war rundherum glücklich. Er fühlte sich wie ein junger Prinz, der zum ersten Mal in seinem Leben an der Festtafel der alten Könige sitzen durfte. Das monotone Sirren der Speichen und der kühlende, würzig duftende Fahrtwind steigerten seine Euphorie. Zudem lösten die lockeren Gespräche mit seinen Kollegen ein Gefühl von Freude und Stolz in ihm aus. Ohne darüber irgendein Wort zu verlieren, signalisierten ihm die anderen Fahrer, dass er nun einer von ihnen war. Er konnte es noch immer nicht glauben, aber er war nun tatsächlich Mitglied einer, wenn nicht sogar der Elitetruppe des internationalen Radsports.

In Sankt Martin, einem malerischen Weindorf mit liebevoll restaurierten Fachwerkbauten, verließen die Fahrer die Weinstraße und quälten sich den strapaziösen Anstieg hinauf zur Totenkopfhütte.

Florian erinnerte sich plötzlich an einen Dokumentarfilm, den er erst vor Kurzem gemeinsam mit seinen Eltern angeschaut hatte. Darin wurden die dramatischen Ereignisse beim Jahreswechsel 1960/61 geschildert. In dieser Neujahrsnacht hatte ein Mitglied der sogenannten Kimmel-Bande, die jahrelang hier in der Gegend ihr Unwesen getrieben hatte, den Hüttenwart der nahe gelegenen Hellerhütte erschossen.

An der Kalmit vorbei, dem höchsten Berg des Pfälzer Waldes, geleitete eine enge, kurvenreiche Abfahrt die Radsportler wieder hinab ins Tal. Durch das landschaftlich reizvolle, von mehreren Burgen gesäumte Elmsteinertal schlängelte sich der Turbofood-Tross den Speyerbach entlang zurück nach Johanniskreuz.

Nach einer kurzen Rast wurde die zweite Runde in Angriff genommen.

Nun ging es erst richtig zur Sache. Die Strecke bis zum Eschkopf stand im Zeichen einer schweißtreibenden Trainingseinheit für das Ende der nächsten Woche angesetzte Mannschaftszeitfahren. Wie an einer Perlenschnur aufgereiht hängten sich die Fahrer an das Hinterrad des Vordermanns. In einem eingespielten Rhythmus scherte nach ein paar Minuten jeweils der erste Fahrer nach links aus, sodass der nächste brutal im Wind stand und alles geben musste, damit das Team die erreichte Höchstgeschwindigkeit halten konnte. Sobald dessen Kräfte erlahmten, kam wieder der nächste an die Reihe.

Auf der Höhe des Eschkopfs beendeten sie diese anstrengende Trainingssequenz. Nun jagten die Rennfahrer die lange und gefährliche Abfahrt hinunter ins Tal. Florian Scheuermann hatte sich etwa in der Mitte der lockeren Fahrerkette eingereiht. Der Abstand zu den Vorderleuten wuchs mit jeder Kurve. Seine Hintermänner schlossen immer dichter zu ihm auf, bedrängten ihn, schneller und damit waghalsiger zu fahren. Einer von ihnen legte ihm sogar demonstrativ eine Hand auf die Hüfte, um ihn anzuschubsen.

Florian spürte, wie eine Panik von ihm Besitz ergriff, wie er sie noch nie zuvor erlebt hatte. Mit vor Schreck verzerrtem Gesicht drückte er seinen Oberkörper noch tiefer in die windschlüpfrige Abfahrtshaltung hinein.

Eingangs der nächsten Kurve bremste er erst im allerletzten Moment ab. Doch er war zu schnell und konnte selbst in dieser extremen Schräglage nicht verhindern, dass ihn die rasende Geschwindigkeit weit über die durchgezogene Mittellinie der Straße hinaustrieb. Zum Glück kam ihm in diesem Moment kein Fahrzeug entgegen.

Sein Puls raste, er zitterte am ganzen Körper.

Mit weit aufgerissenen Augen blickte er hinüber zu seinen Mannschaftskameraden, die ihre Geschwindigkeit gedrosselt hatten und auf gleicher Höhe neben ihm herrollten. Sie grinsten ihm schadenfroh entgegen und forderten ihn mit Gesten auf, seinen ursprünglichen Platz in der Fahrerkette wieder einzunehmen.

Ein Ruck ging durch Florians Körper. Kraftvoll trat er in die Pedale und nahm seine Position wieder ein. Diese Schmach wollte er nicht auf sich sitzen lassen.

Jetzt zählt’s, feuerte er sich selbst an. Den Mistkerlen zeig ich’s jetzt. Von denen lasse ich mich nicht als unfähiges Weichei abstempeln.

Auf der nun folgenden Geraden erhöhte er die Trittfrequenz und schoss auf die nächste Linkskurve zu. Sein extremer Antritt kam für die anderen so überraschend, dass sie ihm zunächst nur mit Mühe folgen konnten. Von der ersten Streckenrunde hatte Florian diese Kurve noch recht gut in Erinnerung. Sie war zwar eng, aber der Straßenbelag war sehr griffig und ermöglichte ein extrem spätes Bremsmanöver.

Um den starken Zentrifugalkräften entgegenzuwirken, stellte er sein linkes Bein weit nach außen und legte sich in die Kurve. Parallel dazu betätigte er vorsichtig beide Bremshebel. Aber die Linkskurve war enger, als er vermutet hatte. Ohne über die Folgen nachzudenken, erhöhte er den Bremsdruck auf die Felgen. Das Hinterrad blockierte.

Reflexartig löste Florian wieder die Bremsen. Er schlingerte, drohte zu stürzen. Doch wie durch ein Wunder schlitterte das Hinterrad an einen Bordstein, wodurch die Rennmaschine sich schlagartig stabilisierte. Erleichtert schnaufte er durch.

Als er gerade das Gleichgewicht wiedergewonnen hatte, spürte er plötzlich an seiner linken Pobacke einen kräftigen Stoß. Dieser brachte ihn abermals aus dem Gleichgewicht und katapultierte ihn mitsamt seines Rennrads über die Leitplanke hinweg. Während er sich mehrfach überschlug, lösten sich die Schuhe von den Klick-Pedalen.

Er stürzte über einen mit Felsen gespickten Abhang und landete kopfüber im Wellbach. Das eiskalte Wasser floss über sein Gesicht, Sekundenbruchteile später auch in seinen Mund. Reflexartig schluckte er.

Dann war alles dunkel um ihn herum.

2. Etappe

 

Im Innenhof der Wohnanlage fanden sich nacheinander alle Mitglieder der Großfamilie Tannenberg zum gemeinsamen Kaffeeklatsch ein. Marieke trug ihre kleine Tochter Emma auf dem Arm. Sie war gerade aus dem Mittagsschlaf erwacht und klammerte sich an den Hals ihrer Mutter.

»Mein süßer Spatz ist wohl noch nicht richtig ausgeschlafen«, flüsterte Margot und streichelte sanft über Emmas nackte Wade.

Trotzig warf die Kleine den Kopf herum und presste sich noch fester an ihre junge Mutter.

Kurt, der bärenartige Familienhund, hatte sich zur Begrüßung der beiden erhoben und trottete zu ihnen hin. Marieke graulte ihm kurz den Kopf, dann schob sie ihn mit dem Knie beiseite.

»Platz, Kurt«, befahl sie. »Emma braucht noch eine Weile ihre Ruhe.«

Brummend verzog sich der imposante Mischlingshund und legte sich an der Gartenmauer ab.

Marieke setzte sich neben Tobias. »Na, Bruderherz, was machen die Frauen?«

»Themawechsel«, grinste Tobi. »Was macht dein neuer Nebenjob?«

»Superinteressant.«

Detaillierter konnte sie sich dazu nicht äußern, denn ihre Großmutter erschien mit Johanna von Hoheneck und verkündete lauthals: »So, Kinder, heute habe ich Wolfi einen Herzenswunsch erfüllt und zwei Erdbeerkuchen gebacken.«

Mit strahlender Miene stellte sie einen Kuchen auf den Tisch. Hanne wartete einen Augenblick, dann platzierte sie den anderen direkt daneben.

Als Wolfram Tannenberg den Kübel mit frisch aufgeschlagener Sahne entdeckte, den seine Lebensgefährtin aus der Küche mitgebracht hatte, begann er sofort, geräuschvoll zu schmatzen.

Lächelnd betrachtete Marieke ihren Onkel, der nun auch noch genüsslich zu stöhnen anfing. Emma hatte inzwischen neugierig den Kopf zum Tisch hingedreht und schmatzte nun ebenfalls.

Alle lachten, nur Jacob nicht. Ohne eine Miene zu verziehen, saß er an der Stirnseite des lang gezogenen Holztisches und schmökerte in seiner Zeitung. Doch urplötzlich kam Leben in den alten Mann.

»Wolfram, geh mir mal deinen Taschenrechner holen«, forderte er in einem Ton, der keinerlei Widerspruch duldete.

Aber Tannenberg reagierte nicht. Sein gieriger Blick bohrte sich immer tiefer in seinen Lieblingskuchen hinein, den Margot gerade anschnitt.

»Gib mir ruhig ein richtig großes Stück«, bat er, während seine Augen immer größer wurden.

»Wolfram«, knurrte der Senior. »Komm schon, ich brauch dringend einen Taschenrechner. Du bist ja gleich wieder zurück.«

»Wozu denn?«, brummelte der Kriminalbeamte.

»Frag nicht lange rum, tu deinem alten Vater einfach den Gefallen.«

»Opa, ich hol dir meinen«, erklärte Tobias.

»Danke, mein Junge.«

Margot reichte ihrem Sohn den Teller. »Iss dich mal richtig satt, Wolfi. Falls die zwei nicht reichen, hab ich noch einen weiteren in der Küche.«

»Danke, Mutter«, sagte Tannenberg und klatschte sich eine Riesenportion Schlagsahne auf das breite Erdbeerkuchenstück. Ohne die gefüllte Kaffeetasse auch nur anzurühren, stopfte er den Kuchen in sich hinein.

»Iss doch nicht so hastig, Wolfi«, kommentierte seine Mutter mit vorwurfsvollem Unterton.

»Wieso? Wenn’s schmeckt, schmeckt’s halt«, quittierte er die maßregelnden Blicke der ihn beobachtenden Frauen. Anschließend leckte er sich die Sahnereste von der Lippe und trank einen großen Schluck Kaffee.

Schwägerin Betty stemmte die Hände in die Hüften und giftete: »Das kann man ja nicht mit anschauen. Du bist und bleibst eben ein Barbar.«

Bevor Tannenberg dieser Attacke etwas Deftiges entgegensetzen konnte, kehrte Tobias zurück und überreichte seinem Großvater den gewünschten Taschenrechner.

»Das ist wirklich sehr nett von dir, mein Lieber«, bedankte sich der Senior abermals bei seinem Enkel. Anschließend bedachte er seinen jüngsten Sohn mit einem abschätzigen Blick. »Daran kannst du dir eine Scheibe abschneiden, du Stoffel!«

Tannenberg zeigte sich von diesem Rüffel äußerlich unbeeindruckt und hielt seiner Mutter den leeren Kuchenteller hin.

»Bitte noch eins«, flehte er mit einem herzerweichenden Gesichtsausdruck. Während ihm Margot schmunzelnd ein weiteres Stück auf den Teller lud, legte ihr Sohn die Stirn in Falten und wandte sich an Jacob: »Was willst du denn überhaupt mit dem Ding?«

»Etwas ausrechnen, was denn sonst?«, blaffte sein Vater.

»Und was?«

Wie ein Schüler, der seinen Nebenmann am Abschreiben hindern wollte, schirmte Jacob den nach seiner Meinung hochinteressanten Artikel mit der hohlen Hand vor neugierigen Blicken ab. Mit der anderen Hand nahm er den Taschenrechner entgegen und drehte den Oberkörper so, dass den anderen die Sicht auf das, was er tat, weitgehend versperrt blieb.

Er legte den Kopf nachdenklich ins Genick und blickte brummend zum azurblauen Himmel empor. Dann hämmerte er geschäftig auf die Tastatur. Nach ein, zwei Minuten wandte er sich wieder seiner Familie zu und verkündete mit einem Mienenspiel, als ob er gerade im Lotto gewonnen hätte: »2219.«

Mit offenen Mündern starrten ihn die Mitglieder der Großfamilie an.

»Was, was ist denn das für eine komische Zahl«, wollte Betty wissen.

»Nicht Zahl – Jahreszahl!«

Während einige verständnislos den Kopf schüttelten, fütterte Marieke schmunzelnd ihre kleine Tochter mit einer Erdbeere.

»Im Jahre 2219 haben wir es endlich geschafft«, legte der Senior grinsend nach. Doch urplötzlich veränderte sich sein Mienenspiel und sein Gesicht nahm einen bekümmerten Ausdruck an. Er schniefte. »Ich erlebe es ja leider nicht mehr.«

»Ja, was ist denn 2219, Opa?«, fragte Tobias.

»Im Jahre 2219 gibt es keinen einzigen Saarländer mehr.« Er klatschte in die Hände. »Juhu.«

Tannenberg setzte die Kuchengabel ab und bedachte seinen Vater mit einem verständnislosen Blick. »Wie kommst du denn auf solch einen Quatsch?«

»Das ist kein Quatsch«, zischte Jacob. Er tippte mit dem Zeigefinger auf die Zeitung. »Hier steht’s nämlich schwarz auf weiß: Die Zahl der Saarländer nimmt weiter dramatisch ab. Nach den aktuellen Prognosen des Statistischen Landesamtes wird es bis zum Jahr 2030 rund 100.000 Saarländer weniger geben als die derzeit 1.044.000 Einwohner des kleinsten deutschen Flächenstaates.« Freudig knetete er die Hände. »Und das heißt logischerweise nichts anderes, als dass irgendwann um das Jahr 2219 herum das Saarland völlig entvölkert sein wird.«

Die meisten schmunzelten, Betty dagegen rollte die Augen.

»Sag mal, Opa, was hast du denn eigentlich gegen die armen Saarländer?«, wollte Marieke wissen.

Jacob zuckte mit den Schultern und stieß ein Geräusch aus wie ein tuckernder Rasenmähermotor, aber er gab keine Antwort.

»Das kommt daher, weil mir vor vielen Jahren einmal ein stattlicher Mann aus Sankt Wendel schöne Augen gemacht hat«, erläuterte Margot. Ein schalkhaftes Lächeln huschte über ihr faltiges Gesicht.

»Stattlicher Mann? Dass ich nicht lache! Und von wegen ›nur schöne Augen gemacht‹«, stieß Jacob fauchend aus. Vor Zorn lief er rot an. Die Halsschlagadern quollen auf und erinnerten an dicke Regenwürmer. »Der hat dich richtig, richtig …« Er schien in seiner Erregung das richtige Wort nicht zu finden.