ÖFFENTLICHE THEOLOGIE
Herausgegeben von
Heinrich Bedford-Strohm und Wolfgang Huber
Band 33
Andrea Roth
OPTION MENSCHLICHKEIT
WIRTSCHAFTSETHISCHE PERSPEKTIVEN IM KONTEXT
ÖFFENTLICHER THEOLOGIE UND RELIGIÖSER BILDUNG
Andrea Roth, Dr. phil., Jg. 1969, studierte Lehramt an Beruflichen Schulen an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg. Ihre Fächer sind Pädagogik, Psychologie, Soziologie, Recht und Ev. Religionslehre. Von 2012 bis 2016 arbeitete sie als Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Religionspädagogik und Didaktik des Ev. Religionsunterrichts in Nürnberg. Gegenwärtig ist sie als Oberstudienrätin an der Berufsschule tätig und übt eine Lehrtätigkeit am genannten Lehrstuhl aus. Andrea Roth ist Mitglied der Gesellschaft für wissenschaftliche Religionspädagogik (GwR).
Meinen Kindern Elisa und Marie gewidmet
Der vorliegende Band stellt die leicht überarbeitete Fassung der Dissertationsschrift »Option Menschlichkeit im Kontext ökonomischer Theorie und Handlungsrationalität. Theologischethische Perspektiven zum Hotel- und Gastgewerbe mit religionspädagogischen Implikationen« dar, die im Wintersemester 2015 / 16 von der Fakultät Humanwissenschaften der Otto-FriedrichUniversität Bamberg angenommen wurde.
Gutachter: Prof. Dr. Heinrich Bedford-Strohm, Otto-Friedrich-Universität Bamberg und Prof. Dr. Manfred L. Pirner, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Tag der mündlichen Prüfung: 27. Januar 2016.
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© 2017 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH · Leipzig
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Cover: Kai-Michael Gustmann, Leipzig
Satz: Werner Haußmann, Veitsbronn
E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2017
ISBN 978-3-37404826-7
www.eva-leipzig.de
Der vorliegende Band gibt in leicht überarbeiteter Fassung meine Dissertationsschrift mit dem Titel »Option Menschlichkeit im Kontext ökonomischer Theorie und Handlungsrationalität«, die im Wintersemester 2015 / 16 von der Otto-Friedrich-Universität Bamberg angenommen wurde, wieder.
Mein großer Dank gilt meinem Doktorvater Prof. Dr. Heinrich Bedford-Strohm, der das Interesse für wirtschaftsethische Fragestellungen in mir geweckt und gefördert hat. Ihm verdanke ich den Zugang zu einem befreiungstheologischen Ansatz Öffentlicher Theologie, der mir die Wahrnehmung der in diesem Band vorgestellten Problemlage erst ermöglichte. Prof. Dr. Manfred L. Pirner danke ich ebenso für die intensive Beratung und Betreuung der Arbeit und den Impuls die religionspädagogischen Fragen und Inhalte aus der Perspektive einer Öffentlichen Religionspädagogik zu betrachten. Durch die Stelle an seinem Lehrstuhl hat er mir den Raum geschaffen, diese Arbeit zu schreiben.
Meinem Kollegen Dr. Werner Haußmann gilt mein Dank für seine vielfältigen Anregungen und die technische Unterstützung bei der Fertigstellung der Arbeit. Er schärfte meinen Blick für die Notwendigkeit verschiedene religionspädagogische Ansätze auf ihre Impulse für die Bearbeitung wirtschaftsethischer Fragestellungen zu analysieren.
Dr. Manfred Müller und OStD Ludwig Englert, meinen beiden Schulleitern, danke ich dafür, dass sie mich maßgeblich dabei unterstützt haben, diese Forschungsarbeit neben meiner Arbeit an der Schule zu beginnen. Ludwig Englert begleitete zudem die Arbeit an der Branchenanalyse fachlich kompetent. Sein Engagement für die Berufsschüler, um die es in dieser Arbeit geht, kann nicht hoch genug geschätzt werden. Er hat den Runden Tisch »Wertschätzende Ausbildung« ins Leben gerufen und ist damit das von mir untersuchte Problem praktisch angegangen.
Ein weiterer Dank gilt Prof. Dr. Dr. Dr. h. c. Rainer Lachmann für die stets motivierenden Gespräche zur vorliegenden Arbeit und für alles was ich von ihm lernen durfte. Ebenso gilt mein Dank meinem Studien- und Berufsmentor Hartmut Garreis M. A., der diese Arbeit aus wirtschaftswissenschaftlicher und aus Lehrerperspektive durch viele Impulse begleitete.
Heike Strohmann danke ich für die Diskussion konzeptioneller Fragen und die Einbringung einer soziologischen Perspektive.
Viele fruchtbringende Diskussionen fanden mit den Teilnehmern des Bamberger und des Nürnberger Doktorandenkolloqiums statt, den Teilnehmenden gilt mein besonderer Dank für die vielen Impulse.
Allen Kollegen des Lehrstuhls für Evangelische Religionspädagogik in Nürnberg sage ich herzlich Danke für die vielen aufmunternden Worte und Entlastungen. Mein besonderer Dank gilt dabei Brigitte Schaude, Bettina Pietsch und Lea Herbst für das Korrekturlesen von Teilen der Arbeit. Brigitte Schaude fertigte zudem das Lektorat für die Veröffentlichung an.
Ohne die Auzubildenden, die mir in ihrer schwierigen Ausbildungssituation Interviews gegeben haben hätte diese Arbeit in der vorliegenden Form nicht entstehen können und so danke ich allen, die sich für Interviews zur Verfügung gestellt haben.
Mein Dank gilt ebenso den Herausgeber der Reihe Öffentliche Theologie, Prof. Dr. Dr. h. c. Wolfgang Huber und Prof. Dr. Heinrich Bedford-Strohm für die Aufnahme in die Reihe. Für Publikationszuschüsse bedanke ich mich bei der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern.
Stets freundlich und geduldig begleiteten die Mitarbeitenden der Evangelischen Verlagsanstalt die Arbeit an der Publikation. Mein besonders herzlicher Dank gilt dabei Dr. Anette Weidhaas, Sina Dietl und Christina Wollesky.
Für die vielfältige Unterstützung meiner Familie und meiner Freunde kann ich nicht genug danken und so sage ich abschließend meinen Eltern und Geschwistern, meinen Schwiegereltern, meinem Mann Friedemann sowie meinen beiden Töchtern, Elisa und Marie, denen ich diese Arbeit widme, Danke für alle Geduld und stets liebevolle und aufmerksame Begleitung.
Heroldsberg, am 1. Advent 2016
Andrea Roth
Cover
Titel
Die Autorin / Das Buch
Impressum
Vorwort
I. EINFÜHRUNG
1. Gegenstand und Bedeutung der Thematik
1.1 Darstellung des Forschungsstands
1.2 Anliegen, Fragestellung und Zielsetzung
1.3 Methodische Erläuterungen und Aufbau der Arbeit
2. Begriffs- und wissenschaftstheoretische Klärungen
2.1 Ethik im Kontext der Systematischen Theologie
2.2 Theologische und philosophische Ethik
2.3 Angewandte Ethik
2.4 Angewandte und Allgemeine Ethik
2.5 Wirtschaftsethik als angewandte Ethik
2.6 Empirie und Angewandte Ethik
2.7 Religionspädagogik und Systematische Theologie
3. Zusammenfassung und Diskussion
II. SEHEN
1. Ökonomie in der Gastronomiebranche
1.1 Vorklärungen – Ebenen ökonomischen Handelns
1.2 Ökonomie als Betriebswirtschaft
1.3 Schlussfolgerungen
2. Branchenanalyse und erste ethische Problemanzeigen
2.1 Die Branche – das Hotel- und Gastgewerbe
2.1.1 Segmente und Kennzahlen des Gastgewerbes
2.1.2 Branchenspezifische Rahmenbedingungen und betriebswirtschaftliche Implikationen (Kapazitätsproblem, Saison, Standort)
2.1.3 Personalmanagement und Personalwirtschaft
2.1.4 Mitarbeitende der Branche
2.1.5 Ausbildung im Hotel- und Gastgewerbe
2.1.6 Zusammenfassung
2.2 Arbeitsrechtliche Grundlagen und das ethische Problem
2.3 Zusammenfassung
2.4 Hermeneutische Reflexion
3. Situation der Auszubildenden in der Gastronomiebranche –Eine qualitative empirische Studie
3.1 Begründung der Fokussierung, Forschungsfrage und Ziel der Untersuchung
3.2 Der forschungsethische Hintergrund
3.3 Das Verständnis qualitativer Sozialforschung im Rahmen der Arbeit
3.4 Die Methodik der empirischen Untersuchung
3.4.1 Das Forschungsdesign
3.5 Kategorienbasierte Ergebnisdarstellung und –diskussion
3.5.1 Faktische Ausbildungssituation (Kategorie D)
3.5.2 Auswirkungen faktischer Arbeitsbedingungen (Kategorie F)
3.5.3 Physische Beanspruchung (Kategorie H)
3.5.4 Psychische Beanspruchung (Kategorie J)
3.5.5 Erleben von Wertschätzung oder Geringschätzung (Kategorie L)
3.5.6 Sonstiges (Kategorie N)
3.5.7 Erwartungen an die Ausbildung (Kategorie B)
3.5.8 Indikatoren menschengerechter Arbeit – ein Fazit
3.6 Diskussion der Ergebnisse im Vergleich mit Ergebnissen des Ausbildungsreports 2014
3.7 Diskussion der Ergebnisse in Auseinandersetzung mit der Stellungnahme des DEHOGA zu arbeitsrechtlichen Fragen
3.8 Gesamtfazit der Studie
III. URTEILEN
1. Philosophische und ökonomische Perspektiven zur Wirtschaftsethik
1.1 Die Frage nach dem Ausgangsparadigma
1.1.1 Das Konzept Karl Homanns
1.1.2 Das Konzept Peter Ulrichs
1.2 Die Frage nach der Anwendung: das Theorie-Praxis-Problem
1.3 Hermeneutische Reflexion
2. Theologische Perspektiven zur Wirtschaftsethik
2.1 Katholische Ansätze zur Wirtschaftsethik
2.2 Protestantisch-theologische Ansätze zur Wirtschaftsethik
2.2.1 Die Wirtschaftsethik Arthur Richs
2.2.2 Der wirtschaftsethische Ansatz von Eilert Herms
2.3 Ein anthropologisch-hermeneutischer Beitrag der Theologie –Die theologische Wirtschaftsethik Nils Ole Oermanns
2.3.1 Begründungen für eine neue Wirtschaftsethik in globaler Perspektive
2.3.2 Anliegen und Zielsetzung Oermanns
2.3.3 Theologische Grundlegung der Wirtschaftsethik Oermanns
2.3.4 Der Beitrag der Theologie zu einer Wirtschaftsethik im 21. Jahrhundert: Bewusstmachen, Erinnern, Mahnen und Motivieren zum Handeln
2.3.5 Kritische Würdigung
2.4 Impulse aus der Wirtschafts- und Unternehmensethik in der Urteilsbildung der EKD
2.4.1 »Gerechte Teilhabe« (2006)
2.4.2 »Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive« (2008)
2.4.3 »Wie ein Riss in einer hohen Mauer« (2009)
2.4.4 »Solidarität und Selbstbestimmung im Wandel der Arbeitswelt« (2015)
2.5 Hermeneutische Reflexion
3. Öffentliche Theologie im Kontext wirtschaftsethischer Überlegungen
3.1 Das Paradigma Öffentliche Theologie im Ansatz von Heinrich Bedford-Strohm
3.1.1 Theologischer Hintergrund
Kirche und Öffentlichkeit
Öffentliche Kirche im Kontext von Bildung
Kirche als Öffentlichkeit
Kirche als Öffentliche Kirche
3.1.2 Aufgaben Öffentlicher Theologie
3.2 Die Bedeutung Öffentlicher Theologie im Kontext wirtschaftsethischer Fragestellungen
3.2.1 Fünf Leitlinien im Kontext wirtschaftsethischer Fragestellungen
3.2.2 Konkretisierungen für das untersuchte Problem
4. Hermeneutische Reflexion
IV. HANDELN
1. Problembefund und religionspädagogische Rahmenbedingungen
1.1 Problembestimmung: die prekäre Situation der Auszubildenden
1.2 Religionspädagogischer Kontext: der Religionsunterricht der Berufsschule
1.2.1 Die Schüler – soziologisch und entwicklungspsychologisch
1.2.2 Die Lehrer
1.2.3 Die Schule
1.2.4 Die Kirche
1.2.5 Die Inhalte des Fachs
1.2.6 Die Betriebe
1.2.7 Die Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände
1.3 Bestandsaufnahme: Wirtschaftsethische Bildung im Berufsschulreligionsunterricht
1.3.1 Potential und Grenzen des Lehrplans für wirtschaftsethische Fragestellungen am Beispiel des Bayerischen Lehrplans
1.3.2 Ansatz und Ziele der Lehrplananalyse
1.3.3 Methodik der Lehrplananalyse
1.3.4 Ergebnisse der Lehrplananalyse: Kriterienbasierte Auswertung und Interpretation
1.4 Zusammenfassung und Fazit
2. Wirtschaftsethische Bildung als Aufgabe des BRU: Grundzüge und Bezugsfelder
2.1 Wirtschaftsethische Bildung im Horizont religionsdidaktischer Ansätze und Perspektiven
2.1.1 Subjektorientierte Religionsdidaktik
2.1.2 Konstruktivistische Religionsdidaktik
2.1.3 Dialogisch-beziehungsorientierte Didaktik
2.1.4 Fazit
2.2 Wirtschaftsethische Bildung als Teilbereich ethischer Bildung im BRU
2.2.1 Ethisches Lernen - Ethische Urteilsbildung - Wertebildung
2.2.2 Konsequenzen für wirtschaftsethische Bildung
2.2.3 Fazit
2.3 Fächerübergreifende Bezüge
2.3.1 Bezüge zur ökonomischen Bildung
2.3.2 Bezüge zur politischen Bildung
3. Wirtschaftsethische Bildung im Kontext einer Öffentlichen Religionspädagogik
3.1 Systematisch-Theologische Bezüge
3.2 Der Öffentlichkeitsbezug und -begriff der Religionspädagogik
3.3 Orte Öffentlicher Religionspädagogik
3.4 Aufgaben Öffentlicher Religionspädagogik
3.5 Konsequenzen für wirtschaftsethische Bildung
4. Fokussierung: Wirtschaftsethische Bildungs- und Dialogmöglichkeiten im institutionellen Kontext der Berufsschule
4.1 Kirche und BRU
4.2 Kirche und Betriebe im Gastgewerbe
4.3 »Institutionalisierter Dialog«: »Runder Tisch – Wertschätzende Ausbildung«
4.3.1 Begriffsbestimmung »Runder Tisch«
4.3.2 Den Dialog beginnen
4.3.3 Erfahrungen aus der Teilnahme an zwei Sitzungen des »Runden Tischs – Wertschätzende Ausbildung« in Bayern
4.4 Fazit für eine institutionalisierte Dialogarbeit
5. Option Menschlichkeit! – Fazit und Ausblick
LITERATURVERZEICHNIS
FUSSNOTEN
»Eine menschengerechte Arbeitswelt [ist] kein Widerspruch zu einem erfolgreichen Unternehmen, sondern seine Voraussetzung.«1
Diese These stellte Wolfgang Huber anlässlich der Verleihung eines Ethiksiegels der Evangelischen Kirche in Deutschland an Wirtschaftsunternehmen auf. Zunächst kann konstatiert werden, dass diese Aussage nicht unumstritten ist. Geläufiger ist doch gemeinhin eher die Gegenthese: Eine menschengerecht gestaltete Arbeitswelt ist ein Widerspruch zu einem erfolgreichen, gewinnerwirtschaftenden Unternehmen.
Warum sonst lassen Unternehmen in Ländern produzieren, in denen Arbeitsrechte von Mitarbeitenden in der Produktion kaum existieren? Warum sonst wurde und wird die Debatte um einen Mindestlohn in Deutschland hitzig geführt? Warum sonst leiden viele junge Menschen unter ihren Ausbildungsbedingungen in der Gastronomiebranche in Deutschland?
Die zuletzt gestellte Frage konkretisiert sich in der Beschreibung solcher Ausbildungsbedingungen eines jungen Auszubildenden, wie sie in einer Wochenzeitung zu lesen war:
»In eineinhalb Jahren hatte er zwei freie Wochenenden. Alle weiteren fallen zufällig in seine Urlaubszeit. 16-Stunden-Schichten, unbezahlte Überstunden, zwischendurch eine halbe Stunde Pause, sechs Stunden Schlaf bis zur Frühschicht, drei Tage in Folge. Daniel ist sich nicht sicher, ob das legal ist […]. Bei allen Unterschieden zwischen den Chefs des Familienunternehmens, erzählt Daniel: Alle schreien sie Angestellte und Lehrlinge an – als ›dämlich‹, ›dumm‹, ›nicht fähig logisch zu denken‹«.2
Wie das Beispiel deutlich werden lässt, werden nicht nur gesetzlich geregelte Bestimmungen des Arbeitsrechts in diesem Betrieb nicht beachtet3, sondern es wird auch keine Rücksicht auf die Bedürfnisse des jungen Menschen genommen, ein Würde achtendes Verhalten unterbleibt.
Häufig beruft man sich hier auf ökonomische Sachzwänge, die kein anderes Handeln als das beschriebene ermöglichen, will das Unternehmen erfolgreich, und das heißt gewinnbringend, wirtschaften. Unter Berufung auf solche ökonomischen Sachzwänge, die sich aus der Marktsituation heraus ergeben, wird dann auch mehr oder weniger die Notwendigkeit von Seiten der Unternehmen begründet, am geltenden Recht vorbei handeln zu müssen. Damit einher geht meist auch die Forderung nach der Veränderung rechtlicher Bestimmungen in Form von Flexibilisierung.
Fragt man hier nach dem Menschengerechten im Betriebsalltag, wird schnell deutlich, dass der junge Mensch, der am Beginn seines Berufslebens steht und eine Ausbildung in der Branche absolvieren möchte, seine Arbeitswelt keinesfalls als »menschengerecht« bezeichnen würde. Der Fall ist symptomatisch für die Gastronomiebranche und solche und ähnliche Berichte tauchen immer wieder in den Medien auf.
Viele der jungen Menschen fühlen sich durch die Nichteinhaltung der arbeitsrechtlichen Vorgaben wie Arbeitszeit, Pausenvorgaben etc. permanent unter Druck. Viel stärker noch fühlen sie sich durch einen rauen Ton und respektloses Verhalten von Seiten der Ausbildenden belastet.
Nun könnte davon ausgegangen werden, dass sie rechtliche Mittel anwenden, um geltendes Recht einzufordern. Die Situation gestaltet sich jedoch schwieriger als es zunächst erscheint. Einerseits kennen viele der Auszubildenden die rechtlichen Bestimmungen des Jugendarbeitsschutzes noch nicht, andererseits fürchten viele den Ausbildungsplatz zu verlieren, wenn sie auf rechtliche Grundlagen des Arbeitsschutzes in ihren Ausbildungsbetrieben hinweisen und trauen sich somit nicht ihre Rechte einzufordern. Diese Dilemmasituation führt in überproportional vielen Fällen dazu, dass junge Menschen ihre Ausbildung abbrechen. Die Abbruchquote ist in keinem anderen Ausbildungsberuf so hoch wie in der Gastronomiebranche. Das führt dazu, dass ich die Ausbildungsbedingungen als prekär bezeichne.
Exemplarisch zeigt dieses Problem eine Diskrepanz zwischen ordnungspolitisch festgelegtem, dem Menschengerechten verpflichtetem Recht4 und unternehmerischem Handeln.
Kommt man vor dem Hintergrund der geschilderten Problemlage nun noch einmal auf die Aussage Wolfgang Hubers zurück, dann lässt sich an ihrer Negierung feststellen, dass hier die beiden Konzepte »menschengerechte Arbeitswelt« und »erfolgreiches Unternehmen« in einem Widerspruch zu stehen scheinen. Doch was sind die Gründe dafür, dass solche prekären Ausbildungsbedingungen in vielen Betrieben der Branche herrschen? Ist die Schlussfolgerung, die daraus zu ziehen ist, dass Unternehmen nur dann Gewinne erzielen bzw. effizient wirtschaften können, wenn sie geltendes Recht unbeachtet lassen und den Menschen im Unternehmensalltag nur als Mittel zum Zweck der Gewinnerwirtschaftung definieren?
An diesen Fragen zeigt sich m. E. exemplarisch die sowohl in der öffentlichen Debatte, als auch in wissenschaftlichen Diskursen immer wieder propagierte Unvereinbarkeit zwischen Ethik und Ökonomie5. Ethik wird dabei von Huber in den Begriff »menschengerechte Arbeitswelt« gefasst. Das Modell des »erfolgreichen Unternehmens« repräsentiert in diesem Fall die Ökonomie.
Worin gründet sich diese scheinbare Unvereinbarkeit? Weit verbreitet ist die Annahme, ökonomisches Handeln sei in erster Linie Sachzwängen unterlegen, die, seit dem Voranschreiten von Globalisierungsprozessen stärker als je zuvor, richtungsweisend für wirtschaftliches Handeln seien. Im Modus neoliberaler Marktgestaltung6 gehe es nicht um Fragen ethischer Grundlagen oder Rahmenbedingungen von Marktprozessen im Blick auf Menschengerechtes, vielmehr sei der Markt an sich Ausgangspunkt der Betrachtungen und damit in wirtschaftswissenschaftlichem Sinne handlungsinitiierend und –strukturierend. Wachstum und Gewinnmaximierung sind dabei die obersten Prämissen. Thomas Bausch spricht hier vom »faktische[n] Primat der strategischen Zweckrationalität«7, nach dem Unternehmen in aller Regel agieren.
Hierin liegt zunächst noch kein ethisches Problem an sich begründet, doch werden die Unzulänglichkeiten einer rein auf ökonomische Theorie gegründeten Rationalität sichtbar, stellt man z. B. gerade mit Blick auf die zuvor geschilderten Probleme in der Gastronomiebranche folgende Fragen: Welche Auswirkungen zeigen sich bei einer strikten Orientierung am Wirtschaftsprinzip der Effizienz und Gewinnmaximierung8 bei denjenigen Menschen, die nicht vom Marktgeschehen profitieren?9 Was ist mit denjenigen, bei denen das Gewinnmaximierungsstreben von Unternehmen dazu führt, dass sie sich innerhalb des Arbeitsprozesses in den jeweiligen Wirtschaftsunternehmen unter vermeintlichen ökonomischen Zwängen der Ausbeutung preisgeben?10 Und was geschieht mit jenen, bei denen Auswirkungen dieser Marktprozesse körperliche oder psychische Belastungen für Leib und Seele hervorbringen, wie der Bericht über die Situation des Auszubildenden in der Gastronomiebranche zeigt?11
Diese Fragen verleihen dem Prinzip menschengerechter Gestaltung von Arbeit bereits erste Konturen und eröffnen eine ethische Dimension.
Solche ethischen Fragen spielen im gesellschaftlichen Diskurs immer wieder eine Rolle und werden einerseits, durchaus medial aufwendig, in Fernsehdokumentationen, politischen Talkshows oder als Titelblattaufhänger präsentiert. Zunehmend nutzen auch Nichtregierungsorganisationen (Non-Governmental Organizations = NGOS) das Internet, um auf prekäre, und damit nicht menschengerechte Arbeitssituationen weltweit, aufmerksam zu machen. Sie starten Kampagnen, in denen sie dazu auffordern, sich beispielsweise in Form von Online-Petitionen für menschengerechtere Arbeitsbedingungen einzusetzen.
Andererseits bleibt jedoch festzustellen, dass die ethischen Implikationen dieser Fragestellungen innerhalb strategischer Wirtschafts- und Unternehmensplanung weltweit kaum eine Rolle spielen. Moralische Problemstellungen kommen in der ökonomischen Standardtheorie in der Regel nicht vor.12 Die Orientierung an einer menschengerecht gestalteten Arbeitswelt erscheint aus dieser Perspektive nahezu obsolet oder allenfalls wird sie nur insoweit beachtet, als durch sie wiederum die ökonomische Funktionalität gefördert werden kann, z. B. indem sich ein Unternehmen pro forma einen Ethikkodex zulegt, der strategisch jedoch nur als Marketingfaktor dient, der Vertrauen bei Kunden erhalten oder erwecken soll. Zunächst ist solch ein Funktionalitätsgedanke nicht prinzipiell abzulehnen, ist aber unter der theologisch-anthropologischen Annahme, der Mensch sei mehr als funktionaler Bestandteil von Wirtschaft und nie nur Mittel zum Zweck, unbedingt zu diskutieren. Dramatische Vergehen gegen Arbeitsschutzrechte von Mitarbeitern13 im In- und Ausland lassen Fragen nach einer allen Menschen verpflichteten und vor allen Menschen verantworteten Fundierung von Wirtschaft in der globalen Gemeinschaft lauter werden.14
Eine Öffentliche Theologie reflektiert diese Fragen im Horizont biblischer und theologischer Tradition. Sie konstatiert den Bedarf an einem gesellschaftlichen Orientierungsrahmen in den Grundfragen des Menschseins und bringt dazu »religiöse Orientierungen in den Diskurs«15 einer pluralistischen Gesellschaft ein, so Heinrich Bedford-Strohm.
Folgt man nun der Vision einer menschengerecht gestalteten Arbeitswelt Hubers, gilt es die als konfligierend erscheinenden Interessen zwischen Ethik und Ökonomie in einen Dialog über gemeinsame grundsätzliche Orientierungen zu bringen. Nur so kann eine möglichst intersubjektiv gültige Basis für ethisch verantwortetes wirtschaftliches Handeln definiert werden, die wiederum als Ausgangsbasis für einen Diskurs zwischen Ökonomie, Recht und Theologie über Konkretionen zu einer menschengerecht gestalteten Arbeit gesehen werden kann. Dabei ist es von zentraler Bedeutung, folgt man Peter Dabrock, »dass man sich der Mühe unterzieht, empirische Identifikatoren im Konfliktfeld ausfindig zu machen, die Differenzierungen und nicht nur Protest ermöglichen«16.
Die Gastronomiebranche steht hier exemplarisch dafür, dass auch in einem System sozialer Marktwirtschaft menschenungerechte Arbeits- bzw. Ausbildungsbedingungen herrschen können.
Hier konkretisieren sich moralisch fragwürdige Auswirkungen des bereits erwähnten ökonomischen Prinzips der Gewinnmaximierung und die damit verbundene Sachzwangslogik auf der Ebene des Unternehmens. Hier trifft es ein schwaches, weil in Abhängigkeit befindliches, Glied der Gesellschaft: Auszubildende junge Menschen. Mit der Fokussierung dieser Problemlage wähle ich einen expliziten Ort für die Suche nach Auswirkungen der strikten Orientierung an Gewinnmaximierung und ökonomischen Zwängen zur Beantwortung der zuvor gestellten Fragen. Stellt man zudem fest, dass der Graben zwischen Ethik und Ökonomie weder in der wissenschaftlichen noch in der gesellschaftlichen Debatte der letzten Jahre schmäler geworden ist17 und dass es weitgehend in den aktuellen philosophisch, theoretisch und praxeologisch orientierten Diskursen18 weiterhin fast ausschließlich um die Frage des Ausgangsparadigmas »Ethik oder Ökonomie« geht, dann versucht diese Arbeit einen Weg zu finden methodologisch über das Prinzip »Sehen-Urteilen-Handeln« eine Vermittlung hin zu einer Verständigung zwischen theologischethischen Orientierungen, wie sie die christliche Theologie bietet und der Ökonomie, mit ihrer spezifischen Theorie und Handlungsrationalität.
Dabei soll erstens nach der konkreten Kommunikabilität christlich-ethischer Grundannahmen im ökonomischen Kontext gefragt werden und zweitens nach einer theoretisch fundierten gemeinsamen Ausgangsbasis19 für den Dialog über Veränderungsmöglichkeiten hin zu einer menschengerechter gestalteten Wirtschaft, der drittens in einer Darstellung und Diskussion eines handlungsorientierenden bildungsorientierten Ansatz für die berufliche Praxis im Kontext beruflicher Bildung und Ausbildung mündet.
Auf dem Weg der Suche nach dem »Menschengerechten« in der Wirtschaft, in Form von Grundlagendiskursen über die moralische Legitimation von globalen Wirtschaftsstrukturen, Unternehmensleitbildern sowie von individuellen Handlungsvollzügen in Unternehmen, kann die protestantische Theologie als Öffentliche Theologie und Religionspädagogik – so eine zentrale These dieser Arbeit – einen wertvollen Beitrag leisten. Sie definiert wirtschaftliches Handeln als Teil menschlichen Handelns und damit als aktiv gestaltbaren Teil menschlichen Lebens und stellt menschliches Sein und Handeln in den Kontext einer Gottesbeziehung, die Impulse hin zu einem gelingenderen Leben, auch wirtschaftlichem Leben, zu setzen vermag.
Die Schilderung der Ausgangssituation für diese Untersuchung hat bereits deutlich werden lassen, dass es sich um eine Arbeit mit interdisziplinären Bezügen handelt. Den Forschungsstand für eine solche Arbeit zu verfassen, die einen interdisziplinären Ansatz zwischen Ökonomie, Theologie, Recht und Religionspädagogik verfolgt, stellt eine Herausforderung dar. Um einen möglichst systematischen Überblick zu bieten, erscheint es zunächst sinnvoll, den Forschungsüberblick anhand der verschiedenen beteiligten Disziplinen darzustellen. Dabei ergibt sich jedoch das Dilemma, dass bereits die Disziplin »Wirtschaftsethik« interdisziplinär ist. In ihr verbinden sich ethische (philosophischethische oder/und theologisch-ethische) mit ökonomischen Überlegungen und eine klare Trennung ist demnach nicht möglich. Daher erscheint es zielführend, in der Darstellung chronologisch dem Aufbau der Arbeit zu folgen.
Die allgemeine Betriebswirtschaftslehre stellt die Grundlage der ersten Analyse, die der Rahmenbedingungen der untersuchten Branche, dar und wird der Disziplin der Ökonomie zugeordnet. Die Analyse der Forschungslage zeigt, dass es hier keine Arbeiten gibt, die einen Zusammenhang zwischen der allgemeinen Betriebswirtschaftslehre und den prekären Ausbildungsbedingungen thematisieren. Im Gegenteil zeigen die Grundlagenwerke der klassischen Betriebswirtschaftslehre, dass es sich um eine immense Sammlung an Einführungen und Handbüchern handelt20, die grundsätzlich den Ansatz einer am ökonomischen Prinzip orientierten Lehre von Betriebsorganisation verfolgen. Dieser Ansatz ist normativ und bedarf daher keiner ethischen Reflexion, die von außerhalb dieser Lehre an sie herangetragen wird.
Hieraus wächst die Erkenntnis für vorliegendes Forschungsvorhaben, dass Studierende der Betriebswirtschaftslehre maßgeblich von diesem Ansatz geprägt werden und es Wirtschaftshandelnde bereits überwiegend sind. Dies wiederum ist für eine Diskussion über den Zusammenhang von Ethik und Ökonomie, wie sie hier erfolgen soll, zentral, da es ja demnach keiner Ethik von »außen« bedarf. Soll und kann also Theologie hier überhaupt Ansatzpunkte finden, die eine solche Diskussion zulassen und möglich machen?
Weiterhin zeigt es sich, dass, wie eingangs erwähnt, ein Ansatz der Produktionsorientierung21 und Gewinnmaximierung als ursächlich für die von mir angenommenen Missstände im Ausbildungsbereich bezüglich einer nicht menschengerechten Ausbildungssituation gesehen werden könnte, was zu prüfen ist.
Wesentlich bleibt in diesem Zusammenhang darauf hin zu weisen, dass das Spektrum der klassischen Betriebswirtschaftslehre durch Ansätze wie verhaltenstheoretisch, kulturtheoretisch begründete oder psychologisch fundierte Konzepte, deren erkenntnisleitende Interessen in aller Regel stärker den Menschen im Kontext wirtschaftlichen Handelns sowie sein Verhalten und seine Umwelt (Kultur) fokussieren erweitert wird. Hier könnte ein Ansatzpunkt für theologisch-anthropologische Vorstellungen liegen.22
Schaut man konkreter in den spezifischen Wirtschaftsbereich der Hotel- und Gastronomiebranche, dann sind in der Forschungsliteratur ebenso keine wissenschaftlichen Arbeiten zu finden, die sich mit Ausbildungsbedingungen der Branche befassen, bzw. mit problematischen Bedingungen innerhalb dieser. In der Grundlagenliteratur23 weisen jedoch Erkenntnisse aus den Bereichen »Personalmanagement« und »Unternehmensleitbild« über die große Bedeutung, die Arbeitsbedingungen (Arbeitszeit, -klima und -umgebung) für die Beschäftigten haben, darauf hin, wie wichtig es sein sollte, gute Arbeitsbedingungen auch zu gewährleisten. Für mein Forschungsvorhaben stellt sich damit ein Anknüpfungspunkt dar, wäre doch nun zu überprüfen, ob die Motivation zu Veränderungen hin zu einer Gestaltung einer menschengerechteren Arbeit neben betriebswirtschaftlichen Vorteilen auch in Handlungsmotivationen liegen könnte, die theologisch-ethisch begründet sind.
Im Bereich wirtschaftsethischer Literatur kann zwischen drei unterschiedlichen Disziplinen innerhalb der Wirtschaftsethik unterschieden werden: wirtschaftsethische Betrachtungen aus philosophischer, aus ökonomischer und aus theologischer Perspektive. In allen Bereichen gibt es Arbeiten, die Teilaspekte für die Beantwortung der hier zu stellenden Forschungsfrage liefern. Konkret zu der von mir untersuchten Problematik findet sich allerdings nichts.
Aus ökonomischer Perspektive werden sehr unterschiedliche Ansätze in die Debatte eingebracht, die teils völlig konträre Standpunkte vertreten. Die einen sind primär ökonomisch orientiert und vertreten den Ansatz eines Primats der Ökonomie vor der Ethik24, die anderen sind demgegenüber ethisch orientiert und propagieren ein Primat der Ethik vor der Ökonomie25. Zu unterscheiden sind hier noch einmal diejenigen Werke, die sich auf der Theorieebene befinden (die weitaus die Mehrzahl der Arbeiten darstellen), und diejenigen, die Anwendungsbezüge aufweisen. Grundsätzlich zeigt die Forschungslage, dass auch hier keine Ausführungen zur hier zu behandelnden Thematik zu finden sind.
Die Wirtschaftswissenschaftler Georges Enderle26 und Christopher Große27 bieten m. E. jedoch von ihrem Forschungsansatz her ein hohes Anknüpfungspotential für die vorliegende Arbeit. Beide zeigen durch ihre Versuche der Integration theologischer Überlegungen in ökonomisch-wirtschaftsethisches Denken -- Enderle28 am Beispiel der theologischen Wirtschaftsethik Arthur Richs und Große durch eine Befragung der christlichen Tradition – dass eine Integration möglich ist und auch von Seiten der Ökonomie Beachtung findet. Ebenso ist ihnen eine möglichst plausible Verbindung von Theorie und Praxis wichtig.
Wirtschaftsethische Konzepte oder Ansätze mit dezidiert protestantischtheologischer Fundierung stammen seit den 1980er Jahren von Arthur Rich29, Eilert Herms30, Traugott Jähnichen31 und Nils Ole Oermann32. Die erste grundlegende und systematische theologisch-wirtschaftsethische Betrachtung leistete Arthur Rich mit seinem zweibändigen Werk »Wirtschaftsethik«33. Rich prägte den Begriff des »Menschengerechten« für die theologische Debatte und bietet nach wie vor eine Grundlage für die aktuelle Auseinandersetzung mit wirtschaftsethischen Themen in theologischer Perspektive, indem er es zu einer zentralen Aufgabe machte, zwischen dem zu unterscheiden, was dem Menschen gerecht wird und dem was der Sache, hier der Ökonomie, gemäß ist. Rich bleibt auf der Theorieebene, liefert aber für vorliegende Arbeit den Impuls, das »Menschengerechte« im Kontext eines konkret-ethischen Problems zu konturieren.
Bei Eilert Herms Arbeiten ist es der Fokus, den er auf die anthropologische Dimension der Wirtschaftsethik richtet, der einen Ansatzpunkt für diese Arbeit, die sich auf die Suche nach Kriterien menschengerechter Ausbildungsbedingungen macht, bieten könnte. Als problematisch kann hingegen die von Herms vertretene Sicht auf das Bild eines homo oeconomicus-Modells der Ökonomie identifiziert werden, die es in einer Arbeit, die sich mit diesem Modell als Grundlage von Berechnungsmodellen in der Ökonomie beschäftigen muss, kritisch zu diskutieren gilt.
Der Theologe Traugott Jähnichen bietet mit seiner Bestimmung der Wirtschaftsethik als Bereichsethik eine Basis, von der ausgehend Wirtschaftsethik als Angewandte Ethik betrachtet werden kann. Dabei bleibt Jähnichen selbst jedoch auf der theoretischen Ebene der Reflexion wirtschaftsethischer Problemkonstellationen. Sein Ansatz eines »institutionalisierten Dialogs« zwischen den verschiedenen Fachwissenschaftsdisziplinen bietet hingegen einen Anknüpfungspunkt, den es im Rahmen einer interdisziplinären Arbeit weiter zu verfolgen gilt.
Nils Ole Oermann konzipiert als Theologe und Wirtschaftswissenschaftler eine theologische Wirtschaftsethik aus protestantischer Perspektive. Er integriert viele der wirtschaftsethischen Grundprämissen der anderen genannten Wirtschaftsethiker und verbindet auf plausible Weise theologische und philosophisch-ökonomische Ethik und Ökonomie miteinander zu einem Konzept Angewandter Ethik. Diese Forschungsarbeit zeigt, neben der Darlegung systematisch-theologischer Grundlagen speziell für eine Wirtschaftsethik, vor allem in einem empirischen Teil fünf Entwürfe für konkrete Anwendungsbezüge, die zwar auf eine globale Perspektive von Wirtschaftsethik ausgerichtet sind, aber dennoch den Anwendungsbezug, der in dieser Arbeit ebenso erfolgen soll, exemplarisch und damit impulsgebend veranschaulichen.
Zum Forschungsstand innerhalb der Theologie kann konstatiert werden, dass sich auch hier keine vergleichbaren Arbeiten finden lassen, die mein Forschungsanliegen aufgenommen hätten. Wobei die im Kontext theologischer Wirtschaftsethik vorgestellten Arbeiten mit den jeweiligen Bezügen, die sich zu dieser Arbeit herstellen lassen, ausgenommen werden müssen.
Teilweise für wirtschaftsethisch-theologische Erkenntnisse und hauptsächlich für die Charakterisierung des Paradigmas Öffentliche Theologie können zahlreiche Veröffentlichungen Heinrich Bedford-Strohms gelten, der ebenso durch die öffentliche Rede in Kirche und Gesellschaft zu Fragen der Bedeutung von Ökonomie Stellung bezieht34 und damit wichtige Impulse für die Verbindung von Öffentlichkeit, Bildung und Kirche gibt, die hier zentral aufgenommen werden sollen.35 Das Paradigma Öffentliche Theologie könnte damit zu einem Verbindungsglied zwischen Situationsanalyse der untersuchten Branche, theologischen Urteilskriterien und wirtschaftsethischer Bildung aus religionspädagogischer Perspektive werden, was geprüft werden muss.
Wendet man sich der Disziplin Religionspädagogik zu, so kann hier die Arbeit von Patrik Schneider36 »Wirtschaftsethik als Zündstoff für den Religionsunterricht in der dualen beruflichen Erstausbildung Baden-Württembergs« Erwähnung finden, ist es doch die einzige von theologisch-religionspädagogischer Seite, die sich dezidiert dem Berufsschulbereich und damit auch der Ausbildung zuwendet und sowohl Impulse wie auch Forschungslücken für die vorliegende Arbeit aufzeigt.
Schneider stellt fest, dass sich Ökonomie als didaktische und theologische Herausforderung für den Religionsunterricht an der Berufsschule erweist. Diese These teile ich und sie bildet einen Ausgangspunkt für mein Forschungsvorhaben im religionspädagogischen Teil der Arbeit. Weiter erkennt Schneider, dass die ökonomische Vorstellung selbst sich zum »dominierenden Marktparadigma« entwickelt habe und Ethik in diesem Kontext funktionalisiert werde. Wesentlich sei es von daher, dass religiöse Bildung den »Zusammenhang von Ökonomie und Demokratie erkennt«37 und auf das Gefahrenpotential, das in dieser Funktionalisierung von Ethik für den Einzelnen steckt, hinzuweisen. Er fordert daher »eine politische Didaktik, die erfahrungs-, subjekt-, lernprozess- und lösungsorientiert ist«38 und Schüler dazu befähigt, an der Entstehung einer humanen Gesellschaft mitzuwirken. Ebenso ist es ein Ziel, ihnen die »gesellschaftspolitische Bedeutung der biblischen Tradition«39 näher zu bringen. Hier setzt vorliegende Arbeit an, will aber in Erweiterung zu Schneiders Ansatz den Bildungsansatz wirtschaftsethischer Bildung weiter denken und auf den gesamten Bereich, d. h. alle beteiligten Personengruppen und Institutionen im Kontext beruflicher Bildung ausdehnen.
Das Feld religionspädagogischer Ansätze, die Impulse für wirtschaftsethische Bildung im Rahmen des Religionsunterrichts der Berufsschule geben, ist weit.40 So können Ausführungen über religionspädagogische Perspektiven zu ökonomischer Bildung, wie sie Thomas Retzmann und Thomas Schlag vorstellen, ebenso wie der Ansatz politischer Bildung aus religionspädagogischer Perspektive wichtige Erkenntnisse für Überlegungen zu wirtschaftsethischer Bildung im Kontext beruflicher Bildung geben, weil sie alle gemeinsam das Ziel verfolgen, durch Bildungsprozesse mündige Bürger und damit auch Wirtschaftsbürger zu ermöglichen.
Auch Arbeiten zu Ansätzen einer Öffentlichen Religionspädagogik haben sich in den letzten Jahren zunehmend etabliert und könnten daraufhin befragt werden, ob sie eine weitere Schnittstelle zwischen Erkenntnissen der Systematischen Theologie im Horizont einer Öffentlichen Theologie und dem wirtschaftsethischen Bildungsanliegen und -auftrag des Religionsunterrichts sein können.41 Ein Ansatz Öffentlicher Religionspädagogik könnte insofern Ansatzpunkte für das Forschungsvorhaben bieten, als er durch sein Übersetzungsanliegen versucht »christliche Perspektiven […] in allgemeinzugängliche Sprache und Argumentationsmuster öffentlicher Vernunft zu übersetzen«42, wie Manfred L. Pirner es formuliert. Damit verbindet sich »die spezielle Rationalität von Erziehung, Bildung und Schule«43 mit der Öffentlichkeit, der Theologie und der Religionspädagogik.
Die hier aufgezeigte Forschungslage zur Thematik prekärer Ausbildungsbedingungen in einer großen Wirtschaftsbranche als konkret-ethisches Problem begründet mein Forschungsanliegen, das Problem aus theologischethischer Perspektive mit der Frage der Integration ökonomischer Theorie und Handlungsrationalität und theologisch-ethischer Grundbescheide der jüdischchristlichen Tradition zu betrachten. Damit soll die Forschungslücke in diesem Bereich geschlossen werden, was ich nachfolgend in den Ausführungen zu Anliegen und Zielsetzung der Arbeit explizieren werde.
»Die Zukunftsfähigkeit einer Gesellschaft bemisst sich nicht zuletzt daran, welche Perspektiven und Zukunftschancen sie ihrer Jugend gibt. Es geht um die Fragen: Wachsen junge Menschen in einem menschlichen Klima und unter günstigen Bedingungen auf? Erfahren sie die nötige Zuwendung, Annahme, Akzeptanz und Förderung?«44
Diese Fragen wurden im gemeinsamen Wort der Kirchen zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland 1997 gestellt und erscheinen mir geeignet, das große Ziel dieser Arbeit, die Frage, ob eine aus theologisch-ethischer Perspektive definierte »Option Menschlichkeit« eine Option im Kontext ökonomischer Theorie und Handlungsrationalität sein kann, in der Potential für Veränderung hin zu einer menschengerechter gestalteten Arbeitswelt liegt, zu beantworten.
In einem weiten Sinne werden in dieser Aussage der Kirchen Fragen nach menschengerechter Arbeitsgestaltung und ethischer Bildung thematisiert: Was ist unter dem hier genannten »menschlichen Klima« in Gesellschaft oder Arbeitsleben zu verstehen? Wie kann dieses Klima erzeugt werden und wie sind die »günstigen Bedingungen« für die Jugend zu definieren?
Den Verfassern des Sozialwortes ging es um gesamtgesellschaftliche Bedingungen für Kinder und Jugendliche, ich fokussiere innerhalb dieses Bereichs die Berufsausbildung junger Menschen und so macht sich diese Arbeit auf der Basis der in der Einleitung genannten Problemlage prekärer Ausbildungsbedingungen in der Gastronomiebranche auf die Suche nach solchen »günstigen Bedingungen«, innerhalb derer die Attribute »Zuwendung, Annahme, Akzeptanz und Förderung« Realisierung und Anwendung im Kontext beruflicher Bildung finden.
Meine These dazu lautet:
Jungen Menschen die am Beginn ihres beruflichen Lebens stehen, müssen »Perspektiven und Chancen« durch die Praxis ihrer Ausbildung vermittelt werden, doch treffen die Attribute »Zuwendung, Annahme, Akzeptanz und Förderung« auf die Art und Weise, wie Ausbildung in vielen Unternehmen stattfindet, nicht zu.
So geht es zunächst darum, empirisch zu erfassen, wie sich die Ausbildungssituation der jungen Menschen konkret darstellt und wie sich die Bedingungen auf die Betroffenen auswirken. In einem zweiten Schritt besteht das Ziel darin, mögliche Gründe für die beschriebene Situation zu suchen. Eine weitere von mir vertretene These ist dabei:
Das im Unternehmensalltag als handlungsleitend propagierte ökonomische Prinzip der Gewinngenerierung und -maximierung anhand der Kriterien Effizienz und Rationalität führt dazu, dass Menschen in ihrem Arbeitsalltag unter der Umsetzung dieses ökonomischen Prinzips leiden und jungen Auszubildenden dabei Zukunftschancen und Perspektiven genommen werden.
Diese These werde ich exemplarisch an der Hotel- und Gastronomiebranche auf der unteren Ebene der Unternehmenshierarchie versuchen zu verifizieren.45 Dabei erwächst das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit auf der Basis der Erfahrungen meiner Schüler der Berufsschule.
Es soll jedoch nicht nur darum gehen, zu zeigen, wie die Anwendung des ökonomischen Prinzips dazu führen kann, dass Menschen unter ihren Arbeitsbedingungen massiv leiden oder Zukunftschancen verbaut werden, sondern ebenso darum, nach Optionen für Veränderungen von tradierten Argumentationsmustern innerhalb der Ökonomie zu suchen. Argumentationsmuster, die grundlegend für das Wissenschaftssystem der Ökonomie sind und damit auch in betriebswirtschaftlichen Konzepten auf der Unternehmensebene Anwendung finden. Häufig wird in diesem Kontext von sogenannten »Sachzwängen« gesprochen, die sich aus dem Gesamtsystem »Wirtschaft« zwangsweise für das Agieren in der Branche ergeben würden, wie eingangs bereits dargestellt wurde.46
Es mag nun den Anschein nehmen, es ginge hier um eine Fundamentalkritik der Marktwirtschaft oder marktwirtschaftlichen Handelns oder die Infragestellung von Gewinngenerierung und -maximierung und unternehmerischem Handeln in der Gesellschaft.47 Im Gegenteil wird das Wirtschaftssystem einer sozialen Marktwirtschaft, in reformierter Form, als durchaus geeignetes Modell sowohl für eine nationale als auch für eine globale Wirtschaft präferiert.48 Ebenso wird Unternehmertätigkeit und deren Bedeutung für die gesamte Gesellschaft hoch geschätzt und durchaus wahrgenommen, dass es Unternehmen gibt, die ihrer Ausbildungsverantwortung vorbildlich nachkommen. Das gilt auch für die hier betrachtete Branche. Es soll also gelingen, Probleme objektiv zu benennen, ohne dass dabei die ökonomische Theorie und die Komplexität wirtschaftlichen Handelns unbeachtet bleiben (Globalisierung, gegebene Marktstrukturen usw.). Nur auf dieser Basis können konstruktive Lösungen für Probleme erarbeitet werden.
Diesem Aspekt wird versucht Rechnung zu tragen, indem zunächst der betriebswirtschaftliche Rahmen der Branche dargestellt wird, um die realen Wirtschaftsbedingungen entsprechend wahrzunehmen und in die Bewertung und Urteilsbildung zu integrieren.49 Ziel ist es dann, das Problem im Ausbildungsbereich der Branche überhaupt als ein wirtschaftsethisches zu definieren. An dieser Stelle wird zum Beispiel auch der Frage nachgegangen, ob ein bestehender arbeitsrechtlicher Ordnungsrahmen ausreicht, um moralisches Handeln der Verantwortlichen in Unternehmen zu generieren, oder inwieweit vielleicht individuelle Verantwortungsübernahme der Zuständigen notwendig ist, um das im Sozialwort geforderte »menschliche Klima« für die Auszubildenden herzustellen. Also einer Frage, die den sozialethischen Rahmen, den das gewählte Zitat des Sozialwortes zunächst beschreibt, verlässt, und damit auch die Ebene individualethischer Fragen im Rahmen einer Verantwortungsethik thematisiert.
Dazu ist es ein zentrales Anliegen der Arbeit, die protestantische Theologie auf ihren inhaltlichen Gehalt für die Bewertung der aufgezeigten ökonomischen Situation zu befragen und zu überlegen, inwieweit ihr eine normgebende Funktion als Grundlage für die Entwicklung konkreter theoretischer Überlegungen sowie Handlungsalternativen innewohnt. Dabei unterscheide ich, in Anlehnung an Wilfried Härle, bei den vorliegenden Fragen und Problemstellungen jeweils individualethische sowie sozialethische Aspekte, zwischen denen eine grundsätzliche Wechselwirkung angenommen wird.
So ist beispielsweise die Person »Hotel-Unternehmerin« in ihrem Unternehmensalltag gefragt: »Was soll ich tun, wenn ich kein Personal zur Verfügung habe, Gäste im Haus sind und der 16-jährige Auszubildende bereits seine arbeitsrechtlich vorgegebene Ausbildungszeit für diesen Tag geleistet hat?«
Das hier aufgezeigte Dilemma enthält folgende, für eine Entscheidungsfindung wesentliche Aspekte:
Zunächst gilt es, den Aspekt der arbeitsrechtlichen Vorgaben zu beachten, der bei Zuwiderhandlung rechtliche Folgen nach sich ziehen kann. Weiterhin beinhaltet das Problem, ich nenne es das ökonomische Problem, dass Gäste im Haus versorgt werden müssen, die bestimmte Leistungen gebucht haben. Auch hier besteht wiederum ein Rechtsanspruch darauf, diese Leistungen zu erhalten. Die Gäste tragen aber auch dazu bei, dass Umsatz generiert werden kann.
Dieses Problem beinhaltet auf der individualethischen Ebene die Frage nach dem persönlichen Handeln der Unternehmerin als für den Auszubildenden Verantwortliche (ethische Dimension). Es macht aber auch die Verantwortung der Unternehmerin für das Wohl der Gäste als Kunden deutlich (ökonomische Dimension). Weitere Aspekte der ökonomischen Dimension sind die Einhaltung der Unternehmensaufträge, der Umsatz- bzw. Gewinngenerierung und der Wirtschaftlichkeit. An den akuten Fall anschließend stellt sich dann die Frage: Welchen Beitrag kann ich als Unternehmerin leisten um die Umstände, die zu solchen Situationen führen, entsprechend zu verändern?« (sozialethische Dimension).
Hieran wird deutlich, dass eine Trennung in zwei unabhängig voneinander zu betrachtende Ansätze von Ethik als Individual- und Sozialethik nicht sinnvoll erscheinen. Beide der aufgeworfenen Fragen lassen unterschiedliche Handlungsmöglichkeiten und -ziele zu, deren Lösung in diesem Beispiel durch eine Person erfolgen soll – die Unternehmerin. Könnte sie als Privatperson handeln, würde sie sich, neben der rechtlichen Verpflichtung, vielleicht auch aus moralischen Gründen (»er ist noch zu jung und schon körperlich erschöpft«) dafür entscheiden, den Auszubildenden nach Hause gehen zu lassen. Qua Funktion, Rolle und Position ist sie jedoch verpflichtet zur Aufrechterhaltung des Systems »Unternehmen«50 beizutragen (beispielsweise auch zur Verwirklichung des »sozialen« Ziels der Sicherung von Arbeitsplätzen im gesamten Unternehmen). Dies führt in der Realsituation wirtschaftlichen Handelns zu inneren Konflikten, die das Entscheiden und Handeln beeinflussen und keinesfalls marginalisiert werden können. Das Beispiel lässt das Spannungsverhältnis transparent werden, in das sich Vorgesetzte oder Unternehmensverantwortliche durch bestimmte betriebliche Vorgaben und Erwartungen gestellt sehen.
Genau hier setzt diese Arbeit an und versucht deutlich zu machen, wie fundamental wichtig es ist, das grundlegende Menschenbild zu klären, das hinter ökonomischem Handeln steht. Um Veränderungsprozesse anzuregen, die dazu führen, das aufgezeigte Konfliktpotential zu verkleinern, ist es m. E. wesentlich, dass sich ökonomische Theorie mit Fragen des Menschenbildes, das hinter ökonomischer Handlungstheorie steht, auseinandersetzt. Dabei geht es um das Verständnis des Menschen, seiner Würde und seiner Bedürfnisse. Auf der Basis solcher Überlegungen wird es möglich, so meine Annahme, ethische und ökonomische Prämissen zu verbinden.
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