Mit dem Elternbelügen ist es doch so: Man muss es tun, um sie zu schützen. Es ist das Beste für sie. Ich meine, nehmen wir beispielsweise meine Eltern. Wüssten sie, wie es in Wahrheit um meine Finanzen/mein Liebesleben/meine Verdauung/meine Steuern bestellt ist, würden sie auf der Stelle tot umfallen, und der Arzt würde sagen: »Sieht so aus, als hätte ihnen jemand einen Schock versetzt«, und alles wäre meine Schuld. Daher sind sie kaum zehn Minuten in meiner Wohnung, als ich ihnen bereits folgende Lügen aufgetischt habe:
L&N Executive Recruitment wird schon bald Gewinn abwerfen. Da bin ich mir ganz sicher.
Natalie ist eine wunderbare Geschäftspartnerin, und es war eine großartige Idee, meinen Job zu schmeißen und bei ihr als Headhunterin anzuheuern.
Selbstverständlich ernähre ich mich nicht ausschließlich von Pizza, Kirschjoghurt und Wodka.
Ja, das mit den Säumniszuschlägen auf Parktickets wusste ich.
Ja, ich habe mir die Charles-Dickens-DVD angesehen, die sie mir zu Weihnachten geschenkt haben. Fand ich gut, besonders die Frau mit der Haube. Genau, Peggotty. Die meine ich.
Ich wollte nächstes Wochenende sowieso einen Rauchmelder kaufen. Was für ein Zufall, dass sie es gerade erwähnen …
Ja, es ist schön, die ganze Familie mal wiederzusehen.
Sieben Lügen. Ohne das, was ich über Mums Outfit gesagt habe. Und »das Thema« haben wir noch nicht einmal angerissen.
Als ich im schwarzen Kleid mit eilig aufgetragener Wimperntusche aus meinem Schlafzimmer komme, sehe ich, dass Mum meine überfällige Telefonrechnung auf dem Kaminsims mustert.
»Keine Sorge«, sage ich eilig. »Wird umgehend erledigt.«
»Wenn nicht«, sagt Mum, »stellen sie dir das Telefon ab, und es dauert Ewigkeiten, bis du es wieder angeschlossen kriegst, und der Handyempfang ist hier doch eher schwach. Was ist, wenn was passiert? Was machst du dann?« Ihre Stirn ist vor Sorge gerunzelt. Sie sieht aus, als sei es schon so weit, als liege nebenan im Schlafzimmer eine schreiende Frau in den Wehen und draußen vor dem Fenster steige die Flut – und wie sollen wir jetzt einen Rettungshubschrauber rufen? Wie denn?
»Äh … daran hab ich gar nicht gedacht. Mum, ich bezahle die Rechnung. Ehrlich.«
Mum hat sich schon immer Sorgen gemacht. Dann bekommt sie dieses angespannte Lächeln mit leerem, ängstlichem Blick, und man weiß, dass sie innerlich gerade irgendein apokalyptisches Szenario durchspielt. So sah sie während meiner letzten Schulfeier aus und gestand mir später, sie habe gesehen, dass der Kronleuchter an einer altersschwachen Kette hing, und sei plötzlich wie besessen von der Vorstellung gewesen, er könnte uns Mädchen auf den Kopf fallen und in tausend Stücke zersplittern.
Jetzt zupft sie an ihrem schwarzen Kostüm herum, das Schulterpolster und so absurde Metallknöpfe hat. Sie versinkt förmlich darin. Ich erinnere mich vage an dieses Kostüm, von vor zehn Jahren, als sie eine Zeitlang zu Vorstellungsgesprächen ging und ich ihr einfachste Computerkenntnisse beibringen musste, etwa wie man eine Maus bedient. Am Ende ging sie zur Kinderwohlfahrt, die zum Glück keine Kleidervorschriften kennt.
Schwarz steht in meiner Familie niemandem. Dad trägt einen Anzug aus mattschwarzem Stoff, der wie ein Sack an ihm hängt. Eigentlich sieht er ganz gut aus, mein Dad, mit feinen Zügen, eher unauffällig. Sein Haar ist braun und dünn, Mutters dagegen blond und dünn wie meins. Beide sehen tadellos aus, wenn sie entspannt sind und sich auf eigenem Terrain befinden – zum Beispiel, wenn wir alle in Cornwall auf Dads klapprigem, alten Kahn sitzen und in Fleece-Jacken Pasteten futtern. Oder wenn Mum und Dad mit ihrem Amateurorchester spielen, wo sie sich auch kennengelernt haben. Heute ist allerdings keiner von uns entspannt.
»Und bist du jetzt so weit?« Mum mustert meine Strümpfe. »Wo sind deine Schuhe, Liebes?«
Ich sinke auf das Sofa. »Muss ich denn mit?«
»Lara !«, sagt Mum tadelnd. »Sie war deine Großtante. Und sie wurde immerhin hundertfünf.«
Dass meine Großtante hundertfünf war, hat mir Mum schon ungefähr hundertfünf Mal erzählt. Vermutlich weiß sie sonst nichts über sie.
»Na und? Ich kannte sie überhaupt nicht. Keiner von uns kannte sie. Das ist so was von bescheuert. Wieso latschen wir extra nach Potters Bar, für irgendeine alte Frau, die wir nie zu Gesicht bekommen haben?« Ich ziehe meine Schultern an und fühle mich wie eine schmollende Dreijährige, nicht wie eine erwachsene Siebenundzwanzigjährige, die eine eigene Firma hat.
»Onkel Bill und die anderen gehen auch hin«, sagt Dad. »Und wenn es denen nicht zu viel ist …«
»Es ist doch ein Familientreffen!«, wirft Mum fröhlich ein.
Meine Schultern verkrampfen sich. Ich bin allergisch gegen Familientreffen. Manchmal denke ich, wir wären als Pusteblumen besser dran – keine Familie, keine Vergangenheit, freischwebend mit dem Wind, jeder mit seinem eigenen, puscheligen Fallschirm.
»Es wird bestimmt nicht lange dauern«, versucht Mum, mich zu beschwichtigen.
»Wird es wohl!« Ich starre den Teppich an. »Und alle werden mich fragen nach… danach.«
»Nein, werden sie nicht!«, sagt Mum sofort und wirft Dad einen Blick zu, auch mal was zu sagen. »Bestimmt fragt dich niemand … danach.«
Schweigen. »Das Thema« hängt in der Luft. Es ist, als wollten wir es nicht sehen. Schließlich springt Dad ein.
»Also! Da wir gerade… davon sprechen …« Er zögert. »Bist du mehr oder weniger … okay?«
Ich sehe, dass Mum auf Alarmstufe Rot ist, auch wenn sie so tut, als würde sie ihr Haar kämmen.
»Ach, weißt du«, sage ich nach einer Pause. »Mir geht’s ganz gut. Ich meine, man kann ja nicht erwarten, dass man so einfach wieder …«
»Nein, natürlich nicht!« Dad weicht sofort zurück. Dann versucht er es noch mal. »Aber du bist… guter Dinge?«
Ich nicke.
»Schön!«, sagt Mum und wirkt erleichtert. »Ich wusste, du kommst über … darüber hinweg.«
Meine Eltern sprechen den Namen »Josh« nicht mehr aus, weil ich mich jedes Mal in ein schluchzendes Häufchen Elend verwandelt habe, sobald sein Name fiel. Eine Weile nannte meine Mutter ihn nur Der, von dem wir hier nicht sprechen wollen . Inzwischen ist er nur noch »das Thema«.
»Und du hast keinen… Kontakt zu ihm?« Dad sieht überall hin, nur nicht zu mir, und Mum scheint mit ihrer Handtasche beschäftigt zu sein.
Auch das ist ein Euphemismus. Bedeuten soll es eigentlich: »Hast du ihm noch mehr manische SMS geschrieben?«
»Nein«, sage ich und laufe rot an. »Hab ich nicht, okay?«
Es ist echt unfair von ihm, wieder damit anzufangen. Im Grunde wurde die ganze Sache völlig aufgebauscht. Ich habe Josh nur hin und wieder eine SMS geschrieben. Dreimal täglich, wenn überhaupt. Fast keine. Und sie waren nicht manisch. Sie waren nur offen und ehrlich, was man im Übrigen in einer Beziehung sein sollte.
Ich meine, man kann doch seine Gefühle für jemanden nicht einfach abstellen, nur weil der andere es tut, oder? Man kann nicht einfach sagen: »Ach, so! Du möchtest also, dass wir uns nie wieder sehen, nie wieder lieben, nie wieder miteinander sprechen oder sonst wie kommunizieren. Tolle Idee, Josh. Wieso bin ich nicht selbst darauf gekommen?«
Also schreibt man seine wahren Gefühle in eine SMS, weil man sie mitteilen möchte, und plötzlich ändert dein Exfreund seine Handynummer und erzählt alles deinen Eltern. Die Petze.
»Lara, ich weiß, du warst sehr verletzt und hattest eine schwere Zeit.« Dad räuspert sich. »Aber das geht nun schon zwei Monate so. Du musst dein Leben leben, Liebes. Dich mit anderen jungen Männern verabreden … geh raus und amüsier dich …«
Oh, mein Gott, ich ertrage nicht noch einen von Dads Vorträgen darüber, wie viele Männer einer Schönheit wie mir zu Füßen liegen. Ich meine, erstens gibt es keine Männer mehr auf dieser Welt, das weiß doch jeder. Und außerdem geht ein blasses, stupsnasiges Mädchen von eins sechzig nicht eben als »Schönheit« durch.
Okay. Ich weiß, manchmal sehe ich ganz gut aus. Ich habe ein herzförmiges Gesicht, grüne Augen und ein paar kleine Sommersprossen auf der Nase. Als i-Tüpfelchen habe ich noch diesen Schmollmund, den niemand sonst in der Familie hat. Aber eins ist mal sicher: Ich bin bestimmt kein Supermodel.
»Habt ihr das auch so gemacht, als ihr euch damals in Polzeath getrennt hattet? Ihr seid einfach losgegangen und habt euch den Nächstbesten geschnappt?« Ich kann mich nicht beherrschen, obwohl die Geschichte uralt ist. Dad seufzt und tauscht Blicke mit Mum.
»Wir hätten es ihr nie erzählen sollen«, murmelt sie und wischt sich die Stirn. »Wir hätten es für uns behalten sollen.«
»Denn wenn ihr das getan hättet«, fahre ich unerschütterlich fort, »wärt ihr nie wieder zusammengekommen, oder? Dad hätte nie gesagt, dass er der Bogen deiner Geige ist, und ihr hättet nie geheiratet.«
Dieser Spruch mit dem Bogen und der Geige ist mittlerweile eine Familienlegende. Ich habe die Geschichte schon zigmillionen Mal gehört. Dad stand bei Mum vor der Tür, total verschwitzt, weil er mit dem Fahrrad gekommen war, und sie hatte geweint, tat aber so, als sei sie erkältet, und sie vertrugen sich wieder, und Oma brachte Tee und Kekse. (Ich weiß nicht, was die Kekse damit zu tun haben, aber sie werden jedes Mal extra erwähnt).
»Lara, Liebes.« Mum seufzt. »Das war doch was ganz anderes, weil wir schon drei Jahre zusammen waren. Wir waren immerhin verlobt …«
»Ich weiß!«, gebe ich trotzig zurück. »Ich weiß, dass es was anderes war. Ich sage ja nur, dass Leute manchmal wieder zusammenfinden. Es kommt vor.«
Schweigen.
»Lara, du warst schon immer eine romantische Seele…«, setzt Dad an.
»Ich bin nicht romantisch!«, rufe ich, als wäre es eine Beleidigung. Ich starre den Teppich an, reibe mit dem Zeh am Flor herum, doch aus den Augenwinkeln sehe ich, dass Mum und Dad sich gegenseitig auffordern, etwas zu sagen. Mum schüttelt den Kopf und deutet auf Dad, als wollte sie sagen: »Mach du!«
»Wenn man sich von jemandem trennt«, setzt Dad seltsam hastig wieder an, »blickt man leicht zurück und denkt, das Leben wäre perfekt, wenn man wieder zusammenkäme. Aber …« Gleich wird er mir erzählen, dass das Leben wie ein Fahrstuhl ist – mal geht’s rauf, mal runter. Ich muss ihm zuvorkommen, und zwar schnell.
»Dad. Hör zu. Bitte.« Irgendwie schaffe ich es, ruhig zu bleiben. »Du hast da was falsch verstanden. Ich will nicht wieder mit Josh zusammen sein.« Ich versuche, so zu klingen, als sei die bloße Vorstellung absurd. »Deswegen habe ich ihm doch keine SMS geschrieben. Ich wollte einen Schlussstrich ziehen. Ich meine, er hat ohne Vorwarnung, ohne ein Wort der Erklärung einfach mit mir Schluss gemacht. Keine Ahnung, warum. Es ist so … ungeklärt. Es ist, als würde man einen Agatha-Christie-Roman lesen, ohne zu erfahren, wer der Täter war!«
So. Das werden sie verstehen.
»Tja«, sagt Dad nach einer Weile. »Ich kann deine Enttäuschung verstehen …«
»Ich wollte verstehen, was in Joshs Kopf vorgegangen ist«, sage ich so überzeugend wie möglich. »Darüber sprechen. Mit ihm reden, wie zivilisierte, menschliche Wesen.«
Und wieder mit ihm zusammenkommen, wie ich im Stillen hinzufüge – ein lautloser Pfeil der Wahrheit. Weil ich weiß, dass Josh mich noch immer liebt, selbst wenn niemand sonst daran glaubt.
Aber es hat keinen Sinn, meinen Eltern so etwas zu sagen. Sie würden es nie verstehen. Wie sollten sie auch? Sie haben ja keine Ahnung, wie gut Josh und ich zusammenpassten, was für ein perfektes Paar wir waren. Sie begreifen nicht, dass er offenbar in Panik einen übereilten Entschluss gefasst hat, wie ein kleiner Junge, der Muffensausen bekommt. Vermutlich gab es gar keinen echten Grund, und wenn ich nur mit ihm reden könnte, ließe sich bestimmt alles klären und wir wären wieder zusammen.
Manchmal komme ich mir vor, als wäre ich meinen Eltern weit voraus, so wie es Einstein ergangen sein muss, wenn seine Freunde sagten: »Das Universum ist flach, Albert, glaub es uns«, und insgeheim dachte er: »Ich weiß, dass es gekrümmt ist. Eines Tages werde ich es euch beweisen.«
Mum und Dad treiben sich wieder heimlich gegenseitig an. Ich sollte sie aus ihrem Elend befreien.
»Jedenfalls müsst ihr euch um mich keine Sorgen machen«, sage ich hastig. »Denn ich bin darüber hinweg. Ich meine, okay, vielleicht bin ich noch nicht ganz darüber hinweg«, räume ich ein, als ich ihre zweifelnden Mienen sehe, »aber ich habe mich damit abgefunden, dass Josh nicht reden will. Mir ist klar geworden, dass es nicht hat sein sollen. Ich habe eine Menge über mich gelernt, und … ich bin gut drauf. Echt.«
Das Lächeln ist mir ins Gesicht gemeißelt. Mir ist, als würde ich das Mantra irgendeiner durchgeknallten Sekte singen. Ich sollte ein Gewand tragen und Tamburin schlagen.
Hare, hare … ich bin drüber weg … hare, hare … ich bin gut drauf …
Dad und Mum tauschen Blicke. Ich habe keine Ahnung, ob sie mir glauben, aber wenigstens habe ich uns allen einen Ausweg aus diesem heiklen Gespräch ermöglicht.
»Das wollte ich hören!«, sagt Dad und sieht erleichtert aus. »Sehr gut, Lara! Ich wusste, du schaffst es. Und außerdem musst du dich auf deine Firma mit Natalie konzentrieren, wo sie doch so gut läuft …«
Mein Lächeln wird noch sektenartiger.
»Absolut!«
Hare, hare … meine Firma läuft gut … hare, hare … sie ist gar keine Katastrophe …
»Ich bin so froh, dass das überstanden wäre.« Mum kommt herüber und küsst meine Stirn. »Aber jetzt sollten wir uns beeilen. Such dir ein paar schwarze Schuhe, hopp, hopp!«
Seufzend stehe ich auf und schleppe mich ins Schlafzimmer. Es ist ein schöner, sonniger Tag. Aber ich werde ihn bei einer unseligen Familienfeier für eine tote Hundertfünfjährige verbringen. Manchmal ist das Leben richtig scheiße.
Als wir auf den trübsinnigen, kleinen Parkplatz des Bestattungsinstitutes in Potters Bar einscheren, fällt mir ein Pulk von Menschen vor dem Seiteneingang auf. Dann sehe ich eine Fernsehkamera, und ein flauschiges Mikrofon wippt über den Köpfen.
»Was ist da los?« Ich spähe aus dem Fenster. »Hat das irgendwas mit Onkel Bill zu tun?«
»Vermutlich.« Dad nickt.
»Ich glaube, jemand dreht eine Dokumentation über ihn«, wirft Mum ein. »Trudy sagte irgendwas in der Art. Für sein Buch.«
So was kommt vor, wenn man Prominenz in der Verwandtschaft hat. Man gewöhnt sich an die Fernsehkameras. Und an Leute, die – wenn man sich vorstellt – sagen: »Lington? Irgendwie verwandt mit Lingtons Coffee, haha?«, und dann platt sind, wenn man mit »Ja« antwortet.
Mein Onkel Bill ist der Bill Lington, der im Alter von sechsundzwanzig Jahren Lingtons Coffee aus dem Nichts gestampft und zu einem weltweiten Imperium von Coffeeshops ausgebaut hat. Sein Gesicht ist auf jedem einzelnen Kaffeebecher abgebildet, wodurch er noch berühmter als die Beatles und solche Leute ist. Jeder kennt ihn. Und momentan steht er sogar noch mehr im Rampenlicht als sonst, weil letzten Monat seine Autobiografie Zwei Kleine Münzen erschienen ist und zum Bestseller wurde. Angeblich soll Pierce Brosnan ihn in der Verfilmung spielen.
Natürlich habe ich es von vorn bis hinten gelesen. Es geht darum, wie er sich von seinen letzten zwanzig Pence einen Kaffee gekauft hat, der so scheußlich schmeckte, dass ihm die Idee mit den Coffeeshops kam. Also hat er erst einen eröffnet, dann eine ganze Kette, und jetzt gehört ihm mehr oder weniger die ganze Welt. Sein Spitzname ist »Der Alchemist«, und die versammelte Geschäftswelt möchte natürlich wissen, was sein Erfolgsgeheimnis ist. Jedenfalls stand das so letztes Jahr in der Zeitung.
Deshalb gibt er seine »Zwei Kleine Münzen«-Seminare. Vor Monaten habe ich eines davon heimlich besucht. Um mir ein paar Tipps zu holen, wie man eine neue Firma etabliert. Zweihundert Leute saßen da und sogen jedes Wort in sich auf, und am Ende mussten wir alle zwei Münzen hochhalten und sagen: »Damit fange ich an.« Es war total abgeschmackt und peinlich, aber alle um mich herum machten einen wirklich inspirierten Eindruck. Ich persönlich habe die ganze Zeit aufmerksam zugehört und weiß immer noch nicht, wie er es gemacht hat.
Ich meine, er war erst sechsundzwanzig, als er seine erste Million machte. Sechsundzwanzig! Er hat ein Unternehmen gegründet und hatte sofort Erfolg. Ich dagegen habe vor einem halben Jahr ein Unternehmen gegründet und hatte sofort Kopfschmerzen.
»Vielleicht schreibst du eines Tages mit Natalie ein Buch über eure Firma!«, sagt Mum, als könnte sie meine Gedanken lesen.
»Ihr werdet die Welt beherrschen«, stimmt Dad freudig mit ein.
»Da, ein Eichhörnchen!« Eilig deute ich aus dem Fenster. Meine Eltern haben mich bei meinem Einstieg in die Selbständigkeit so sehr unterstützt, dass ich ihnen einfach nicht die Wahrheit sagen kann. Also wechsle ich das Thema jedes Mal, wenn sie davon anfangen.
Korrekterweise müsste ich hinzufügen, dass Mum mich nicht vom allerersten Moment an unterstützt hat. Sie erlitt nämlich erst einmal einen Nervenzusammenbruch, als ich verkündete, ich wollte meinen Job im Marketing aufgeben und mich mit meinem Ersparten als Headhunterin etablieren, obwohl ich in meinem ganzen Leben weder je Headhunterin gewesen war, noch irgendeine Ahnung davon hatte.
Sie beruhigte sich erst, als ich ihr erklärte, dass ich mich geschäftlich mit meiner besten Freundin Natalie zusammentun wollte. Und dass Natalie bereits eine erfolgreiche Headhunterin ist und anfangs das eigentliche Geschäft übernehmen wollte, während ich mich um den Schreibkram kümmerte und dabei die Kunst der Headhunterei lernte. Und dass wir bereits mehrere Verträge in Aussicht hätten und den Bankkredit in null Komma nichts zurückzahlen könnten.
Es schien ein wunderbarer Plan zu sein. Es war ein wunderbarer Plan. Bis vor einem Monat, als Natalie in Goa Urlaub machte, sich in einen Surfertypen verliebte und mir per SMS mitteilte, sie wüsste nicht genau, wann sie wiederkäme, aber alles Wissenswerte sei im Computer und ich würde schon zurechtkommen und die Brandung sei absolut grandios, da sollte ich echt mal hinfahren, dicken Kuss Natalie xxxxx.
Mit Natalie gründe ich nie wieder eine Firma. Nie, nie wieder.
»Und ist das Ding jetzt aus?« Wahllos tippt Mum auf ihr Handy ein. »Ich möchte nicht, dass es bei der Trauerfeier losgeht. «
»Lass mal sehen.« Dad biegt in eine Parklücke ein, macht den Motor aus und nimmt ihr das Handy aus der Hand. »Stell es doch stumm.«
»Nein!«, sagt Mum entsetzt. »Es soll aus sein! Wer weiß, ob die Stummschaltung auch funktioniert!«
»Dann eben so.« Dad drückt auf den Knopf an der Seite. »Alles aus.« Er gibt Mum das Handy zurück. Sie beäugt es skeptisch.
»Und was ist, wenn es sich da unten in meiner Tasche irgendwie von selbst anstellt?« Flehentlich sieht sie uns beide an. »Das ist Mary im Bootsclub passiert. Das Ding ist einfach in ihrer Handtasche losgegangen und hat geklingelt, als sie Schiedsrichterin beim Wettrennen war. Die haben gesagt, wahrscheinlich ist sie dagegen gekommen oder irgendwas …«
Ihre Stimme wird immer lauter und atemloser. Das ist der Moment, in dem meine Schwester Tonya normalerweise die Geduld verliert und ausrastet. »Stell dich nicht so blöd an, Mum! Dein Handy kann doch nicht von allein angehen!«
»Mum.« Sanft nehme ich es ihr aus der Hand. »Wie wäre es, wenn wir es im Auto lassen?«
»Ja.« Sie entspannt sich ein wenig. »Das ist eine gute Idee. Ich lege es ins Handschuhfach.«
Ich sehe Dad an, der lächelt. Arme Mum. Der ganze Blödsinn, der ihr immer durch den Kopf geht. Sie hat das Gespür für die richtigen Relationen verloren.
Auf dem Weg zum Bestattungsinstitut höre ich Onkel Bills markante Stimme, und da steht er auch schon, als wir uns durch die kleine Menge drängen, in Lederjacke, braungebrannt, mit federndem Haar. Alle Welt weiß, dass Onkel Bill von seinen Haaren besessen ist. Sie sind dick und voll und pechschwarz, und sollte irgendeine Zeitung auch nur andeuten, er würde sie färben, droht er mit einer Klage.
»Die Familie ist das Allerwichtigste«, sagt er einem Reporter in Jeans. »Die Familie ist der Fels, auf dem wir alle stehen. Wenn ich meine Termine für eine Beerdigung absagen muss, dann ist es eben so.« Ich sehe die Bewunderung, die sich in der Menge breitmacht. Ein Mädchen mit einem Lingtons-Becher in der Hand, wendet sich zur Seite und flüstert ihrer Freundin zu: »Er ist es tatsächlich!«
»Vielleicht können wir es dabei belassen…« Einer von Onkel Bills Assistenten tritt an einen Kameramann heran. »Bill muss zur Bestattung. Vielen Dank. Nur noch ein paar Autogramme …«, sagt er zu den Umstehenden.
Wir warten geduldig etwas abseits, bis Onkel Bill mit einem Filzer auf alle Kaffeebecher und Bestattungsbroschüren gekritzelt hat, wobei die Kameras ihn filmen. Dann endlich zerstreuen sich die Autogrammjäger, und Onkel Bill kommt zu uns herüber.
»Hi, Michael. Schön, dich zu sehen.« Er gibt Dad die Hand, dann dreht er sich abrupt zu einem Assistenten um. »Hast du Steve schon am Apparat?«
»Hier.« Eilig reicht der Assistent Onkel Bill ein Handy.
»Hallo, Bill!« Dad ist immer ausnehmend höflich zu Onkel Bill. »Ist schon eine Weile her. Wie geht es dir? Glückwunsch zu deinem Buch!«
»Und danke für das signierte Exemplar!«, wirft Mum fröhlich ein.
Bill nickt uns allen kurz zu, dann spricht er ins Telefon. »Steve, ich hab deine E-Mail bekommen.« Mum und Dad tauschen Blicke. So viel zum großen Wiedersehen.
»Lass uns mal nachsehen, wohin wir sollen«, raunt Mum Dad zu. »Lara, kommst du?«
»Ich bleib lieber noch einen Moment hier draußen«, sage ich spontan. »Ich komm gleich nach!«
Ich warte, bis meine Eltern verschwunden sind, dann rücke ich näher an Onkel Bill heran. Ich hatte plötzlich eine teuflische Idee. Bei diesem Seminar sagte Onkel Bill, der Schlüssel für den Erfolg eines Unternehmers sei es, jede Gelegenheit wahrzunehmen. Und schließlich bin ich Unternehmerin, oder? Und das hier ist eine Gelegenheit, oder?
Ich warte, bis es scheint, als hätte er sein Gespräch beendet, dann sage ich zögernd: »Hi, Onkel Bill. Könnte ich dich einen Moment sprechen?«
»Warte.« Er hebt die Hand und hält sein BlackBerry ans Ohr. »Hi, Paulo. Was gibt’s?«
Sein Blick schwenkt zu mir herüber, und er zwinkert, was offenbar heißt, dass ich reden soll.
»Wusstest du, dass ich inzwischen Headhunterin bin?« Ich lächle unsicher. »Ich habe mich mit einer Freundin zusammengetan. Wir nennen uns L&N Executive Recruitment. Dürfte ich dir ein bisschen über unsere Firma erzählen?«
Onkel Bill runzelt die Stirn und sieht mich einen Moment nachdenklich an, dann sagt er: »Augenblick mal, Paulo.«
Oh, wow! Er unterbricht sein Telefonat! Für mich!
»Wir haben uns darauf spezialisiert, hochqualifizierte, motivierte Leute für leitende Positionen zu suchen«, sage ich und versuche, nicht zu haspeln. »Ich dachte, vielleicht könnte ich mit jemandem in deiner Personalabteilung sprechen und ihm mal erklären, wie wir arbeiten. Vielleicht können wir da irgendwie zusammenkommen …«
»Lara.« Onkel Bill hebt eine Hand, um mich zu unterbrechen. »Was würdest du sagen, wenn ich dich mit meiner Personalchefin zusammenbringen und ihr sagen würde: ›Das ist meine Nichte, geben Sie ihr eine Chance‹?«
Ich spüre, wie in mir die reine Freude explodiert. Ich möchte Halleluja singen. Es hat sich gelohnt, aufs Ganze zu gehen!
»Ich würde sagen: ›Vielen Dank, Onkel Bill!‹, bringe ich hervor und versuche, ruhig zu bleiben. »Ich würde alles geben, ich würde rund um die Uhr arbeiten. Ich wäre so dankbar …«
»Nein.« Er unterbricht mich. »Wärst du nicht. Du hättest keinen Respekt vor dir.«
»W-was?« Ich stutze.
»Ich sage nein.« Mit strahlend weißem Lächeln sieht er mich an. »Ich tue dir nur einen Gefallen, Lara. Wenn du es aus eigener Kraft schaffst, geht es dir viel besser. Dann hast du das Gefühl, dass du es auch verdient hast.«
»Ach so.« Ich schlucke. Meine Wangen brennen vor Verlegenheit. »Ich meine, ich will es mir ja verdienen. Ich will hart arbeiten. Ich dachte nur, vielleicht …«
»Wenn ich es mit zwei kleinen Münzen schaffen konnte, Lara, kannst du es auch.« Er sieht mir einen Moment lang in die Augen. »Glaub an dich. Glaub an deinen Traum. Hier.«
Oh, nein. Bitte nicht. Er greift in seine Tasche und hält mir zwei Zehn-Pence-Stücke hin.
»Das sind deine zwei kleinen Münzen.« Mit tiefem, ernstem Blick sieht er mich an, genauso wie er es im Fernsehen macht. »Lara, schließe die Augen. Fühl es. Glaub es. Sag: ›Damit fange ich an.‹«
»Damit fange ich an«, murre ich und winde mich. »Danke.«
Onkel Bill nickt, dann widmet er sich wieder seinem Handy. »Paulo. Entschuldige bitte.«
Mir ist ganz heiß vor Scham, als ich mich davonmache. So viel zum Wahrnehmen von Gelegenheiten. So viel zu Kontakten. Ich will nur noch diese elende Beerdigung hinter mich bringen und nach Hause.
Ich gehe ums Gebäude und durch die gläsernen Eingangstüren ins Bestattungsinstitut, wo ich mich in einem Foyer mit Polstersesseln, Taubenbildern und stickiger Luft wiederfinde. Es ist niemand da, nicht mal am Empfang.
Plötzlich höre ich hinter einer hellen Holztür ein Singen. Scheiße. Es hat schon angefangen. Ich verpasse es gerade. Eilig stoße ich die Tür auf und sehe vollbesetzte Bänke. Der Raum ist so überfüllt, dass die hinten Stehenden Platz machen müssen. So unauffällig wie möglich suche ich mir eine Lücke.
Auf der Suche nach Mum und Dad sehe ich mich um, überwältigt von den vielen Menschen. Und den Blumen. Links und rechts stehen prächtige Arrangements in Weiß und Creme. Vorn singt eine Frau Andrew Lloyd Webbers »Pie Jesu«, aber vor mir stehen so viele Leute, dass ich nichts sehen kann. Ganz in der Nähe schniefen welche, und einem Mädchen laufen die Tränen nur so übers Gesicht. Ich bin etwas bestürzt. All diese Menschen sind wegen meiner Großtante gekommen, und ich kannte sie überhaupt nicht.
Ich habe nicht mal Blumen geschickt, wie mir beschämenderweise bewusst wird. Hätte ich eine Karte schreiben sollen oder irgendwas? Oh Gott, ich hoffe, Mum und Dad haben sich darum gekümmert.
Die Musik ist so hübsch, und die Atmosphäre so emotional aufgeladen, dass ich plötzlich merke, wie meine Augen brennen. Neben mir steht eine alte Dame mit schwarzem Samthut, die mich mitfühlend ansieht.
»Haben Sie ein Taschentuch, Kindchen?«, flüstert sie.
»Nein«, muss ich zugeben, und sie klappt sofort ihre große, altmodische Handtasche auf. Ein Duft von Kampfer steigt hervor, und ich sehe mehrere Brillen, eine Schachtel Pfefferminz, ein Päckchen Haarnadeln und ein halbes Paket Verdauungskekse.
»Bei einer Beerdigung sollte man immer ein Taschentuch dabeihaben. « Sie hält mir die Packung hin.
»Danke.« Ich schlucke und nehme eins. »Das ist wirklich nett. Ich bin übrigens die Großnichte.«
Sie nickt mitfühlend. »Das ist eine schwere Zeit für Sie. Wie nimmt es die Familie auf?«
»Ach … na ja …« Ich falte das Taschentuch zusammen und überlege, was ich antworten soll. Ich kann ja nicht gut sagen: Es kümmert keinen so richtig. Onkel Bill steht sogar noch mit seinem BlackBerr y draußen vor der Tür. »In dieser Zeit müssen wir füreinander da sein«, improvisiere ich schließlich.
»Das stimmt.« Die alte Dame nickt feierlich, als hätte ich etwas wirklich Weises gesagt und nicht etwas, das auf jeder zweiten Beileidskarte steht. »In dieser Zeit müssen wir füreinander da sein.« Sie nimmt meine Hände. »Ich habe jederzeit ein offenes Ohr für Sie, mein Kind. Es ist mir eine Ehre, eine von Berts Verwandten kennenzulernen.«
»Danke … «, sage ich automatisch, dann stutze ich.
Bert?
Ich bin mir ziemlich sicher, dass meine Tante nicht Bert hieß. Eigentlich weiß ich es genau. Sie hieß Sadie.
»Wissen Sie, Sie sehen ihm ausgesprochen ähnlich.« Die Frau betrachtet mein Gesicht.
Scheiße. Ich bin auf der falschen Beerdigung.
»Irgendwie um die Stirn herum. Und Sie haben seine Nase. Hat Ihnen das schon mal jemand gesagt?«
»Äh … hin und wieder!«, sage ich blindlings. »Ehrlich gesagt, muss ich langsam los … äh … vielen Dank für das Taschentuch …« Eilig trete ich den Rückzug zur Tür an.
»Das ist Berts Großnichte«, höre ich die alte Dame hinter mir. »Sie ist sehr mitgenommen, die Ärmste.«
Ich stürze mich förmlich auf die helle Holztür und finde mich im Foyer wieder, lande beinah auf Mum und Dad. Sie stehen bei einer mir unbekannten Frau mit wollgrauem Haar und einem Stapel Broschüren in der Hand. »Lara! Wo warst du?« Erstaunt starrt Mum die Tür an. »Was hast du da drinnen gemacht?«
»Waren Sie bei Mr. Cox’ Trauerfeier?« Die grauhaarige Frau wirkt überrascht.
»Ich hatte mich verirrt!«, sage ich trotzig. »Ich wusste nicht, wohin ich sollte! Da müssten Hinweise an den Türen sein!«
Schweigend hebt die Frau ihre Hand und deutet auf ein Plastikschild über der Tür. »Bertram Cox – 13:30 Uhr«. Verdammt. Wieso hab ich das nicht bemerkt?
»Na, egal.« Ich versuche, meine Würde zu wahren. »Gehen wir. Damit wir noch einen Platz kriegen.«