Manfred Böckl

Svenja und der Hexenjäger

Manfred Böckl, geboren 1948 in Landau/Isar, lebt heute als freier Schriftsteller im Bayerischen Wald. Sein Gesamtwerk umfasst derzeit etwa siebzig Romane und Sachbücher mit einer Gesamtauflage von rund einer Million. Verschiedene seiner Bücher wurden in andere Sprachen übersetzt.

Manfred Böckls Jugendbuch »Svenja und der Hexenjäger« wurde nach dem erstmaligen Erscheinen 1995 von der »Göttinger Jugendbuch-Crew« als »Buch des Monats« ausgezeichnet.

Manfred Böckl

Svenja und der Hexenjäger

Für Katharina Grueber

Sie war vierzehn Jahre alt, als sie am neunten Januar 1692 im
Bistum Regensburg als »Hexe« verbrannt wurde.

Inhalt

Die Rosenburg

Der Mann im Wald

Asgards Buch

Die Sigmaringer

Die Kate

Der Hexenjäger

Schäferhans und Drachenmaul

Auf dem Gauklerwagen

Der Kerker

Die Scheiterhaufen von Kappel

Der Talgrund

Erklärung wichtiger Begriffe und Namen im Text

Historische Daten

Die Rosenburg

Über den Donauauen, gegen die Dörfer Laupheim und Schemmerhofen hin, waberten die Morgennebel. Noch ein Stück weiter östlich, wo die Sonne gerade erst eine Handbreit über dem Horizont hing, schien das Schwabenland zu bluten.

Svenja fröstelte und drückte sich enger in die Fensternische hoch oben im Söller der Burg. Der Wolfspelz, den sie von der verlassenen Bettstatt der ritterlichen Familie gezerrt hatte, kratzte auf ihrer Haut. Und doch hätte das achtjährige Mädchen mit dem kastanienfarbenen Haar und den grünen Augen die raue Berührung nicht missen wollen, denn in den Haaren der Felldecke schien noch immer ein bisschen Körperwärme des Vaters zu hängen.

Zumindest in Svenjas Einbildung war diese Wärme da, auch wenn Gernot der Rosenburger schon lange vor Morgengrauen aufgestanden war, um sich von seinem Knappen wappnen zu lassen. Asgard, Svenjas Mutter, war zur gleichen Zeit mit der Rapsölfunzel nach unten verschwunden, um die Mägde im Küchengewölbe auf Trab zu bringen. Stundenlang hatte es dann in der Festung gescheppert und geklirrt wie in einer Schmiede und gesummt wie in einem Bienenstock. Draußen im Brunnenhof waren die Rösser zusammengetrieben und aufgesattelt worden. Vom Meierhof und den anderen Lehensgütern rings um die Rosenburg waren die dienst-pflichtigen Reisigen des Ritters eingetroffen. Die Bauernburschen hatten gelärmt, Witze gerissen und ab und zu Hochrufe auf den Kaiser ausgebracht. Svenja hatte die ganze Zeit verloren in ihrer Nische gekauert, doch zuletzt hatte ihr Vater sie nach unten in den Wappensaal holen lassen.

In seinem Kettenpanzer hatte er schwerfällig wie ein Bär gewirkt, als er sie umarmt und ihr zugeraunt hatte: »Mutter und du, ihr müsst gut auf die Burg aufpassen, während ich in Italien bin! Versprichst du mir das, mein Herz?«

Svenja hatte verwirrt genickt und gedacht: Warum bleibst du denn nicht bei uns, Vater?! Immerhin hatte sie es geschafft, ihre Tränen zurückzuhalten, und dann hatte der Ritter sie noch einmal an das harte Kettenhemd gedrückt und hinzugefügt: »Langer Abschied, langer Schmerz! Geh jetzt zurück in den Söller, mein Mädchen, sonst gerätst du am Ende draußen im Hof noch unter die Hufe!«

Während Asgard bei ihrem Gatten geblieben war, hatte Svenja wortlos gehorcht, und nun sah sie durch den Fensterschlitz, wie Gernot der Rosenburger auf den Trittstein neben dem Brunnen kletterte und sich von dort aus in den Sattel seines fuchsroten Streithengstes schwang. Der Knappe reichte ihm Schild und Lanze zu und stieg dann ebenfalls aufs Pferd. Hinter dem Burgherrn und seinem Waffenträger formierten sich die Reisigen. Die Kriegsknechte aus der Festung selbst waren beritten, die Bauernburschen von den Zinshöfen würden den langen Weg ins Welschland zu Fuß zurücklegen müssen.

Jetzt stemmte sich der Torwächter gegen die Eichenspeichen des mannshohen Holzrades. Ein lautes Bohlenknarzen und Seilquietschen erklang, dann gab die Zugbrücke den Portalschlund frei und senkte sich draußen über den Graben. Der Ritter spornte seinen Hengst an und trieb ihn über die aufdonnernden Balken. Ihm nach trabten und rannten seine Gefolgsleute. Gleich darauf nahm die Schlucht sie auf, die hinunter ins Donautal führte. Nur der Wimpel mit den drei roten Rosen tauchte ab und zu noch zwischen den grauen Felsen auf, doch auch er wurde schnell kleiner. Zuletzt, als der Trupp den Auwald erreichte und entlang des Stromes in Richtung Ulm weiterzog, konnte Svenja nur dann und wann noch ein kurzes Aufblitzen von Stahl wahrnehmen. Spätestens da begriff das achtjährige Mädchen mit erschreckender Klarheit, dass es seinen Vater nun für viele Monate und vielleicht sogar Jahre verloren hatte.

Jetzt wollte und konnte Svenja ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. Sie schluchzte zum Gotterbarmen, dann aber sah sie durch die salzigen Schleier hindurch ihre Mutter unten im Torbogen stehen. Selbst auf die beträchtliche Entfernung wirkte Asgard schrecklich allein und verloren. Svenja lief los und merkte gar nicht, dass sie den Wolfspelz verlor. Im Hemd rannte sie die düsteren Stiegen hinunter, durch den Wappensaal und über die Freitreppe in den Brunnenhof. Ihre nackten Zehen glitschten durch Pferdemist und Schlamm, endlich hatte sie das Burgportal erreicht und warf sich Asgard in die Arme.

Der scharfe Märzwind ließ sie ärger frösteln als die Steinkälte oben im Söller. Doch als Svenja auch in den Augen der Mutter die Tränen sah, vergaß sie die körperliche Pein und stieß schluchzend hervor: »Warum?! Warum lässt er uns allein?!«

»Das fragen sich Kinder und Frauen seit Anbeginn der Menschheit«, erwiderte Asgard leise, gleichzeitig schlang sie ihren Wollmantel um den bebenden Körper der Tochter. Dann legte sie die Hand auf Svenjas Haar, und während sie das Mädchen streichelte, setzte sie leise hinzu: »Dein Vater hätte uns nicht verlassen, wenn er dem Kaiser nicht lehenspflichtig wäre. Doch Gernot hat die Rosenburger Herrschaft aus der Hand Friedrichs II., des Staufers, erhalten und muss ihm dafür jetzt den Kriegsdienst leisten. In seinen eigenen süditalienischen Erbländern wurde Kaiser Friedrich von aufständischen Baronen angegriffen. Tyrannen sind das, welche die Menschen auspressen und schinden wollen; grausame Feudalherren, denen der moderne Staat, den der Staufer schaffen möchte, ein Dorn im Auge ist. Sie kreiden Friedrich auch an, dass er keinen Unterschied zwischen Christen, Moslems und Juden macht; dass er in seinen Territorien die Andersgläubigen schützt. In ihrer Intoleranz sind die Barone sich darin einig mit Papst Honorius, und ich glaube, dass dieser heimlich hinter dem Aufstand steckt, auch wenn zwischen ihm und dem Kaiser offiziell Frieden herrscht. In Wahrheit nämlich ersehnt die Kirche sich nichts mehr als den Untergang der schwäbischen Dynastie. Immer mussten sich die Staufer gegen Rom und seine Verbündeten wehren, und leider ist das auch jetzt wieder so. Also blieb deinem Vater gar nichts anderes übrig, als mit seinen Männern auszuziehen und sich unter die Fahnen Friedrichs zu stellen. Hätte Gernot sich geweigert, wäre er zum Verräter an seinem eigenen Herrn geworden, und wir hätten den Krieg dann möglicherweise vor den Mauern unserer eigenen Burg gehabt.«

Immer noch spürte Svenja die streichelnde Hand ihrer Mutter im Haar. Eine ganze Weile dachte sie über die Worte Asgards nach. Endlich fragte sie: »Welchen Nutzen haben aber Vater, der Kaiser, die Barone und der Papst davon, wenn sie in Italien Krieg führen? Warum müssen sie die Burgen und Dörfer zerstören? Warum geben sie sich nicht die Hände und vertragen sich ganz einfach? Dann könnte Vater zu uns zurückkehren, und die Bauernburschen, die mit ihm gegangen sind, könnten zu Hause wieder die Felder bestellen.« Erneut schluchzte Svenja auf. »Und du und ich, wir wären jetzt nicht allein ...«

»Kaiser Friedrich versuchte, den Frieden mit allen Mitteln zu erhalten«, antwortete Asgard. »An ihm hätte es nicht gelegen. Es waren die anderen, die den Krieg wollten. Hätte der Staufer sich nicht gewehrt, dann hätten die papsthörigen Barone ihn um seine italienischen Besitzungen und dazu wohl auch noch um sein Leben gebracht.«

»Das verstehe ich nicht«, murmelte Svenja. »Du hast gesagt, dass hinter den Aufständischen wahrscheinlich Papst Honorius steht. Aber der Herr des Papstes ist doch Jesus und Jesus liebte die Menschen. Er hätte niemals gewollt, dass sie Krieg gegeneinander führen!«

»Viele verstehen den Mann auf dem Thron Petri nicht«, versetzte Asgard, und nun blitzte Zorn in ihren hellen Augen. »Viele sagen sogar, er sei der schlimmste Feind des guten Juden Jesus von Nazareth. Manche nennen ihn den Antichristen und das Tier, das die Menschheit vernichten will. – Ich weiß nicht, ob es so ist. Aber ich weiß, er ist ein Mann – und zwar einer von denen, die niemals begreifen werden, dass die Welt aus dem Weiblichen lebt. Dass nicht Machtgier und Mordlust zählen, sondern dass die Menschen Güte und Barmherzigkeit brauchen.«

Dunkel und geheimnisvoll hatte Asgards Stimme zuletzt geklungen. Nun schienen ihre Worte auf ganz seltsame Weise in Svenjas Gehirn nachzuschwingen. Mit dem Verstand konnte sie es nicht so genau erfassen, was ihre Mutter gemeint hatte, aber in ihrem Herzen vermochte sie es. Und dann sagte sie, ohne überhaupt nachgedacht zu haben: »Bitte, lass uns in den Garten gehen!«

Da lächelte Asgard, während gleichzeitig in ihren Augenwinkeln noch immer die Tränen glitzerten. »Ja«, nickte sie, »das ist es, was ich mir jetzt auch wünsche.« Ihre Hand löste sich aus Svenjas Haar und legte sich um ihre schmale Schulter. »Aber vorher ziehen wir dich ordentlich an, sonst erkältest du dich noch und musst kannenweise Lindenblütentee trinken.«

Svenja schüttelte sich unwillkürlich. Im vergangenen Dezember, im Jahreswechsel von 1220 auf 1221, hatte sie am eigenen Leib erlebt, was das bedeutete. Grässlich bitter war der Trank gewesen, aber wahrscheinlich hatte er sie gerade deswegen schnell wieder auf die Beine gebracht. Und jetzt glaubte Svenja auch wieder die beschwörende Stimme ihrer Mutter zu hören, wie sie damals den Tee zubereitet hatte:

»Lindenblut,
kräftig im Sud,
bei Fieber gut.«

Gäbe es doch bloß auch ein Kräutlein gegen die Dummheit von Kriegsleuten, dachte Svenja, während sie nun eilig über den Burghof lief. Und weiter dachte sie: Vielleicht sollten Mutter und ich einmal im Zauberbuch danach suchen ...

Wenig später verließen Asgard und ihre Tochter den Burghof durch die kleine Schlupfpforte in der Südmauer. Svenja trug jetzt ihr Tag-kleid aus gefärbtem Leinen, darüber den Pelzmantel aus Fuchsfell, den ihr Vater ihr zum achten Geburtstag geschenkt hatte. Erneut wollten ihr die Tränen hochquellen, als sie daran dachte, doch dann waren sie im Garten der Rosenburg, und nun war auch zu erkennen, warum die Festung diesen Namen trug.

Entlang des südlichen Gemäuers standen die knorrigen Rosenstöcke. Erst vor wenigen Tagen hatte Asgard die schützenden Strohhüllen entfernt. An den Fingern rechnete Svenja nach, wie lange es noch dauern würde, bis die wundersamen Blüten wieder aufbrechen würden: April, Mai, Juni – ungefähr drei Monate noch. Dann würde wieder der süße Duft über dem Burggraben hängen und manchmal bis hinauf in den Söller dringen. Und vielleicht würde dann auch der fahrende Sänger wieder auftauchen, der im vergangenen Sommer ein Lied auf die seltenen Blumen gedichtet hatte.

Svenja berührte eines der kahlen Stämmchen mit der Fingerspitze. Sie sog den berauschenden Märzduft ein, der aus der Erde zu brechen schien. Aus dem Burghof war das Poltern von Holzeimern und manchmal ein Ruf zu vernehmen. Die Mägde und die wenigen Knechte, die in der Festung zurückgeblieben waren, hatten nach den Aufregungen des Morgens ihr übliches Tagewerk aufgenommen. Vom Meierhof herauf drang das Brüllen einer Kuh. Als der raue Laut verklungen war, rüttelte Svenja den jetzt noch so ruppig wirkenden Rosenstock ein wenig und fragte: »Ist es wirklich wahr, dass sie von jenseits des Meeres zu uns gekommen sind?«

»Dein Großvater hat die Rosenbäumchen aus dem Königreich Jerusalem mitgebracht, nachdem er dort gegen die Sarazenen gekämpft hatte«, bestätigte Asgard. »So trug ihm der Kreuzzug wenigstens diesen einen Nutzen ein. Denn bald darauf verstarb er an der bösen Wunde, die er sich im Heiligen Land geholt hatte. Doch daran hatten die Rosen keine Schuld, und deswegen wurden sie von meiner Schwiegermutter und später von mir sorgsam gepflegt und gehegt, bis ihr Name auf unsere Burg überging und sie weithin berühmt machte. Denn man sagt, dass es im ganzen Schwabenland keine Blumen mehr wie diese gibt.«

»Andere Ritterfrauen kennen eben die richtigen Zaubersprüche nicht«, versetzte Svenja. »Bestimmt hast du sie in deinem Buch gefunden, und deswegen gedeihen die Rosen auf unserer Burg.«

Missbilligend schüttelte Asgard den Kopf. »Ich habe dir doch schon früher einmal erklärt, dass es nichts mit Zauberei zu tun hat, wenn Blumen und Kräuter sich in unserer Erde heimischer als anderswo fühlen. An den richtigen Pflanzzeiten liegt es; daran, dass man die Setzlinge je nach ihrer Natur im Morgen- oder Abendlicht, manchmal auch bei Vollmond steckt. Dass man den Tag oder die Nacht weiß, wo die Triebe beschnitten oder aufgepfropft werden wollen. Und dann berühre die Pflanzen mit Händen, als ob du zu deinem Geliebten kämst. Sprich mit ihnen oder singe ihnen leise ein Lied. Öffne ihnen vor allem dein Herz, denn gerade das spürt das stumme Leben deutlicher als die meisten Menschen.«

Asgard hatte sich vor die Rosenstöcke gekniet, und nun fuhren ihre Hände tatsächlich wie streichelnd über das knorrige Holz. Das Gesicht der Burgherrin, auf dem bis jetzt noch immer der Abschiedsschmerz gelegen hatte, wurde weich, wirkte zärtlich und verloren. Gleichzeitig schien sich im fast noch winterstarren Garten etwas zu verändern.

Ganz still war es auf einmal, nur das Wispern der jungen Rispen war noch zu vernehmen, und die Stille schien sich über die Burg und das umliegende Land hin auszubreiten bis zum Horizont. Svenja merkte gar nicht, dass sie nun ebenfalls vor den Rosenstöcken kniete, wie im Traum vollführten auch ihre Hände die streichelnden Bewegungen. Unversehens öffnete sich ihr Herz und wurde eins mit dem feinen Flüsterleben der Pflanzen. Die Seelen der Rosenstöcke schienen sie zu streicheln und Leid und Trauer ganz sanft von ihr wegzuheben.

So fand Svenja neue Kraft und neuen Lebensmut, und als sie viel später wieder zu sich kam, als die Wirklichkeit sie wieder einholte, fühlte sie sich besser als am Morgen, denn jetzt wurzelte wieder Hoffnung in ihrem Herzen. »Der Krieg wird Vater nichts anhaben können, nicht wahr?«, wandte sie sich mit einem kleinen Lächeln an ihre Mutter.

»Wir wollen ganz fest daran glauben«, erwiderte Asgard. »Wenn der Schmerz uns aber erneut zu überwältigen droht, dann wollen wir gemeinsam hierher zurückkehren.«

»Und mit den Pflanzen sprechen«, nickte Svenja.

Noch einmal berührte sie zart eines der knorrigen Stämmchen, dann lief sie zur Pforte und schlüpfte zurück in den Burghof.

Langsam folgte ihr Asgard, in ihren Augen lag jetzt ein nachdenklicher und versonnener Ausdruck. »Mit den Pflanzen sprechen«, hatte Svenja gesagt. Und daran erkannte Asgard, dass an diesem Morgen, an dem Leid und Liebe sich so jäh getroffen hatten, etwas Großes und Geheimnisvolles in der Seele ihrer Tochter aufgebrochen war.

Der Mann im Wald

Prachtvoll glühten die blühenden Rosenstöcke an der Südmauer der Burg. Der Sommer des Jahres 1221 stand nunmehr in seiner hohen Zeit. Wie betrunken torkelten die Bienen von Kelch zu Kelch. Hummeln brummten unentwegt über den verwunschen wirkenden Garten hinweg. An schattigeren Stellen, wo die Mauer Winkel bildete oder eingebrochen war, hatten sich violette Veilchenpolster festgesetzt. Anderswo wiederum duftete herb der Thymian, würzig der Fenchel, betäubend der Baldrian. Die Kügelchen der Kamille schienen das reine Sonnenlicht in sich eingesogen zu haben. Hopfendolden, unausgereift jetzt noch, rankten sich der Wärme entgegen. Im Schlehenbusch nistete wie jedes Jahr der Zaunkönig. Und abends, wenn die Düfte aus Asgards Garten bis hinauf in den Söller drangen, schlug zuweilen die Nachtigall.

Tag für Tag pflegte die Burgherrin ihre Kräuter und Blumen, kümmerte sich um die Nutz- und Zierbüsche, dünnte hier ein Beet aus und versetzte dort ein paar Pflänzchen. Fast immer ging Svenja ihr dabei zur Hand und lernte jedes Mal neue und aufregende Dinge. Obwohl bisher keinerlei Nachricht aus Italien gekommen war, hatten die Burgherrin und ihre Tochter sich den seelischen Frieden zu bewahren gewusst. Der Garten hatte ihnen dabei geholfen, die stille Zwiesprache mit den zarten, wispernden Lebewesen. Und manchmal konnten die Frau und das Mädchen kaum begreifen, dass das Land um die Rosenburg nichts von dem zu spüren bekam, was anderswo in Schwaben und Deutschland die Menschen quälte.

Denn die Zeiten waren wieder einmal schlimm und hasserfüllt geworden. Seit Kaiser Friedrich in Süditalien Krieg führte, waren nördlich der Alpen Gesetzlosigkeit und Anarchie ausgebrochen. Angesichts der fehlenden Autorität befehdeten viele der Burgherren, die nicht ins Welschland gezogen waren, sich gegenseitig. Die Leidtragenden waren wie stets die kleinen Leute: die Bauern, die Handwerker, die über die Landstraßen wandernden Hausierer. In die armen Dörfer der Leibeigenen brachen die berittenen Horden ein, steckten die Hütten in Brand, stachen das Vieh ab oder trieben es weg. Ohne Vorwarnung wurden Städte belagert, fauchten Brandpfeile und Schleudersteine über die Mauern, gingen schindel- oder strohgedeckte Dachstühle in Flammen auf. Wohnhäuser und Werkstätten krachten zusammen, oft genug auch die Armen- und Siechenhäuser, die von barmherzigen Bürgern gestiftet worden waren. All diejenigen aber, die auf diese Weise mordeten, raubten, vergewaltigten und brandschatzten, beriefen sich in ihrem Tun auf Gott und beteuerten, dass sie in seinem Namen und nach seiner Weisung handelten.

Einmal mehr sollte Gott geradestehen für die Bösartigkeit der Menschen; bei den süditalienischen Kämpfen war dies so – und als Folge davon nun auch bei den Gemetzeln in Deutschland. Der alte Konflikt zwischen kaiserlichem Gottesgnadentum und kirchlicher Gottesstellvertreterschaft, zwischen Ghibellinen und Guelfen, war jetzt auch nördlich der Alpen wieder aufgebrochen; Einpeitscher, die ihn noch schürten, gab es genug. Giftäugige Mönche, Dominikaner zumeist, kletterten auf die Kanzeln und predigten so lange den Hass auf alles Kaiserliche, bis nicht nur die romhörigen Adligen, sondern auch die Bürger und Bauern zu den Waffen griffen. Anderswo übernahmen Gefolgsleute und Hetzer des Staufers das Amt der Geschorenen und verlangten, dass kein Papsttreuer am Leben bleiben dürfe.

Die Rosenburg aber lag in diesem Sommer des Jahres 1221 noch immer wie eine Insel des Friedens über dem Donauried, und der sinnlose Hass schien sie auf wundersame Weise verschonen zu wollen.

»Bitte nicht, Alf! Das kann ich doch schon allein!«, rief Svenja an diesem sonnigen Morgen.

Mit einem gutmütigen Grinsen trat der Stallmeister im Stand der fuchsfarbenen Stute beiseite. Svenja schob sich an Alf vorbei, griff nach dem Halfter und streifte es dem schlanken Pferd über den Kopf. Willig ließ Wilma es mit sich geschehen. Sie hielt auch still, als Svenja ihr die flache Hand mit dem Trenseneisen darauf unters Maul legte und ihr das Gebissstück vorsichtig zwischen die Zähne schob. »Ja, du bist meine Gute, und wir werden heute einen wunderschönen Ausritt zusammen haben«, flüsterte das Mädchen ins spielende Ohr Wilmas, gleichzeitig zog sie die Kopfriemen fest, bis gerade noch drei Finger zwischen das Leder und das warme Fell der Stute passten.

Beim Aufsatteln freilich musste sich Svenja doch von Alf helfen lassen. Aber dann führte sie Wilma ganz allein in den Brunnenhof hinaus, wo bereits Asgard auf ihrem Zelter wartete. Svenja winkte ihrer Mutter übermütig zu, kletterte auf den Trittstein und saß im nächsten Augenblick auf Wilmas Rücken. Sie nahm die Zügel an, wandte sich um und rief ungeduldig zum Stall hinüber: »He, wo bleibst du denn wieder so lange, Alf?«

Doch da tauchte der grauhaarige Mann auf seinem kräftigen Wallach auch schon auf. Ein langes Schwert klirrte an der linken Flanke des Schimmels. Als der Stallmeister näher kam, hörte Svenja sein mit Metallplättchen beschlagenes Lederwams knarzen. Am Sattelhorn hing Alfs offener Spangenhelm, und so wirkte der vierschrötige Mittfünfziger beinahe wie einer, der in den Krieg ziehen wollte. Svenja wusste aber, dass er die Waffen nur zu ihrem und Asgards Schutz bei sich hatte. Deswegen störte sie sich auch nicht weiter daran, sondern lächelte Alf zu und scherzte: »Wetten, dass deinem alten Ackergaul schon bald die Puste ausgeht, sobald ich Wilma nachher richtig laufen lasse?«

»Sieh du erst mal zu, du Naseweis, dass du heil über die Zugbrücke kommst und nicht etwa in den Graben fällst!«, gab der Stallmeister feixend zurück. Dann setzte er die Sporen ein und trabte der Burgherrin und ihrer Tochter durch den Torbogen voran.

Sie folgten dem Hohlweg nach unten, bis die felsige Klamm sich hinaus ins Donautal öffnete. Hier wurde das Land flach und die Erde fett; wie von selbst griffen die drei Pferde freudiger aus, und bald fegten sie in ihrer schnellsten Gangart dahin. Zur linken Hand der Reiter wälzte sich der Strom, rechts stieg die Schwäbische Alb wie ein natürlicher Wall gegen den blauen Himmel auf. Die Rosenburg schien dort oben wie ein Adlerhorst zu thronen, weiter nach Südwesten zu ging der rund um die Festung abgeholzte Hügelkamm wieder in dichten Wald über. Doch hier unten, im Donauried, standen die Erlen und Pappeln nur in lockeren Gruppen und legten den Reitern keine Hindernisse in den Weg, so dass sie nach Herzenslust galoppieren konnten, bis die Tiere von selbst wieder langsamer wurden.

Asgard, Svenja und Alf ließen die Rösser jetzt im Schritt dahintrotten und verschnauften selbst. Nachdem der Stallmeister einigermaßen wieder zu Atem gekommen war, wandte er sich an Svenja und spöttelte: »Wirklich, ich muss schon sagen, ganz fürchterlich hast du mich abgehängt! So arg, dass ich dir zuletzt um mindestens drei Pferdelängen voraus war ...«

»Das hast du doch nur geschafft, weil ich dir eine Freude machen wollte und Wilma zurückhielt«, erwiderte Svenja schlagfertig. Doch dann musste sie lachen und gab neidlos zu: »Ich hätte es dir und deinem Schimmel wirklich nicht zugetraut, dass ihr noch so schnell seid!«

»Tja, angejahrt sind wir beide, aber noch lange nicht eingerostet«, versetzte der Stallmeister geschmeichelt. Gleich darauf war über einem nahen Schilffeld lautes Flügelrauschen zu vernehmen. Die drei Reiter sahen einen prächtigen Fischreiher auffliegen. Das Gefieder des großen Vogels schien im Sonnenlicht förmlich aufzu-perlen.

Asgard, Svenja und Alf verfolgten das Schauspiel mit begeisterten Blicken. Als der Reiher schon weit im Südwesten über dem Strom schwebte, gab die Burgherrin dem Ausdruck, was sie alle fühlten: »Wenn die Menschen sich nur ab und zu von den Wundern der Natur anrühren ließen, dann könnte viel Leid und viel Hässliches aus unserem Leben verbannt werden.«

Stumm ritten die drei weiter. Später, als sie sich bereits dem Dorf Riedlingen näherten, erlebten sie noch einmal ein erregendes Naturschauspiel, denn hoch über den Felszinnen der Alb kreiste ein Adlerpaar, spielte und spiralte scheinbar bis in die Unendlichkeit hinauf, löste sich dann wie schwerelos wieder aus der Himmelsbläue, kam herunter ins Tal, schwebte über die Köpfe der Reiter hinweg und stieg erneut empor, um zuletzt im Westen in der Einsamkeit der großartigen Landschaft zu verschwinden.

Ohne dass sie sich darüber hätten verständigen müssen, lenkten die Menschen von der Rosenburg ihre Tiere ebenfalls zu den Hügeln hinüber, um auf diese Weise den Adlern wenigstens eine kleine Wegstrecke weit folgen zu können. Und so nahm sie, als der Mittag bereits nahe war, der rauschende Hochwald auf, in dem da und dort Felsbastionen wie Burgtürme standen. Zuletzt fanden sie eine Quelle, die inmitten eines riesigen Moospolsters rieselte. Dort saßen sie ab, und Alf holte Brot und Speck aus seiner Satteltasche.

Svenja überlegte, wann ein Imbiss ihr zum letzten Mal so gut geschmeckt hatte. Auf jeden Fall war es mindestens ein Jahr her – seit sie im vergangenen Sommer einmal zusammen mit ihrem Vater unterwegs gewesen war und sie ebenfalls im Wald gevespert hatten. Als sie daran dachte, stieg schmerzlich wieder die Sehnsucht in ihr auf. Doch dann stellte sie sich ganz fest vor, dass Gernot nun bald heimkehren würde, und da wurde ihr Herz wieder leichter. Gleichzeitig sah sie nahe der Quelle einen Eichkater auf einem Buchenast turnen. Da lachte sie wieder, sprang auf, kobolzte gleich dem putzigen Tierchen zu Asgard hinüber und fiel ihr um den Hals.

»Nanu?«, sagte die Burgherrin lächelnd, während der Eichkater wie der Blitz in die Baumwipfel flüchtete.

»Ach, ich bin so froh, dass ich heute mit dir und Alf ausreiten durfte!«, rief Svenja. »Ich liebe den Wald und seine Tiere – und natürlich auch unsere Pferde!« Schon hatte sie sich wieder von Asgard gelöst und tanzte nun von Wilma zu Alfs Wallach und weiter zum Zelter ihrer Mutter. Mit gutmütigem Schnauben nahmen die Rösser Svenjas übermütige Liebkosungen hin; als das Mädchen endlich wieder von ihnen abließ, begannen sie erneut das würzige Moos zu rupfen. Auch Svenja hatte jetzt noch einmal Hunger bekommen und vertilgte den letzten Streifen Speck und den letzten Bissen Brot, die noch auf dem Leintuch an der Quelle lagen. Danach ließ sie sich rücklings auf das federnde grüne Pflanzenpolster fallen und verkündete: »Ich bin so satt, ich mag kein Blatt!«

»Dann wirst du wohl hierbleiben müssen, denn so vollgestopft, wie du bist, wirst du kaum noch in den Sattel kommen«, scherzte der Stallmeister.

Svenja strafte ihn aber Lügen, denn kaum hatte er geendet, saß sie auch schon wieder auf Wilmas Rücken. »Na, was sagst du jetzt?«, rief sie Alf zu. »Ich glaube, ich werde dich hier zurücklassen müssen, wenn du dich nicht beeilst!«

»Welchen Heimweg wollen wir denn nun eigentlich nehmen?«, fiel an dieser Stelle Asgard ein. »Zurück durch das Donautal oder hier oben über die Alb? Eigentlich fände ich es schöner, ein bisschen Abwechslung zu haben und im Wald zu bleiben. Aber ich weiß nicht, ob es von hier aus einen Reitweg zurück zur Rosenburg gibt.«

»Ein Stück westlich von dieser Quelle hat’s einen Köhlerpfad«, erwiderte der Stallmeister. Der bringt uns dann direkt nach Zwiefalten. Von dort aus können wir über Hayingen und Indelhausen heimgelangen.«

»Dann los!«, bestimmte Asgard, und wenig später lag die Quelle wieder verlassen da.

Nachdem die Pferde etwa eine halbe Stunde kreuz und quer im Schritt gegangen waren, stießen die Reiter auf den schmalen Pfad, von dem Alf gesprochen hatte. Hier konnten die Tiere wieder traben, auch wenn sie sich noch immer hintereinanderhalten mussten. Vor sich sah Svenja die Kruppe von Alfs Schimmel auf und ab wippen, von hinten hörte sie manchmal das zufriedene Schnauben des Zelters, und über den Köpfen der Reiter bildeten die Baumkronen ein dichtes Gewölbe, das über Meilen und Meilen kein Ende nehmen wollte. Mit der Zeit kam Svenja ins Träumen; sie stellte sich vor, in ein Feenreich geraten zu sein, in eine verwunschene Welt, in der es nur noch die warmen Baumfarben gab. Und dazu die Tiere, die sie ab und zu abseits des Pfades rascheln hörte, ganz bestimmt aber nichts Böses, Gemeines oder Hartes. Und dieser Traum dauerte an, bis der Pfad sich zuletzt verbreiterte und in einen Karrenweg mündete, der auf dem Höhenkamm der Schwäbischen Alb nach beiden Seiten weiterlief. Erst da fand das Mädchen wieder in die alltägliche Welt zurück und hörte Alf sagen: »Jetzt müssen wir uns rechts halten, dann werden wir in Kürze in Zwiefalten sein.«