Der Senner von der Kargeralm
In Österreich gibt es, wie jeder weiß, viele Berge.
Und auf den Bergen Almen. Dort verbringen die Senner das halbe Jahr mit ihrer Viehherde, in geringer oder ganz beträchtlicher Höhe, je nachdem, welche Tiere sie weiden und wo der Bauer seine Almen besitzt.
Kühe zum Beispiel werden meist auf sanfte Almen, nicht allzu hoch oben, nicht allzu weit weg von den Ortschaften, geführt, und die Senner steigen von Zeit zu Zeit ins Tal hinunter, oder Wanderer kommen an ihren Hütten vorbei.
Schafe hingegen werden nicht selten hoch in die Berge geführt, und es kann schon sein, daß so ein Schafhirte das halbe Jahr lang knapp unterhalb der Baumgrenze verbringt, über ihm unwegsame Felsenrücken, unter ihm die Täler und Schluchten, und daß er ein halbes Jahr lang kaum einen Menschen sieht. Ein halbes Jahr ist eine lange Zeit. Nun ist es ja auch hinlänglich bekannt, daß es auf den Almen zu Ausschreitungen kommt, die mit der langen Einsamkeit des Senners in Zusammenhang stehen. Der Senner, so lautet die herrschende Meinung, verrohe da oben auf der Alm – ohne eine Menschenseele, in seinem Rücken die Felswände, unter ihm die Täler –, so daß er das Verhältnis verliere zur menschlichen Gemeinschaft und ihm der Sinn menschlicher Regeln und Übereinkünfte abhanden komme.
Es gibt zum Beispiel Jodler (und es ist die Frage, ob der Jodler nicht überhaupt aus diesem Grund entstanden ist), die nichts sind als Verständigungen zwischen einem Senner und einer Sennerin auf zwei verschiedenen Almen. Der Senner kündigt auf diese Weise der Sennerin seinen Besuch in der Nacht an.
Aber es kommt noch zu ganz anderen Dingen. So kann jeder, der sich an den Gerichten in den Landbezirken umhört, immer wieder von Inzestverfahren hören; der Senner nimmt die eigene Tochter, die ihm einmal in der Woche seine Verpflegung hinaufbringt oder, schlimmer noch, eine seiner Kühe oder Schafe dort oben in der Einsamkeit. Der Fall, von dem hier die Rede sein soll, übertrifft jedoch das oft Gehörte und hinlänglich Bekannte bei weitem. Es handelt sich nämlich in unserem Fall nicht nur um eine einfache Sodomie, sondern, ich zögere, es dem mit der Geschichte noch nicht vertrauten Leser jetzt schon mitzuteilen, um Liebe. Der Senner Jörg K. verliebte sich, um es geradeheraus zu sagen, in ein Jungschaf seiner Herde. Es war oben auf der Kargeralm am Sonnenfels.
Ich habe davon gehört, weil ich mit dem Anwalt befreundet bin, der Jörg K. verteidigte, und ich weiß, welche Überlegungen er zum Aufbau der Verteidigung anstellte; in welchem Zwischenbereich von Eigentumsdelikten und Menschenwürde, tierischem und menschlichem Triebverhalten, Besitzstörung und Tierschutzgesetzen, Abhängigkeits- und Eigentumsverhältnissen er seine Argumente sammelte.
Aber ich möchte nicht über die Klage sprechen, sondern über die tragische Liebe des Jörg K. zu seinem Schaf.
Ich habe Jörg K. mit dem Anwalt zusammen in B. besucht. Er war damals schon nicht mehr als Senner tätig und saß in einer Hütte auf halber Höhe des Sonnenfels.
Der Senner Jörg K. war in keiner Weise so, wie ich ihn mir vorgestellt hatte. Ich habe gedacht, und daran sieht man, daß man nichts weiß, wenn man nur hört von Sennern und ihren Ausschreitungen in den Höhen der Almen – ich habe gedacht, Jörg K. sei ein düsterer Geselle, geprägt vom drückenden Schweigen der Almen, von den Felsrücken, den einsamen Adlern, klobig, dumpf und wortkarg. Das war nicht der Fall. Jörg K. war Mitte Zwanzig, schmalgliedrig, von feinen Gesichtszügen und so wortgewandt, daß er imstande war, uns zu erzählen, wie ein Mensch ein Schaf lieben kann. Was so mancher Schriftsteller mit all seiner Kunstfertigkeit eben nicht erzählen könnte.
Das Schaf habe ein weißes, seidiges Fell gehabt, sagte Jörg K., und es sei in einem Maße verständig gewesen, wie kein Mensch, den er je kennengelernt habe, es gewesen sei.
Man muß nicht meinen, Jörg K. wäre sich nicht der Absonderlichkeit seines Gefühls bewußt gewesen. Er wußte darum und bemühte sich sehr, sein Gefühl nicht nur uns, sondern auch sich selbst begreiflich zu machen, seine Leidenschaft zu durchleuchten, alle Freuden und allen Schmerz seiner Liebe aufzuzeigen. Er strengte sich an, er dachte nach, seine Augen waren klar, dunkel oder trüb, je nachdem, was er erzählte.
Was Jörg K. kaum interessierte, waren die Anklagepunkte gegen ihn, war die Entrüstung über ihn, war die Bosheit gegen ihn. Der Anwalt mußte immer wieder auf den Bauern zu sprechen kommen, auf die Entdeckung der Tat, auf die Feme, die Rache, die Anklage. Jörg K. sah ihn dann abwesend an, beantwortete nachlässig seine Fragen, um wieder auf sein Hauptanliegen zu sprechen zu kommen: seine Liebe zu dem Schaf.
Er sagte, er habe immer schon gewußt, daß nichts an dem Vorurteil sei, daß Schafe dumm seien. Sein Schaf aber – oder die Mizzi, wie er es anfänglich und dann erst wieder gegen Ende seiner Geschichte nannte – sei in unvorstellbarem Maße intelligent gewesen. Die Mizzi habe, sagte der Senner, die Sterne am Himmel erkannt und sei abends lang dagestanden, sie zu betrachten. Ihr Gesicht sei von solcher Regelmäßigkeit gewesen, daß es ihm weh getan habe, und die Augen seien, sagte er, so klar und blau wie der Almsee gewesen, in dessen Nähe er geboren sei. Schon als Lamm sei die Mizzi neugieriger und aufgeweckter gewesen als die anderen Schafe der Herde. Sie habe Interesse gezeigt für alles und mit ihren ungeschickten Sprüngen niemals eine Blume zertreten. Sie sei vielmehr plötzlich stehengeblieben und habe sie lange betrachtet, sei fast erstarrt in der Betrachtung und habe sie dann beschnuppert und geküßt. Sie habe die Blumen geküßt, sagte er, indem sie die Nüstern tief in die Blüten senkte, sie habe alles Schöne geküßt, nachdem sie es betrachtet hatte. Aufmerksam habe sie die unscheinbarsten Blumen wie den Rotklee, das Hasenbrot oder den Wiesenknopf betrachtet und fröhlich die Glockenblumen umsprungen; diese Blume habe sie, sagte er, richtig fröhlich gemacht, es sei ihm gleich aufgefallen, sie habe den Kopf zur Seite gelegt und einige Sprünge um die blaue Blume herum gemacht; in den Anblick anderer Blumen sei sie jedoch regelrecht versunken, habe über den kobaltblauen Wiesenenzian den schmalen Kopf gebeugt, an seinem Kelch geschnuppert, so daß er selbst alles um sich herum vergessen und nur noch das weiße Lamm gesehen haben, wie es den langstieligen, herrlichen Wiesenenzian küßte; als sie die erste Herbstzeitlose ihres Lebens gesehen habe, sei sie, sagte der Senner, zuerst über die Maßen davon angezogen gewesen und habe ihre Nüstern in die offene Blüte gesenkt, sei aber dann instinktiv einen Schritt zurückgewichen, er selbst habe schon gezittert vor Angst, das Lamm könnte die Blume fressen, man müsse nämlich wissen, sagte er, daß die Herbstzeitlose in hohem Maße giftig sei, so daß, wer von ihr koste, nach dreißig oder vierzig Stunden einen schrecklichen Tod sterbe, die ganze Zeit über sei derjenige nämlich bei vollem Bewußtsein. »Und eines Tages«, sagte der Senner, »entdeckte sie ihre Blume: den Frauenschuh.« Der Frauenschuh sei, sagte er, eine Orchidee, die bei uns fast ausgestorben sei, die aber, er habe selbst nichts davon gewußt, hinter einem Felsen in solch einer Fülle wachse, daß ihm das Herz beinahe stehengeblieben sei, als er, das Lamm suchend, über den Felsen geklettert sei und es plötzlich inmitten der Orchideen stehen gesehen habe, deren rosaviolette Blütenblätter sich wie Seidenschuhe im Wind bewegt hätten. Es sei dann etwas Unglaubliches geschehen, sagte er. Zuerst habe das Lamm in seiner gewohnten Weise den Frauenschuh beschnuppert, sei dann mit den Nüstern tief eingetaucht in zarte Kelche und habe in höchster Verzückung, wieder auftauchend aus der süß duftenden Blütenpracht, so lieblich geblökt, wie kein Schaf je geblökt habe. Hier sei es auch gewesen, wo sich das Lamm verletzt habe. Es sei nämlich dermaßen angezogen gewesen von dem Frauenschuh, daß es immer wieder heimlich die Herde verlassen habe, um diesen Platz aufzusuchen, was nicht ungefährlich gewesen sei, da sich ja der Felsüberhang dazwischen befunden habe, den zu überklettern nicht ungefährlich gewesen sei – und wobei sich sein Lamm dann auch verletzt habe. Er habe es, auf seinen Stab gestützt und ins Tal blickend, wimmern gehört, und durch sein Herz sei ein schreckliches Zucken gefahren, wie er es nie zuvor gekannt habe.
»Ein gebrochenes Bein«, sagte der Senner, »ist meist Grund genug, ein Lamm zu schlachten, zumal so hoch oben auf der Alm, wo weit und breit keine Hilfe zu erwarten ist.«
Er habe das wimmernde Lamm in seine Arme gebettet und sei mit ihm abgestiegen ins Tal. Er habe damit, sagte er, seine Herde im Stich gelassen, und das habe ihm wohl schon damals den Zorn des Bauern eingebracht.
»Das Lamm hat«, sagte er, »den Kopf an meinen Hals gelegt, die Augen halb geschlossen vor Schmerz, keinen Laut mehr ausgestoßen, und sein Herz hat gegen meine Brust geschlagen.«
Er könne nicht sagen, wie sehr er mit dem Lamm gelitten habe. Denn das Furchtbarste sei ja gewesen, sagte er, daß Tränen aus den halb geschlossenen Augen herabgetropft seien wie von der Sonne gewärmtes Wasser. Er habe versucht, beim Abstieg jede Erschütterung zu vermeiden, sagte der Senner.
Dann strich er sich, am Holztisch sitzend, die Haare aus der Stirn und sah zuerst den Anwalt, dann mich lange an, als suchte er in unseren Augen das Bild eines Senners mit einem Lamm auf dem Arm, die Abendsonne im Rücken und das dunkle Tal vor sich.
»Ich bin noch in der Nacht«, fuhr er dann fort, »wieder hinaufgestiegen auf die Alm mit dem Lamm auf dem Arm, das verbundene Bein stützend. Ich kenne den Weg zu meiner Alm genau«, sagte er, »trotzdem war es ein schwerer Aufstieg, es lagen Steine am Weg, und der Mond war verschwunden hinter Wolkendecken.«
Das Lamm habe dann, sagte er, bis zur Genesung in seinem Bett geschlafen. Er habe es selbstverständlich nicht berührt. Es sei ja krank gewesen. Er habe die Umschläge um das Bein gewechselt, habe es gefüttert und sein Fell gebürstet.
»Es ist nicht selbstverständlich«, sagte er, »daß ein Schaf sich erholt von so einem Unfall. Manche überleben es nicht.«
Er habe es täglich hinausgetragen auf die Weide in die Sonne, und es habe ihn geschmerzt zu sehen, wie das Schaf immer wieder versucht habe aufzustehen, dann aber wieder niedergesunken sei auf den Boden. »In der Zeit seiner Krankheit«, sagte er, »sind wir uns immer näher gekommen.«
Er habe Glockenblumen gepflückt für das Schaf, weil es doch immer so fröhlich geworden sei bei ihrem Anblick, und tatsächlich habe es den Kopf zur Seite gelegt, und die Augen seien wieder klar geworden angesichts der Blumen. Dann, sagte der Senner, sei er sogar über den Felsen geklettert und habe einen Frauenschuh gepflückt, und das Gesicht des Schafes habe sich bei seiner Wiederkehr geweitet. Es habe die Lippen geöffnet, und ein solches Glück sei durch seinen Körper geströmt – er habe das gefühlt, da er eine Hand auf seinem Fell liegen gehabt hätte –, daß er sicher sei, in dem Moment habe die Genesung begonnen. Denn es sei ja die schwindende Lebensfreude, die die Schafe bei verhältnismäßig geringen Verletzungen dahinsiechen lasse.
Es habe schließlich diesen Schrei ausgestoßen, den er schon damals hinter dem Felsen gehört habe, als er im violett schwankenden Frauenschuhfeld gestanden habe, und der nichts mehr mit dem normalen Blöken der Schafe zu tun gehabt habe, sondern ein über jeder Art stehender, allgemeiner Laut der Freude gewesen sei, ein Locken, ja, sagte er, ein Frohlocken, ein unglaublich herrlicher, reiner Laut, den kein Instrument der Welt hervorbringen könne, denn es sei ein stimmlicher Laut, ein Gesang, sagte er, den wir verlernt hätten, ein jenseits der Musik liegender Ton, ein Fadensonnenlaut, ein Wunder.
Der Senner sah durch das Fenster hinaus, vor dem eine Wiese lag, ohne Vieh, denn er selbst besaß nichts; die Wiese war grün und satt. Der Rechtsanwalt und ich, wir rauchten viel und schauten auf die Wiese und dann auf den Boden. Der Senner stand auf und öffnete das Fenster.
»Es ist genug für heute«, sagte er, »ich kann mich nicht mehr erinnern.« Er stand lange am Fenster, die Hände am Rücken verschränkt, und sagte auch nichts, als wir uns verabschiedeten.
Der Rechtsanwalt und ich, wir stiegen schweigend ab, die Sonne wärmte unsere Rücken, und der Rechtsanwalt klemmte die Akte Jörg K. unter den Arm, als wollte er sie nicht berühren mit seinen Händen; die vergleichsweise trüb grünen Wiesen im Tal begannen, die Landstraßen, die das Tal zerstückeln, die Häuser, der Bach, das Elektrizitätswerk, die Schornsteine, die Autos, die Menschen. Wir sprachen mit niemandem, und schweigend ging jeder in sein Zimmer. Als wir am nächsten Morgen wieder den Berg hinaufgestiegen waren und die Hütte betraten, saß der Senner schon wieder oder noch immer am Tisch, den Kopf in die Arme gestützt, den Blick in die Ferne gerichtet.
Auf dem Tisch stand Kaffee. Wir tranken einige Tassen, der Senner trank nichts, wir rauchten und warteten.
Mit großer Mühe, schleppend fast, als würgte es ihn in der Kehle, begann er schließlich, ohne dem Versuch des Anwalts, das Gespräch auf die Strategie der Prozeßführung zu bringen, auch nur die geringste Aufmerksamkeit zu widmen und als habe er seit dem Vortag nur eben einmal Atem geschöpft, weiterzusprechen von seiner Liebe.
»Das Schaf« sagte er, »beschnupperte und küßte nicht nur die Blumen und Sträucher, sondern auch meine Hand, wobei es mich«, sagte er, »ansah. Die ganze Zeit über«, sagte der Senner, »in dem halben Jahr der Trennung, die es im Stall verbrachte und ich hier, habe ich mich nach seinem Schnuppern und seinen Küssen gesehnt, nach dem warmen, seidigen Fell, den almseeblauen Augen, dem Staunen, dem Verharren, dem Gesang. Wenn ich ins Dorf hinunterstieg, um ins Wirtshaus zu gehen, trieb es mich immer zu seinem Stall, und oft schlich ich mich heimlich hinein und streichelte das Fell, das struppig geworden war ohne meine Pflege und glanzlos. Schon bevor ich den Stall betrat, stieß es jenen Laut aus, den ich nie vergessen werde. Es kam mir entgegen, drückte sich an mich, und ich sah es leiden in dem dunklen, stinkenden Stall ohne Wiesen, Blumen und Sonne. Ich brachte ihm heimlich gutes Futter, und einmal habe ich eine Schneerose mitgebracht. Es sah die Schneerose so traurig, so unendlich sehnsüchtig an, daß es mir die Kehle zuschnürte.
Als es Frühling war«, sagte der Senner, »und ich die Herde auf die Alm trieb, war die Mizzi erwachsen geworden. Aus ihr brach nach der langen Entbehrung eine solche Kraft, daß ich Angst hatte, sie könnte sich in ihrem Übermut von neuem verletzen. Sie rieb ihren Körper an Baumrinden, tauchte den Kopf in die Gebirgsbäche, wälzte sich in der Wiese und streckte den Kopf der Sonne entgegen. Ihre klaren Augen sahen alles, sie beobachtete Steinböcke auf den Felsen, die sich auf den Steinen sonnenden Eidechsen und Salamander, sie sah den Habichten nach, die gelassen durch die Luft segelten, und sprang hin und her auf der Weide. Ich lief mit ihr. Denn auch ich war erwacht.«
Er wisse nicht, sagte der Senner, ob wir im Tal eine Ahnung hätten vom Frühling. Der Winter in den Bergen, sagte er, sei kalt, und noch in seiner Kindheit hätten die Bergbauern den Winter verschlafen. Sie hätten, sagte er, die Fenster verdunkelt und alle undichten Stellen des Hauses verstopft, dann hätten sie dicht gedrängt in den Betten gelegen, auf die sie alle Decken und Kleider gelegt hätten. Die Notdurft hätten sie in die dafür bereitgestellten Töpfe verrichtet, gegessen hätten sie kaum, und am Ende des Winters seien sie so schwach gewesen, daß sie kaum wieder hätten aufstehen können. Jeder habe in seiner Jugend die Bergbauern an ihrer Blässe am Ende des Winters erkannt. Dann aber seien sie zu neuem Leben erwacht. Sie hätten, sagte er, wie niemand im Tal unten das Auftauen der Erde gespürt; der Boden bewege sich ständig im Frühling, die Erde begänne zu sprechen, sie raune und flüstere, sie gurgle und knarre, sie quietsche und sänge, sie wachse und taue, schmelze und festige sich vor den Augen der Bergbauern und Senner.
Ich stand auf und legte meine Arme um ihn. »Los«, sagte ich zum Anwalt, »tu was.« Aber der Senner schüttelte mich ab, stand auf vom Tisch, konnte kaum stehen, hielt sich fest an der Tischkante, war schneeweiß im Gesicht und rosaviolett auf den Wangen, hatte große rote Flecken auf dem Hals. »Da«, stieß er hervor, »da«, wir drückten ihn nieder auf seinen Platz, wir wischten ihm den Schweiß von der Stirn, »da«, sagte er noch einmal und dann, als habe er nur über dieses eine Wort hinwegkommen müssen, erzählte er ohne eine weitere Unterbrechung seine Geschichte zu Ende.
Im Laufe der Geschichte legte sich seine Erregung, die roten Flecken im Gesicht verschwanden, und eine große Ruhe breitete sich offenbar in ihm aus.
»Da«, sagte er, »kam der Sohn des Bauern und fand mich bei ihr liegen. Der Sohn des Bauern starrte uns an, warf den Rucksack mit der Verpflegung von sich und lief davon.
Ich wusch mich, zog mich an und wartete auf den Bauern. Er kam mit fünf Knechten. Ich trat ihnen entgegen.
Bauer, sagte ich, ich bin nicht mehr dein Senner, verkauf mir das Schaf und laß uns gehen.
Aber da packten sie mich zu dritt. Der Bauer und die zwei anderen Knechte holten mein Schaf, es hatte sich weder versteckt, noch war es fortgerannt, es wehrte sich nicht einmal; trotzdem ließen sie es am Boden schleifen, als wehrte es sich. Die drei Knechte umfaßten mich fester, der Bauer zückte sein Messer. Ich sah das Messer blitzen in den Augen des Schafes.
Es gab keinen Laut von sich, ich weiß nicht, wie lange der Bauer gewartet hat, mir war es eine lange Zeit, mir war es ein langer Abschied, ein langer Schmerz, ein langes Vergehen, ein langes Zucken, ein langes Verbluten, ein langes Leben, ein langsamer Tod.« Der Senner sagte: »Sie haben das Herz herausgeschnitten.«
Dann sagte er nichts mehr, nur einmal, nach langem Schweigen, nach vielen gerauchten Zigaretten, nach Hüsteln und Räuspern, nach Durchblättern der Akten, nach Atemholen, Seufzen, Fensteröffnen, nachdem der Senner sich wieder bewegt und sich nun doch eine Tasse Kaffee genommen hatte und uns fragend ansah, als wäre er an einem Punkt völliger Ratlosigkeit angelangt und wartete, daß wir ihm nun sagten, was denn noch weiter geschehen könnte mit seinem Leben, nachdem der Rechtsanwalt nach langer Pause gesagt hatte: »Du könntest woanders hinziehen und dir woanders ein paar Schafe halten« (er sagte auch: »Ich leih dir das Geld oder ich schenk es dir«) – da sagte der Senner noch etwas. Leise, den Kopf in die Arme gestützt, auf die Tischplatte starrend, sagte er: »Ich liebe die Schafe nicht. Ich habe dieses eine Schaf geliebt.«
Dann sagte er nichts mehr und hat auch sonst nicht mehr gesprochen. Alle, die ihn bei den Verhandlungen gesehen haben, müssen so wie ich, bevor ich ihn sah und seine Geschichte hörte, geglaubt haben, er sei ein düsterer Geselle, geprägt von den Felsenrücken, den einsamen Adlern, dem Schweigen um ihn herum, klobig, dumpf und wortkarg.
Der Anwalt, der nie einen Prozeß mit solchem Einsatz geführt hat wie diesen, argumentierte in dem schrecklichen Gewirr von Eigentumsdelikten und Menschenwürde, tierischem und menschlichem Triebverhalten, Besitzstörung und Tierschutzgesetzen, Abhängigkeits- und Eigentumsverhältnissen und gewann den Prozeß.
Der Jörg K. aber verschwand vom Sonnenfels, und wir haben nie mehr etwas von ihm gehört.