Buch
Die magischen Bestien, die das Imperium von Peredain überrennen, scheinen unaufhaltbar. Und nun ist auch noch Prinz Lar dem Fluch erlegen und hat sich ebenfalls in eine Bestie verwandelt wie schon so viele andere vor ihm. Nur Tejohn und Cazia wissen von seinem Plan, eine uralte Magie wiederzuerwecken und so das Blatt im Krieg gegen die Untiere zu wenden. Tejohn ist schwer verletzt, und Cazia wurde ihre Magie entrissen. Doch beide setzen alles daran, den Kampf um das Bestehen des Imperiums voranzutreiben – und verlieren dabei ihr eigentliches Ziel aus den Augen …
HARRY CONNOLLY
DIE SAAT DER
SCHATEN
BAND ZWEI DER TRILOGIE
DER STRAHLENDE WEG
Aus dem Englischen
von Michaela Link
Karte: Kontinent Karl-Maddum
Für Roger Zelazny,
den Lieblingsautor meiner Teenagerjahre
KAPITEL 1
Cazia Freibrunn brauchte mehrere Tage, um sich an die Gegenwart eines zweiten Wesens in ihrem Geist zu gewöhnen. Noch immer hatte sie die Tilkilit-Königin nicht gesehen – obwohl sie diesem Geschöpf so nahe gewesen war, dass sie auf es … auf sie … auf es hätte spucken können –, aber ihre Gedanken standen unter ständiger Beobachtung. Wann immer Cazia über Dinge wie Freiheit, Heimat, Flucht, ihre Magie oder die Waffen der Tilkilit-Krieger nachdachte – oder auch nur darüber, wie hässlich diese Wesen doch waren –, ging von der Königin eine derart heftige Welle des Missfallens aus, dass das Gefühl für Cazia von Selbsthass nicht zu unterscheiden war.
Zuerst hatte Cazia dagegen angekämpft – genauso hartnäckig und verbissen, wie sie immer gekämpft hatte. Die Königin war ein Feind, und auch wenn sich Cazia vor vielen der Feinde, mit denen sie aufgewachsen war, hatte zurückziehen müssen, so hatte sie ihren Widerstand dennoch nie aufgegeben.
Nur dass es unmöglich war, sich vor der Königin zurückzuziehen. Sie war in ihre Gedanken eingedrungen und hatte sich dort eingenistet, genauso wie die Tilkilit in Cazias Heimat Kal-Maddum eingedrungen waren. Dieses Wesen kannte all ihre Gedanken, und Cazia konnte ihm nicht entkommen, ob sie sich nun unten in den lichtlosen Tunneln befand oder draußen in den dichten, nebelverschleierten Wäldern des Talgrunds.
Und Cazia fand es furchtbar. Sie mochte noch jung sein, aber sie hatte bereits ein Leben lang Erfahrung darin gesammelt, Groll gegen andere zu hegen; nur konnte sie ihre Gefühle diesmal leider nicht hinter einer gleichgültigen Miene verbergen. Und sie konnte sich nicht in die Einsamkeit ihres Zimmers zurückziehen. Sie konnte überhaupt nichts tun, außer die Gegenwart der Gedanken eines Feindes inmitten ihrer eigenen zu ertragen. Schlimmer noch, die Gedanken der Königin und ihre eigenen überlagerten sich so sehr, dass Cazia bisweilen Mühe hatte, die Meinung der Königin über sie von ihrer eigenen Meinung zu unterscheiden. Fast war es, als würde sie wieder hohl werden, nur ohne den damit verbundenen Zuwachs an magischen Fähigkeiten, Einsichten und Kenntnissen.
Sie hasste dieses Wesen mehr, als sie je zuvor irgendjemanden oder irgendetwas in ihrem Leben gehasst hatte.
»Ich bin ein freier Mensch«, hatte Vilavivianna ihr eines Morgens zugeflüstert. Das war vielleicht zwanzig Tage nach ihrer Gefangennahme gewesen. Sie hatten zusammen auf der nebligen Wiese gesessen, die die Tilkilit für sich in Beschlag genommen hatten. Im Westen und Süden ragten steile Berge auf, und weit im Osten lag das Meer, aber all das hatte sie seit vielen Tagen nicht mehr gesehen. Hier unten drängten sich die Tilkilit an der tiefstgelegenen trockenen Stelle im Qorrtal zusammen, verbargen sich unter den Bäumen und im ewigen Nebel.
»Ich bin ein freier Mensch«, sagte Ivi ein zweites Mal. »Ich bin niemandes Besitz.« Die kleine Prinzessin aus Indrega wirkte bleich und erschöpft; sie hatte genauso erbittert gegen die mentale Kontrolle der Königin angekämpft wie Cazia. Sie fassten sich an den Händen und wiederholten die Worte gemeinsam. »Ich bin ein freier Mensch.«
Das feindliche Geschöpf schlug so unerbittlich zurück, dass die Attacke sie überwältigte. Sie verloren das Bewusstsein und sanken ohnmächtig ins Gras.
Sie erwachten gemeinsam, fast als hätte die Königin ihnen jetzt das Aufwachen wieder erlaubt. Noch ehe Cazia überhaupt wusste, wo sie war, hatte ihr einer der Tilkilit-Krieger bereits einen ihrer seltsamen glatten Steine an den Kopf gedrückt. Sie spürte, wie ihr alle Magie aus dem Leib gezogen wurde. Wieder einmal. Jeden Tag taten sie ihr das an.
Aber sie wagte es nicht, Widerstand zu leisten. Die Tilkilit waren zwar alle nur ungefähr so groß wie die Prinzessin, die erst zwölf Jahre alt war, aber sie waren ungeheuer stark und gut bewaffnet. Sie konnten Steine mit einer solchen Wucht werfen wie ein Mensch mit einer Schleuder und hatten mit Kinz, dem dritten Mitglied ihrer Expedition, bereits kurzen Prozess gemacht. Sie war von ihnen weggebracht worden; hoffentlich heilten die Tilkilit einfach nur ihre Verletzungen, aber irgendwo in ihrem Hinterkopf war Cazia davon überzeugt, dass sie sie bereits aufgefressen hatten.
Die arme kleine Ivi sah todunglücklich aus. Cazia hätte ihr nicht gestatten sollen, sie über die Berge zu begleiten.
Die Erde rumorte. Einer der Würmer der Tilkilit kroch in der Nähe vorbei, aber glücklicherweise befand er sich tief unter der Erde. Cazia wollte definitiv nie wieder einen von ihnen sehen müssen. Diese Ungetüme waren absolut riesig, groß genug, um die Tore des Palastes von Sang und Morgen einfach nur dadurch zu zerschmettern, dass sie sich mit dem Gewicht ihres Vorderkörpers gegen sie lehnten, und Cazia hatte die Tilkilit auf diesen Würmern in die Schlacht reiten sehen.
Cazia hatte Vilavivianna geholfen, einen dieser Würmer zu töten, und allein die Erinnerung – nur ein flüchtiges Bild des Untiers, wie es sich wand und verbrannte – löste in ihr eine Flut von Selbstvorwürfen aus, deren Quelle nicht in ihr selbst lag. Da war sie sich sicher. Ziemlich sicher.
Das Rumoren ließ die Äste eines nahen Baumes erzittern. Cazia wurde bewusst, dass sie einen solchen Baum noch nie gesehen hatte: Die Rinde wirkte, als sei sie aus Blech, und seine mit glänzenden metallischen Spitzen versehenen Blüten waren so weiß wie Schönwetterwolken.
Sie starrte den Baum finster an. Diese Pflanze war in Kal-Maddum nicht heimisch. Sie war ein weiterer Eindringling im Qorrtal, genau wie die Tilkilit.
Nur einige Tagesreisen von diesem Ort entfernt stand eine Pforte offen, die zu anderen Ländern führte und wahllos alles und jeden in beide Richtungen passieren ließ. An diesem Ende hier war die Verbindungsöffnung unveränderlich dieselbe und immer am gleichen Platz, aber der Ausgang nach der anderen Seite hin wechselte alle zehn Tage zu einer neuen Örtlichkeit. Alles und jeder konnte da hindurchgelangen, und so geschah es auch. Einige dieser Eindringlinge waren Feinde, wie jene Insektenkönigin, die Cazia zu ihrem Besitz erklärt hatte, oder wie die Riesenadler, die hoch oben über dem Nebel ihre Kreise zogen. Einige waren auch die Saat harmloser Pflanzen wie …
Dann bemerkte sie einen Ring nackter Erde um den Baumstamm herum und das braune Gras an dessen Rand. Anscheinend war dieser Baum für das hier heimische Leben giftig.
Eine mächtige Welle des Abscheus durchwogte Cazia. Diese Pforte musste auf irgendeine Art und Weise verschlossen oder zerstört werden, damit keine weiteren Gräuel wie der Giftbaum oder die Tilkilit-Königin in ihr schönes Kal-Maddum, ihr Zuhause, einfallen konnten.
Die Königin las ihre Gedanken sofort und überwältigte sie erneut, zwang sie in die Bewusstlosigkeit.
So ging es weiter, Tag um Tag. Die Krieger setzten täglich ihre Anti-Magie-Steine ein, um es Cazia unmöglich zu machen, ihre magischen Gaben, die Geschenke, zu benutzen. Die Königin überwachte jeden Gedanken ihrer Gefangenen und ließ die Mädchen selbst die oberflächlichsten unzufriedenen Gedanken bitter bereuen.
Nach fünfzehn weiteren Tagen durfte Kinz sich ihnen wieder anschließen. Vilavivianna sprang der Älteren stürmisch entgegen, um sie zu umarmen, aber Kinz zeigte keinerlei Gefühlsregung. Als die Prinzessin sie wieder losgelassen hatte, ließ Kinz ihre Schultern kreisen und verkündete, völlig geheilt zu sein. Die in einem Kokon der Tilkilit verbrachte Zeit hatte ihre gebrochenen Knochen so gut heilen lassen, als sei sie überhaupt nie verletzt gewesen.
»Ich bin froh, dass sie dich nicht aufgefressen haben«, sagte Cazia.
»Ich tu auch froh sein. Was ist alles passiert, während ich weg war?«, fragte Kinz.
Sie saßen in einem kleinen Kreis zusammen. Der Nebel war an diesem Tag besonders dicht, aber die Mädchen konnten nicht einmal so tun, als könnten sie heimlich miteinander reden. Am Rand der Lichtung, gerade noch in Sichtweite, bewegten sich Tilkilit-Krieger auf und ab, und die Königin schien ohnehin nie zu schlafen.
»Nichts«, antwortete Vilavivianna. »Sie halten uns hier im Wald gefangen und verlegen uns nur dann an einen anderen Ort, wenn sich der Nebel einmal so stark lüftet, dass sie fürchten, der Große Schrecken könnte von oben angreifen.« Großer Schrecken war der Name der Tilkilit für die Riesenadler, die weit oben in den Felswänden nisteten und sie erbarmungslos jagten. »Wir dürfen uns nicht einmal unbeaufsichtigt erleichtern.«
»Es ist ja nicht so, dass sie glotzen tun wollen, Ivi«, sagte Kinz. Ihre Stimme zitterte vor Erschöpfung. Ein Krieger ging in ihrer Nähe vorbei, und die drei Mädchen blickten auf. Sein rötlich schwarzer Körper mit dem harten Panzer war nicht breiter als der Oberschenkel eines Mannes, und seine winzigen Augen waren finster und undurchsichtig. Er trug nicht mehr am Leib als eine grüne Schärpe – offenbar ein Rangabzeichen – und war mit einem Kurzspeer, einem Beutel mit Steinen und einem kleinen Knüppel bewaffnet, den er statt eines Dolches bei sich trug.
Die Tilkilit konnten springend überraschend große Distanzen überwinden und machten überhaupt einen übermäßig starken Eindruck. Doch Cazia wusste, dass sie und ihre beiden Gefährtinnen den Tilkilit würden entkommen können, sobald sie nur einen anständigen Vorsprung hatten – die Krieger waren zwar schnell, aber ihnen fehlte die Ausdauer. Leider waren sich die Tilkilit darüber selbst im Klaren.
»Sie sind vorsichtig«, sagte die Prinzessin. »Und sie warten auf irgendetwas.«
Cazia riss ein Büschel Grashalme aus der Erde und warf sie wieder zu Boden. »Sie warten darauf, dass wir aufgeben.«
Kinz sah sie beide an. »Wissen sie denn alles? Ivi?«
Vilavivianna senkte den Blick. »Ja. Sie wissen von der Allianz, den fünf Völkern, den Schlangen, den Riesenadlern und … und von dem Tunnel, den Cazia gegraben hat, um uns hierher über die Berge zu bringen.«
»Sie wissen auch, dass der Tunnel verbarrikadiert ist«, warf Cazia ein. »Obwohl ich bezweifle, dass sie das besonders kümmert. Ich glaube, sie sind nur deshalb noch nicht von hier aus die Berge hinaufgeklettert und durch den Tunnel in die Ebene hinunter, weil wir uns nicht mehr erinnern können, wo er überhaupt ist.«
»Nein«, widersprach Ivi entschieden. »Sie werden bestimmt nicht über den Nebel hinausklettern, nicht solange dort oben die Vögel über uns kreisen. Das würde ein Gemetzel geben. Und was würde dann die Königin tun? Sich hier in Qorr eine bleibende Festung bauen? Nein, sie suchen nach einem anderen Weg hinaus.«
Cazia spürte, wie sie rot wurde. Natürlich würden sich die Tilkilit nicht schutzlos den Vögeln ausliefern. Außerdem konnten ihre Reittiere auf keinen Fall über die Berge von hier wegkommen. Sie waren einfach zu riesig.
Die Königin hatte sie ganz in ihrer Gewalt. Sie war in ihrem Kopf, bekam jeden ihrer Gedanken mit, und Cazia hatte keinerlei Freiraum, von wo aus sie einen Gegenschlag planen könnte.
Cazia strich mit den Fingern über das harte kurze Gras. Wusste die Königin in jedem Augenblick, wo sie sich aufhielt? Ganz bestimmt nicht, denn dann würde man die Mädchen nicht so streng bewachen, selbst wenn sie hinter einen Baum gingen, um sich zu erleichtern. Konnte die Königin sehen, was Cazias Augen sahen, und hören, was ihre Ohren hörten?
Wenn ja, dann musste sie sich genauso langweilen wie Cazia, die Tag um Tag auf dieser Wiese verbrachte und dabei immer nur dieselben paar Bäume und denselben dichten weißen Nebel vor Augen hatte – einen Nebel, der sich nie ganz auflöste, nicht einmal während der wärmsten Stunden des Tages. Die Wiese war einer der wenigen oberirdischen Orte, wo sich die Tilkilit verstecken konnten. Und wenn ein starker Wind von Osten her wehte, konnte Cazia spät in der Nacht das schreckliche Krachen der Meeresbrandung hören. Das machte den Ort nur noch ungemütlicher.
Ivi schniefte. »Ich habe Heimweh«, jammerte sie. In diesem Moment sah die Prinzessin wie das kleine Mädchen aus, das sie in Wirklichkeit war. Obwohl Cazia nur drei Jahre älter war als sie. Kinz wiederum war noch einmal zwei oder drei Jahre älter als Cazia. »Ich kann es nicht ausstehen, im nassen Gras zu schlafen. Wir bekommen von ihnen nur ekelhaftes Zeug zu essen, und ich habe immerzu Durst. Warum können sie uns nicht einmal erlauben, ungestört und allein unseren Bedürfnissen nachzugehen!«
»Komm schon, kleine Schwester«, sagte Cazia begütigend, aber Ivi wollte keinen Trost. Sie stand auf und stapfte in den Nebel davon. Krieger folgten ihr. Krieger folgten ihnen immer.
Kinz’ Gesichtsausdruck war verkniffen und undeutbar. Die Tilkilit-Königin mochte in der Lage sein, die Gedanken der Älteren zu lesen – Cazia konnte das nicht.
Beide blickten sie Ivi hinterher. Die Prinzessin war zwar die Jüngste, doch war sie von Privatlehrern erzogen worden, die sie über die große weite Welt unterrichtet hatten. Sie beherrschte mehrere Sprachen, und als es um die Ausrüstung gegangen war, die sie für ihre Reise benötigten, hatte sie die Verhandlungen geführt. Kinz wiederum taugte vor allem dazu, Fische zu fangen und ihre Rucksäcke zu tragen. Cazia selbst hatte sich irgendwie an der Seite der beiden durchgeschlagen und dabei mit ihrer Magie Schindluder getrieben, bis sie sich selbst in den Wahnsinn gestürzt hatte. Es war Ivi gewesen, die mit ihrem gesunden Menschenverstand mehr als nur einmal ihrer aller Leben gerettet hatte.
Ich hätte sie nie mitkommen lassen dürfen.
:: Du bist mein Besitz. :: Die »Stimme« der Tilkilit-Königin drang laut und schrill durch ihren Kopf. Cazia verspürte einen jähen Widerwillen gegen die eindringenden Gedanken. Das Wesen hatte seit jener ersten Begegnung nicht mehr zu ihr gesprochen. :: Du bist mein Besitz. Du hast das hinzunehmen. So, wie ich der Stimme des Gottes in der Luft gehorche, wirst du tun, was ich dir befehle. Wenn nicht, werde ich dir deine kleine Schwester wegnehmen. ::
Glühender Zorn durchströmte Cazia. Sie hasste diese Gedanken, die sich ihr tief und stechend in den Sinn drängten. Das Wesen und Denken der Königin war öde und dumm, immer hastig und überstürzt und ihrem eigenen durch und durch fremd. Und gerade war die Königin auch noch so närrisch gewesen, Ivi zu bedrohen.
Wenn sie noch über ihre Magie verfügt hätte, hätte Cazia nun damit begonnen, jeden Tilkilit zu verbrennen, den sie sehen konnte, und Feuer mochte die Konsequenzen holen.
Wenn du diesem kleinen Mädchen etwas antust, wenn du oder dein Volk ihr auch nur ein einziges Haar krümmt, werde ich mir das Leben nehmen, und du wirst nie mehr von hier wegkommen.
Cazia konnte den Schock des Wesens spüren. Sie konnte spüren, wie das Geschöpf mit dem Konzept von Selbstmord rang, als sei das eine völlig neue und unvorstellbare Idee. Für etwas sein Leben zu riskieren, das verstand es – aber seinem Leben freiwillig ein Ende zu machen?
Offensichtlich wollte die Königin die Idee einfach als eine leere Drohung abtun, daher rief sich Cazia die wenigen Selbstmorde ins Gedächtnis, die ihr während ihres Lebens im Palast untergekommen waren – zwei Diener, die sich erhängt hatten, ein Wachposten, der sich in sein Schwert gestürzt hatte, ein junger Gelehrter, der vom Dach des Turms gesprungen war. Die Königin war in ihren Gedanken und verstand, dass Selbstmord tatsächlich etwas war, was diese Menschenwesen taten.
Eine tiefe Verwirrung überkam sie beide. Cazia war für die Königin ebenso fremdartig, wie die Königin es für sie war.
Eine jähe Woge der Missbilligung brandete über Cazia hinweg, und der Zorn der Königin war so groß, dass sie das Bewusstsein verlor.
Der Schrei eines Adlers weckte sie mitten in der Nacht. Der Nebel war derart dicht, dass er jegliches Sternenlicht schluckte, und sie konnte die Hand nicht vor Augen sehen.
Doch sie konnte das Schlagen der gewaltigen Flügel hören und die panischen Klacklaute der Tilkilit-Krieger. Ein weiterer durchdringender Schrei erscholl, und sie hörte den Großen Schrecken davonflattern. Kinz und Ivi tasteten nach ihr, und sie klammerten sich in der Dunkelheit aneinander und warteten, dass wieder Stille einkehrte.
Kinz führte sie zu den Bäumen hinüber. Cazia kroch hinter den beiden anderen her und versuchte, so leise wie möglich zu sein. Auf keinen Fall hatte der Riesenadler seine Beute mit den Augen ausfindig gemacht; er musste sie vielmehr durch ihr Geräusch aufgespürt haben. Zwischen zwei großen Bäumen fanden sie einen schmalen Zwischenraum. Sie schlüpften hinein und schlangen erneut die Arme umeinander. Es war nicht allein die kühle, feuchte Luft, die sie zittern ließ.
Die Tilkilit-Königin wollte einen Tunnel haben. Cazia sollte sich nicht nur ganz der Macht der Königin unterwerfen, sie war auch nur deshalb noch am Leben, weil die Königin wollte, dass sie für sie einen Tunnel durch die Nördliche Barriere grub, der groß genug für die Riesenwürmer war. Den Tilkilit würde sich dadurch ein Verbindungsweg in den übrigen Kontinent eröffnen, während die Königin … Konnte sie überhaupt bewegt werden? Sie lebte in absoluter Finsternis; das eine Mal, als Cazia in ihrer Nähe gewesen war, hatte sie nicht das Geringste sehen können, hatte aber das untrügliche Gefühl von gewaltiger Größe und Unbeweglichkeit gehabt. Vielleicht wollte die Königin von ihrem Bau im Qorrtal aus weiterregieren, oder vielleicht hatte sie auch vor, eine zweite Königin zu schaffen, die die Reise hinab in die Weiten Lande unternehmen konnte.
Nicht dass ihre Pläne von Belang gewesen wären. Cazia hatte nämlich nicht die geringste Absicht, ihr …
Sie wurde erneut ohnmächtig.
Es war noch vor der Morgendämmerung, als sie wieder zu sich kam. War es dieselbe Nacht? Im ersten Moment hätte sie es nicht sagen können, aber wenn sie einen ganzen Tag verpasst hätte, hätte sie eigentlich noch durstiger sein müssen.
»Alles in Ordnung mit dir, große Schwester?«
Ivis Hand auf ihrem Gesicht fühlte sich kühl an. Cazia richtete sich auf und hielt sich den Kopf. Sie hatte in ihrem Leben bereits schlimmere Kopfschmerzen gehabt, jetzt war sie sich allerdings nicht sicher, ob die Königin dahintersteckte oder ob es einfach nur daran lag, dass sie völlig ausgedörrt war. »Ich habe Durst.«
»Trink das hier.« Ivi drückte ihr eine Wasserschale in die Hände. Die Tilkilit tranken aus irgendeinem Grund immer aus Holzschalen. »Sie haben uns heute doppelte Wasserrationen gebracht. Vielleicht wollen sie uns ja doch nicht umbringen.«
»Das glaube ich erst, wenn sie uns freilassen.«
Sie nahm einen kräftigen Zug aus der Schale, schluckte das kühle, leicht salzige Wasser hastig hinunter. Großer Weg, es tat so gut, ihre trockene Kehle zu befeuchten. Dann bemerkte sie zwei weitere Wasserschalen im Gras neben sich und leerte sie genauso gierig wie die erste. Es war noch immer nicht genug, aber sie fühlte sich besser.
Kinz näherte sich ihnen mit zwei Aprikosen in der Hand. Sie gab beide Cazia. »Wir haben schon gegessen.«
»Kinz«, sagte Ivi und legte der Älteren eine Hand auf die Schulter. »Kinz.«
Cazia bemerkte, dass das Gesicht der Dienerin bleich war und sie verquollene Augen hatte. »Kinz«, sagte sie. Ihrem Tonfall fehlte die Freundlichkeit, die in Ivis Stimme gelegen hatte. »Warum hast du geweint?«
»Ich bin nicht frei«, antwortete Kinz. »Die Poalos tun nicht mehr frei sein. Seit ich alt genug war, um neben der Herde herzulaufen, habe ich gewusst, dass wohl einst der Tag kommen würde, an dem mir etwas meine Freiheit wegnehmen tun würde. Eine schlimme Heirat. Eine plötzliche Krankheit. Sklavenhändler aus Indrega, die ihre Opfer bei Nacht überwältigen und …«
Ivi schnappte nach Luft. »Die Angehörigen meines Volkes, die Indregai, sind keine Sklavenhändler. Wie kannst du so etwas nur sagen!«
Kinz bedachte sie mit einem vernichtenden Blick. »Räuberbanden tun aus Eurem Land kommen, um sich in das unsere einzuschleichen. Meine eigene Cousine wurde entführt, als ich sieben war. Sie schrubbt wahrscheinlich immer noch in der Küche irgendeines kleinen Stammesfürsten Pfannen, wenn sie nicht bereits zu Tode gepeitscht worden ist.« Ivi öffnete den Mund, um zu protestieren, aber Kinz kam ihr zuvor. »Ihr mögt stets nur die besten Lehrmeister gehabt haben, kleine Prinzessin, aber es gibt immer noch sehr viel, was Ihr nicht wisst.«
Daraufhin verfiel Ivi in grollendes Schweigen.
Kinz sah Cazia schuldbewusst an, als sei sie sich durchaus bewusst, dass sich eigentlich niemand ihre Ausführungen anhören wollte. Dennoch fuhr sie fort: »Aber vor allem habe ich immer geglaubt, dass es Soldaten aus Peradain sein würden, die mir meine Freiheit nehmen tun würden. Wann immer sich ihre Schwertkämpfer und Schwertkämpferinnen unserem Lager genähert haben, um ihre Tributzahlungen einzutreiben …«
Steuern, dachte Cazia automatisch, aber sie hielt den Mund. Was spielte es jetzt auch für eine Rolle, ob die Poalos und die anderen Hirtenvölker Teil des peradainischen Reiches gewesen waren oder nicht? Das Reich gab es nicht mehr.
»… war ich mir sicher, dass sie uns alle verschleppen würden«, brachte Kinz ihren Satz zu Ende. »Dass sie uns zu Dienern machen tun würden.«
»Du bist eine Dienerin«, platzte es aus Cazia heraus. »Du bist meine und auch Ivis Dienerin. An dem Tag, als wir die Ozzhuacks verlassen haben, hast du uns Treue geschworen.«
»Ich glaube, die Königin der Tilkilit hat mich meinen Dienstvertrag mit Gewalt brechen lassen tun.«
Cazia war nicht bereit, das hinzunehmen; nicht, wo doch … Eine plötzliche Welle der Missbilligung drängte ihre Gedanken davon, aber sie war nicht stark genug, um ihr erneut das Bewusstsein zu rauben. Die Königin wollte sie alle als ihre Dienerinnen haben.
Sie mussten nur eine Gelegenheit finden, einen gewissen Abstand zwischen sich und die Tilkilit-Krieger zu legen. Cazia wusste nicht, wie sie das bewerkstelligen sollten, aber irgendwann, in irgendeiner Form, würde diese Gelegenheit kommen.
Der missbilligende Tadel der Königin wurde stärker. Kleine Punkte flimmerten vor Cazias Augen.
»Hat die Königin die Angriffe auf euch eingestellt?«, fragte Ivi.
Kinz schüttelte den Kopf. »Es reicht nicht, sich ihr ergeben zu tun«, antwortete sie. »Sie will auch, dass wir sie lieben.«
Es kostete Cazia ihre ganze Willenskraft, nicht in höhnisches Gelächter auszubrechen. Sie schluckte Zorn und Empörung hinunter, verkniff sich ihre Empfindungen und presste sie zusammen, bis sie glatt und hart waren wie Eisenmünzen. Lieben? Die Tilkilit? Verstand die Königin überhaupt irgendetwas von dem, was Cazias Wesen ausmachte?
»Sie will nicht nur, dass wir uns ergeben«, sagte Cazia. »Sie will, dass wir Teil ihres Schwarms werden … Teil ihres Volkes oder wie auch immer sie es nennen mag. Und solange wir ihr nicht genauso ergeben sind wie ihre Krieger, können wir nicht Teil ihres Volkes sein. Erst dann wird ihr Vertrauen in mich stark genug sein, um mir zu befehlen, einen Tunnel durch die Berge in die Weiten Lande zu graben.«
Kinz und Ivi sahen sie mit offenen Mündern an. »Ein Tunnel, der ihr Volk hier herauslässt«, gab Ivi zu bedenken, »würde den Segen hereinlassen. Hat sie denn unsere Gedanken nicht gelesen?«
Kinz schüttelte den Kopf. »Meint ihr, sie glaubt uns?«
Die Frage verwunderte Cazia. Natürlich glaubte die Königin ihnen. Die Königin war ein Insekt. Sie und ihr Insektenvolk dachten Insektengedanken; sie waren schematisch geordnet und beschränkt. Auch wenn die Königin anderen ihre Gedanken eingeben konnte, wurden die anspruchsvolleren Gespräche innerhalb ihres Volkes vorwiegend mittels Gerüchen geführt.
Die Tilkilit reihten nicht einzelne Wörter zu einer langen Schlange von Lauten, die eine bestimmte Bedeutung zu erkennen gaben. Sie verspritzten Düfte. Das war eine sehr kurze, sehr komplexe Äußerungsform, und soweit Cazia das beurteilen konnte, war diese Art der Kommunikation zum Lügen nicht sonderlich gut geeignet. Verwirrung strudelte durch ihre Gedanken, und natürlich war es die Verwirrung der Königin. Unehrlichkeit schien in der Vorstellungswelt der Tilkilit ein noch schwierigeres Konzept zu sein als der Selbstmord.
Cazias Volk hingegen – und sie betrachtete die Peradaini erst als ihr Volk, seit sie die Stadt Peradain dem Segen der Grunzer hatte anheimfallen sehen – war berühmt für seine Lieder, seine Geschichten und sein Theater. Keine dieser Darbietungen war im wortwörtlichen Sinn gemeint; alles bedeutete etwas anderes. Überschwemmung stand für die Zerstörungen des Krieges. Ein Mensch, der für ein ehrgeiziges Ziel alles riskierte, »baute einen allzu hohen Turm«. Ein Duell zwischen zwei Feinden war ein blutiger »Wettlauf zur Strafe«.
All die Zauber, die Cazia erlernt hatte – und die zu wirken die Anti-Magie-Steine der Tilkilit sie nun hinderten –, betrafen in Wirklichkeit nur die materielle Welt. Sie konnten das Denken der Menschen nicht verändern und sie genauso wenig dazu bringen, sich zu verlieben, wie es die Gedankentyrannei der Königin konnte. Aber Kunst vermochte dergleichen. Und bei den Tilkilit schien es keine Kunst zu geben.
Sie lügen nicht.
»Mir gefällt es hier unglaublich gut«, sagte Cazia plötzlich. Die beiden anderen starrten sie in stummer Überraschung an. »Ich finde hier alles ganz großartig, und ich bin sehr froh, dass ich keine eigenen Entscheidungen mehr treffen muss. Wenn es irgendetwas gibt, was ein Mädchen in meinem Alter mag, dann, dass jemand ihm sagt, was es tun soll.«
Kinz und Ivi warfen einander nervöse Blicke zu. »Cazia«, sagte die kleine Prinzessin, »bist das wirklich du?«
Sie verstehen mich nicht, dachte sie. Doch, das tun sie. Sie verstehen mich ganz genau.
Sie wandte sich direkt an Kinz. »Wie, glaubst du, wird es deinem hässlichen Bruder jetzt wohl ergehen?« Die bloße Erwähnung Algas jagte Cazia ein Kribbeln über den Rücken. Die Art und Weise, wie dieser schöne arrogante Mistkerl sie angelächelt hatte … »Ich muss mich unwillkürlich fragen, wie jemand, der körperlich dermaßen abstoßend ist, ganz allein dort draußen in der Welt zurechtkommen soll.«
Kinz blinzelte zweimal. »Ja. Ja, er tut wirklich sehr hässlich sein. Und ist so bescheiden und schüchtern. Wenn nur die Mädchen ein Interesse an ihm zeigen würden, würde er vielleicht seine Schüchternheit ein Stück weit verlieren tun.«
»Wovon redet ihr beide da?«, fragte Ivi verärgert. »Alga war überhaupt nicht hässlich. Ich fand deinen Bruder sogar ziemlich gutaussehend.« Letzteres sagte sie in einem Tonfall, als wolle sie Kinz freundlich aufmuntern.
Cazia griff nach Ivis Hand. »Es tut mir nur leid, dass wir nichts mehr von dem Fleischbrot für dich übrig haben. Ich weiß, wie gern du es gegessen hast.« Ivi rümpfte die Nase, aber bevor sie sich ein weiteres Mal darüber beschweren konnte, wie salzig das Fleischbrot gewesen war, redete Cazia weiter. »Die Tilkilit-Königin ist wirklich mächtig, findest du nicht auch? Sie kann offensichtlich ihre Gedanken all ihren Untertanen gleichzeitig eingeben.«
»Ja«, pflichtete ihr Kinz bei. »Als wir diesen einen aus ihrem Volk gefangen hatten, war klar, dass sie es sofort wissen musste, und dann hat sie alle anderen Soldaten darauf aufmerksam gemacht, wo wir uns befanden.«
Ivi zog die Brauen zusammen. »Nein, es war doch gar nicht …«
Cazia drückte ihre Hand. »Wenn nur der Segen hier sein könnte! Ich vermisse es so, ihn um mich herum zu haben.«
Der Mund der Prinzessin formte sich zu einem kleinen Kreis, dann schaute sie zwischen ihnen hin und her. »Oh! Ah! Ja ja, ich wünschte auch, der Segen wäre hier, damit ich auf den Schultern der Grunzer durch die Wildnis reiten könnte.«
Sobald die kleine Prinzessin verstanden hatte, worum es ging, war sie voller Eifer und genoss es, wie eine Blume den Sonnenschein genießt. Sie plapperte endlos über ihre gegenwärtige Situation und all die Dinge, die sie jetzt lieber tun würde, und die ganze Zeit sagte sie das genaue Gegenteil von dem, was sie in Wirklichkeit dachte.
Cazia tat ihr Bestes, um sicherzustellen, dass die beiden anderen auch verstanden, dass Worte allein nicht genügten. Sie mussten auch umgekehrt denken. Wenn die Königin dahinterkam, was sie da zu tun beabsichtigten …
Nein. Die Königin hat die totale Gewalt über unsere Gedanken und durchschaut sie restlos. Es besteht keinerlei Möglichkeit, sie zu täuschen oder zu verwirren.
Als man ihnen ihr Frühstück brachte, unterhielten sie sich im freundlichen Plauderton darüber, wie sehr sie doch den klebrigen Harzsaft und die rohen Wurzelknollen genossen, mit denen die Tilkilit sie fütterten. Ihr überschwängliches Lob und ihre Begeisterung nahmen derart aberwitzige Formen an, dass sie sogar lachen mussten. Cazia konnte spüren, wie sich die Gedanken der Königin mehr und mehr beruhigten.
Gegen Mittag legte ihr ein Krieger trotzdem wieder einen Anti-Magie-Stein auf den nackten Hals, und der Schock ließ sie im Gras zusammenbrechen. Diese Steine bringen mich um.
Die Königin schien für den Rest des Tages nicht mehr so drückend nahe, und eine leise Hoffnung, dass es ihr gefiel, wie sie sich verhielten, flackerte in Cazia auf. Trotzdem richtete sie ihre geballte Konzentration auf die gleiche intensive Weise auf ihr Spiel, wie sie früher beim Lernen von Zaubersprüchen ihre Gedanken stur auf die Geschenke gerichtet hatte.
Sie verbrachten den Tag damit, im kühlen, wallenden Nebel im Gras zu liegen. Die kleinen Krieger umkreisten sie am Waldrand in unablässigen Patrouillen. Die Mädchen nahmen ihre Mahlzeiten zu sich, sangen Lieder und schlugen die Zeit tot.
Es war für sie alle überraschend, wie schnell ihnen das Spiel zur selbstverständlichen Gewohnheit wurde.
An diesem Abend kamen die Tilkilit nicht mit ihrem Stein, um Cazia ihre Magie zu nehmen. Sie schlief mit der Frage im Kopf ein, ob sie dann wohl am Morgen kommen würden. Was nicht der Fall war.
»Ich bin enttäuscht zu spüren, dass meine magischen Kräfte zurückkehren«, berichtete sie den anderen Mädchen. »Bisher ist es nur ein ganz klein wenig. Es hat so gutgetan, sie los zu sein. Aber wenn die Königin meine Magie braucht, bin ich bereit, ihr zu dienen.«
Es vergingen noch zwei weitere Tage, bis die Krieger zu ihnen kamen. Sie schritten in die Mitte der Lichtung, die Speere im Anschlag. Sie warfen ihnen Beutel mit Essen sowie Wasserschläuche vor die Füße, dann wurden die Mädchen mit wortlosen Gesten und Knuffen aufgefordert aufzustehen.
Der Boden erbebte und ließ die Blätter in den nahen Bäumen rascheln. Alle drei spürten, wie sich die Wiese unter ihnen leicht anhob und dann senkte. Wieder einmal war einer der Riesenwürmer der Tilkilit unter ihnen hinweggeglitten, dieses Mal viel näher an der Oberfläche.
:: Du wirst einen Tunnel durch die Berge im Süden graben. Er soll breit genug für uns alle sein. ::
Deinen Willen zu erfüllen ist mein innigster Wunsch. Die Königin schien damit zufrieden, und die Gruppe brach auf.
Der Nebel war so dicht, dass es schwierig war, sich über die eingeschlagene Richtung im Klaren zu sein. Cazia konnte sich allein darin sicher sein, dass es bergauf ging. »Ich hoffe nur«, sagte sie, »dass wir nahe genug am Fuß der Felswand sind, damit wir ohne große Verzögerungen anfangen können, den Tunnel für die Königin zu graben.«
Doch das war nicht der Fall. Die Tilkilit führten sie über einen Vorberg, der dicht mit jungen Eichen bewachsen war. Für einen Moment wurde der Nebel so dünn, dass sie die Nördliche Barriere über ihnen aufragen sehen konnten. Selbst wenn sie ein zügiges Tempo beibehielten, lag vor ihnen ein zweitägiger Marsch.
»Dieser reißende Fluss da ist gefährlich«, sagte Kinz und deutete auf eine tief gelegene Stelle im Talgrund vor ihnen. Der wirbelnde Nebel war dort dünner, und sie konnten gerade eben einen flachen, breiten Fluss mit schäumendem Wildwasser an den Ufern ausmachen. »Wenn wir da hineinfallen, könnten wir leicht ertrinken.«
»Dann sollten wir das eben auf keinen Fall tun«, erwiderte Ivi.
»Aber wenn es doch passiert«, fuhr Kinz fort, »ist es das Beste, was man in einem reißenden Fluss tun kann, die Füße auf den Boden zu stemmen. In einer starken Strömung muss man immer alles dafür tun stehen zu bleiben.«
Einer der Krieger stieß ihnen in den Rücken und zwang sie weiterzugehen. Cazia spähte nach oben und sah einen Adler im Aufwind treiben. Er schien recht nahe, aber sie wusste, dass das nur eine optische Täuschung war, die durch die kolossale Größe des Vogels verursacht wurde.
Sie stiegen den Berghang hinab und hielten sich im Schutz der Bäume, bis sie wieder sicher im dickeren Nebel der Talsohle angelangt waren. Der Boden erbebte abermals – der große Wurm begleitete sie, was Cazia natürlich überhaupt gar nichts ausmachte. Zu ihrem Geleittrupp gehörten ungefähr drei Dutzend Krieger, aber es befanden sich womöglich noch weitere vor oder hinter ihrer Kolonne. War sie froh, so viele Soldaten der Königin um sich herum zu haben!
Sie erreichten das Flussufer erst am Vormittag des Folgetages. Der Nebel war hier sehr dünn. Die Tilkilit machten einen Bogen um das flache Ufer und wandten sich flussaufwärts nach Westen. Der tosende Fluss war überraschend laut.
Als sie an diesem Abend das Lager aufschlugen, drängte sich Cazia unwillkürlich die Frage auf, wo sich Quelle und Mündung des Flusses befanden. Wie nah die Quelle wohl an jener Pforte am westlichen Ende des Qorrtals lag? Und wo war die Mündung? Wie alle Peradaini im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte hegte sie eine nur zu berechtigte Furcht vor dem Meer, und die Vorstellung, dass sie in den Fluss fallen und vom Ufer weg und weit ins Meer hinaus gerissen werden könnte, ließ ihren Magen flattern wie einen Käfig voller Motten.
Die Tilkilit weckten sie am nächsten Morgen vor Tagesanbruch. Natürlich. Die Adler waren bei Sonnenauf- und Sonnenuntergang am wenigsten aktiv; wenn es also eine sichere Zeit zur Überquerung des Flusses gab, dann bei Einsetzen der Dämmerung.
»Schaut euch das mal an«, sagte Kinz.
Die Bäume, die dem Fluss am nächsten standen, wirkten krank und dürr. Steinerne Stifte waren in die Stämme getrieben worden, und von den Stiftspitzen tropfte eine klare Flüssigkeit in die darunter angebrachten Holzschalen. Tilkilit-Krieger leerten die Schalen in ihre Schläuche.
Jetzt, da Kinz sie darauf aufmerksam gemacht hatte, entdeckte Cazia die kleinen Steinstifte überall. Wurde der abscheuliche Harzsaft, von dem sich die Insektenwesen ernährten, aus Bäumen gezapft? Wenn ja, dann waren die Tilkilit gerade dabei, den Wald unwiederbringlich zu zerstören.
Dieses arme Insektenvolk, gefangen in einem Tal, das zu klein für sie alle war, vor allem da ihre Königin doch so viele Eier legte. Oh, wenn sie diesem Kerker nicht bald entkamen, wäre vielleicht gar eine Hungersnot die Folge!
Die Gedanken der Königin waren schwach, aber trotzdem noch immer gegenwärtig. Wie mächtig sie doch war!
Im Morgengrauen erreichten sie eine Stelle, an der der Fluss nicht sehr breit war. Ein kleiner Bergrutsch am gegenüberliegenden Ufer hatte den Flusslauf so schmal werden lassen, dass ein umgestürzter Baum bis ans andere Ufer hinüberreichte.
Als sie die freigelegten Wurzeln hinaufkletterten, fragte Cazia: »Wisst ihr, was ich zutiefst verabscheue? Diese schwarzen Steine, die die Tilkilit bei sich tragen und die mir meine Magie wegnehmen. Ich hoffe, dass ich nie wieder mit ihnen durch die Welt reisen muss.«
Kinz warf einen raschen Blick auf den Krieger, der sich direkt vor ihr auf dem Baumstamm befand. Der Sack mit den Steinen hing auf seiner linken Seite von seiner Schärpe herab. Cazia bemerkte zum ersten Mal, dass seine Schärpe von einem schwarzen Rand eingefasst war. War er eine Art Befehlshaber? »Seid vorsichtig«, mahnte Kinz. »Bleibt in meiner Nähe, damit ich euch die Stelle zeigen kann, an der ihr wirklich nicht fallen tun wollt.«
Oben auf dem Baumstamm angelangt, blieben die drei Mädchen dicht beieinander. Die Krieger um sie herum schenkten der unangenehmen Krümmung des Baumstamms und dem Himmel über ihnen mehr Beachtung als den Mädchen, und das war auch nur zu verständlich. Die Mädchen waren schließlich Freunde der Tilkilit. Getreue Freunde.
Sie hatten gerade die Flussmitte erreicht, als Kinz – auf die denkbar unglaubwürdigste Weise – plötzlich aufschrie, als verlöre sie das Gleichgewicht. Sie umklammerte den nächststehenden Krieger und riss ihn mit sich den glitschigen Baumstamm hinab in das tosende Wasser.
Cazia sah, wie Kinz noch im Sturz nach dem Steinbeutel des Tilkilits griff.
Ivi war ihr bereits hinterhergestürzt, ehe Cazia auch nur begriffen hatte, dass jetzt der Moment ihrer Flucht gekommen war. Krieger sprangen auf sie zu, und sie machte einen Satz zur Seite, so dass sie sich knapp außerhalb ihrer Reichweite befand.
Im letzten Moment änderte Cazia den Winkel ihres Sturzes und landete mit beiden Knien direkt auf dem Tilkilit im Wasser.