Übersetzer: Hans Barbeck
Davidge und Triffitt schwiegen, während sie im Fahrstuhl abwärts fuhren. Aber als sie dann zum Ausgang kamen, stieß der Inspektor den Zeitungsmann wieder an.
»Vor der Tür werden Sie einige kräftige Herren in Smoking und Frack sehen«, sagte er. »Man könnte sie für Hausbewohner halten, die unten noch eine Zigarre oder Zigarette rauchen wollen. Aber es sind meine Leute. Nehmen Sie keine Notiz von Ihnen – Ihr Freund Carver ist auch draußen. Gehen Sie zu ihm, und warten Sie.«
Triffitt wußte nicht recht, was das alles bedeuten sollte, und ging zu Carver hinüber, der in der Nähe des Hauseinganges stand.
»Detektive!« flüsterte ihm dieser zu. »Haben Sie etwas Neues gehört?«
»Massenhaft!«
»Aber sehen Sie, da kommen Selwood und der Professor.«
Die beiden kamen eben durch die Haustür und stiegen die paar Stufen zum Gehsteig hinunter. Davidge rief sie an und nahm sie beiseite.
»Was war oben los?« fragte Carver. »War es wirklich interessant?«
Triffitt lenkte die Aufmerksamkeit seines Kollegen auf die Haustür und brachte ihn zum Schweigen.
Burchill kam aus der Tür und dicht hinter ihm Mr. Dimambro. Burchill wirbelte in bester Laune seinen Spazierstock und schien Cox, Selwood und Davidge nicht zu bemerken. Als er aber an der Gruppe der Polizeibeamten vorbeikam, wandten sich diese ihm plötzlich zu. Harter Stahl blitzte im Laternenlicht auf, und ehe Burchill wußte, wie ihm geschah, hatte er Handschellen an den Gelenken.
Als er jetzt wütend aufschaute, sah er Cox und Selwood.
»Verdammte Lügner!« zischte er durch die Zähne. »Sie hatten mir doch freies Geleit zugesagt! Es war verabredet, daß ich kommen und gehen konnte, ohne daß Sie die Polizei auf mich hetzen wollten, Sie Hunde!«
»Sie haben aber die Rechnung ohne mich gemacht!« sagte Inspektor Davidge und trat vor. »Sie scheinen tatsächlich vergessen zu haben, daß ein Haftbefehl wegen einer alten Anklage gegen Sie schwebt. Und wenn Sie auch Mr. Jacob Herapath nicht ermordet haben, so wird Ihnen doch die andere Sache nicht geschenkt. Ich habe noch einen zweiten Verhaftungsbefehl gegen Sie in der Tasche. Die Anklage wird Ihnen vorgelesen, sobald wir auf der Polizeistation sind.«
»Was soll denn das bedeuten? Welche Anklage haben Sie denn gegen mich?« rief Burchill wild.
»Ich sollte meinen, daß Sie das ebensogut wüßten wie ich. Diesmal haben Sie sich viel weniger schlau benommen als sonst. Vorhin erzählten Sie selbst von Ihrem Abkommen mit Barthorpe Herapath, das Testament des Ermordeten außer Kraft setzen zu wollen. Das wird nach englischem Gesetz schwer bestraft. Es ist doch immer gut, etwas in Hinterhand zu haben, wenn man mit so gerissenen Menschen zu tun hat. Bringen Sie ihn fort, durchsuchen Sie ihn, und legen Sie alles für mich bereit, wenn ich komme. Besonders einen Scheck über zehntausend Pfund, den Sie in seiner Brusttasche finden.«
Als die Polizeibeamten Burchill in einem Auto abtransportiert hatten, ließ Davidge Cox, Selwood und die beiden Zeitungsleute vorausgehen und wandte sich selbst an Dimambro, der in größter Erregung noch auf der Treppe stand und nicht wußte, was er nun beginnen sollte. Der Inspektor sagte ihm deutlich die Meinung, und der Italiener entfernte sich rasch mit schuldbewußtem Gesicht. Dann trat Mr. Davidge im Vollbewußtsein seines großen Erfolges wieder zu den anderen.
»Morgen früh muß es das Erste sein, daß Sie den Scheck auf der Bank anhalten«, sagte er. »Das ist natürlich nur Formsache, denn ich bekomme ja das Original gleich. Bei Mrs. Engledew wollte ich weiter nichts darüber sagen. Aber ich muß Ihnen noch erzählen, daß diese Dame mit uns zusammengearbeitet hat. Sie hat Burchill und Dimambro glänzend in die Falle gelockt. Wirklich eine kluge Frau! Wir erfuhren ein paar Stunden nach dem Morde von ihren Diamanten, und zuerst dachte ich, daß Barthorpe sie gestohlen hätte. Darin irrte ich mich allerdings. Wir haben die Sache vollkommen geheimgehalten, bis Burchill und Dimambro wieder auf der Szene erschienen. Den Mörder haben wir allerdings nicht durch diese Diamanten gefunden.«
»Wie haben Sie ihn denn ausfindig gemacht?« fragte Selwood begierig. »Niemand von uns hatte diesen Mann im Verdacht!«
»Ganz recht«, entgegnete Davidge mit einem grimmigen Lachen. »Wirklich ein liebenswürdiger ruhiger Mann, von dem man nicht annehmen sollte, daß er noch an den Galgen kommen würde. Aber das ist oft der Fall. Er hat alles eingestanden und ist vollständig zusammengebrochen, als wir ihn verhafteten. Ich hatte sein Geständnis schon zu Protokoll genommen, ehe ich zu Mrs. Engledew ging. Aber ich will Ihnen noch erzählen, wie wir auf seine Spur kamen. Vor zwei bis drei Tagen kam ein bescheidener Mann, der ein kleines Anwesen in Fullham besitzt, nach Scotland Yard und erzählte mir, daß er sich viel mit dem Mord an Mr. Herapath beschäftigt habe und mir etwas mitteilen müsse. Er ist nicht so flink und schlagfertig wie die Londoner, und deshalb dauerte es bei ihm etwas länger, bevor er auf den richtigen Gedanken kam. Er erzählte, Mr. Jacob Herapath wollte vor einiger Zeit ein Stück Land von ihm kaufen, und am 12. November suchte dieser Mann Mr. Herapath in seinem Büro auf. Sie wurden schließlich handelseins auf einen Preis von fünftausend Pfund, und Herapath bestellte ihn auf den nächsten Morgen um zehn Uhr. Dann sollte er die Kaufsumme bar in Banknoten erhalten. Als der Mann am nächsten Morgen kam, hörte er, was sich ereignet hatte, und wußte, daß der Kaufabschluß dadurch hinfällig geworden war. Erst einige Zeit später fiel ihm eine Bemerkung ein, die Jacob Herapath während der Verhandlungen gemacht hatte. James Frankton war während des Kaufabschlusses im Büro zugegen gewesen, und als die Zahlungsbedingungen vereinbart wurden, hatte sich Herapath an ihn gewandt. ›Ich hole das Geld heute nachmittag von der Bank, Frankton, und wenn ich es Ihnen nicht in der Zwischenzeit geben sollte, finden Sie die Summe morgen in der linken Schublade meines Schreibtisches, damit Sie diesen Herrn auszahlen können.‹ Das waren seine Worte gewesen. Dieser Besitzer aus Fulham dachte nun öfter daran, ob Jacob Herapath das Geld wohl von der Bank geholt hatte. Frankton hatte ihm am nächsten Morgen gesagt, daß er nichts erhalten hätte, und in der Sache auch nichts mehr tun könnte, da sein Chef inzwischen verstorben wäre. Im Besitz dieser Nachrichten begann ich nun mit meinen Nachforschungen und fand auch sehr rasch einige Anhaltspunkte. Ich konnte eine Hundertpfundnote nachweisen, die Frankton erst kürzlich eingewechselt hatte, und gestern morgen stellte ich fest, daß sie zu den fünfzig Banknoten gehörte, die Jacob Herapath am Nachmittag des 12. November auf der Bank erhalten hatte. Daraufhin ließ ich Frankton gestern den ganzen Tag beobachten und verhaftete ihn heute abend.«
»Und was hat er denn gestanden?« fragte Selwood.
»Jacob Herapath hatte ihn für halb zwölf bestellt. Frankton kam aber zu spät und fand Mr. Herapath vor seinem Schreibtisch sitzen, als er in das Zimmer eintrat. Links vor ihm lag ein Paket Banknoten, rechts Perlen und Brillanten. Frankton ging es pekuniär schlecht, da er in die Hände von Wucherern gefallen war. Da er allein wohnte, trug er abends immer einen Revolver bei sich. Er konnte der Versuchung nicht widerstehen, schoß Mr. Herapath nieder, nahm das Geld und die Wertsachen an sich und ging in seine Wohnung. Am nächsten Morgen heuchelte er dann Entsetzen über die schreckliche Tat, als er ins Büro kam. Es war ein gemeiner Raubmord, und der Mann kommt natürlich an den Galgen!« –
»Wer hätte gedacht, daß sich die Sache so überraschend und einfach lösen würde«, meinte Professor Cox, als er mit Mr. Selwood eine halbe Stunde später zu dem Hause am Portman Square kam. »Der Fall wäre also erledigt. Barthorpe und Burchill aber –«
»Ihre Schuld an versuchter Testamentsunterdrückung liegt doch vollständig klar. Ist das nicht ein schweres Vergehen?«
»Ja, in diesem kapitalistischen Lande wird die Sache sehr schwer bestraft. Wahrscheinlich bekommen die beiden eine längere Gefängnisstrafe. Also nun Gute Nacht, mein lieber Selwood!«
»Wollen Sie denn nicht ins Haus kommen?« fragte Selwood, als er die Haustür aufschloß.
Der Professor klopfte ihm auf die Schulter.
»Ich glaube, Peggie will den Bericht lieber von Ihnen allein hören«, sagte er und lächelte verschmitzt.
Mr. Selwood war nun seit drei Wochen Sekretär bei dem bekannten Parlamentarier Jacob Herapath, der als Junggeselle eins der vornehmsten Häuser am Portman Square bewohnte. Mr. Herapath war bekannt wegen seiner Arbeit in der sozialen Fürsorge. Er hatte eine große Zahl moderner Wohnhäuser erbaut, die in jeder Beziehung als Vorbild dienen konnten, was Lüftung, Heizung, Beleuchtung und alle sonstigen sanitären Einrichtungen betraf. Als Selwood seine Stellung antrat, erhielt er von seinem Chef die Anweisung, eine geeignete kleine Wohnung in der Upper Seymour Street zu beziehen, die in der Nähe lag, damit er auch in der Nacht leicht zu erreichen war. Jacob Herapath hatte manchmal gerade mitten in der Nacht geniale Einfälle, und er gehörte zu den aktiven, energischen Männern, die es lieben, solche Einfälle sofort in allen Details durchzuarbeiten. Selwood war jedoch während der vergangenen drei Wochen noch niemals aus seiner Nachtruhe gestört worden. Aber plötzlich klingelte eines Morgens um halb acht die Telefonglocke, als er gerade aufstehen wollte. Er nahm den Hörer vom Apparat, der direkt neben seinem Bett stand. Es meldete sich jedoch nicht Herapath, sondern der Hausmeister Kitteridge, dessen Stimme ängstlich klang.
Plötzlich wurde er unterbrochen; es schien jemand dicht neben ihm zu stehen. Der Anruf war etwas verwirrt, aber Selwood verstand doch soviel, daß er sofort zur Wohnung herüberkommen sollte. In größter Eile kleidete er sich an und eilte nach Portman Square. Als er dort ankam, fand er den Hausmeister und den Chauffeur Mountain, der sich in aller Eile angekleidet hatte, und den man allem Anschein nach auch eben aus dem Bett geholt hatte.
»Was ist denn los, Kitteridge?« fragte Selwood. »Ist Mr. Herapath krank geworden?«
Der Hausmeister schüttelte den Kopf und zeigte mit dem Daumen nach der offenen Tür des Arbeitszimmers.
»Wir wissen überhaupt nicht, wo er ist. Er hat nicht hier geschlafen und ist auch nicht im Hause.«
»Vielleicht ist er gestern gar nicht heimgekommen«, meinte Selwood. »Er kann doch in seinem Klub oder auch in einem Hotel geschlafen haben.«
Der Chauffeur, ein kleiner Mann mit scharfem Blick, schüttelte den Kopf.
»Nein, ich habe ihn doch selbst um eins hierher gefahren, und ich habe gesehen, wie er die Tür aufschloß und hineinging. Sicher ist er nach Hause gekommen!«
»Das stimmt«, pflichtete Kitteridge bei. »Kommen Sie mit, Mr. Selwood.« Er führte den Sekretär in das Arbeitszimmer und zeigte auf einen kleinen Servierwagen, der neben dem großen Schreibtisch stand. »Sehen Sie das? Jeden Abend stelle ich ihm dort eine Flasche Whisky, einen Siphon mit Sodawasser und einige Butterbrote und Keks hin. Er hat aus dem Glase getrunken, und er hat auch von dem Butterbrot gegessen. Also muß er nach Hause gekommen sein. Aber er ist nicht mehr hier. Der Kammerdiener Charlesworth, der ihn jeden Morgen Viertel nach sieben weckt, hat ihn nicht im Schlafzimmer gefunden.«
Selwood sah sich in dem Raum um. Die Vorhänge waren noch nicht aufgezogen; die elektrische Krone brannte und ließ alles in ihrem kalten, klaren Licht hervortreten. Er schaute auf den Schreibtisch, ob Mr. Herapath nicht einen Brief zurückgelassen hatte, aber er fand nichts.
»Aber es liegt doch kein Grund vor, sich zu ängstigen, Kitteridge«, meinte er. »Mr. Herapath war vielleicht gezwungen, heute morgen ganz früh mit dem Zuge wegzufahren.«
»Entschuldigen Sie, Mr. Selwood, aber das ist wohl ziemlich ausgeschlossen. Ich hatte selbst schon daran gedacht, aber wenn er tatsächlich einen Nachtzug benützen wollte, hätte er seinen Reisemantel, seinen Koffer und auch eine Decke mitgenommen. Aber er hat nichts von alledem angerührt. Ich bin nun schon sieben Jahre hier im Hause und kenne seine Gewohnheiten genau. Er hätte mich und den Kammerdiener gerufen, damit wir für ihn gepackt hätten. Nein, er ist bestimmt nach Hause gekommen und wieder fortgegangen, das ist das Ungewöhnliche. Solange ich hier im Hause bin, ist das noch nicht passiert.«
»Sie haben also Mr. Herapath um ein Uhr nach Hause gefahren?« wandte sich Selwood an den Chauffeur. »War er allein?«
»Es war niemand bei ihm«, entgegnete Mountain. »Am besten erzähle ich Ihnen alles, was ich weiß. Gerade als Sie kamen, sprach ich mit dem Hausmeister darüber. Ich holte Mr. Herapath gestern abend um Viertel nach elf vom Parlament ab. Ich hielt an der gewöhnlichen Stelle, und er stieg gerade ein, als die Uhr schlug. ›Fahren Sie mich zu dem Büro in der Siedlung, ich habe dort zu tun‹, sagte er. Ich brachte ihn also nach Kensington, und beim Aussteigen meinte er, daß er wohl in einer Dreiviertelstunde fertig wäre. Ich wartete also auf meinem Sitz, aber es dauerte eine gute Stunde. Schließlich kam er wieder und sagte nur ›Nach Hause‹. Und dann habe ich ihn hierher gefahren. Als er ausstieg, schlug es ein Uhr. Ich sagte noch gute Nacht zu ihm und sah, wie er die Treppe hinaufstieg und aufschloß, bevor ich zur Garage fuhr. Das ist alles, was ich weiß.«
Selwood wandte sich an den Hausmeister.
»Zu der Zeit war wohl niemand mehr auf?«
»Nein, Mr. Herapath sieht strikt darauf, daß die Hausordnung eingehalten wird, und daß alle Leute um halb zwölf zur Ruhe gehen. Er duldet nicht, daß jemand von der Dienerschaft auf ihn wartet. Deshalb steht jeden Abend noch ein kleiner Imbiß im Arbeitszimmer für ihn bereit. Gewöhnlich kommt er gegen zwölf Uhr nach Hause.«
»Nun ja, vielleicht war aber doch noch jemand wach. Haben Sie schon gefragt, ob jemand gehört hat, daß Mr. Herapath in der Wohnung umherging und das Haus nachher wieder verließ?«
»Ich werde danach fragen«, entgegnete Kitteridge. »Aber bis jetzt hat mir noch niemand etwas gesagt, obwohl die Dienstboten schon wissen, daß Mr. Herapath nicht im Hause ist.«
In diesem Augenblick öffnete sich die Tür, und eine junge Dame trat herein.
»Haben Sie Miß Wynne schon verständigt?« fragte Selwood den Hausmeister leise, als er sie sah.
»Sie hat es sicher von ihrem Mädchen gehört. Alle sprechen darüber. Ich wollte sie nicht stören, bevor sie aufgestanden war.«
Miß Wynne war die Nichte von Mr. Herapath, die Tochter seiner verstorbenen Schwester, die er sehr geliebt hatte. Er hatte das Mädchen in sein Haus genommen, als sie noch ein Kind war. Aber nun zählte sie schon zweiundzwanzig, war hübsch und hatte charaktervolle, schöne Züge und kluge Augen.
Selwood trat näher, um sie zu begrüßen.
»Was hat dies alles zu bedeuten?« fragte sie ruhig. »Soviel ich höre, ist mein Onkel nicht im Hause? Aber deshalb braucht man doch nicht den Kopf zu verlieren, Kitteridge. Er hatte sicher etwas vor, wenn er fortging. Vor allem möchte ich nicht haben, daß die Dienstboten weiter darüber sprechen. Weiß Mr. Tertius davon?«
»Der alte Herr ist noch nicht nach unten gekommen.«
Auf ihren Wink verließen der Hausmeister und der Chauffeur das Zimmer.
»Was halten Sie davon?« fragte sie Selwood. Ihre Stimme klang plötzlich ängstlich. »Sie können es mir auch nicht erklären?«
»Leider nicht. Ich kenne Mr. Herapath und seine Gewohnheiten noch nicht gut genug, um mir ein Urteil bilden zu können.«
»Er hat das früher nie getan. Ich weiß zwar, daß er manchmal mitten in der Nacht aufsteht und in sein Arbeitszimmer geht, aber niemals ist er zu so später Stunde ausgegangen.«
Selwood sah nach der Tür, und sie folgte seinen Blicken.
Ein älterer, schmächtiger Herr von kleiner Gestalt war ruhig ins Zimmer getreten. Er hatte einen grauen Bart und feine Gesichtszüge; seine Augen waren von einer dunklen Brille beschattet. Er bewegte sich nur leise und zurückhaltend und machte einen etwas scheuen Eindruck. Selwood bemerkte, daß Lippen und Hände des Mannes leicht zitterten, als er nähertrat.
»Mr. Tertius, wissen Sie etwas von Onkel Jacob?« fragte Peggie Wynne schnell. »Vorige Nacht ist er um ein Uhr nach Hause gekommen, und jetzt ist er verschwunden. Hat er Ihnen vielleicht etwas gesagt?«
Mr. Tertius schüttelte den Kopf.
»Nein, mir hat er nichts gesagt. Sie meinen, er ist verschwunden?!«
Er neigte sich über das Tablett, das er aufmerksam einige Zeit lang betrachtete.
»Das ist merkwürdig«, sagte er zu Selwood, als er wieder aufschaute. »Und doch tut er manchmal Dinge, ohne vorher jemand etwas zu sagen. Haben Sie schon an das Büro in der Siedlung telefoniert? Vielleicht ist er dorthin gegangen?«
Peggie, die sich an den Schreibtisch gesetzt hatte, sprang sofort auf.
»Das hätten wir schon längst tun sollen! Telefonieren Sie doch bitte, Mr. Selwood. Wahrscheinlich erfahren wir dort etwas.«
Selwood und Miß Wynne verließen das Zimmer zusammen. Als sie gegangen waren, untersuchte Mr. Tertius das Tablett genau. Vorsichtig nahm er das Butterbrot zwischen die Spitzen seiner Finger und hielt es nahe ans Licht. Nachdem er es eingehend betrachtet hatte, nahm er ein Kuvert aus dem Papierhalter und legte das Brot vorsichtig hinein. Dann verließ er den Raum schnell und ging zu seinem eigenen Zimmer. Nach einigen Minuten kam er wieder herunter, und gleich nach ihm traten Miß Wynne und Selwood ein.
»Wir sollen sofort zur Siedlung hinauskommen«, sagte der Sekretär ernst. »Der Verwalter wollte uns eben anläuten, als ich ihn anrief. Es ist irgend etwas nicht in Ordnung.«
Es fiel Selwood später auf, daß weder er noch Mr. Tertius sich zuerst zum Handeln aufrafften, sondern daß Peggie dem Hausmeister klare Anordnungen gab.
»Das Auto soll sofort vorfahren, Kitteridge. Bringen Sie rasch etwas Kaffee, frühstücken können wir erst später.«
»Sie wollen doch nicht etwa selbst hinfahren?« fragte Selwood.
»Aber natürlich! Glauben Sie, ich würde hier warten, bis ich Nachricht bekomme? Wir fahren zusammen hin, und bis der Wagen kommt, wollen wir schnell noch eine Tasse Kaffee trinken.«
Sie folgten ihr ins Frühstückszimmer und tranken schweigsam. Als sie nachher in die Halle traten, um sich für die Fahrt anzuziehen, wandte sich Mr. Tertius an Selwood.
»Was haben Sie denn am Telefon gehört?«
»Nichts Bestimmtes. Ich habe nur so viel verstanden, daß sich irgend etwas Ernstes ereignet hat. Wir sollen sofort hinkommen.«
Mr. Tertius fragte nicht weiter und blieb nachdenklich und zerstreut, bis sie nach Kensington kamen. Auch Peggie sagte nichts während der Fahrt. Selwood grübelte nach, was wohl geschehen sein mochte, und wie sich dieses Geheimnis lösen würde. Mr. Tertius, der neben ihm saß, war ihm auch ein Rätsel. Während seiner kurzen Dienstzeit hatte er noch nicht erfahren, wer dieser Mann eigentlich war, und in welchen Beziehungen er zu dem Hausherrn stand. Er wußte nur, daß er ein Hausgenosse von Mr. Herapath war. In gewisser Weise schien er doch nicht ganz zur Familie zu gehören, denn er kam selten zu den Mahlzeiten, und man sah ihn auch sonst nicht häufig im Hause. Selwood hatte ihn nur gelegentlich im Arbeitszimmer von Mr. Herapath oder im Wohnzimmer von Miß Peggie Wynne getroffen. Mr. Tertius bewohnte einige Räume in dem oberen Stockwerk und einen Raum im Erdgeschoß. Nur einmal hatte Selwood einen Blick in dieses untere Zimmer tun können. Es war mit Bücherregalen gefüllt, und auf einem großen Tisch lagen viele Dokumente und Papiere herum. Er hatte damals den Eindruck gehabt, daß Mr. Tertius ein Sonderling sei, der Bücher liebte und Altertumskunde trieb. Aus der Art, wie Mr. Herapath und Miß Peggie Wynne ihn anredeten, schloß Selwood, daß er nicht mit den beiden verwandt war. Er wurde von allen, auch von den Dienstboten, Mr. Tertius genannt, und Selwood wußte nicht, ob das sein Vor- oder Familienname war.
Das Auto hielt nach einer schnellen Fahrt vor einem großen, nüchternen Häuserblock, dem nichts Geheimnisvolles anhaftete. Die großen Siedlungsbauten des Mr. Herapath waren in ganz London bekannt und hatten berechtigtes Aufsehen hervorgerufen, als ihr Gründer sie errichtete.
Jacob Herapath war ein Grundstücksmakler und hatte schon von jeher den Wunsch gehabt, moderne Wohnungen zu bauen, die in jeder Beziehung vorbildlich sein sollten. Er wollte den Fachleuten und Baumeistern zeigen, was man mit gutem Willen erreichen konnte. Als er schließlich ein großes Gelände in Kensington käuflich erwerben konnte, machte er sich sofort an die Ausführung seines Plans. So waren diese großen Häuserblöcke entstanden, die mit allem modernem Komfort versehen waren. Sie bedeuteten eine große Einnahmequelle für Mr. Herapath, und Selwood, der die Höhe der Mieteingänge kannte, dachte darüber nach, an wen dieses Vermögen wohl fallen würde, wenn Mr. Herapath wirklich etwas passiert sein sollte.
Als der Wagen anhielt, bemerkte Selwood einige Polizeibeamte in der offenen Tür. Ein Inspektor trat vor und sah unsicher auf Peggie Wynne. Selwood stieg schnell aus und ging auf ihn zu.
»Ich bin der Sekretär von Mr. Herapath. Mein Name ist Selwood«, stellte er sich vor und zog den Beamten etwas zur Seite, so daß die anderen ihre Unterhaltung nicht hören konnten. »Ist etwas Ernstes geschehen? Sagen Sie es mir bitte, bevor Miß Wynne davon erfährt. Mr. Herapath ist doch nicht etwa – tot?«
Der Inspektor sah ihn bedeutungsvoll an.
»Er wurde von dem Hausverwalter in seinem Privatbüro tot aufgefunden. Es ist entweder Mord oder Selbstmord – das ist klar!«
Selwood ging mit Mr. Tertius und Miß Wynne in den Warteraum.
»Der Inspektor hat mit Ihnen gesprochen – Sie wissen alles – sagen Sie es mir gleich«, wandte sie sich an ihn. »Ich kann alles hören, ich habe starke Nerven. Ist er tot?«
»Ja.«
Miß Wynne senkte den Kopf. Als sie ihn wieder hob, war sie zwar blaß, zeigte aber keine Erregung. Auch Mr. Tertius war ruhig und gefaßt.
»Wie starb er?« fragte er. »War es ein Herzschlag?«
Selwood zögerte.
»Ich fürchte, es ist eine traurige Botschaft für Sie«, erwiderte er mit einem Blick auf den Inspektor, der eben eintrat. »Die Polizei ist der Meinung, daß entweder Mord oder Selbstmord vorliegt.«
Peggie wandte sich kurz an den Beamten. Eine plötzliche Röte stieg in ihre Wangen.
»Nein, nie und nimmer kann es Selbstmord gewesen sein! Mord – das wäre möglich. Verheimlichen Sie mir nichts – sagen Sie mir bitte alles, was Sie wissen.«
Der Inspektor schloß die Tür und kam näher.
»Unsere Station wurde fünf Minuten nach acht von dem Hausverwalter hier angerufen. Er sagte uns, daß Mr. Herapath tot in seinem Arbeitszimmer läge, und bat uns, sofort zu kommen. Ich machte mich gleich mit einem anderen Beamten auf, und der Polizeiarzt folgte einige Minuten später. Wir fanden Mr. Herapath tot auf dem Boden. Dicht neben ihm lag –«
Der Beamte brach ab und sah auf Peggie. »Die Details sind nicht sehr angenehm – soll ich nicht lieber darüber schweigen?«
»Nein«, erwiderte sie entschieden. »Sagen Sie nur ruhig alles, was Sie gefunden haben.«
»Ein Revolver lag neben seiner rechten Hand. Eine Patrone war abgefeuert, und Mr. Herapath hatte eine Schußwunde in der rechten Schläfe. Offensichtlich war der Schuß aus allernächster Nähe abgegeben worden. Der Arzt sagte, daß der Tod sofort eingetreten sei.«
Peggie hatte vollständig gefaßt zugehört und machte unwillkürlich einige Schritte nach der Tür zu.
»Wir wollen zu ihm gehen«, sagte sie. »Er liegt doch wahrscheinlich noch dort im Zimmer.«
Aber Selwood trat ihr entgegen.
»Nein, tun Sie das nicht«, bat er sie.
»Mr. Selwood hat recht«, pflichtete der Inspektor bei. »Der Arzt ist noch dort. Vielleicht geht es später, wenn die Untersuchung beendet ist. Warten Sie bitte solange hier. Die Herren können mich begleiten.«
Peggie zögerte einen Augenblick, dann wandte sie sich um und setzte sich in einen Sessel.
»Nun gut.«
Selwood drehte sich an der Tür noch einmal zu ihr um.
»Versprechen Sie, uns nicht zu folgen?«
»Ich bleibe hier. Aber einen Augenblick noch. Wir müßten doch eigentlich meinen Vetter Barthorpe –«
»Wir haben schon nach Mr. Herapath geschickt«, unterbrach sie der Inspektor. »Der Verwalter hat auch an ihn telefoniert.«
Sie gingen den Gang entlang und erreichten das Privatbüro von Mr. Jacob Herapath, das nur er selbst und sein Sekretär benützten. Niemand durfte ihn dort stören, wenn er es nicht ausdrücklich wünschte. Aber nun waren viele Fremde hier eingedrungen, und Herapath lag stumm in ihrer Mitte. Sie hatten ihn auf einen Diwan gelegt. Sein Gesichtsausdruck war ruhig. Sie konnten keine Spur von plötzlicher Furcht oder Erregung in seinen Zügen bemerken.
»Wenn Sie einmal hersehen wollen, meine Herren«, sagte der Inspektor und führte die beiden zu dem Teppich. »Alles ist noch so, wie wir es gefunden haben; es ist nichts geändert worden. Er lag an dieser Stelle, hier der Kopf und dort die Füße. Offenbar war er seitwärts vom Stuhl heruntergeglitten und der Länge nach auf den Teppich gefallen. Der Revolver lag dort – nur einige Zentimeter von seiner rechten Hand entfernt. Hier ist die Waffe.«
Er zog eine Schublade des Schreibtisches auf und nahm eine Pistole heraus, mit der er sehr sorgfältig umging, als er sie Selwood und Tertius zeigte.
»Ist sie Ihnen bekannt? Ich meine, erkennen Sie die Pistole als Eigentum von Mr. Herapath wieder? – Nein? – Nun, er konnte sie ja auch in seinem Schreibtisch oder Geldschrank aufbewahrt haben, ohne daß jemand etwas davon wußte. Wir werden den ganzen Raum sorgfältig durchsuchen, vielleicht finden wir noch weitere Patronen oder Zubehörteile. Das wäre also der Tatbestand. Dem Augenschein nach und nach Aussage des Arztes ist der Schuß aus nächster Nähe abgefeuert worden.«
Mr. Tertius, der aufmerksam zugehört hatte, wandte sich an den Doktor.
»Glauben Sie denn, daß Mr. Herapath die Waffe gegen sich selbst gerichtet hat?«
»Nach der Lage des Körpers und der Schußwaffe ist das sehr wahrscheinlich.«
»Es könnte aber auch anders gewesen sein«, meinte Mr. Tertius leise.
Der Polizeiarzt zuckte die Schultern.
»Es wäre natürlich auch möglich, daß ein kühl berechnender Mörder die Waffe neben ihn gelegt hat.«
»Ja, das ist auch meine Meinung«, versicherte Mr. Tertius. Er blieb einen Augenblick schweigend dort stehen und starrte auf den Teppich, dann wandte er sich wieder zur Tür. »Wie lange war Mr. Herapath wohl schon tot, als Sie kamen?«
»Seit acht Stunden«, entgegnete der Doktor prompt.
»Und wann sind Sie hergekommen?«
»Viertel nach acht. Ich möchte sagen, daß er ungefähr um Mitternacht starb.«
»Um Mitternacht!« wiederholte Tertius leise. »Also –«
Bevor er weitersprechen konnte, öffnete ein Polizist, der in dem Gang Wache gehalten hatte, die Tür und meldete dem Inspektor, daß Mr. Barthorpe Herapath gekommen sei.