1.

Inhaltsverzeichnis

In dem Zimmer der Baronin Derenberg prasselt ein Holzfeuer im hohen Kamine und verleiht dem Gemach mit den alten geschweiften Meubeln etwas Trauliches, Anheimelndes. In einer der tiefen Fensternischen sitzt ein junges Mädchen von kaum vierzehn Jahren und schaut in das verglimmende Abendroth des kurzen Wintertages; ihr feines Profil zeichnet sich scharf ab gegen den hellen Hintergrund des Fensters. Sie hat die schmalen Hände in einander gefaltet, und ihre Gedanken wandern offenbar in die Ferne.

„Mama,“ sagte sie dann plötzlich und wendet den Kopf mit der blonden Lockenfülle der zarten, blassen Frau zu, die in einem Sessel am Kamine sitzt und strickt. „Mama, Army bleibt wieder unverantwortlich lange in Großmama’s Zimmer; wir werden nicht dazu kommen, in die Mühle zu gehen, und es ist doch schon die höchste Zeit; Army hat nur acht Tage Urlaub, und vier sind schon verstrichen. Heute hatte er mir’s ganz bestimmt versprochen, mitzukommen, – was soll nur Lieschen denken, daß er noch nicht einmal drunten war?“

Das junge Mädchen war bei diesen Worten aufgestanden und hatte sich der Mutter genähert; ein Zug von Unmuth und Ungeduld lag auf dem kindlichen Gesichte.

„Hab’ nur Geduld, Nelly!“ erwiderte die Mutter, und streichelte die blühende Wange der Tochter. „Du weißt, wenn Großmama es wünscht, muß Army bleiben so lange sie will. Großmama wird ihm Mancherlei zu sagen haben. Uebe Dich in Geduld, mein Liebling! Sie ist so nöthig für das Leben. – Zünde die Lampe an! Du weißt, es ist noch Verschiedenes an Army’s Wäsche fertig zu machen.“

Die schlanke Mädchengestalt, mit den noch kindlichen Formen, glitt beinahe geräuschlos über den getäfelten Fußboden, und bald beleuchtete die Lampe das Zimmer, das nun doppelt traulich erschien in seiner altmodischen und doch so behaglichen Einrichtung. Auch die Baronin erhob sich und nahm Platz an dem großen runden Tisch. Jetzt fiel der Schein der Lampe auf ein blasses anziehendes Gesicht, dem wohl der Kummer die vielen schmerzlichen Linien eingegraben hatte.

Das Töchterchen ihr gegenüber trug ihre Züge; in diesem Augenblicke leuchteten die blauen Augensterne unter den langen Wimpern hell auf, denn draußen im Corridor ertönte ein fester elastischer Schritt. Gleich darauf öffnete sich die Thür des Zimmers – ein schmucker junger Officier trat ein. Auf seinem neunzehnjährigen Gesicht lag der sonnigste Lebensmuth der Jugend. Nelly eilte ihm entgegen.

„Army, wie schön, daß Du kommst! Nun können wir doch noch zur Mühle gehen,“ bat sie und schlang, sich auf den Zehen erhebend, schmeichelnd die Arme um seinen Hals; „ich hole nur schnell Kapuze und Mantel, denn lange dürfen wir nicht mehr säumen; in der Mühle wird pünktlich zu Abend gegessen.“

Sie wollte fröhlich davon eilen.

„Nelly!“ rief der junge Mann und hielt sie am Arme, „laß das jetzt! Es – paßt nicht mehr,“ setzte er zögernd hinzu.

„Es paßt nicht mehr?“ Das junge Mädchen sah fragend zu dem Bruder auf.

„Nein, Nelly, Du mußt vernünftig sein; als Kind darf man umgehen, mit wem man will, weil man eben Kind ist, als Officier aber geht das nun einmal nicht –“

„Nun, Lieschen darfst Du doch besuchen; Du bist doch sonst immer so gern mitgekommen.“

„Ei, Army!“ sagte die Baronin, „das ist nicht Dein Ernst; es sind ehrenwerthe Leute, die auf der Mühle, und haben es stets gut mit Dir gemeint; es würde undankbar sein –“

„Aber Mama, ich bitte Dich,“ erwiderte er, und seine dunklen Augen leuchteten unwillig auf. „Die Leute zählen zu den Ungebildeten. Denke Dir, wenn der Müller einmal nach B. reiste und hätte den unglücklichen Gedanken, mich aufzusuchen! Ich käme in die tollste Verlegenheit.“

„Es sind gar keine ungebildeten Leute,“ rief Nelly, „und das hat Dir nur Großmama gesagt, die Lumpenmüllers nun einmal nicht leiden kann.“

Lumpenmüllers! Da haben wir’s!“ lachte der junge Officier. „Bleibe jeder in seinem Stande! Auch Du Nelly, wirst nicht immer dort verkehren können. Wenn das erste lange Kleid hinter Dir drein rauscht – dann Adieu Lumpenlieschen!“

„Nimmermehr!“ erwiderte außer sich das junge Mädchen, „ich würde Nachts zur Mühle laufen wenn man mir es am Tage verböte. Lieschen ist meine einzige Freundin. Was soll ich nur sagen, weshalb Du nicht kommst?“ Sie brach in Thränen aus.

„Es wird sich ja ein Grund finden lassen, Nelly – weine doch nicht!“ tröstete der Bruder. Seine Stimme klang weich, genau so wie früher, wenn er die Puppe der Schwester zerschlagen hatte und nicht wußte, womit er sie trösten sollte.

„O, nicht wahr, Army,“ bat sie nun und blickte hoffnungsreich zu ihm auf, „Du hast mich necken wollen – wir gehen zur Mühle, gelt?“

Er stand einen Augenblick regungslos da; vor seine Seele trat die wohlbekannte Gestalt eines kleinen Mädchens, wie er sie hundertmal früher gesehen, Lieschen, Lumpenmüllers Lieschen aus der Papiermühle dort unten im Grunde; sie schaute ihn an mit den sonnigen blauen Kinderaugen; die rothen Lippen öffneten sich. „Army, kommst Du mit? Wir wollen zur Muhme gehen; sie soll uns Aepfel geben, und ein Vogelnest habe ich gesehen im Park; komm, Army, komm!“ Mechanisch machte er eine Bewegung, als wolle er die Mütze ergreifen, die auf dem Tische lag. Der Schein der Lampe traf einen funkelnden Ring an seiner Hand, in dessen goldgrünem Steine das Bärenwappen der Derenbergs blinkte; flüchtig streifte sein Blick dasselbe, und hastig ergriff er die Mütze und warf sie auf einen Nebentisch.

„Quäle mich nicht!“ sagte er kurz und wandte sich ab.

Eine lange Pause entstand; das junge Mädchen erhob sich und setzte sich auf ihren früheren Platz, das Köpfchen tief über die Arbeit beugend, aber die kleinen Finger, welche die Nadel führten, zitterten heftig, und aus den Augen fielen große Tropfen auf das weiße Zeug. Die Baronin seufzte und heftete ihre Blicke mit schmerzlichem Ausdruck auf den Sohn, der unaufhörlich im Zimmer hin und her ging. Die alte Rococo-Uhr schlug die sechste Stunde und begann ein längst vergessenes Liebeslied zu spielen; die feine zierliche Mel‘odie klang verhallend durch das Gemach, und noch immer lag das Schweigen des Unmuths auf den drei Menschen, die doch die zärtlichste Liebe verband.

„Army,“ nahm endlich die blasse Frau das Wort, „wann gab Dir die Großmama den Ring, den Du jetzt am Finger trägst?“

Er blieb vor dem Kamine stehen, und indem er das Schüreisen in die Gluth stieß, daß die Funken hoch aufsprühten, sagte er:

„Heute Nachmittag, vorhin, als ich in ihrem Zimmer war.“

„Weißt Du auch, daß es Deines Vaters Ring ist, Army?“

Der junge Mann wandte sich plötzlich um. „Nein, Mama, das hat mir Großmama nicht gesagt; sie sprach nur im Allgemeinen von der Bedeutung des Wappens und –“

„Nun, mein Kind, so sage ich es Dir,“ kam es von den Lippen der Baronin, und es schien, als zitterte ihre Stimme vor innerer Erregung. „Es ist der Ring, den Großmama einst von der kalten erstarrten Hand Deines Vaters zog, als er – gestorben war.“ Die letzten Worte klangen wie ein halb erstickter Schrei. Die Redende sank wie gebrochen in den Sessel zurück.

„Meine liebe, gute Mama!“ rief Army und war schnell neben ihr, während Nelly, sich über sie beugend, die Wange an ihr thränenüberströmtes Gesicht schmiegte.

„Weine nicht, liebe Mama!“ bat er, „ich will den Ring so hoch in Ehren halten, wie es nur ein Sohn vermag, der stolz ist auf das Andenken seines Vaters; ich will mich bemühen, ebenso gut, so edel zu werden, wie er es war.“

Es lag in diesen Worten, in den Blicken, mit welchen er zu der weinenden Mutter aufschaute, noch die ganze Ueberzeugung eines unverdorbenen kindlichen Herzens, die ganze volle Pietät, die in dem verstorbenen Vater den besten Menschen sieht. Aber die Wirkung seiner Worte war eine beinahe vernichtende. Die schmächtige Gestalt der Baronin richtete sich aus dem Sessel empor; sie blickte wie geistesabwesend auf den Sohn, und: „Army, allmächtiger Gott!“ rief sie in dem Tone der Verzweiflung. „O, nur das nicht, nur das nicht!“

„Mama ist krank,“ sagte der Sohn und eilte zum Klingelzuge. Aber ein schwaches „Komm zurück, Army! Es geht schon vorüber,“ rief ihn an ihre Seite; sie nahm dankbar ein Glas Wasser und sagte, indem sie zu lächeln versuchte:

„Ich habe Euch erschreckt, Ihr armen Kinder. – Die Erinnerung an den Tod Eures Vaters ist mir noch heute eine tieftraurige, aber jetzt, wo Army im Begriff steht, in das Leben zu treten, muß ich mit Euch von der Vergangenheit sprechen, was ich bis jetzt immer zu vermeiden suchte. Ihr habt Euch wohl schon im Stillen gewundert,“ fuhr sie nach kurzer Pause fort, „daß wir ein so einfaches, zurückgezognes Leben führen, ein Leben, das eigentlich jedes Aufwandes entbehrt. Ach, Army, nicht meinetwegen schmerzt es mich – nur Euretwegen. Ihr tretet ein in die drückendsten Verhälnisse, die man sich denken kann, heraufbeschworen durch den grenzenlosen Leichtsinn Eures –“

Sie hielt erschrocken inne und brach in bitterliches Weinen aus.

Army stand mit finster gefalteter Stirn am Kamin und sah herüber zu der weinenden Frau; der sonnige Ausdruck seines Gesichtes war wie hinweggeweht, und um seinen Mund lag ein Zug bitterer Enttäuschung.

„Als ich hier einzog an der Seite Eures Vaters, ein Kind von eben sechszehn Jahren,“ nahm die Baronin wieder das Wort, „da fand ich hier Glanz und heiteres Leben. Schloß Derenberg war wegen seiner Gastfreiheit berühmt seit langen Jahren, und Eure Großmama verstand es, ein Haus zu machen. Sie war damals noch wunderschön, fast ebenso berückend wie auf ihrem großen Bilde oben im Ahnensaal, und sie liebte Glanz und Pracht. Mir erwies sie sich so gut und lieb, daß ich wirklich meinte, eine zweite Mutter in ihr gefunden zu haben. Ach, jene kurze glänzende Zeit war die schönste meines Lebens, und als ich Dich an’s Herz drücken durfte, mein Army, und Dich, meine Nelly, da fehlte nichts zu meinem Glücke. – Dann aber kam das Schreckliche: der Tod Eures Vaters; plötzlich und jäh brach das Unglück über uns herein.“

Sie schauderte und preßte die zitternden Hände an die Schläfen, als müsse sie sich besinnen, ob das, was sie da erzählte, auch wirklich schon einer fernen Vergangenheit angehöre.

„Nach seinem Tode wurde mir in der Person des alten Justizrathes Hellwig ein Curator beigegeben. Es fand sich, daß unsere Verhältnisse mehr als ungeordnet waren; wohin auch das Auge sich wendete – Hypotheken, Pfandscheine, unbezahlte Rechnungen; es war ein Wirrwarr sonder Gleichen, in den Großmama und ich uns plötzlich versetzt sahen. Wie viel schlaflose Nächte, wie viel kummervolle Stunden sind seitdem vergangen, und doch ist bis heute trotz der Bemühungen des alten Hellwig noch nicht Licht in dem Chaos geworden.“

„Rege Dich nicht auf, liebe Mama!“ bat der junge Officier, „ich wußte ja längst, daß wir in beschränkten Verhältnissen leben, wenn ich auch nicht ahnen konnte, daß wir so arm sind, aber fasse Muth! Es kommen gewiß auch wieder andere, bessere Zeiten, und Großmama hat mir erst vorhin gesagt, daß die Sachen durchaus nicht so verzweifelt liegen, da wir jedenfalls noch eine reiche Erbschaft von Tante Stontheim zu erwarten haben.“

„Großmama glaubt allerdings an diese Erbschaft, aber –“

„Sie meint,“ unterbrach eifrig der junge Mann die Mutter, „daß ich mich, ehe ich zu meinem Regiment gehe, Tante Stontheim vorstellen soll.“

„Ich habe nichts dawider, mein Kind, und wünsche lebhaft, Großmama irre sich nicht, aber zu bedenken bleibt, daß die Derenbergs in Königsburg ebenso erbberechtigt sind wie wir; der Tochter des Obersten von Derenberg vom sechszehnten Regiment gebührt dasselbe Recht wie Dir und Nelly.“

In diesem Augenblicke öffnete Sanna, die alte Dienerin der Baronin, die hohen Flügel der Thür, und die alte Baronin Derenberg trat in’s Zimmer; eine noch immer stattliche, gebietende Erscheinung, hielt sie sich tadellos gerade, trotz ihrer begonnenen sechszig Jahren sie trug ihre einfache graue Wollrobe mit derselben Würde und Anmuth, mit der sie einst in schwerster Seidenschleppe durch das Zimmer geschritten war. Ihr volles, noch immer dunkles Haar, an den Schläfen leicht zurückgenommen, bedeckte ein Häubchen, unter dessen gelblich angehauchter Spitzenkante die mächtigen schwarzen Augen hervorflammten. Ueber ihrer ganzen Erscheinung lag ein echt aristokratischer Hauch, und aus den seinen Zügen sprach der Ausdruck eines durch nichts zu demüthigenden Stolzes. Wie alt sah die vergrämte kränkelnde Schwiegertochter aus neben dieser imposanten Frauengestalt!

Army eilte ihr entgegen; er nahm ihr ein großes Buch ab, das sie in der Hand hielt, und führte sie dann zum Kamine, wo Sanna bereits mehrere Sessel geordnet hatte. Die Enkelin war ebenfalls rasch aufgesprungen, und die blasse Frau trocknete verstohlen die letzten Thränen aus den Augen.

„Wovon war hier die Rede?“ fragte die alte Baronin, indem sie am Kamine Platz genommen und die Dienerin mit einer Handbewegung entließ. „Ich hörte etwas von ‚denselben Rechten wie Army und Nelly‘.“

„Wir sprachen von Tante Stontheim und der Erbschaftsangelegenheit,“ erwiderte ihr die Schwiegertochter, sich ebenfalls an den Kamin setzend, „und dabei gedachte ich auch der Königsburger Derenbergs und meinte, Blanka von Derenberg sei ebenso gut zu der Erbschaft berechtigt wie unsere Kinder.“

„Blanka? Welche Idee!“ rief die alte Dame achselzucked, das rothhaarige, scrophulöse Geschöpf? Die Stontheim hat – Gott sei Dank! – einen zu guten Geschmack, um solchen Mißgriff zu thun; übrigens hatte sie auch, so viel ich mich erinnere, einen sehr gerechtfertigten Widerwillen gegen diesen großthuerischen Herrn Oberst und ebenso gegen seine hochblonde Frau Gemahlin, die er Gott weiß in welchem Winkel Englands oder Schottlands aufgelesen hat – sie ist ja wohl eine Miß Smith oder Newman? Nun, so etwas Obscures war es. Nein, Cornelie, das ist einmal wieder eine Deiner ganz grundlosen, hervorgesuchten Geschichten, mit denen Du Dich und Andere ängstigst.“

Es klang etwas Ironisches aus ihrer Rede, wie immer, wenn die stolze Frau das Wort an ihre Schwiegertochter richtete.

„Ich meinte nur,“ erwiderte diese sanft, „daß man durchaus nicht mit Bestimmtheit – –“ sie brach ab. „Das Leben bringt schon so viele Täuschungen mit sich, daß man wirklich –“

„Army wird es schon verstehen,“ fiel ihr die alte Dame gereizt in die Rede, „der alten grämlichen Tante das Herz so zu wenden, daß ihm das wahrhaft fürstliche Vermögen zufällt.“

„Wie meinst Du das, Großmama?“ ertönte plötzlich die klare Stimme des jungen Mannes. „Du verlangst doch hoffentlich nicht, daß ich – erbschleichen soll, wie man das so nennt? Ich werde ihr höflich begegnen, wie es einem Cavalier einer Dame gegenüber zukommt, aber das ist auch Alles – scherwenzeln kann ich nicht; was sie mir aus freien Stücken nicht geben will, mag sie behalten!“

Die Großmntter richtete sich erstaunt aus ihrer nachlässigen Stellung im Sessel auf, und ihre Augen sahen funkelnd vor Entrüstung über diese unumwundene Erklärung in die des Enkelsohnes. „Sollte man das von so einem jungen Grünschnabel für möglich halten?“ fragte sie mit einem Tone, in den sie sich bemühte, etwas Scherzhaftes zu legen, aber ihre Stimme bebte vor Aerger. „He, Army! Hast Du den Respect mit dem Cadettenrock ausgezogen und meinst, weil Du seit acht Tagen die Epaulettes trägst, Du könntest Deiner Großmutter gute Lehren geben und ihren guten Rath verschmähen? Du bist eben noch zu jung, um die Verhältnisse, in die Du jetzt eintreten wirst, richtig zu beurtheilen. Ist es Erbschleichen, wenn man das Herz einer alten einsamen Verwandten zu gewinnen sucht?“

„Ja, Großmama,“ sagte Army fest, und kein Zug veränderte sich in seinem hübschen Gesichte. „Ja, es ist Erbschleichen, sobald man mit dem Herzen eines Menschen auch sein Geld zu gewinnen sucht –“

„Das man äußerst nöthig hat, wenn man nicht zeitlebens am Hungertuche nagen und in einem Schloß ohne Herrschaft und Einkünfte darben will,“ fiel die alte Baronin zornig ein und rückte ein Stück mit ihrem Sessel zurück.

„Das gebe ich zu, Großmama, ich würde auch den schroffen Ausspruch nie gethan haben, wenn nicht noch eine Erbin da wäre; aber weil Blanka –“

„Schon wieder diese Blanka! Kennst Du sie überhaupt? Weißt Du, ob sie noch lebt, das kränkliche Geschöpf? Wie fatal es ist, diese Kinderweisheit, die stark nach der Confirmationsstunde schmeckt, auskramen zu hören! Ich wünsche dringend, Army, daß Du zur Stontheim reisest; ich dulde keinen Widerspruch; noch heute geht der Brief ab, der Dich anmeldet.“

„Gewiß, Großmama, ich werde reisen,“ sagte Army mit kalter Höflichkeit, „sobald Du es wünschest.“

Sie erhob sich; ihr stolzes Gesicht war von einer dunklen Röthe überflammt, und um den Mund lag ein eigenthümlich hartnäckiger Zug; nie war die Aehnlichkeit zwischen Großmutter und Enkel auffallender gewesen. Mit blitzenden Augen und fest auf einander gepreßten Lippen, in schroffer Haltung, so standen sie sich gegenüber, Keines dem Andern weichend.

„Du reisest morgen Nachmittag mit der Fünf-Uhr-Post,“ sagte die Alte kalt und bestimmt, und ohne die zustimmende Verbeugung des jungen Mannes abzuwarten, grüßte sie die bestürzte Schwiegertochter mit einer leisen Neigung des Kopfes und schritt hinaus.

Eine peinliche Stille herrschte, als sich die Flügeltüren hinter der hohen Gestalt der alten Baronin geschlossen hatten. Der es gewagt hatte, der stolzen Frau zu widersprechen, deren Wort Befehl für Alle im Hause war, er stand in so ruhiger Haltung am Kamin und schaute so gleichmütig in die Flammen, als sei nichts passirt. Nelly blickte den Bruder mit verwunderten Augen an; er war nicht mehr er selbst. Niemand sprach ein Wort. Nach einer Weile trat die alte Sanna in’s Zimmer; sie hielt einen Brief in der Hand und fragte:

„Haben die Frau Baronin aus dem Dorfe etwas mitzubringen? Der Heinrich muß zur Post; es schneit just so arg, und vielleicht wär’s mit Eins abzumachen.“

Die Baronin verneinte, und die Alte verschwand eilig. Army hatte sich indessen an den Tisch gesetzt und blätterte in dem Buche, das er vorhin aus den Händen der Großmutter genommen.

„Da finde ich etwas von unserer schönen Agnese Mechthilde droben im Ahnensaal,“ rief er freudig; „komm einmal her, Schwesterchen! Das ist interessant – höre nur!“

Das junge Mädchen trat zu ihm heran, bog sich über die Lehne seines Stuhles und sah mit neugierigen Augen auf das vergilbte und mit schwer zu entziffernder Schrift bedeckte Papier. Er las, mühsam buchstabirend:

„‚An dem 30. Novembris von Anno 1694 ist allhier zu Schloß Derenberg die Leiche der Hochgeborenen Frauen Agnese Mechthilde Baronin auf und zu Derenberg, Schüttenfeld und Braunsbach, so eine geborene Freiin Krobitz aus dem Hause Trauen gewesen, in dem hiesigen Erbbegräbniß solenniter begraben, und zwar alles nach ihrer eigenhändig bei Lebezeiten gemachten Verordnung. Und hat gestanden die hohe Leiche in dem Saal neben der Kapellen, und hat den Sarg gedecket erstlich ein groß weisses und über diesem ein schwarz sammetenes Leichentuch mit darauf von Silbern Toile genähetem Kreuz; obendrauf lag ein silbernes vergüldetes Crucifix, und waren auf jeder Seite acht kleinere, zu Häupten und Füssen aber größere und auf orange farben Atlas reichgestickte doppelte Wappen, so das der Derenbergs wie der Trauen, geheftet. Den Sarg trugen Die von Adel in die Kapellen, so in der Nachbarschaft seßhaft und gar oft hieselbst gebankettiret hatten. Zunächst dahinter gingen die sechs Söhne der Verstorbenen, sodann der Wittwer, so sehr betrübet war.‘“

„Das ist langweilig,“ unterbrach sich der junge Officier, „aber hier – höre weiter!“

„Und ist die Frauen Agnese Mechthilde, Baronin auf und zu Derenberg eine gar stolze und kluge Fraue gewesen, so ihrem Manne wacker beigestanden in allen Fährden. Sie hat eine lange feine Gestalt gehabt und rothes Haar, so eigentlich kein gut Zeichen sein soll, indem es in einem alten Sprüchlein heißet:

‚Frawen undt auch pferdt,
Sindt sie schön, so sindt sie wehrd,
Sindt sie aber ohne Tück,
so ist’s fürwar ein großes glück;
Darum nimb war, wasz für Haar!
Ist solches roth, hatz groß Gefahr.‘

Doch hat sie sonsten nicht mehr Tück gehabt als andere Weibsbilder auch, und ist eine feine schöne Fraue gewesen, und hat sich ihretwegen ein Cavalier, so ihr in Liebe zugethan und sie ihn nicht hat erhöret, das Leben aus Desperation selbsten genommen, was ihm Gott verzeihen möge, und hat sie ihn in seinem Blute schwimmend vor der Thür ihres Gemaches gefunden, was sie also erschrecket, daß sie zur Stund ist in ein hitzig Fieber verfallen, also daß man gemeinet hat, sie werde elendiglich ihr Leben aufgeben. Der allgütige Gott hat ihr aber eine fröhliche Genesung geschenket, doch soll sie nie wieder gelachet haben nachhero, und ist der Cavalier, so ein Junker von Streitwitz gewesen, im Schloßgarten allhier begraben.“

„Was sagst Du dazu, Mamachen?“ rief Army ganz erregt, „ich glaub’s schon, daß sich ihretwegen Einer das Leben nehmen konnte; es ist ein wundervolles Gesicht. Ich wünschte, ich könnte mir das Bild mitnehmen und in meine Lieutenantsstube hängen; sie muß ein reizendes Geschöpf gewesen sein, diese Agnese Mechthilde.“

„Ei, Army!“ lächelte die Baronin, „ich habe ja noch gar nicht gewußt, daß Deine erste Schwärmerei einer Todten gilt. Nun es ist wenigstens nicht gefährlich – was meinst Du, Nelly?“

Nelly erwiderte nichts; die heitere Stimmung wollte in den kleinen Kreis nicht wieder einkehren; das junge Mädchen saß stumm über ihre Arbeit gebeugt und dachte daran, was sie Lieschen zur Entschuldigung sagen könnte; Army vertiefte sich wieder in die Lectüre des alten Buches, und um den Mund der Baronin war das flüchtige Lächeln verschwunden. Dann und wann fuhr sie mit der Hand über die Augen und seufzte tief auf, und jedesmal, wenn ein so banger Seufzer das Ohr ihrer Kinder traf, wandten sie gleichzeitig den Kopf und ein paar traurige Blicke ruhten einen Augenblick fragend auf dem bekümmerten Gesichte der Mutter; dann nahm Jedes seine Beschäftigung wieder auf.

„Die gnädige Frau Baronin wünschen den Thee auf ihrem Zimmer zu trinken,“ sagte eintretend die alte Sanna, „sie lassen um Entschuldigung bitten, daß sie nicht mit zu Abend speisen; die Frau Baronin haben Kopfschmerz.“

Die alte Frau trug einen Präsentirteller mit einer alterthümlichen kleinen Kanne und einer Tasse im Rococogeschmack. Sie war offenbar im Begriffe, ihrer Herrin den Thee zu bringen, und stand nun, einer Antwort wartend, an der Thür; sie blickte prüfend auf die drei Gestalten, als wollte sie ergründen, was für einen Eindruck diese Nachricht auf sie mache. Die träumende Frau am Kamine schien ihre Worte gar nicht gehört zu haben und schreckte empor, als ihre Tochter freundlich sagte:

„Wir bedauern das gewiß sehr, liebe Sanna, und wünschen Großmama herzlich gute Besserung.“

„Ist Ihre gnädige Frau krank, Sanna?“ fragte die Baronin.

„Jawohl,“ erwiderte diese, und ihre große knochige Figur richtete sich zur vollen Höhe auf, indem sie die grauen Augen unter der finsteren Stirn fest auf das erschrockene Gesicht der Fragenden richtete. „Die Frau Baronin müssen ja von hier krank fortgegangen sein, denn sie kamen mit heftigem Herzklopfen in ihr Zimmer; ich habe ihr schon drei Brausepulver mischen müssen. Wenn’s nur nichts Schlimmes wird!“

Es lag etwas Vorwurfsvolles, Impertinentes in dieser Antwort, weniger noch in den Worten, als in der Stimme und dem Ausdrucke des Gesichtes, sodaß der Baronin Derenberg plötzlich vor Entrüstung das Blut in die Wangen stieg.

„Ich bedaure sehr,“ sagte sie mit erhobener Stimme, indem sie eine entlassende Handbewegung machte, „und hoffe, daß es der gnädigen Frau morgen besser gehen wird.“

„Sehr wohl,“ erwiderte die Alte und verließ das Zimmer, aber ihre Haltung und der Ausdruck ihrer Züge unter der gefältelten Haube waren geradezu feindselig geworden.

Army war aufgesprungen, und dunkelroth im Gesichte schaute er der verschwindenden Dienerin nach.

„Army, ich bitte Dich,“ rief die Baronin, „laß sie! Du machst es nicht besser, wenn Du sie zur Rede stellst. So ist sie ja von jeher gewesen; sie kann, wie ihre Herrin, das heiße südliche Blut nicht verleugnen, und dann – sie liebt die Großmutter abgöttisch. Du weißt, Army, daß Sanna schon mit der Großmama aus Venedig hierherkam, daß sie die Zeiten des Glanzes mit ihr verlebt hat und jetzt standhaft die Sorgen und Entbehrungen mit ihr theilt. Sanna hat viele gute Seiten; eine Treue wie die ihrige ist selten; und Euch, Kinder, besonders Dich, Army, liebt sie über Alles; sie ist außerdem schon so alt, daß man ihr vieles gar nicht übel nehmen kann.“

Army antwortete nicht; er nahm seine Mütze. „Ich muß einen Augenblick in’s Freie, sonst schlafe ich schlecht,“ sagte er entschuldigend, küßte der Mutter die Hand und verließ das Zimmer.

Er stand dann in dem hohen kalten Corridor und fragte sich selbst, wohin er eigentlich wolle. „Erst muß ich mir den Paletot holen,“ dachte er, und schritt den langen Gang hinunter zu seinem Zimmer; ihm war so wunderbar zu Muthe heut – zum ersten Male hatte seine junge Stirn der Ernst des Lebens gestreift. Freilich, er wußte ja, daß seine Familie in dürftigen Verhältnissen lebte, aber er hatte sich nach echter Knabenart keine Gedanken darüber gemacht. Nun hatte ihm die Großmutter davon gesprochen und ihm zugleich die Hoffnung auf eine reiche Erbschaft in Aussicht gestellt, aber es war ja noch eine Erbin da, ein kleines rothhaariges Geschöpf, wie Großmama sie vorhin nannte.

Die schöne Agnese Mechthilde fiel ihm ein; wie hieß es doch in dem Verse: „Darumb nimb war, wasz für Haar! Ist solches roth, hatz groß Gefahr.“ Die rothen Haare würden doch nicht auch ihm Gefahr bringen? Doch nein, er hatte keine Anlage zum Idealisten.

Großmutter hatte gesagt: „Auf Dich, Army, und auf die Stontheim’sche Erbschaft baue ich meine ganze Hoffnung,“ und nun hatte er ihr etwas von „Erbschleichen“ entgegengerufen. Aber freilich die Blanka, die kleine rothhaarige Blanka – da war sie schon wieder – aber Tante Stontheim konnte ja theilen zwischen Blanka, Nelly und ihm – ja, das war ein Ausweg. Ob nicht doch noch Alles gut werden könnte?

Ihn fröstelte; er trat zum Kamin und warf eine Hand voll Reisig in das verglühende Feuer; die Flammen schlugen prasselnd aus in dem dürren Holz und beleuchteten zuckend und unsicher den getäfelten Fußboden. Ihr röthlicher Schein ließ das vergoldete Laubwerk des alte Kamins in hellem Glanz aufblitzen, und die Augen des jungen Mannes folgten träumerisch den Windungen der Eichenguirlande, die sich unter dem Sims des Kamins hinzog; in der Mitte umschloß sie kranzartig ein Schild; es stand ein Spruch darauf: „An Gott nit verzag! Glück kombt all Tag,“ ein Kernspruch alter – längst vergangener Zeiten. „Glück kombt all Tag,“ wiederholte er halblaut noch einmal; hatte er denn noch nie diese Worte gelesen? Sie ergriffen ihn mächtig in dieser Stunde; konnte denn nicht das Glück auch zu ihm wieder kommen?

Er sah empor zu den prächtigen Hirschgeweihen – alle waren sie von den Derenbergs erbeutet, wie die Täfelchen mit Namen und Datum anzeigten, alle in den Wäldern, die man theils verkauft, theils verpfändet hatte. Aber es konnte ja möglich sein – warum denn nicht? – daß er wieder dort jagte, wo seine Vorfahren so manche fröhliche Pirsch gehalten. Weg mit den Grillen! Das Leben lag ja noch vor ihm, so hoffnungsreich, so lockend, und „Glück kombt all Tag.“

Ueber sein jugendliches Gesicht flog es wieder wie Sonnenschein; das Herz klopfte ihm heiß in der Brust, und er fühlte den Muth, auch Stürmen zu trotzen. „Nur vorwärts, weiter hinein in die Woge des Lebens! Je toller die Brandung, je besser! Ob Lust oder Schmerz, ich nehme es wie es kommt; ein Leben ohne Kampf – das ist kein Leben. Ich will Großmama um Verzeihung bitten des Erbschleichens wegen,“ fuhr er fort, „auch Mama soll nicht mehr so traurig sein – warum so schwarz sehen? Selbst die Kleine hing ihr Köpfchen, ja so – das war wegen der Liese, der kleinen Lumpenliese, pah! das ist nicht der Rede werth, und sie wird es später selbst einsehen, daß –“

Er pfiff ein Liedchen vor sich hin, als er den Corridor entlang schritt, um zu seiner Mutter zurückzukehren.

2.

Inhaltsverzeichnis

Am folgenden Morgen stand Army mit sonniger heiterer Miene vor der Großmutter: er hatte ihre Verzeihung erhalten. Zwar zuckte sie lächelnd die Schulter, als er ihr seine Ansicht aussprach, daß die noch unbekannte Blanka ja mit erben könne. „Du bist ein Phantast, Army,“ sagte sie scherzend, widersprach ihm aber nicht, sondern deutete mit der schlanken Hand auf ein Tabouret zu ihren Füßen. „Setz’ Dich! Ich habe Dir noch Einiges mitzutheilen, bevor wir scheiden.“

Die Zimmer der alten Dame hatten ihre luxuriöse Einrichtung behalten und machten auf den ersten Anblick einen beinahe prächtigen Eindruck. Wer genauer hinsah, bemerkte wohl, daß die Farben des schweren purpurrothen Stoffes verblichen und die Seide hin und wieder gebrochen war, aber trotzdem verliehen die Vorhänge an Thür und Fenstern, die zierlichen Palissandermöbel, der große Smyrnaer Teppich dem Zimmer einen beinahe üppig eleganten Charakter. Von den Wänden schauten aus goldenen Rahmen heitere italienische Landschaften; diese Bilder waren Erinnerungen an glückliche Tage, welche die Baronin als junge gefeierte Gräfin Luja in Venedig und Neapel verlebt hatte, und in diesen Erinnerungen vergaß sie die trostlose Gegenwart.

„Ueber Dein Verhalten gegen Tante Stontheim brauche ich Dir keinen Wink zu geben, Army,“ begann sie, eng die gestrige Klippe vermeidend. „Du wirst Dich ja zu benehmen wissen; sag’ ihr meine innigsten Grüße, und ich wäre eine alte, müde Frau geworden.“

„Diese Bestellung muß ich ablehnen, Großmama,“ sagte Army galant, „unmöglich kann ich mein Gewissen mit einer Lüge belasten.“

Die alte Dame lächelte geschmeichelt, und ihm einen leichten Streich auf die Wange gebend, bemerkte sie: „Nicht ironisch sein gegen Deine alte Großmama!“

Army küßte ihr die Hand. „Und was hat mir Großmama noch zu sagen?“

„Ja richtig, ich muß Dich noch vor etwas warnen. Du trittst sehr jung in’s Leben und hast das leidenschaftliche Blut meiner Vorfahren geerbt. Genieße Deine Jugend nach Herzenslust, aber hüte Dich vor einer ernsthaften Neigung! Es muß sich Vieles in der vereinigen, die Du einst heimführst, alte Familie und Vermögen, Army, viel Vermögen; es ist einer der wenigen Wege, die Dir offen stehen, den gesunkenen Glanz Deines Hauses wieder aufzurichten. – So, und das wäre Alles,“ schloß sie, „und wenn Du versprichst, mir mitunter zu schreiben, so hätten wir uns weiter nichts zu sagen.“

Der junge Officier lächelte.

„Gewiß, Großmama, ich schreibe bald, denn ich werde viel Zeit haben, und ängstige Dich nicht! An’s Heirathen kann ich doch unmöglich schon denken; ich bin erst achtzehn Jahre gewesen.“ Er lachte laut auf; es war auch keine Spur mehr von dem gestrigen Schatten in dem heiteren Gesichte. „Darf ich Dir jetzt Adieu sagen, Großmama?“ fragte er, „ich möchte noch einmal in den Ahnensaal hinaufgehen, um der schönen Agnese Mechthilde einen Abschiedsbesuch zu machen. Sieh, Großmama, da kann ich Dir gleich eine Beruhigung geben,“ fügte er hinzu, „wenn ich nicht ein Mädchen finde, die ihr ähnlich sieht, dann heirathe ich überhaupt nicht, denn sie ist mein Ideal einer Frau.“

„Du meinst die Mechthilde mit den rothen Haaren?“ fragte ganz erstaunt die alte Dame.

„Ja!“ nickte der Enkel. „Ich habe eine Schwäche für rothes Haar. Apropos, Großmama – darf ich das alte Buch behalten, das Du gestern Abend mit hinunter brachtest?“

„Gewiß, es ist eine Familienchronik, und ich hatte sie für Dich bestimmt.“

„Danke tausendmal! Auf Wiedersehen zu Mittag!“ Er küßte ihr die feine Hand, und gleich darauf schlossen sich die rothen Falten des Thürvorhanges hinter ihm.

Ein Liedchen pfeifend, schritt er den Corridor entlang und stand bald im Ahnensaal vor dem Bilde der schönen Agnese Mechthilde. Von dem dunkel gehaltenen Hintergrund hob sich der zierliche Kopf fast plastisch ab; üppiges goldenes, beinahe röthliches Haar barg sich, von der weißen Stirn zurückgestrichen, unter einem Häubchen von Silberstoff. Unter dieser Stirn, unter den scharf gezeichneten Brauen, die seltsam contrastirten mit dem hellen Haar, blickten große dunkle Augen hervor, mit dem Ausdruck eines tiefen unergründlichen Schmerzes sahen sie den Beschauer an, so träumend, so leidversunken, als suchten sie ein verlornes Glück. Es webte ein mattes Dämmerlicht in dem großen Raume. Army zog den Vorhang des zunächst liegenden Fensters zurück, und nun flutheten die Strahlen der kalten klaren Wintersonne über die rothen Haare des schönen Weibes; es schienen goldene Fäden darin aufzusprühen, und wieder übten die Augen auf ihn den alten Zauber, diese träumenden, so unergründlich schmerzlichen Augen.

Da hörte er einen leisen Schritt und die kleine rosige Hand seiner Schwester legte sich ihm auf die Schulter.

„Hier steckst Du, Army? Wir wollen zu Tische gehen. Komm hinunter, Army! Du mußt ja nachher bald fort, und ich habe Dich den ganzen Morgen noch nicht gesehen.“

Er zog das junge Mädchen an sich. „Schau mich einmal an, Nelly!“ bat er, und hob mit der Hand das Köpfchen ein wenig in die Höhe, „bist Du fröhlich oder bist Du mir noch böse?“

Ihre Augen feuchteten sich, als sie dem Bruder in’s Gesicht sah, aber sie schüttelte lächelnd den Kopf.

„Böse? Nein, o nein! Aber komm doch – es ist so kalt hier.“

Er nahm ihre Hand, und sie schritten der Thür zu; ehe er sie schloß, wandte er sich nochmals zu dem Bilde um.

„‚Darumb nimb war, wasz für Haar! Ist solches roth, hatz groß Gefahr‘,“ flüsterte er vor sich hin. – –

Kaum eine Stunde später stand die alte Sanna droben an einem der Fenster des Corridors; sie blickte dem scheidenden Army nach. Er hatte Abschied genommen von der weinenden Mutter; nun ging er eben über den Schloßhof, und Nelly folgte ihm im schlichten Mäntelchen; sie hatte es sich nicht nehmen lassen, dem Bruder nahe zu sein bis zur letzten Minute des Abschiedes.

„Ganz die Großmutter!“ murmelte die alte Sanna vor sich hin, „das Herz lacht Einem, wenn man ihn nur anschaut.“ Sie hielt sich die Hand über die Augen, um besser sehen zu können. „Es wird ihm nicht fehlen,“ dachte sie weiter, „er kann anklopfen wo er will: die Reichste, die Schönste wird sein, und solch Malheur, wie sein Vater hatte, wird ihn doch nicht verfolgen. O, wenn meine Baronin noch erleben könnte, daß hier im Schloß wieder ein fröhliches glänzendes Leben aufblüht! Sie thäte noch einmal jung werden und schön. O Du blutiger Heiland, wie wollte ich Dir auf den Knieen danken dafür!“

Indessen schritten die Geschwister die alte Lindenallee hinunter; es war ein wunderbar schönes Winterbild, das vor ihnen lag. Unten, wo die Allee endete, schimmerten die weißen schneebedeckten Berge herüber, von den Bäumen wie in einen Rahmen gefaßt; seitwärts blickten die Häuser des Dorfes mit ihren beschneiten Dächern hervor; fast aus jedem Schornstein stieg eine Rauchsäule kerzengerade in die kalte Winterluft, und zur andern Seite zog sich der Wald hin im herrlichen Schmuck des Anhanges; über Weg und Steg lag eine blendend weiße Decke gebreitet – todtenstill war es in der Natur; nur ein Schwarm Krähen zog mit heiserem „Krah! Krah!“ von den Bäumen empor und stiebte den weißen Schmuck der Aeste ab, der nun langsam in glitzerndem Gefunkel zur Erde schwebte. Und über dem Ganzen lag der rosige Duft der untergehenden Sonne, der in der Ferne in einem wundervollen Violett verschwamm.

Die Blicke des jungen Mannes schweiften über die anmuthige Landschaft.

„Sieh, Nelly,“ sagte er, „das Alles, soweit Dein Auge reicht, war einmal unser.“

„Auch die Papiermühle?“ fragte die Kleine und deutete hinüber zu dem schiefergedeckten Giebel derselben.

„Die Mühle selbst nicht, aber ein ansehnlicher Theil des Grundbesitzes. Großvater hat es dem Vater des Müllers verkauft, als er sich einmal in Verlegenheit befand – so erzählte mir Großmama. Der Mann geht jetzt stolz zur Jagd, während wir –“ er fuhr sich mit der Hand über die Augen; dann lachte er und begann zu pfeifen er wollte nun einmal nicht grübeln.

Am Gitterthor des Parkes wandte er sich noch einmal und sah die lange Allee zurück; dort schimmerte das mächtige Portal; die Stufen der breiten Freitreppe waren verschneit, und der Schnee war hoch hinaufgeweht gegen die massiven Flügelthüren. Märchenhaft schön trat das Schloß hervor, übergossen von der jetzt intensiv rothen Gluth der sinkenden Sonne; die Fenster leuchteten wie flüssiges Gold zu dem jungen Manne hinunter, genau so golden und rosig wie die Zukunftsträume, die sich in seinem Herzen entfaltet hatten.

„Es muß hier wieder anders werden,“ sagte er, „es muß; ich will es.“ Er wandte sich und folgte seiner Schwester.

Schweigend gingen sie neben einander her; endlich stand der junge Officier still und sah nach der Uhr.

„Weißt Du, Schwesterchen,“ sagte er, „ich muß rasch zuschreiten, will ich die Post nicht versäumen; kehr’ Du um! Du machst Dir nur kalte Füßchen in dem tiefen Schnee; leb’ wohl, Kleine, und grüße mir Alle noch einmal herzlich!“ Er beugte sich nieder und küßte ihr den frischen Mund. „Laß Dir auch die Zeit nicht gar zu lang werden in dem alten einsamen Schloß!“ fügte er hinzu und sah sie fast mitleidig dabei an.

Sie schüttelte den Kopf. „O nein, ich habe ja Lieschen.“

Sie standen gerade dort, wo der Weg, auf dem sie gekommen, in die Landstraße einbiegt. Drüben führte zwischen Tannen ein Weg nach der Papiermühle und mündete ebenfalls an dieser Stelle; die Straße senkte sich ziemlich steil zum Dörfchen hinunter, und eine Linde streckte ihre Zweige über eine verschneite Steinbank aus. Vom Dorfe her tönte jetzt deutlich ein Posthorn. „Weil ich nun scheiden muß, gieb mir den Abschiedskuß! Mädel ade, Scheiden thut weh,“ sang, die Melodie nachahmend, eine helle Kinderstimme jubelnd und neckend in die Welt hinaus, und gleich darauf trat ein junges Mädchen hinter den Tannen hervor. Sie stutzte, als sie die beiden Gestalten dort erblickte; über das kindliche Gesichtchen zog einen Augenblick eine dunkle Röthe, und ein paar tiefblaue Augen senkten sich wie erschreckt zur Erde, aber dann schritt sie gleich näher, und der liebliche rothe Mund lächelte, daß sich zwei herzige Grübchen in den Wangen bildeten.

„Ach, Nelly,“ rief sie, „wie schön, daß ich Dich treffe! Und Du, Army,“ fragte sie kindlich und ohne eine Spur von Scheu, „willst Du schon wieder fort und bist nicht einmal bei uns in der Mühle gewesen?“

Der junge Officier war dunkelroth geworden, als er die blauen Augen auf sich gerichtet sah und die Hand ergriff, die sie ihm nach Kindesart hinhielt. Er war noch nicht weltgewandt genug, um eine Entschuldigung zu erfinden; sein Lächeln verschwand vor dem köstlich rosig angehauchten Gesichtchen, das fragend und vorwurfsvoll zu ihm emporblickte.

„Army muß ganz plötzlich abreisen,“ sagte Nelly, „sonst –“ sie stockte, es war ihr unmöglich, dem arglosen Kinde etwas vorzulügen; sie hätte weinen mögen vor Scham und sah wie hülfesuchend auf ihren Bruder. Aber schon die wenigen Worte genügten dem jungen Mädchen. „Guter Army,“ sagte sie ganz beruhigt, „ich hatte Dich schon im Verdacht, Du würdest gar nicht mehr zur Mühle kommen; ich wollte eben einmal zu Nelly gehen,“ – sie lachte, daß wieder die Grübchen in den Wangen erschienen – „um nachzusehen ob es wahr ist, was die Muhme behauptet, nämlich daß Du stolz geworden bist. Nun aber kann ich sie auslachen, gelt? Du wärst heute oder morgen doch gekommen,“ sagte sie treuherzig.

Er sah zu ihr herüber, wie in Gedanken verloren. „Wie Du groß geworden bist!“ sagte er dann und ließ seine Augen über die schlanke Gestalt gleiten. Lieschen war wirklich fast so hoch emporgewachsen, wie er selbst; sie sah so anmuthig aus in dem blauen mit Pelz besetzten Sammetjäckchen; plötzlich wurde sie dunkelroth unter seinem Blick und fragte rasch:

„Willst Du mit der Fünf-Uhr-Post fort? Dann mußt Du eilen, Army; ich freue mich, daß ich Dich doch noch als Officier gesehen habe.“ Sie hielt ihm wieder die Hand hin, und wieder legte er die seine hinein; er lachte jetzt auch; es kam etwas wie Erinnerungen aus der Kinderzeit über ihn.

„Den Letzten, Army!“ rief sie dann, schlug ihn leicht auf die Schulter und lief eilig davon. Einen Moment stand der junge Mann, als wolle er, wie früher, ihr nacheilen, um ihr „den Letzten“ wieder zu geben, wie sie es jedesmal gemacht hatten, wenn sie vom Schlosse oder er von der Mühle fortgegangen war – sie hatten sich so gern damit geneckt. Aber dann zog er rasch seinen Paletot über den Armen zusammen, nickte noch einmal zurück und ging. Er sah sich nicht wieder um nach den beiden Gestalten dort, die ihm Arm in Arm nachschauten; er mußte ja eilen.

Unter der alten beschneiten Linde wurden ein Paar süße blaue Augen feucht, und eine Stimme, aus welcher der Uebermuth plötzlich so ganz geschwunden war, flüsterte ein leises „Lebe wohl!“

Auch Nelly weinte, und als seine Gestalt hinter den Häusern des Dorfes verschwand, da fragte sie ängstlich: „Nicht wahr, Lieschen, Du bist dem Army nicht böse?“

Aber Lieschen antwortete nicht; sie schüttelte nur das Köpfchen und ging ganz stumm, ganz schweigsam neben der Freundin her. Die rosige Gluth des Himmels war verblichen, und nur ein mattes Gelb färbte noch den Horizont; die Fenster des alten Schlosses blickten wieder so traurig wie immer hinaus in das ewige Einerlei, und in den beiden jungen Herzen bangte die Wehmuth des Abschieds; der Kuß, den sie sich am Gitterthor des Parkes zur Gute Nacht gaben, war inniger, viel inniger als sonst, und Lieschen war es, als könne sie die kleine Hand der Freundin heute gar nicht loslassen, und nun flüsterte sie noch einmal: „Gute Nacht!“

3.

Inhaltsverzeichnis

Die Lumpenmühle, wie die Papierfabrik von jeher im ganzen Umkreise genannt wurde, lag reizend zwischen hohen alten Bäumen an dem rauschenden kleinen Flusse. Das stattliche Wohnhaus mit der vergoldeten Wetterfahne auf dem spitzen Schieferdache stammte noch aus der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts und hatte sich den Charakter der damaligen Zeit bewahrt. Die schwere eichene Hausthür mit dem blankgeputzten Messingklopfer war noch dieselbe; die vielen kleinen Scheiben der Fenster hatte noch kein neumodisches Spiegelglas ersetzt, und die geschnitzte Inschrift auf dem hervorspringenden altersgrauen Balcon verkündete, daß dieses Haus „zu Ehren Gottes Anno 1741 erbauet sei von Johann Friedrich Erving und seiner Ehefrauen Ernestine geborenen Eisenhardtin.“ Die alten Drachenköpfe an den vier Ecken des Daches waren noch immer bereit, das Regenwasser hinabzuspeien, und die grauen Sandsteinbänke neben der Hausthür unter den zwei großen Linden galten auch heute noch als der liebste Platz der Familie an schönen Sommerabenden. Ein großer Obstgarten umgab das Haus von drei Seiten mit schnurgeraden Wegen, einer schattigen Jasminlaube und vielen Johannis- und Stachelbeersträuchern; dieser Garten stand unter der besondern Herrschaft der Muhme. In der ganzen Umgegend gab es nicht solch vortreffliche Aepfel- und Birnensorten wie auf der Lumpenmühle, und der Spargel auf den sorglich gepflegten Beeten der Muhme war geradezu berühmt wegen seiner Zartheit und außerordentlichen Größe.

Wer hätte sich auch die Lumpenmühle denken können ohne die Alte? Wie gemüthlich sah sich das gleich an, wenn man über den Mühlsteg schritt, der dem Wohnhause gegenüber lag! Der alte Frauenkopf bog sich dann hinter den schneeweißen Vorhängen hervor, um den Gast mit ein Paar freundlichen hellen Augen willkommen zu heißen; die Alte schob das Spinnrad bei Seite und war so hurtig, daß sie meist den Eintretenden schon in der stets offenen Hausthür empfangen konnte mit einem freundlichen „Grüß Gott! Wie wird sich Minnachen“ – das war die Hausfrau – oder „Wie wird sich der Friedrich“ – das war der Hausherr – „freuen!“ und dann trippelte sie voran und öffnete die Thür, um den Gast in das behagliche Wohnzimmer treten zu lassen, und indem sie das gewichtige Schlüsselbund von ihrer Seite nahm, verschwand sie schleunigst in Küche und Speisekammer.