Noch einmal erdröhnte der Beifall, und Luise erschien wieder.
Dann begannen die Stallmeister, das große Netz zusammenzuziehen. Es klang, wie wenn das Großsegel gehißt wird, während die Musik schwieg.
»Herr Fritz und Mlle. Aimee werden den großen Sprung ohne Netz ausführen.«
Ein paar Stallknechte harkten mit großem Eifer den Sand der Manege glatt. Dann war alles fertig. Wie eine salutierende Garde warteten die Stallmeister, als der »Liebeswalzer« wieder ertönte.
Fritz und Aimee kamen Hand in Hand hinein. Grüßend verneigten sie sich mitten unter den zugeworfenen Blumen. Dann schwangen sie sich hinauf an den langen wartenden Seilen.
Die Augen Tausender folgten ihnen.
Nun waren sie oben. Eine Sekunde ruhten sie sich aus, Seite an Seite.
Wie ein Schauder durchfuhr es die Menge, als Fritz losließ und dahinflog – ein Schauder, der wie über einen einzigen Körper hinzitterte.
Aber niemals hatten sie sicherer gearbeitet. In der atemlosen Stille griffen ihre Hände fest um die rasselnden Schaukeln.
Fritz flog hin und zurück.
Aimees Augen hingen an ihm – groß und mattglänzend, wie ein paar Lampen, die bald erlöschen werden.
Der Walzer schwoll an, und das Spiel der Schaukeln wurde heftiger.
Wie aus atembeklemmter Brust kam der angsterfüllte Beifall.
Nun löste Aimee ihr Haar auf, als wollte sie sich in einen dunklen Mantel einhüllen; aufgerichtet wartete sie in der Schaukel vor Fritz. Die großen Sprünge begannen.
Sie flogen, sie sausten dahin. Wie der Schrei der Vögel tönten ihre Kommandoworte über der Musik hin, und es war, als wenn die Gedanken aller sich verwirrten.
»Aimee, du courage!«
Er flog wieder.
»Enfin du courage!«
Er griff wieder zu.
Aimee sah nur ihn – seinen Körper; es war ihr, als leuchtete er.
Der Beifall ertönte wieder dröhnend! Der Walzer schwoll an, er jubelte förmlich.
Fritz wartete auf sie.
Aimee wußte nichts weiter, als daß sie plötzlich ihre Hand emporhob und, sich weit von der schwebenden Schaukel hinaufschwingend, die Haspe löste, an der sie hing.
Und Fritz flog daher.
Sie sah nichts mehr, und es ertönte kein Schrei.
Nur ein Geräusch, als fiele ein Sandsack auf den Boden der Manege, als sein Körper niederfiel.
Ein Tausendstel eines Augenblicks wartete Aimee auf ihrer Schaukel: Sie wußte erst jetzt, daß der Tod eine Wollust ist – dann ließ sie los, schrie auf und stürzte hinab.
Als wenn alle Fesseln gesprengt würden, waren Hunderte voll Entsetzen geflüchtet. Männer setzten über die Barrieren und liefen davon, Frauen strömten in den Eingängen zusammen und flüchteten.
Niemand wartete, alles floh. Der Schrei der Frauen klang, als würden sie mit Messern gestochen.
Drei Ärzte liefen herbei und knieten bei den Leichen nieder. –
Dann war es still geworden. Als wenn sie sich verbergen wollten, schlichen die Artisten in ihre Garderoben, ohne sich auszuziehen. Bei jedem Laut fuhr man zusammen.
Ein flüsternder Stallknecht kam zu den wartenden Ärzten hin, und sie hoben die Leichen auf und legten sie in dasselbe Segeltuch.
Stumm trugen sie sie hinaus – durch den Gang und den Stall, wo die Pferde in ihren Ständen unruhig wurden. Die Artisten folgten, ein seltsamer Trauerzug – in den mannigfaltigen Kostümen der Pantomime.
Der große Rüstwagen wartete.
Adolf stieg hinauf und legte sie dort in das Dunkel – beide, zuerst Aimee und dann den Bruder, nebeneinander hin. Ihre Hände waren so dumpf auf den Boden des Rüstwagens niedergefallen.
Dann fiel die Tür zu.
Man vernahm wieder einen Schrei, und eine Frau stürzte vor und klammerte sich an den Wagen.
Das war Luise; sie trugen sie langsam fort.
Ein Kellner des Restaurants lief den langen, öden Gang entlang – voll Angst wie in Gespensterfurcht mitten in all der Helligkeit.
Er schrie nach einem Arzt.
Eine Dame läge in der Restauration in Krämpfen.
Einer von den drei Ärzten eilte herbei, und es wurde nach einem Wagen gerufen.
Er fuhr vor – mit prangendem Wappen auf den Türen, und eine Dame wurde, vom Arzt gestützt, hinausgeführt. –
Ihre Equipage mußte einen Augenblick halten. Der Rüstwagen versperrte die Gasse.
Dann kam die Equipage vor und fuhr weiter.
Auf der Straße war viel Licht und Gedränge.
Zwei junge Leute waren unter einer Laterne stehengeblieben. Mit frohen, forschenden Blicken schauten sie über den großen Platz hin.
Zwei andere kamen hinzu und erzählten von dem »Ereignis«.
Es wurde etwas geflucht, und man erklärte mit vielen Handbewegungen. Dann zogen die beiden Neuigkeitsbringer weiter.
Die beiden andern Herrn blieben stehen.
Der eine von ihnen schlug mit dem Stock auf die Pflastersteine.
»Na«, sagte er, »mon dieu – pauvres diables! «
Und gleich darauf begannen sie wieder, die Augen auf die wimmelnde Menge gerichtet, zu summen:
Amour, amour,
oh, bel oiseau,
chante, chante,
chante toujours.
Die Stöcke mit den Silberknöpfen leuchteten. Die jungen Männer schlenderten in ihren langen Mänteln weiter:
Amour, amour,
oh, bel oiseau,
chante, chante,
chante toujours.
Die Glocke des Regisseurs ertönte. Allmählich nahm das Publikum seine Plätze ein, wobei das Getrampel auf der Galerie, das Geplauder im Parkett, das Rufen der Apfelsinenjungen die Musik übertönte – und endlich kamen auch die blasierten Leute in den Logen zur Ruhe und warteten.
Es kam die Nummer »Les quatre diables« an die Reihe. Man sah es an dem ausgespannten Netz.
Fritz und Adolf liefen aus der Garderobe hinaus in das Künstlerfoyer, sie eilten den Gang entlang, wobei die grauen Mäntel um ihre Beine schlugen, riefen und klopften an die Türe Aimees und Luisens.
Die beiden Schwestern warteten schon, ebenfalls in fieberhafter Erregung, in ihren langen weißen Gesellschaftsmänteln, die sie ganz einhüllten – während die Duenna mit ihrem schiefsitzenden Kapotthut unaufhörlich im Diskant Rufe ausstieß und verwirrt mit dem Puder, der Armschminke und dem zerdrückten Harz in den Händen hin und her lief.
»Kommt«, rief Adolf, »es ist Zeit!«
Aber sie liefen alle noch einen Augenblick durcheinander, ganz kopflos, von dem Fieber ergriffen, das alle Artisten packt, wenn sie das Trikot auf den Beinen fühlen.
Die Duenna schrie am lautesten.
Nur Aimee streckte ruhig ihre Arme aus den langen Ärmeln Fritz entgegen.
Und schnell, ohne sie anzusehen und ohne ein Wort zu reden, führte er mechanisch eine Puderquaste an den vorgestreckten Armen auf und nieder – wie es seine Gewohnheit war.
»Kommt!« rief Adolf wieder. Sie gingen alle hinaus, Hand in Hand, und warteten. Sie stellten sich am Eingang auf und hörten von drinnen die ersten Takte des Liebeswalzers, nach dem sie arbeiteten:
Amour, amour,
oh, bel oiseau,
chante, chante,
chante toujours.
Fritz und Adolf warfen ihre Mäntel zu Boden und standen strahlend in rosa Anzügen da, ein so blasses Rosa, daß es fast weiß erschien. Ihre Körper wirkten wie nackt – jeder Muskel war zu sehen.
Die Musik hörte auf zu spielen.
Im Stall war es ganz leer und still. Nur ein paar Pferdeknechte waren, ohne sich stören zu lassen, damit beschäftigt, die Futterbüchsen zu untersuchen, und sie standen und hoben mißtrauisch die schweren Behälter empor.
Die Melodie begann von neuem: »Die vier Teufel« betraten die Manege.
Das Beifallsklatschen erschien ihnen wie ein undeutliches Brausen, und sie unterschieden keine Gesichter. Es war, als wenn alle Fibern ihrer Körper bereits vor Anstrengung zitterten.
Dann lösten Adolf und Fritz rasch die weiten Mäntel Luisens und Aimees, sie fielen auf den Sand hernieder, und die Schwestern standen unter dem Feuer von Hunderten von Gläsern gleichsam nackt in ihren schwarzen Trikots da – wie zwei Negerinnen mit weißen Gesichtern.
Sie schwangen sich alle ins Netz hinauf und begannen zu arbeiten. Nackt schienen sie zwischen den rasselnden Schaukeln hin und her zu fliegen, deren Messingstangen leuchteten. Sie umarmten einander, sie fingen einander auf, sie feuerten sich gegenseitig durch Zurufe an; es war, als wenn die weißen und schwarzen Körper sich liebesheiß umschlängen und dann sich wieder lösten, sich abermals umschlängen und sich wieder lösten in lockender Nacktheit.
Und der Liebeswalzer mit seinen schläfrig schmachtenden Rhythmen tönte weiter, und die Haare der Frauen umflatterten, wenn sie durch die Luft flogen, weit ausgebreitet die schwarze Blöße – wie ein Atlasmantel.
Sie hörten nicht auf. Nun arbeiteten sie übereinander, Adolf und Luise oben.