London, 1850. Iris schuftet unter harten Bedingungen in einer Puppenmanufaktur, doch heimlich malt sie Bilder und träumt von einem Dasein als Künstlerin. Als sie für den Maler Louis Frost Modell stehen soll und von ihm unterrichtet wird, eröffnet sich ihr eine völlig neue Welt: Künstlerische Meisterschaft, persönliche Entfaltung und die Liebe zu Louis stellen ihr Leben auf den Kopf. Sie ahnt jedoch nicht, dass sie einen heimlichen Verehrer hat. Einen Verehrer, der seinen ganz eigenen, dunklen Plan verfolgt.
Elizabeth Macneal stammt aus Schottland und lebt in London. Sie ist Autorin und Töpferin. THE DOLL FACTORY ist ihr erster Roman und sprang direkt nach Erscheinen auf Platz 1 der britischen Bestsellerliste. Die Übersetzungsrechte wurden in über 30 Länder verkauft.
Roman
Aus dem Englischen
von Eva Bonné
EICHBORN
Vollständige eBook-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Titel der englischen Originalausgabe:
»The Doll Factory«
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2018 by Elizabeth Macneal
First published by Picador, UK
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2019 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Ilona Jaeger / Rotkel Textwerkstatt, Berlin
Umschlaggestaltung: Manuela Städele-Monverde
Umschlagmotive: © shutterstock: marinatakano | standa_art | Gleb Guralnyk
eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-7325-8794-0
www.eichborn.de
www.luebbe.de
www.lesejury.de
Für Enid und Arthur
Wenn die Straßen am stillsten und dunkelsten sind, setzt eine junge Frau sich im Keller der Puppenmanufaktur an ein kleines Pult. Vor ihr liegt ein kahler Porzellankopf und betrachtet sie aus leeren Augen. Sie presst rote und weiße Aquarellfarbe in eine Austernschale, befeuchtet die Pinselspitze mit der Zunge und rückt den Spiegel zurecht. Die Kerze zischt. Die junge Frau beugt sich über das weiße Papier und kneift die Augen zusammen.
Sie tröpfelt Wasser auf die Farbe und mischt einen Hautton an. Der erste Pinselstrich trifft die Seite so jäh wie ein Schlag. Das Papier ist dick und kaltgepresst, es wellt sich nicht.
Das Kerzenlicht vergrößert alle Schatten und lässt ihre Haare mit der Dunkelheit verschmelzen. Sie malt weiter, ein einziger Strich für das Kinn, Weiß für die Wangenknochen, an denen das Licht sich verfängt. Pflichttreu übernimmt sie ihre Makel: die weit auseinanderstehenden Augen, das verformte Schlüsselbein. Oben schlafen ihre Schwester und die Hausherrin; bereits das Wischen des Pinsels auf dem Papier erscheint ihr als Störung der nächtlichen Stille, als ohrenbetäubender Lärm, der alle wecken wird.
Sie runzelt die Stirn. Das Gesicht ist zu klein geraten. Sie wollte, dass es die ganze Seite bedeckt, aber nun schwebt es wie losgelöst auf der weißen Fläche. Sie hat einen ganzen Wochenlohn in das Papier investiert, und jetzt ist es ruiniert. Sie hätte die Umrisse vorzeichnen sollen, statt so hastig anzufangen.
Sie sitzt eine Weile unschlüssig da. Ihr Herz klopft schnell, der Puppenkopf schaut zu. Sie sollte wieder ins Bett gehen, bevor sie hier unten entdeckt wird.
Aber dann beugt sie sich vor, ohne den Spiegel aus den Augen zu lassen, und rückt die Kerze – kein Talg, sondern Bienenwachs aus dem Geheimvorrat der Herrin – näher heran. Sie taucht einen Finger ins Wachs und formt ein Hütchen. Sie zieht die Hand durch die Flamme und fragt sich, wie lange sie die Hitze erträgt. Der feine Flaum an ihren Fingern knistert.
Gewiss wohnt diesem Herzen etwas inne, das nicht
vergehen kann, und das Leben ist mehr als ein Traum.
MARY WOLLSTONECRAFT,
Briefe von einem kurzen Aufenthalt
in Schweden, Norwegen und Dänemark (1796)
Ein Ding von Schönheit ist ein Glück für immer:
Es nimmt noch zu an Liebreiz; es wird nimmer
Ins Nichts vergehn, doch hält uns alle Zeit
Ein ruhiges Plätzchen und süß Schlaf bereit,
Voll Träumen und gesundem, ruhigem Atem.
JOHN KEATS, Endymion (1818)
Silas sitzt am Präpariertisch und hält eine ausgestopfte Turteltaube in der Hand. Im Keller ist es totenstill wie in einer Gruft, und man hört nichts als seine ruhigen Atemzüge, unter denen das Gefieder sich plustert.
Bei der Arbeit kräuselt Silas die Lippen, und im schummrigen Licht der Lampe wirkt er nicht einmal unattraktiv. Er ist jetzt siebenunddreißig, doch sein Haarschopf ist immer noch voll und ganz ohne Silberfäden. Er sieht sich um: In den Regalen stehen Gläser aufgereiht, jedes mit einem Etikett versehen und gefüllt mit den aufgeschwemmten Leibern der eingelegten Präparate. Aufgedunsene Lämmer, Schlangen, Eidechsen und Kätzchen drücken sich von innen an ihr gläsernes Gefängnis.
»Zappel nicht so, du kleiner Schlingel«, murmelt er, greift zur Zange und strafft die Drähte an den Vogelkrallen.
Er spricht gern mit seinen Präparaten, oft denkt er sich Geschichten darüber aus, wie sie auf seinem Tisch gelandet sind. Nachdem er für die Taube verschiedene Szenarien durchgegangen ist – explodierende Lastkähne auf dem Kanal, ein Nest in Odysseus’ Segel –, legt er sich auf eines fest, das ihm besonders gut gefällt; er tadelt das Tier ausgiebig für dessen vermeintliche Unart, kleine Kresseverkäuferinnen zu belästigen. Er lässt die Taube los, sie bleibt starr auf dem Holzständer sitzen.
»Na bitte!«, ruft er, lehnt sich zurück und streicht sich eine Haarsträhne aus den Augen. »Und du hast deine Lektion hoffentlich gelernt. Was hast du dir dabei gedacht, dem Mädchen die Kräutersträuße aus dem Arm zu rupfen?«
Silas ist mit seiner Arbeit zufrieden, ganz besonders angesichts der Tatsache, dass er sich zum Schluss so beeilen musste, um rechtzeitig fertig zu werden. Bestimmt wird der Künstler an der Taube Gefallen finden; wie besprochen ist sie wie mitten im Flug erstarrt, die Flügel bilden ein symmetrisches V. Außerdem hat Silas ein doppeltes Geschäft gemacht, weil ein weiteres Taubenherz seinen Weg in eines der gelblichen Gläser gefunden hat. Die kleinen braunen Kugeln schwimmen in der Konservierflüssigkeit und warten darauf, für einen guten Preis an Quacksalber und Apotheker verkauft zu werden.
Silas räumt seinen Arbeitsplatz auf, säubert die Instrumente und legt sie zurück. Er nimmt die Taube an sich und erklimmt die Leiter, und als er die Falltür mit der Schulter in die Höhe stemmt, hört er das heisere Bimmeln des Glöckchens.
Albie, denkt er voller Hoffnung; es wäre noch nicht zu spät für sein Erscheinen. Er lässt den Vogel auf einer Vitrine stehen, eilt durch den Laden und fragt sich, was das Kind ihm heute bringen wird. Die letzten Beutezüge des Jungen waren mehr als dürftig – madenzerfressene Ratten, alte Katzen mit zertrümmertem Schädel, einmal sogar eine überfahrene Taube mit nur einem Beinstumpen. (»Aber Sir, wenn Sie wüssten, wie schwer es ist, wo doch die Lumpensammler die besten Exemplare an sich reißen …«) Wenn Silas sich mit seiner Kollektion einen Namen machen will, muss er sie durch ein aufsehenerregendes Glanzstück ergänzen. Er denkt an den Bäcker vom nahe gelegenen Boulevard The Strand, der mit dem Verkauf seiner klotzigen Vollkornbrote, die allenfalls gute Türstopper abgaben, kaum über die Runden kam. Aber dann, schon auf der Schwelle zum Schuldturm, hatte er den Einfall, Erdbeeren in Zucker einzulegen und in kleinen Gläsern zu verkaufen. Auf einmal florierten die Geschäfte, der Laden wurde berühmt, und heute steht sein Name sogar in den Londoner Touristenbroschüren.
Das Problem ist nur, dass Silas mehr als einmal glaubte, er hätte dieses besondere, einzigartige Stück gefunden. Aber wenn sein Werk vollendet ist, überkommen ihn immer wieder Zweifel und eine Sehnsucht nach mehr. Die von ihm bewunderten Pathologen und Sammler – gebildete Mediziner wie John Hunter oder Astley Cooper – haben keinen Mangel an Präparaten. Er hat die Gespräche der Chirurgen belauscht, grün vor Neid saß er in den Spelunken gegenüber dem Londoner University College, während sie über die Sektionen des Vormittags diskutierten. Leider verfügt er, anders als sie, über keinerlei Beziehungen, doch eines Tages wird Albie ihm ganz gewiss etwas Spektakuläres bringen. Seine Hände beginnen zu zittern. Eines Tages wird sein Name den Eingang eines Museums zieren, und dann wird man seiner Arbeit und seinem Lebenswerk endlich die gebührende Anerkennung zollen. Er stellt sich vor, wie er mit seiner liebsten Jugendfreundin Flick die Steintreppe hinaufsteigt und innehält, um die Gravur im Marmor zu betrachten: »Silas Reed«. Sie wird ihren Stolz nicht verhehlen können und ihm eine Hand auf den Rücken legen, und er wird ihr erklären, dass er das alles nur für sie getan hat.
Doch da ist nicht Albie an der Tür, und auch jedes weitere Klopfen und Klingeln entpuppt sich als Enttäuschung. Eine Magd wurde von ihrer Herrin geschickt, einen ausgestopften Kolibri für den neuen Hut zu besorgen. Ein Junge im Samtjackett stöbert endlos lange herum und entscheidet sich zum Schluss für eine Schmetterlingsbrosche, die Silas ihm mit verächtlichem Schulterzucken verkauft. Ungerührt lässt er die Münzen in den Hundefellbeutel fallen. In der Stille zwischen den Besuchen fährt sein Daumen wieder und wieder über denselben Satz in The Lancet: »Tu-mor spal-tet den os navi … navi-colare.« Das Läuten der Glocke und das Klopfen an der Tür bilden den Rhythmus seines Lebens. Oben unter dem Dach wartet das Bett, unten der dunkle Keller.
Es ist wirklich zum Haareraufen, denkt Silas und schaut sich in seinem schäbigen Laden um, dass er ausgerechnet mit den geistlosesten Objekten seinen Lebensunterhalt bestreitet. Für den armseligen Geschmack der Massen gibt es keine Entschuldigung. Die meisten Kunden übersehen die wahren Wunderwerke – den Schädel eines hundertjährigen Löwen, den Fächer aus dem Lungengewebe eines Wals, den präparierten Affen unter der Glasglocke – und gehen direkt zur Schmetterlingsvitrine im hinteren Teil durch. Sie bestaunen zinnoberrote Schmetterlingsflügel, die zwischen zwei dünnen Glasscheiben stecken. Manche dienen als Kettenanhänger, andere sind reine Dekoration. Billiger Tand, den sie mit ein wenig Fantasie selbst anfertigen könnten, denkt Silas. Nur die Maler und die Apotheker sind bereit, für die wirklich interessanten Stücke zu zahlen.
Als die Uhr elf schlägt, hört er ein zaghaftes Klopfen und das leise Stottern des Kellerglöckchens.
Er eilt zur Tür. Sicher nur ein dummes Kind, das nicht mehr in der Tasche hat als ein Zweipencestück; und falls es doch Albie ist, wird er ihm nur eine weitere verflixte Fledermaus anschleppen oder einen räudigen Hund, aus dem sich höchstens noch ein Eintopf kochen lässt. Trotzdem schlägt Silas’ Herz etwas schneller.
»Albie«, sagt er mit bemüht fester Stimme und öffnet die Tür. Sofort kriecht der Londoner Nebel herein.
Der Zehnjährige lächelt ihn schief an. (»Zehn, Sir, das weiß ich, denn ich wurde genau an dem Tag geboren, als die Queen ihren Albert geheiratet hat.«) Von seinem Oberkiefer ragt ein einziger gelber Zahn herunter wie ein Galgenstrick.
»Heute habe ich Ihnen eine vorzügliche frische Kreatur mitgebracht«, sagt Albie.
Silas wirft einen Blick in die dunkle Sackgasse. Die verlassenen, baufälligen Häuschen stehen aneinandergelehnt wie Betrunkene, ein jedes beugt sich weiter vor als sein Nachbar.
»Nur heraus damit, Junge«, sagt er und kneift das Kind ins Kinn, wie um seine Überlegenheit zu demonstrieren. »Was hast du mitgebracht? Das Bein eines Megalosaurus oder vielleicht den Kopf einer Meerjungfrau?«
»Um diese Jahreszeit ist es im Regent’s Canal zu kalt für Meerjungfrauen, Sir, aber der andere – Megalo-dingsda – lässt ausrichten, dass Sie seine Knie haben können, wenn er tot umgefallen ist.«
»Wie nett von ihm.«
Albie bläst sich in den Ärmel. »Ich habe Ihnen ein echtes Schmuckstück mitgebracht, das ich für nicht weniger als zwei Shilling weggebe. Aber ich muss Sie warnen, es ist nicht so blutig, wie Sie es sonst mögen.«
Der Junge knüpft seinen Sack auf. Silas’ Blick folgt seinen Fingern. Würzig-süße, faulige Luft entweicht, Silas hält sich eine Hand vor die Nase. Den Geruch der Toten hat er nie gut ertragen. Seine Werkstatt ist so sauber wie die eines Drogisten und jeder Tag ein neuer Kampf gegen Kohlequalm, Fellstaub und Gestank. Am liebsten würde er den kleinen Lavendelölflakon aus seiner Westentasche ziehen, ihn entkorken und sich die Oberlippe betupfen, aber er will den Jungen nicht unnötig ablenken. Albie hat die Aufmerksamkeitsspanne einer Spitzmaus, bestenfalls.
Der Junge zwinkert, wühlt und tut so, als wäre der Sack lebendig.
Silas zwingt sich zu einem Lächeln. Es fühlt sich falsch an. Dass dieser Bengel, dieses Straßenkind sich einen Scherz mit ihm erlaubt, ist kaum zu ertragen. Bei Albies Anblick krümmt er sich innerlich, denn der Junge erinnert ihn an seine eigene Kindheit, als er schwere Säcke mit nassem Ton über den Hof der Keramikfabrik schleppen musste und seine Arme schmerzten von den Faustschlägen der Mutter. In diesen Momenten fragt er sich, ob er, wenn er sich jetzt sogar von einem einzahnigen Wicht verhöhnen lassen muss, der Vergangenheit tatsächlich entkommen ist.
Silas schweigt. Er schützt ein Gähnen vor und verfolgt den Jungen aus den Augenwinkeln, doch sein starrer Krokodilblick verrät sein Interesse.
Albie zieht grinsend zwei tote Hundewelpen aus dem Sack.
Immerhin sind es zwei, denkt Silas, doch als er nach den Leibern greift, ertastet er nur ein Genick, einen Hals, einen Kopf. Oben auf dem Schädel verläuft eine tiefe Kerbe unter dem Fell.
Silas schnappt nach Luft, lächelt. Er fährt noch einmal mit den Fingern über den Kopf, um sich zu vergewissern, dass das Ganze kein Trick ist. Er würde es Albie zutrauen, zwei Hunde mit Nadel und Faden aneinanderzunähen, nur um ein paar Pennys mehr herauszuholen. Er hält die Hunde in die Höhe, betrachtet ihre Silhouette im Lampenlicht, berührt die acht Läufe, die knochigen Rückenwirbel.
»Das gefällt mir schon besser«, haucht er. »Oh ja.«
»Zwei Shilling«, sagt Albie. »Nicht weniger.«
Silas lacht und zieht den Beutel heraus. »Ein Shilling, mehr nicht. Aber du darfst hereinkommen und dir meine Werkstatt ansehen.« Albie schüttelt den Kopf, weicht zurück in die Gasse und sieht sich um. Plötzlich wirkt er verängstigt, doch er entspannt sich wieder, als Silas ihm die Münze in die Hand drückt. Albie rotzt seine Verachtung auf das Kopfsteinpflaster.
»Bloß einen Shilling? Soll ich verhungern?«
Doch Silas schließt die Tür und ignoriert das Hämmern.
Er muss sich an einer Vitrine abstützen. Er sieht ungläubig an sich hinunter, aber die Welpen sind noch da. Er drückt sie sich an die Brust wie ein Kind eine Puppe. Die acht behaarten Läufe baumeln in der Luft, sie sind weich wie Maulwürfe. Die Welpen sehen aus, als hätten sie keinen einzigen Atemzug getan.
Endlich hat er sie gefunden, seine eingelegten Erdbeeren.
Nachdem Silas die Tür zugeschlagen hat, schiebt Albie sich den Shilling zwischen Zahn und Zahnfleisch, genau so, wie er es bei seiner Schwester gesehen hat. Er saugt daran, die Münze schmeckt süßlich. Albie freut sich, mit zwei Shilling hätte er nie gerechnet. Doch wenn man zwei verlangt, bekommt man einen – was also bekäme man, wenn man einen verlangte? Albie zuckt mit den Achseln, spuckt die Münze aus und steckt sie ein. Er wird sich eine Schüssel gekochte Schweineohren kaufen und den Rest seiner Schwester geben. Aber vorher hat er noch eine andere Aufgabe zu erledigen, und er ist spät dran.
Neben dem Tote-Tiere-Sack hängt ein zweiter mit winzigen Röcken, die er in der Nacht genäht hat. Er achtet immer peinlich genau darauf, die Säcke nicht zu verwechseln. Manchmal steht er im Puppengeschäft und ist plötzlich überzeugt, den falschen Sack geöffnet zu haben, und dann fühlt es sich an, als würde ein Pfeil sein Herz durchbohren. Er möchte nicht wissen, welches Gesicht Mrs Salter zieht, wenn sie in einen Sack mit madigen Ratten greift.
Er bläst sich auf die kleinen Fäuste, um sie zu wärmen, und rennt los. Im Zickzack und auf dünnen O-Beinen jagt er durch die Straßen. Er läuft nach Westen, durch den Dreck von Soho. Verhärmte Huren folgen seiner schmächtigen Gestalt mit gierigen Blicken, als wären sie hungrige Katzen und er eine Fliege.
Er erreicht die Regent Street und trabt an dem Geschäft vorbei, das falsche Gebisse verkauft, das Stück für vier Guineen. Mit der Zungenspitze berührt er seinen letzten Zahn, läuft versehentlich einem Pferd in den Weg. Das Tier scheut und bäumt sich auf, Albie springt zurück und bewältigt den Schreck, indem er dem Kutscher zubrüllt: »Pass doch auf, Mann!«
Bevor der Kutscher Gelegenheit hat, ihn zu beschimpfen oder mit der Peitsche zu schlagen, schießt Albie über die Straße und verschwindet in Mrs Salters Haus der Puppen.
Iris fährt die Säume der winzigen Röcke mit dem Daumennagel ab, um allfällige Flohpanzer zu zerknacken. Sie zupft an einem losen Faden, schlägt einen Knoten hinein.
Obwohl es fast schon Mittag ist, hat Mrs Salter das Bett noch nicht verlassen. Neben Iris sitzt ihre Zwillingsschwester und hält den Kopf über eine Näharbeit gebeugt.
»Immerhin keine Flöhe. Aber gib dir in Zukunft mehr Mühe mit den Säumen«, sagt Iris zu Albie. »In dieser Stadt gibt es genug Näherinnen, die ihr Neugeborenes hergeben würden, um deine Arbeit machen zu dürfen.«
»Aber Miss, meine Schwester hat die Grippe, und ich musste sie die ganze Nacht pflegen. Seit Tagen war ich nicht mehr Schlittschuh laufen, das ist doch ungerecht.«
»Armes Ding.« Iris sieht sich um, ihre Schwester Rose ist in die Arbeit vertieft. Iris dämpft die Stimme. »Du darfst nicht vergessen, dass du es bei Mrs Salter nicht mit einer Frau zu tun hast, sondern mit dem Teufel. Gerechtigkeit hat sie nie interessiert. Hast du je gesehen, dass sie die Zunge herausgestreckt hätte?«
Albie schüttelt den Kopf.
»Sie ist gespalten!«
Albies Lächeln ist so offen und arglos, dass Iris ihn umarmen möchte. Sein verfilztes blondes Haar, der einsame Fangzahn, das rußverschmierte Gesicht – er kann nichts dafür. Mit ein bisschen mehr Glück wäre er in ihre Familie in Hackney hineingeboren worden.
Sie stopft neuen Stoff in Albies Sack, sieht sich noch einmal nach Rose um und schiebt ihm schnell einen Sixpence zu. Eigentlich hatte sie das Geld in neues Papier und einen Pinsel investieren wollen. »Kauf deiner Schwester eine Brühe.«
Misstrauisch betrachtet Albie die Münze.
»Das ist keine Falle«, sagt Iris.
»Danke, Miss«, sagt er. Seine Augen sind zwei schwarze Knöpfe. Er steckt die Münze so hastig ein, als fürchte er, Iris könnte es sich anders überlegen, und flitzt aus dem Laden. Fast rennt er den italienischen Orgelspieler über den Haufen, der Alte hebt den Gehstock und schlägt nach ihm.
Iris sieht Albie nach und holt tief Luft. Auch wenn er ein Straßenkind ist, kann sie sich nicht erklären, warum er immer so nach Tod und Verwesung riecht.
Die kleine Puppenmanufaktur in der Regent Street ist zwischen zwei konkurrierende Konditoreien gezwängt. Wegen der Risse im Kamin zieht rund um die Uhr ein Duft von Zuckersirup und gebranntem Karamell durch Mrs Salters Laden. Manchmal träumt Iris davon, Bonbons, Pflaumengelee und winzige Küchlein aus Blätterteig und Schlagsahne zu essen oder auf Lebkuchenelefanten bis zum Buckingham Palace zu reiten. In einem anderen Traum ertrinkt sie in schwarzer Melasse.
Als die Whittle-Zwillinge Mrs Salters Laden – ob sie je verheiratet war oder es noch ist, bleibt ihnen ein Rätsel – zum ersten Mal betraten, waren sie fasziniert. Wegen ihres verformten Schlüsselbeins und Roses Pockennarben hatte Iris erwartet, in den Lagerraum im Keller verbannt zu werden, doch stattdessen wurden die Lehrlinge an einem vergoldeten Schreibtisch mitten im Laden platziert, damit interessierte Kunden ihnen bei der Arbeit zusehen konnten. Iris bekam Pulverfarben und Pinsel aus Fuchshaar ausgehändigt, denn ihre Aufgabe würde es sein, die Füße, Hände und Gesichter der Puppen zu gestalten. Sie wusste, die Arbeitstage würden lang sein, doch die Ebenholzschränke an den Wänden und die Regale voller Porzellanpuppen erfüllten sie mit Ehrfurcht. Im Laden war es hell und warm, es gab vergoldete Kerzenhalter, und in einer Ecke brannte sogar ein Kaminfeuer.
Aber jetzt, da sie neben ihrer Schwester am Nähtisch sitzt, in der einen Hand eine Puppe und in der anderen einen zerfledderten Pinsel, muss sie ein Gähnen unterdrücken. Nie hätte sie sich diese Erschöpfung vorstellen können. In einer Fabrik zu schuften wäre kaum anstrengender. Ihr Hände sind rot und rissig von der Winterkälte, doch wenn sie sie einfettet, rutscht ihr der Pinsel aus den Fingern, und dann wären Lippen und Wangen der Puppen ruiniert. Sie sieht sich abermals im Laden um: Die Ebenholzschränke sind in Wahrheit aus billigem, lackiertem Eichenholz, und in der Wärme blättert die Goldfolie von den Kerzenhaltern ab. Am hässlichsten findet Iris den abgewetzten Streifen Teppich, auf dem Mrs Salter pausenlos umhertigert und der inzwischen schütterer ist als das Haar der Herrin. Durch den süßlichen Duft aus der Zuckerbäckerei, die stickige Wärme und die aufgerissenen Puppenaugen wirkt der Laden mehr wie eine Krypta. An manchen Tagen glaubt Iris zu ersticken.
»Tot?«, flüstert sie und schiebt ihrer Zwillingsschwester eine Daguerreotypie zu. Das winzige sepiafarbene Bild zeigt ein kleines Mädchen, dessen gefaltete Hände im Schoß ruhen wie zwei müde Tauben. Iris hebt den Kopf: Mrs Salter kommt herein, setzt sich an die Tür und schlägt ihre Bibel auf. Der Buchrücken knackt.
Rose bringt ihre Schwester mit einem Blick zum Schweigen.
Iris hat ein schlechtes Gewissen, doch es ist ihr einziger Zeitvertreib. Sie fragt sich jedes Mal, ob das Kind auf dem Bild gestorben ist. Aus unerfindlichen Gründen möchte sie wissen, ob sie eine Trauerpuppe für ein kleines Grab anfertigt oder ein Spielzeug für ein gesundes, munteres Kind.
Den Hauptteil ihres Einkommens erzielt Mrs Salter mit derlei Spezialanfertigungen. Es ist Winter, durch die Kälte und die Krankheiten verdoppelt sich die Arbeitslast, und die tägliche Arbeitszeit der Schwestern verlängert sich von zwölf auf zwanzig Stunden. »Es ist verständlich«, hören sie Mrs Salter gurren, »und nur normal, dass Sie der verstorbenen Seele gedenken wollen. Schließlich steht schon bei den Korinthern geschrieben: ›Wir sind aber getrost und begehren sehr, den Leib zu verlassen und daheim zu sein bei dem Herrn.‹ Die Seele ist entschwunden, und die Puppe ist das Symbol der sterblichen Hülle, die hier auf Erden zurückbleibt.«
Herauszufinden, ob das Kind auf dem Bild tot ist oder nicht, kann etwas knifflig sein, aber Iris hat gelernt, die Inszenierungen zu entschlüsseln. Manchmal ist es einfach: Das Kind scheint zu schlafen, liegt aber in einem Bett aus Blumen. Manchmal wird es offensichtlich gestützt, gelegentlich sogar von einer Person, die versteckt bleiben soll und fast wie ein Möbelpolster erscheint, oder da sind noch andere Leute auf der Daguerreotypie, und die Belichtung hat alle Züge verwischt außer denen des Kindes, das in perfekter, regloser Klarheit heraussticht.
»Lebendig«, urteilt Iris. »Die Augen sind unscharf.«
»Still! Ich dulde kein Geschwätz«, schießt Mrs Salters Keifen in die Höhe wie eine Stichflamme. Iris senkt den Kopf und rührt ein dunkles Rosa für den Schatten zwischen den Puppenlippen an. Sie wagt es nicht, noch einmal aufzublicken, denn sie fürchtet einen von Mrs Salters berüchtigten Kniffen in die weiche Ellenbeuge.
Den ganzen Tag lang sitzen die jungen Frauen Seite an Seite, sprechen kaum, bewegen sich kaum, und nur einmal machen sie Pause, um etwas Rindertalg mit Brot zu essen.
Iris bemalt Porzellangesichter und fädelt Haare durch die winzigen Löcher auf dem Puppenkopf. Wenn das Kind Locken hatte, dreht sie die Strähnen mit dem Eisen auf. Unterdessen hebt und senkt Roses Nadel sich wie der Bogen einer Geigenspielerin. Ihre Aufgabe ist es, den groben Röckchen und Leibchen, die die Näher nachts anfertigen, feinere Details hinzuzufügen: Saatperlen, Rüschenmanschetten, Posamentenborten und Samtknöpfe so klein wie Mäusenasen.
Obwohl sie eineiig sind, könnten die Whittle-Zwillinge nicht verschiedener sein. Als sie jünger waren, galt Rose immer als die Schönere der beiden, sie war der Liebling ihrer Eltern und hütete dieses Wissen wie einen Schatz. Iris’ deformiertes Schlüsselbein – ein Geburtsfehler, durch den sich ihre linke Schulter nach vorn wölbt – weckte den liebevollen Beschützerinstinkt der Schwester, deren Bemutterung sie sich meist gefallen ließ. (»Ich bin doch nicht invalide«, schimpfte sie, wenn Rose alle Einkäufe allein trug und vorauslief, als wäre Iris’ fügsames Gefolge eine Selbstverständlichkeit.) Manchmal zankten sie sich, beim Essen stritten sie sich um die größte Röstkartoffel, und sie wetteiferten darum, wer am weitesten springen oder am saubersten schreiben konnte. Sie teilten grausame Schläge aus, weil sie wussten, dass es nach jedem Kampf zur Versöhnung kommen würde; mit ineinander verschränkten Gliedmaßen saßen sie am Kaminfeuer und träumten von einem eigenen Ladengeschäft namens Flora, von Regalen voller Blumenschmuck und Vasen mit Iris und Rosen.
Mit sechzehn erkrankte Rose an den Blattern und wäre fast gestorben; und als die dicken Beulen ihr Gesicht und ihren Körper bedeckten und das erblindete linke Auge milchig schlingerte, wünschte sie sich, es wäre so gekommen. Auf ihrer Haut bildeten sich violette Krater, die sich durch endloses Kratzen verschlimmerten. Ihre Beine waren von Narben übersät. »Warum ich? Warum ich?«, heulte sie. Einmal zischte sie: »Es hätte dich treffen sollen«, und Iris fragte sich, ob sie sich verhört hatte.
Nun sind sie einundzwanzig Jahre alt. Beide haben langes rotes Haar. Rose trägt ihres wie eine Büßerin, sie frisiert es nach vorn, damit es die pockennarbigen Wangen bedeckt. Iris’ Haar reicht ihr bis zur Taille, üblicherweise trägt sie es zu einem langen dicken Zopf geflochten. Ihre Haut ist aufreizend blass und glatt. Sie lachen nicht mehr zusammen, sie tauschen keine Geheimnisse mehr aus. Über ihren Traumladen reden sie nie.
Manchmal wacht Iris am frühen Morgen auf und bemerkt, dass ihre Schwester sie beobachtet. Roses Blick ist so leer und kalt, dass ihr angst und bange wird.
Iris’ Lider senken sich. Sie fühlen sich so schwer an wie mit Bleibändern gesäumt. Mrs Salter bedient gerade eine Kundin, ihre Stimme ist ein melodiöses Schnurren.
»Wir erledigen jeden Auftrag mit der größten Sorgfalt … reines Porzellan aus den Fabriken im Norden … Wir sind eine Art Familienbetrieb … In der Tat, zwei anständige Mädchen, kein Vergleich zu den klatschsüchtigen Hutmacherinnen aus der Cranbourne Alley. Dieses verdorbene Pack!«
Iris kneift sich in den Oberschenkel, um wach zu bleiben. Ihr Kopf kippt nach vorn, sie fragt sich, ob es wirklich so furchtbar wäre, jetzt einzuschlafen …
»Meine Güte, Rosie!«, flüstert sie, richtet sich auf und reibt sich den Arm. »Deine Ellenbogen sind so spitz, ich frage mich, wozu du überhaupt eine Nadel brauchst.«
»Wenn Mrs Salter das gesehen hätte!«
»Ich ertrage es nicht mehr«, flüstert Iris. »Wirklich nicht.«
Stumm und sorgenvoll betrachtet Rose den Schorf auf ihrem Handrücken.
»Was würdest du tun, wenn wir von hier entkommen könnten? Wenn wir nicht …«
»Wir sollten dankbar sein«, murmelt Rose. »Was willst du denn machen? Mich im Stich lassen und für den Rest deines Lebens auf dem Lotterbett liegen?«
»Natürlich nicht«, zischelt Iris zurück. »Ich möchte Leinwände bemalen, nicht immer nur diese dummen Puppenaugen und Lippen und Wangen und … ahrgh!« Ohne es zu merken, hat sie die Hand zur Faust geballt. Sie spreizt die Finger und reißt sich zusammen; sie möchte ihrer Schwester kein Leid zufügen. Aber dass Rose krank wurde, ist nicht Iris’ Schuld, trotzdem muss sie täglich dafür sühnen und wird mit Liebesentzug bestraft. »Ich halte es in Madame Satans Höhle nicht mehr aus.«
Am Ladeneingang dreht Mrs Salters den Kopf so ruckartig wie eine Eule. Sie runzelt die Stirn. Rose zuckt zusammen und sticht sich mit der Nadel.
Der Wind schlägt die Tür zu. Iris wirft einen Blick durch die verschmierte Schaufensterscheibe und kneift die Augen zusammen. Sie sieht Kutschen vorbeirollen, stellt sich die Damen vor, die darin sitzen wie eingesponnen in einen Kokon.
Sie beißt sich auf die Unterlippe, streut etwas blauen Puder aus und tunkt die Pinselspitze ein weiteres Mal ins Wasserglas.
»Ihr bösen, bösen Welpen«, sagt Silas und setzt sich an den Präpariertisch im Keller. Eine schwarze Locke rutscht ihm in die Stirn. »Tut mir leid, dass es so weit gekommen ist. Wenn ihr euch nicht an Cooks Marzipan bedient hättet, sähe die Sache vielleicht anders aus.« Er lacht, freut sich über die neue Geschichte und sucht drei verschieden große Skalpelle heraus. Die siamesischen Welpen liegen vor ihm auf dem Rücken.
Zunächst dachte er daran, sie einzulegen, aber dann hat er sich entschieden, zwei Präparate aus ihnen zu machen. Er wird sie skelettieren und ausstopfen. Wenn sein Museum eines Tages eröffnet, werden Fell und Skelett Seite an Seite zwischen den hohen Marmorsäulen am Eingang stehen.
Er wischt sich über die Stirn, die trotz der Novemberkälte schweißnass ist, und spreizt die Hände. Das größte der Skalpelle kühlt seine Hand.
Er setzt einen kleinen Schnitt am Bauch des linken Welpen und hebt mit gleichmäßigem Zug das Fell an. Sein Atem ist ein dünnes Pfeifen zwischen den Zähnen. Er bemüht sich, die Muskeln und die Organe nicht zu verletzen, die dichtgedrängt unter einer violetten Membran liegen. Er rückt ein paar Zentimeter nach links, bis das Licht der Lampe auf die Hunde fällt, dann löst er das Fell so weit wie möglich ab. An den weich gepolsterten Pfoten und der rautenförmigen Nase mit den vier Nasenlöchern hält er kurz inne. Durch die Schatten ist ein akkurates Arbeiten schwierig, deswegen geht er langsam vor. Mit dem kleineren Skalpell setzt er die letzten Schnitte, und als draußen der Abend dämmert, hebt er das Fell an einem Stück in die Höhe.
»So viele Gäste, und nun müssen sie die exotischen Früchte und die Sahne ohne Marzipan essen. Ihr bösen Welpen«, sagt er und hat jetzt schon das makellose Präparat vor Augen. Wenn Gideon ihn jetzt sehen könnte, wenn er ahnen würde, wie sehr er sich in den vergangenen fünfzehn Jahren verbessert hat … Aber Silas verdrängt den Gedanken. Er ist fest entschlossen, den Moment zu genießen, wenn der Kadaver mit all seinen potenziellen Möglichkeiten vor ihm liegt und Silas’ Hoffnung noch nicht enttäuscht wurde. Der Nervenkitzel ist immer noch so stark wie damals, als er seinen ersten Schädel fand.
»Lass uns spazieren gehen«, hatte er in der Töpferei zu Flick gesagt, aber aus irgendeinem Grund war er dann allein losgezogen.
An dem Tag hatte er einen verwesenden Fuchskadaver gefunden. Zunächst war er angewidert gewesen und hatte sich die Nase zugehalten, doch dann war ihm aufgefallen, dass der Pelz so rot war wie Flicks Haar. Der Fuchs war perfekt und feingliedrig, jeder Knochen so filigran wie die feinste Laubsägearbeit. Das Tier hatte gelebt und geatmet, aber jetzt befand es sich in einem eigentümlichen Schwellenstadium zwischen Schönheit und Grauen. Er berührte den Fuchsschädel, fasste sich an den eigenen Kopf.
Er ging jeden Tag an der Stelle vorbei und schaute zu, wie die Maden den Kadaver zersetzten, wie das Gewebe zerfiel und die zarten weißen Knochen zum Vorschein kamen. Es war wie das langsame Aufblühen einer Blume. Bei jedem Besuch entdeckte er etwas Neues: die verblüffend dünnen Schenkelknochen, die verschlungenen Gewebestränge auf dem Schädel. Als er dagegenschnipste, klang er hohl. Sobald der Schädel komplett vom Fleisch befreit war, wickelte er ihn in ein Tuch und nahm ihn mit nach Hause.
In jenem Sommer streifte er von Schweiß und Staub bedeckt durch die Gegend und durchsuchte Grasbüschel und Senken, Unterholz und Ufer, bis er fünfzehn Schädel beisammenhatte. Er stellte Fallen, schnitzte kleine Speere und lauerte altersmüden Hasen auf, um sie beim Hals zu packen und ihnen die Luft abzudrücken. In der ersten Minute strampelten und zappelten sie, oft hielt er dabei selbst den Atem an. Wenn sie erschlafften, drückte er noch eine Weile länger zu, sicherheitshalber.
Wie liebevoll er die Schädel arrangierte! Er dachte, er würde mit fünf zufrieden sein, mit zehn, aber dann brauchte er immer mehr, und jedes neue Stück machte ihn glücklicher und aufgeregter als das davor. Und nun hat er endlich seinen Schatz gefunden. Diese pelzige, spinnenbeinige Kreatur erscheint ihm herrlicher als alles, was er sich als Junge jemals erträumt hätte, und er glaubt, sich nie wieder sehnen zu müssen.
An diesem Tag hat er so viel geschafft, wie ihm möglich war. Er weiß aus Erfahrung, dass er das Präparat ruinieren wird, wenn er ohne Pause weiterarbeitet. Es muss schon fast fünf Uhr sein; er gähnt und beschließt, sich ein wenig auszuruhen. Die gehäuteten Welpen legt er in eine Zinkwanne. Später wird er sie kochen, und wenn das Fleisch abgefallen ist, wird er zur Pinzette greifen und das Skelett mit Klebstoff und hauchdünnem Draht wieder zusammensetzen.
Er steigt über die Leiter in den Laden hinauf und über die Treppe zum Dachboden. Als er sich das Nachthemd überzieht, fällt sein Blick auf das Regal mit den ausgestopften Mäusen neben dem Bett. Die Mäuse tragen winzige Kostüme.
Er nimmt eine kleine braune in die Hand und berührt den Rock aus Kammgarn, den selbst gestrickten Schal aus fadendünner Wolle, den winzigen Teller zwischen den Pfoten. Er stellt die Maus ins Regal zurück und bläst die Kerze aus.
Er ist fast schon eingeschlafen, als er ein Klopfen hört.
Er zieht sich das Kissen über den Kopf.
Aus dem Klopfen wird ein Hämmern.
»Silaaaas!«
Er seufzt. Dass dieser Mann immer so ungeduldig sein muss! Glücklicherweise gibt es keine Nachbarn, die sich gestört fühlen könnten. Kann er denn das »Geschlossen«-Schild nicht lesen?
»Ouvrez la porte!«
Er stöhnt, setzt sich auf, zieht sich Hose und Jacke über, entzündet eine flackernde Kerze und steigt die schmale Treppe hinunter.
»Je veux ma colombe!«
»Mr Frost«, sagt Silas und öffnet die Tür. Vor ihm steht ein hochgewachsener, schlanker Mann in einem farbverschmierten Kittel. Er übt eine verstörende Anziehungskraft aus, verströmt eine solche Anspruchshaltung und ein solches Selbstbewusstsein, dass Silas ihm abwechselnd gefallen oder ihn hassen möchte. Louis lächelt erwartungsvoll.
»Na also! Wusste ich es doch, dass Sie zu Hause sind. Ich bin hier, um meine Taube abzuholen. Es sei denn, ich habe sie mit dem Krach verjagt.« Statt auf eine Antwort zu warten, dreht er sich um und entdeckt eine Gestalt am Ende der Gasse. »Hier! Hier drüben! Und wie immer zu spät.«
Es ist schon fast dunkel, und nur mit Mühe erkennt Silas den Mann, der jetzt durch die Gasse schlendert und dabei übel riechenden Haufen aus Gemüseschalen und Asche ausweicht. Er kommt näher, tritt in den Lichtkegel von Silas’ Lampe. Johnnie Millais. Er ist so dünn, dass er an ein abgemagertes Pony erinnert.
»Meine Güte, Louis, was ist mit deinen Kleidern passiert? In dem Hemd würde ich nicht einmal meinen Hund auf die Straße lassen.«
»Es ist wie immer eine Freude, dich zu sehen, Millais«, sagt Louis und betritt den Laden, ohne auf eine Einladung zu warten oder sich die Stiefel an dem eisernen Abstreifer zu säubern.
»Glücklicherweise haben Sie noch geöffnet«, sagt Millais beim Eintreten. Silas widerspricht nicht.
»Silas hat meine Taube ausgestopft. Wo ist sie denn?« Louis packt den Löwenschädel mit beiden Händen und tut so, als wollte er Millais damit bewerfen. »Rrrr«, knurrt er.
Silas zuckt zusammen und wünscht sich, er hätte den Mut, Louis zu sagen, er solle den Schädel wieder abstellen; stattdessen eilt er zu einer Vitrine und holt die Taube heraus.
»Du lieber Himmel. Herrlich! Genau so hatte ich es mir vorgestellt«, ruft der Künstler. Er nimmt den Vogel, streicht ihm über den Kopf. »Wenn nur alle meine Modelle so still sitzen würden wie du.« Louis drückt Silas eine Guinee in die Hand, das Doppelte des vereinbarten Betrags. »Und Millais, du solltest eine Maus für die eine Ecke deiner Mariana kaufen. Um der nackten Leinwand ein wenig Leben einzuhauchen.« Er zieht eine kleine, steife Maus aus dem Regal, hält sie am Schwanz hoch und fügt hinzu: »Und die hier, bitte.«
»Vorsicht«, setzt Silas an, aber Louis hört ihm gar nicht zu und stopft Vogel und Maus kopfüber in einen Beutel.
Silas sieht die beiden Männer durch die schmale Gasse davoneilen. Louis hat eine Hand auf Millais’ Schulter gelegt und macht nach jedem dritten Schritt einen Hüpfer. Seine nackten Knöchel schimmern im Lampenlicht, ebenso seine weißen Handgelenke. Silas muss an Flick denken, an ihre Berührungen, die er seit über zwanzig Jahren vermisst.
Als sie in der Dunkelheit verschwunden sind, schaut Silas sich in dem kleinen Laden um. Die Decke ist niedrig, die kleinen, zerkratzten Vitrinen sind notdürftig lackiert. Seine Mundwinkel ziehen sich abwärts.
»Und lass die Kressehändlerinnen in Ruhe«, sagt er. »Das würde deinem neuen Freund gar nicht gefallen.«
Obwohl sie eben noch so müde war, kann Iris nicht einschlafen. Von dem Karamellgeruch bekommt sie Kopfschmerzen, ein Pferdehaar ragt aus der Matratze und pikst. Sie rollt sich auf die Seite und schiebt einen schwitzigen Arm aus dem Bett, um sich abzukühlen. Sie versucht, still und friedlich dazuliegen und ihre Atemzüge denen der Schwester anzugleichen. Doch ihr Verstand arbeitet weiter. Sie möchte malen. Sie denkt an schlanke Metallröhrchen mit Wasserfarben von Winsor & Newton, an die Austernschalen, in denen sie angerührt werden, an ihr kleines Sortiment von Zobelhaarbürsten, das sie sich nach einem halben Jahr peinlichster Sparsamkeit geleistet hat.
Sie stupst ihre Zwillingsschwester an.
»Aber ich habe den Papagei nicht gesehen«, murmelt Rose, und Iris weiß, sie wird tief und fest schlafen, bis die Glocken von St George fünf Uhr schlagen. Durch die Wand hört sie Mrs Salter schnarchen; die Matrone stöhnt und pfeift wie eine Lokomotive. Nach ihrer abendlichen Portion Laudanum ist sie praktisch halb tot.
Iris hält es nicht mehr aus, sie strampelt die Decke von sich. Die Holzplanken knarren unter ihren Füßen, doch der Riegel an der Tür gibt lautlos nach, weil Iris ihn regelmäßig ölt. Sie spürt den seltsamen Drang zu lachen, erstickt das Geräusch aber, indem sie sich eine Hand vor den Mund schlägt.
Sie schleicht durch den Flur, eine sanfte Brise bläht ihr Nachthemd. Die Tür zu Mrs Salters Schlafzimmer ist leicht geöffnet, galliges Licht fällt auf den Boden. Es stinkt nach Magensäure. Iris ist überzeugt, dass Mrs Salters Krankheit durch das allabendliche Arsenal von Tabletten und Tinkturen nicht gelindert, sondern verursacht wird. Sie nimmt »Mutters Freund« gegen die Magenschmerzen und »Dr Munro’s unbedenkliche Arsenoblaten«, um ihre Pickel zu kaschieren. Iris ist es leid, mit vom Essigwasser brennenden Händen den Läufer zu schrubben, der längst steif vor Erbrochenem ist. Noch schlimmer sind Mrs Salters Schläge; manchmal verdichten ihre Halluzinationen sich zu der Überzeugung, dass sie zwei Zwillingshuren Unterschlupf gewährt oder dass Iris kurz davor ist, von einem grünhäutigen Gentleman mit Stoßzähnen verführt zu werden.
Wenn der Apotheker ihr doch nur Rattengift in die Medizin mischen würde, denkt Iris und schleicht auf Zehenspitzen die Treppe hinunter, immer am äußersten Rand der Stufen, wo das Holz nur leise knarrt.
Der Lagerraum im Keller ist klein und zugestellt, die Wände stockfleckig. Der Geruch von modrigem Putz überlagert jegliche Zuckeraromen.
Iris geht zu einem offenen Regal in der Ecke. Darin stapeln sich Körbe mit unbemalten Armen, Füßen und Köpfen aus Porzellan. In einem Stoffsack stecken Ballen aus menschlichen Haaren, abgeschoren von den Köpfen süddeutscher Bäuerinnen. Iris öffnet den Sack, unter den Haaren versteckt liegen das Papier und ihre Utensilien. Sie trägt alles ans Pult und setzt sich.
Das Gesicht ist immer noch genauso falsch wie in ihrer Erinnerung. Im ersten Moment wird Iris von dem Gefühl überwältigt, nicht gut genug zu sein, es nie zu werden. Doch auf den zweiten Blick erkennt sie in dem Versuch eine Entschlossenheit, die ihr gefällt, und auch einen gewissen Glanz. Wenn nur der Kopf nicht so losgelöst am oberen Rand des Blattes schweben würde, wenn sie ihn irgendwie verankern könnte. Sie ist nicht gewillt, den Bogen zu zerschneiden; er ist ohnehin schon klein. Vielleicht ließe er sich doch noch retten, sie müsste nur den Rest des Papiers füllen.
Das grobe Gewebe ihres Nachthemds – weißes Flanell mit gelben Flecken unter den Achseln – scheuert im Nacken. Ohne nachzudenken steht Iris auf und zieht es sich über den Kopf. Im Kerzenlicht schimmert ihr Körper so blass wie ein Fischleib.
Ganz kurz malt sie sich die Empörung ihrer Eltern aus, ihr unnachgiebiges Beharren auf Moral und Anstand. Aber hier unten im Keller ist sie vor ihnen sicher. Beunruhigender ist die Vorstellung, Rose zu enttäuschen oder von Mrs Salter überrascht zu werden. Das Laudanum würde ihr Entsetzen noch befeuern, bestimmt würde sie Iris beschimpfen (»Hure«, »Dirne«), möglicherweise würde Iris sogar ihre Anstellung verlieren und damit ihr sicheres Einkommen von zwanzig Pfund im Jahr. Aber sie hält sich nicht lange mit diesen Gedanken auf; sie setzt sich wieder hin, spürt das kalte Holz an den Oberschenkeln und rührt die Farben an.
Sie sieht wieder in den Spiegel, nur dass ihr Blick diesmal abwärtswandert, zu den kleinen Brüsten und den harten Brustwarzen. Sie beißt sich auf die Lippe. Deformiert. Und dennoch: Sie erlaubt sich die Frage, ob sie nicht vielleicht doch schön ist, auf ihre Weise.
Früher hat sie ihr verdrehtes Schlüsselbein gehasst. Der Knochen war bei ihrer Geburt gebrochen und in einem schiefen Winkel verheilt. Er beeinträchtigte ihre Haltung kaum, trotzdem machten sich die Kinder aus ihrer Straße darüber lustig (»Da kommt die Bucklige!«). Ihre Schwester empfand Mitleid, verteidigte sie aber nur halbherzig, um nicht denselben beißenden Spott auf sich zu ziehen (»Da kommen die beiden Riesinnen!«). Erst in den letzten Jahren hat Iris gelernt, das Schlüsselbein als einen Teil von sich zu akzeptieren, und inzwischen würde sie es nicht einmal mehr verändern, wenn sie könnte. Die aufdringlichen Straßenhändler lassen sich davon ohnehin nicht abschrecken. Manchmal versuchen sie sogar, Iris im Vorübergehen um die Taille zu fassen. »Na , brauchst du einen Pinsel?«, oder: »Mir schwant, du willst meinen Knüppel spüren.« Dann setzt sie eine versteinerte Miene auf (»Warum so mürrisch, Miss? Lächeln Sie doch mal!«), drängelt sich vorbei, ignoriert das Gejohle. Rose – unbelästigt, unberührt, ungewollt – schlägt die Augen nieder, Iris legt ihr einen Arm um die Schultern und versichert ihr, sie verabscheue die Pfiffe, doch ihr Tonfall ist stets ein bisschen zu bemüht.
Wahrscheinlich wird sie eines Tages einen jener jungen Männer erhören müssen, die im Ladeneingang stehen und schüchtern ihre Mütze kneten, denn immerhin wäre eine Heirat ein Ausweg. Wohin genau, weiß sie allerdings nicht. Schließlich ist sie schon einundzwanzig, es wird nicht mehr lange dauern, bis ihre Schönheit gerinnen wird wie Sahne. Ihre Eltern haben geschrieben und von einem Pförtner berichtet, der sie zu gern kennenlernen würde, doch als er zu Besuch war, hat sie ihn gemieden.
Aber dann ist da noch Rose. Sie wird nie einen Mann finden. Das Beste, worauf Iris hoffen kann, ist, sich gut zu verheiraten und ihre Schwester zu unterstützen. Sie hier zurückzulassen … Dazu wäre sie wohl nie in der Lage. Sie sind Zwillinge und aneinander gebunden, und die Krankheit der Schwester hat den Knoten zugleich gelockert und festgezurrt. Als Kind hat Iris mit Kohle auf jedem Schnipsel gezeichnet, den sie auftreiben konnte – Butterpapier, Zeitungsfetzen, alte Tapetenreste –, und ihre Schwester bewunderte sie für die Fähigkeit, den Stift zum Echo der gesehenen Dinge werden zu lassen. »Zeichne diese Schere«, sagte sie, und Iris gehorchte. »Zeichne mir einen Elefanten!« Aus der Vorstellung malen konnte sie nie. Jetzt wendet ihre Schwester sich ab, sobald Iris versucht, sie mit einer Skizze aufzuheitern.
Iris drängt alle Gedanken zurück und mischt den passenden Rosaton für die schattige Unterseite ihrer Brüste an. Sie zieht den Pinsel über das Papier, sieht die Farbe aufblühen. Sie hat das Gefühl, die Kontrolle zu haben, es ist, als gehörte ihr Körper wieder ihr, als wäre er nicht nur Mrs Salters Werkzeug, um Böden zu schrubben, und auch nicht nur eine tägliche Erinnerung für Rose, was sie hätte sein können. Iris erschaudert, aus Scham vielleicht oder vor Genugtuung oder vor Kälte.
Sie mustert ihre Taille. Unmöglich, sich eine grobe Männerhand darauf vorzustellen. Sie legt sich eine Hand an den Bauch, umfasst eine Brust. Sie fährt zusammen, wendet sich wieder dem Bild zu.
Sie hat nie nachgefragt, was Rose damals mit Charles gemacht hat, ihrem »Gentleman«, wie sie ihn nannten. Anfangs kannte Rose kein anderes Gesprächsthema, mit stolzgeschwellter Brust zeigte sie Iris, was er ihr nun schon wieder geschickt hatte: Schokoladenbonbons, einen gelben Kanarienvogel (der in den Kamin flatterte und sofort starb). Sie waren fünfzehn Jahre alt, und er sollte Rose von den Mühen des Alltags erlösen, sie zu seiner hübschen Braut machen und in sein bescheidenes Stadthaus in Marylebone entführen. Er hatte sich sogar mit Iris angefreundet und ihr versprochen, ihnen Geld für ein eigenes Geschäft zu leihen, sobald er und Rose … Nach dieser Andeutung verstummte er. Noch leuchtete Flora nur in ihrer Fantasie, doch schon bald würde der Traum Wirklichkeit werden; Iris hatte sich zu ihrer Schwester umgedreht, um sich zu vergewissern, dass sein vertrauliches Geplauder sie nicht störte, dass sie nichts dagegen hatte, wenn der Gentleman Iris in seine und Roses Träume einbezog.
sie
Iris weiß bis heute nicht, auf welchem Weg Charles von Roses Ansteckung erfuhr. Einen Tag, nachdem die Beulen überall auf Roses Gesicht und Körper aufgeblüht waren, fing Iris ihn an der Haustür ab und nahm seinen Brief entgegen. »Sie wird sich freuen, von dir zu hören. Nur ein leichter Schnupfen, bald geht es ihr wieder gut«, log sie. Er sagte nur wenig und verabschiedete sich überstürzt. Der Brief war kein Billetdoux, sondern setzte allem ein Ende, auch dem ungestümen Lachen der Schwestern und ihren geflüsterten Vertraulichkeiten. Als Rose tobte und Iris aus dem Wohnzimmer schicken wollte, packte Iris den Holzstuhl und zerschmetterte ihn an der Wand.
Ein jähes Geräusch, schwere Schritte.
Iris war so in Gedanken versunken, dass sie zusammenzuckt und das trübe Wasser auf dem Tisch vergießt.
Sie greift nach dem Bild, nimmt es an sich, bevor das Wasser es erreichen kann. Die Schritte verhallen wieder.
»Oje«, murmelt sie, legt sich eine Hand an die Brust und möchte vor Erleichterung auflachen. Wie albern sie ist! Die Geräusche klangen tatsächlich so nah und so laut, dass man sie für nichts anderes halten konnte als Mrs Salters Schritte auf der Kellertreppe. Doch anscheinend war es nur der Bäckerlehrling, der spätnachts aus einer billigen Taverne heimgekehrt ist.
Erst, als sie das Wasser aufwischt, entdeckt sie den Puppenkopf. Sie flucht leise. Er hat Spritzer abbekommen, ein grauer Wasserfleck verunstaltet das Gesicht.
»Oh nein«, murmelt sie und versucht, den Kopf am Nachthemd sauber zu reiben. Ihn zu bemalen, hat sie viele Stunden gekostet. Sie reibt mit aller Kraft über das Porzellan, spuckt auf die Wangen, aber es hilft alles nichts. Das Ding ist hinüber.
Iris knirscht mit den Zähnen und knurrt wie ein Tier. Wenn sie daran denkt, dass es nur jemand war, der draußen vorbeiging. Und jetzt – sie schaut zu dem hohen, vergitterten Fenster hoch, es ist frühestens Mitternacht – wird sie die ganze Nacht damit zubringen müssen, ein neues Gesicht zu malen.
Iris zieht das Nachthemd über, denn ganz plötzlich wird sie sich der Kälte im Raum bewusst. Ihr Bild würdigt sie keines Blickes mehr. Obszön.
Sie beschleicht das vertraute Gefühl, dass mit ihr irgendetwas nicht stimmt, dass sie einen Tumor in sich trägt, der sich nicht herausoperieren lässt. Sie sollte das Papier in die Kerzenflamme halten und es vernichten.
Aber dann steht sie auf, schiebt es unter einen der Körbe und sucht einen neuen weißen Puppenkopf heraus.