Impressum

© 2018 copyright by Tanja Wahle, Hamburg

Autorin: Tanja Wahle

www.lalala-hamburg.de

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Covergestaltung: Tanja Wahle

Coverfoto & Autorenfoto: Maria Fox

www.mariafox.de

Books on Demand GmbH

ISBN 9783748153207

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Wenn ich mal „auswandere“, dann ans Meer. Für die meisten Menschen ist „das Meer“ der Ozean. Für mich ist es die Ostsee, um genau zu sein: Kühlungsborn. Dieser Ort hat für mich etwas Besonderes. Ich habe mich dort von Anfang an geborgen gefühlt. Doch bisher bin ich dort immer nur einer von vielen Urlauber gewesen. Durchaus Konsequent, mal jemanden zu fragen, der Kühlungsborn täglich im Herzen trägt. Den Bürgermeister zum Beispiel.

Ein Leben ohne Liebe und menschliche Geborgenheit ist arm.

Ein Leben ohne die Nähe der Ostsee, den Strand, den Hafen, den Stadtwald, die Betriebsamkeit im Stadtkern und deine fröhlichen Menschen könnte ich mir nicht vorstellen.

Ich gehöre zu den Menschen, die sich in Kühlungsborn zusammenfinden und denen das Wohlergehen der Stadt und deren Einwohnern am Herzen liegt und die gemeinsam die richtige Balance zwischen Tradition und Fortschritt finden wollen und so die Grundlage für eine dauerhafte heimatliche Verbundenheit schaffen.

Aus diesem Grunde dürfte unsere Titelfigur wohl den von ihr eingeschlagenen Weg gewählt haben.

Ihr Rüdiger Kozian

Bürgermeister Kühlungsborn“

1

Sie stand im Bad und bürstete sich die Haare. Aus dem Radio ertönte Cindy Lauper und verkündete lautstark, „Girls just wanna have fun“, sie dachte an die letzte Nacht und musste lächeln. Ja, da war definitiv jede Menge fun dabei gewesen. Sie blickte durch die geöffnete Badezimmertür, durch das Schlafzimmer über das zerwühlte Bett und sah den blauen Himmel und das Meer dahinter. Das Radio verhinderte, dass sie die Möwen hören konnte, die über dem Meer kreisten. Es versprach ein wundervoller Tag zu werden. Sie strich mit der Bürste noch einige Male durch ihre überschulterlangen, von der Sonne gebleichten dunkelblonden Haare und sah sich tief in die Augen. Das hier war das Leben, das sie sich immer gewünscht hatte. Sie cremte sich ihr Gesicht ein und schloss die Augen. Letzte Nacht, nachdem sie sich leidenschaftlich geliebt hatten und danach noch mit einem Bier im Sand unter dem unendlich weiten Sternenhimmel gesessen hatten, hatte er ihr gesagt, dass er sie liebte und sie hatte ihm tief in die Augen gesehen und ihm gesagt, dass auch sie ihn liebte. Es war eine wundervolle Nacht gewesen.

Wie aus weiter Ferne tönte eine Stimme an ihr Ohr: „Cosma!“ sie öffnete die Augen und befand sich wieder in ihrem kleinen Badezimmer im Obergeschoss ihres Elternhauses. Der Radiomoderator verkündete gerade gut gelaunt, dass der Regen der durch das Tiefdruckgebiet „Irene“ ausgelöst wurde noch die ganze Woche anhalten würde. Na großartig. Sie schaltete das Radio aus und von unten ertönte erneut die Stimme ihrer Mutter: „Cosma! Frühstück ist fertig.“ Sie ging in aller Seelenruhe ohne eine Reaktion in ihr Schlafzimmer und zog sich an. Als sie fertig war sah sie in den Spiegel. Was sie sah war Durchschnitt. Vom Scheitel bis zur Sohle. Sie hatte schon oft versucht etwas daran zu ändern, aber sie hatte so einen Hauch von Spießigkeit, den sie nicht loswurde. Genau wie diese dunkle Wolke, die immer über ihr zu hängen schien. Es war keine wirkliche Depression, aber sie war auch nicht gerade der Typ Sonnenschein. Der Haarschnitt langweilig aber praktisch. Die Schuhe unsexy. aber bequem. Das Outfit zweckmäßig. In der Küche war es mit der Geduld ihrer Mutter langsam vorbei: „Nelly! Dein Toast wird kalt.“ Oh, so weit war sie heute schon. Ihre Mutter und ihr Vater konnten es nicht lassen ihr bei der Geburt den Namen Cosma zu verpassen, weil sie beide Nina-Hagen-Fans waren. Etwas, das eigentlich nicht in ihre spießige Welt zu passen schien; obwohl sie beide nicht müde wurden zu erwähnen, dass sie ja „auch mal jung waren.“ Um das Namensdrama komplett zu machen bekam Cosma als zweiten Namen den Namen ihrer Großmutter verpasst: Melanie. Cosma-Melanie, natürlich mit Bindestrich. Sie hatte allerdings schon mit 10 beschlossen, dass sie auf keinen Fall Cosma heißen wollte. Niemand hier in der Gegend hieß Cosma oder ähnlich „spacig“. Sie fand auch der Name passte einfach nicht zu ihr, mal ganz davon ab, dass die Kinder sie bereits in der ersten Klasse mit dem Namen hänselten und ständig „Cosma vom anderen Stern“ hinter ihr herriefen.

Sie hatte auch in dieser Zeit schon nicht so richtig zwischen die anderen kleinen Draufgänger gepasst. Immer war da diese dunkle Wolke über ihr gewesen. Es gab keinen Grund traurig zu sein und trotzdem war sie es. Sogar in glücklichen Zeiten war sie nie unbeschwert. „Nelly, wenn du jetzt nicht sofort herunter kommst….“, wie immer blieb der Satz unvollendet. Was hätte ihre Mutter ihr auch androhen sollen? Sie war mittlerweile 26, die „Stille Treppe“ war kein adäquates Mittel mehr und auch Fernsehentzug und Stubenarrest waren passé. Es war ein Spielchen aus Kindertagen zwischen ihr und ihrer Mutter. Ihre Mutter liebte den Namen Cosma; sie hörte nur auf Melanie. Ihre Mutter verweigerte diesen Namen und rief sie dann Nelly. Nelly wie die Zicke aus „Unsere kleine Farm“. Sie wussten beide, dass Melanie weder eine Cosma noch eine Nelly war.

Melanie nahm ihre schon am Abend sorgsam gepackte Handtasche und ging nach unten, um wie jeden Tag, mit ihren Eltern zu frühstücken. Sie hätte in ihrer Etage auch eine Küche gehabt aber diese war, bis auf das Kochen von ein paar Tassen Tee bisher unberührt geblieben. Für wen sollte sie auch kochen? Ihre Mutter kochte leidenschaftlich gern und freute sich, wenn die Familie zusammen beim Essen saß. Melanie mochte die Essenszeiten mit ihrer Familie, auch wenn sie an einigen Tagen lieber gleich oben in ihrer Wohnung verschwunden wäre. Sie ging die geschwungene Treppe ins Erdgeschoss hinab. Den gesamten Treppenabgang herunter hingen die Ereignisse ihres Lebens. Kindergarten, Einschulung, Schulabschluss, Studium und ihr Abschlussdiplom als Grafik-Designerin. Melanie atmete tief durch, stellte ihre Tasche wie immer auf das kleine Tischchen im Vorflur und ging in den Wintergarten, in dem ihre Eltern bereits saßen und frühstückten. Ihre Mutter stand auf und schenkte ihr Kaffee ein, als sie sie hereinkommen sah. Wie jeden Morgen umarmte sie sie und küsste sie auf die Wange. Melanie strich ihrer Mutter über den Rücken und ging zu ihrem Vater. Dieser strahlte ihr bereits entgegen und sein Lächeln wurde breiter als sie ihn, wie jeden Morgen, laut schmatzend auf die Glatze küsste. Er legte seinen Arm um ihre Hüfte und drückte sie kurz und liebevoll an sich. Melanie setzte sich und blickte kurz auf die Felder, die sich an das Grundstück ihres Elternhauses anschlossen. Es war grau draußen und die dunklen Wolken wirkten bedrohlich und trotzdem war der Ausblick sogar bei diesem Wetter schön; mystisch und geheimnisvoll.

Melanie hätte trotzdem gerne am Meer gewohnt. Das Meer hatte schon immer eine faszinierende Wirkung auf sie gehabt. Aber das Meer sah sie meistens nur zwei Wochen im Jahr; die Familie fuhr dann zur Verwandtschaft nach Kühlungsborn. Nicht gerade die große weite Welt, aber Melanie fühlte sich dort heimisch. Etwas, dass sie ihren Eltern lieber verschwieg. Ihre Eltern die so stolz waren auf ihren Betrieb. Ihr Vater war Obstbauer und ihre Mutter betrieb neben ihrem Haushalt einen kleinen Hofladen in dem sie einen Teil des Selbstgeernteten verkaufte. Außerdem verkaufte sie selbstgekochte, selbstkreierte Marmeladen. Die Marmeladen ihrer Mutter waren sehr beliebt und wurden auch immer bekannter. Mehr als einmal hatte sie schon die Möglichkeit gehabt, die Marmeladen auch in Läden in der Hamburger Innenstadt zu verkaufen, aber sie hatte jedes Mal abgelehnt. Expansion war nicht so ihr Ding. Sie mochte es bodenständig. So waren sie alle seit Generationen: bodenständig. „Daran ist nichts Schlechtes!“ pflegte ihr Vater Paul oft zu sagen und ihre Mutter Irene stimmte ihm zu. Melanie nickte meistens wortlos. Nein, daran war nichts Schlechtes, aber Melanie hatte das Gefühl, dass ihr Leben sehr „bodenständig“ an ihr vorüberging. Sie hatte die Schule abgeschlossen nicht überragend aber mehr als durchschnittlich, in ihrem Studium war sie förmlich aufgeblüht. Das Praxissemester hatte ihr bestätigt, dass sie eine sehr kreative Ader hatte. Sie hatte schon immer gerne gemalt und in den Wohnungen und Häusern ihrer Verwandtschaft hingen auch viele ihrer Bilder. Ihr Vater hatte dazu immer milde gelächelt und ihr gesagt, dass es doch ein wirklich schönes „Hobby“ wäre, was sie da hätte. Melanie fühlte jedes Mal einen Widerstand in sich, den sie sich nicht erklären konnte. Aber zu malen war für sie immer schon mehr als ein Hobby gewesen. Ihre Mutter erzählte immer wieder gerne die Geschichten aus ihrer Kindheit. Dass sie stundenlang mit Stiften und Papier vor einem Baum gesessen hatte und diesen im Detail abmalte.

Schon mit 10 malte sie Bilder aus ihren Erinnerungen von Orten, an denen sie im Urlaub gewesen waren. Auch später war das Malen für sie ein Ausgleich zu ihrem tristen Alltag gewesen. Ihr Vater hatte ihr in einem Schuppen eine Art Atelier eingerichtet. Er nannte es liebevoll ihre Kleckerbude und hatte eigentlich nur verhindern wollen, dass sie das Haus „einsaute“. Melanie war egal wie er es nannte, für sie war es ihre kleine Welt. Eine Welt in der sie den Alltag aussperren konnte und in der sie ihrer Fantasie freien Lauf ließ. Ihre Eltern hatten keine Ahnung wie viele Bilder sie in ihrer „Kleckerbude“ bereits gemalt hatte. Sie hatte irgendwann aufgehört sie ihnen zu zeigen. Die Reaktionen waren immer ähnlich. Ihr Vater brummte ein zustimmendes „Hm, hm…„ und ihre Mutter nickte dazu, lächelte, um dann festzustellen, dass es Zeit für den nachmittäglichen Kaffee wäre. Melanie war häufig enttäuscht gewesen, hatte aber irgendwann für sich beschlossen, nicht mehr jedes Bild zu präsentieren und ihre Eltern fragten auch nur gelegentlich danach. Vor ein paar Jahren hatte sie dann die Bilder nach Fertigstellung eine Weile in ihrer Kleckerbude stehen lassen, sie dann fotografiert, archiviert und die Leinwände sorgfältig weggepackt. Mittlerweile dürften es über 50 Exemplare sein. Melanie hatte aus einigen schon Glückwunschkarten gestaltet und diese an Freunde und Verwandte verschenkt, natürlich ohne zu erwähnen, dass sie diese kleinen Kunstwerke zum Leben erweckt hatte.

„So“, sagte ihr Vater wie jeden Morgen und läutete damit das Ende des Frühstückes ein. Ihre Mutter griff nach dem Tablett, das, wie immer, neben ihrem Stuhl stand und begann das Geschirr abzuräumen. Melanie fragte wie jeden Morgen: „Soll ich irgendwas mit in die Küche nehmen?“ und ihre Mutter antwortete wie jeden Morgen: „Nein Schatz, lass nur. Ich mach das in Ruhe, ich habe ja Zeit.“ Melanie lächelte wie immer und sagte dann: „Okay, ich bin dann weg. Habt einen schönen Tag ihr Beiden.“ Ihre Mutter warf ihr eine Kusshand zu und sagte, ebenfalls wie jeden Morgen: „Du auch.“ Ihr Vater zwinkerte ihr zu und sie ging zurück in den Vorflur, wo ihre Tasche stand. Sie zog ihren Regenmantel an, nahm ihre Tasche und ging aus dem Haus. Als sie die Tür zugezogen hatte und aus dem Schutz des Hauses herausgetreten war, wehte ihr ein kalter Wind um die Ohren. Es war viel zu kalt für Mai aber das schien dem Mai in diesem Jahr egal zu sein. Sie ging die paar Meter zur Bushaltestelle und kurz darauf fuhr der Bus vor. Ihr Morgen war immer gut geplant, denn der Bus fuhr hier nur alle 40 Minuten, was eine Ewigkeit war, wenn man bedachte, dass sie noch zur Stadt Hamburg gehörten.

Melanie kannte den Busfahrer natürlich und auch die meisten der Insassen des Busses. Sie grüßte hier und da freundlich und setzte sich auf den vorletzten Zweier-Platz auf der linken Seite, wie immer. Melanie sah aus dem Fenster, nahm aber eigentlich nur die Regentropfen wahr, die direkt vor ihr an der Scheibe klebten. Während sie so die Tropfen anstarrte merkte sie, dass ihr die Tränen kamen. Sie konnte es nicht verhindern und war froh, dass niemand in ihrer Nähe saß der es hätte sehen können. Sie blickte aus dem Fenster und fühlte, wie die heißen Tränen über ihr Gesicht liefen. Das passierte ihr in letzter Zeit häufiger und sie konnte sich nicht erklären warum. Sie hatte schon immer diese gefühlte „graue Wolke“ über ihrem Kopf gehabt. So ein Gefühl wie ein feiner grauer Schleier über allem, was sie tat. Die Menschen um sie herum schienen das zu spüren. Obwohl sie kein unangenehmer Mensch war, gelang es ihr nicht, wirkliche Freundschaften zu schließen. Dabei hätte sie sich sehr Freunde gewünscht oder zumindest Bekannte. Leute mit denen man um die Häuser ziehen konnte, obwohl ihr klar war, dass sie nie der „Um die Häuser zieh“-Typ war. Manchmal fragte sie sich, warum nicht? Sie tanzte gerne, tat dies aber meistens für sich alleine in ihrem Zimmer. Es gab einfach niemanden der sie gefragt hätte, ob sie nicht mitkommen wollte. Als sie vor drei Jahren in ihrer Firma angefangen war, hatten einige Kolleginnen und Kollegen sie mitgenommen zu einigen Afterwork-Sessions. Sie hatte auch dort überwiegend alleine gesessen und sich an ihrem Getränk festgehalten. Sie traute sich nicht zu tanzen und es forderte sich auch niemand auf, es war zu laut um sich wirklich zu unterhalten. Sie hatte sich jedes Mal nach ein, zwei Stunden auf den Heimweg gemacht, weil sie ja so weit draußen wohnte. Alle hatten verständnisvoll genickt und waren auch irgendwie erleichtert gewesen, wenn sie ging. Sie passte einfach nicht dazu. Sie fragte sich, ob das ihr ganzes Leben so sein würde, dass sie das Gefühl hatte nicht dazu zu passen. Ihre Eltern waren sehr gesellig feierten oft Feste und waren selber auch gern gesehene Gäste. Melanie klinkte sich auch bei diesen Feiern gern aus und verschwand in ihrem Zimmer.

Melanie war nie etwas wirklich Schlimmes in ihrem Leben passiert aber sie war einfach ein Pechvogel. Immer ängstlich, immer unsicher, ständig selbsterfüllende Prophezeiungen. Wenn sie im Sportunterricht Bockspringen machten, dann malte sie sich während sie in der Reihe stand aus, was alles passieren könnte. Wenn sie dann dran war, war sie bereits so verunsichert, dass sie wahlweise beim Anlauf bereits hinfiel oder vom Sprungbrett so zaghaft absprang, dass sie nicht über den Bock hüpfte, wie alle vor ihr, sondern direkt gegen den Bock prallte. Einmal war dieser dabei sogar mit ihr zusammen umgefallen. Die Mitschüler hatten schallend gelacht und ihr war das Ganze einfach nur peinlich. Beim Absprung von der Sprossenwand verstauchte sie sich den Knöchel, beim Balancieren über den Schwebebalken stolperte sie derart unglücklich, dass sie an allen Matten vorbei auf den harten Boden fiel. Natürlich direkt auf ihr Gesicht, was ein sehr blaues Auge zur Folge hatte. Natürlich war sie auch diejenige, die, weil sie zulange in der Umkleide brauchte, einfach in der Turnhalle vergessen wurde. Es dauerte drei Stunden ehe sie jemand vermisste und nach ihr suchte. Bei einem Schulausflug an der Elbe sollte jedes Kind zwei Würstchen zum Grillen mitbringen. Alle legten ihre Würstchen beim Feuer ab, um einen Stock zu suchen auf dem man die Würstchen zum Grillen über das Feuer halten konnte, Melanie auch. 30 Kinder und je zwei Würstchen. Es lagen also 60 Würstchen um das Feuer und es kam ein Hund vorbei. Die einzigen Würstchen, die hinterher fehlten waren ihre gewesen und schon wieder war sie dem Gelächter der ganzen Klasse ausgesetzt. Sie hatte keine guten Erinnerungen an ihre Schulzeit, hatte sich auch dort immer als Außenseiter gefühlt. Stefanie war das Beste an ihrer Schulzeit gewesen. Sie hatte ihr an diesem Tag eines ihrer Würstchen abgegeben und sie getröstet. Seitdem waren sie beste Freundinnen.

Ein paar Mal hatte es einen Jungen oder Mann in ihrem Leben gegeben aber es hielt nie lange. Sie war so von der Idee fasziniert, dass der jeweilige Mann den sie traf jetzt die Liebe ihres Lebens sein würde, dass sie jeden Keim eines Gefühls bei den Männern sofort erstickte. Sie mochten sie und vielleicht hätte sich sogar mehr ergeben, aber alle Männer flüchteten vor der völligen Vereinnahmung, die sie in ihrer Hilflosigkeit über sie ausbreitete. Danach war sie zu Tode betrübt und trauriger und einsamer als je zuvor. Schließich ließ sie es einfach sein. Ihr Vater versuchte sie permanent mit den Söhnen von irgendwelchen Nachbarn zu verkuppeln die, so seine Meinung, eine gute Partie wären.

Sie brauchte keine „gute Partie“, sie brauchte einen Menschen, der zu ihr gehörte. Sie wünschte sich ein Leben mit einem Mann, vielleicht irgendwann mal eine Familie aber vor allem Freunde; einfach Menschen die zum Leben dazu gehörten aber sie schaffte es nicht, diese Kontakte aufzubauen oder geschweige denn zu halten. Sie konnte mit niemandem darüber sprechen, denn die einzige wäre ihre Freundin aus Kindertagen gewesen, aber die war weit weg. Sie war jetzt 26 Jahre alt und sie war einsam. So einsam, dass sie an diesem verregneten Frühlingstag im Bus saß und einsam mit dem Regen weinte.

2

An diesem Tag sah sie ihn das erste Mal. Er stieg wie sie am Hauptbahnhof um. Sie hätte es nicht beschwören können, aber sie war sich sicher, ihn noch nie vorher gesehen zu haben. Sie hatte keine Ahnung aus welcher Richtung er gekommen war. Sie stiegen beide in dieselbe Bahn und saßen auf einem Vierer-Platz. Er am Gang, sie wie immer in der Mitte des Waggons. Sie sah wie immer aus dem Fenster obwohl es im Bahnhof nur die gekachelte Wand hinter der Scheibe zu sehen gab und plötzlich fühlte sie sich beobachtet. Sie sah sich um und blickte direkt in seine Augen, die sie unverwandt anstarrten. Als es ihm bewusst wurde, sah er sofort weg und sie tat es ihm gleich. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie sah nochmal zu ihm hin und er sah sie wieder an. Sie blickte auf den Boden. Warum sah er so zu ihr herüber. Die Bahn hielt einige Male und zwei Stationen vor ihrer hielt es sie nicht mehr auf ihrem Platz. Sie stellte sich an die Tür. Ein zaghafter Blick nach links zeigte ihr, dass auch er mittlerweile an der Tür stand. Verwirrt stellte sie fest, dass er an der gleichen Station ausstieg wie sie. Da er näher an der Treppe stand die vom Bahnsteig herunterführte musste sie an ihm vorbei. Er war nach dem Aussteigen stehengeblieben und sah in ihre Richtung. Sie zog die Kapuze ihres Regenmantels ins Gesicht und ging eiligen Schrittes an ihm vorbei. Eigentlich rannte sie fast, auch wenn sie sich fragte warum eigentlich? Sie redete sich ein, dass sie es nur wegen des Regens so eilig hatte. Sie bemühte sich, sich nicht umzudrehen, aber sie bildete sich ein, seine Blicke spüren zu können.

Schließlich stoppte die rote Ampel an der großen Kreuzung sie und sie stellte fest, dass sie völlig außer Atem war. Der Regen tropfte von ihrer Kapuze und sie versuchte ihren Atem zu beruhigen. Sie sah den Autos zu, wie sie auf der vierspurigen Straße an ihr vorüberrasten. An dieser Ampel musste sie fast an jedem Morgen warten und immer stand sie direkt neben dem Ampelpfeiler. Sie stellte sich immer vor, wie sie einmal vor einem schrecklichen Unglück bewahrt wurde, weil der Pfeiler ihr Leben retten würde. Ein Wagen verlor die Kontrolle, raste auf sie zu und wurde gestoppt durch den Pfeiler und sie blieb unverletzt. Jeden Morgen gingen ihr diese Gedanken durch den Kopf, es war wie ein Mantra, das sich verselbständigt hatte. Aber auch an diesem Morgen wurde die Ampel schließlich grün und sie konnte ihren Weg in das Büro fortsetzen.

Wie jeden Morgen schritt sie durch die Glastür auf der in großen Buchstaben: „Bohlen, Peters & Müller, Creative Grafik Design“ stand. Ihre Mutter hatte sich vor Lachen kaum einkriegen können, dass sie jetzt bei Herrn Bohlen arbeitete, wo sie doch überhaupt nicht singen konnte. Sehr witzig. Melanie hatte sich in das Wort „Creative“ im Namen verliebt und gehofft, dass sie dort endlich ihre Kreativität ausleben und einbringen konnte. Aber eigentlich suchten sie bei „Bohlen, Peters & Müller“ nur ein Mädchen für Alles für den Empfang. Leider war ihr das beim Vorstellungsgespräch nicht so klar gewesen und jetzt hatte sie diesen Job schon seit drei Jahren.

Drei Jahre in denen sie den Besuchern die Mäntel abnahm, Kaffee kochte, sich um die Post kümmerte und Telefonate vermittelte. Die Bezahlung war gut und ihr Vater meinte, von irgendwas muss man ja leben. Aber Melanie hatte das Gefühl, dass sie dort genauso unsichtbar war wie im Rest ihres Lebens.

Sie hängte ihren Mantel wie jeden Morgen an die Garderobe am Ende des Ganges, setzte auf dem Rückweg die erste Kanne Kaffee des Tages auf. Als sie den Rechner hochgefahren hatte und sie gerade ihr Head-Set aufsetzte kamen die ersten Mitarbeiter von „Bohlen, Peters & Müller“; alle grüßten freundlich, einige hielten kurz ein Schwätzchen mit ihr und nahmen dann ihre Notizen und die Post mit an ihren Platz. Kurz darauf klingelte das erste Mal an diesem Tag das Telefon.

Bis zur Mittagspause war nichts Außergewöhnliches passiert. Was sollte auch passieren? Melanie nahm ihr Mittagsessen und verließ das Büro. Sie sah sich kurz um und nahm dann die Treppe nach oben. Durch die kleine Dachluke zwängte sie sich nach draußen. Obwohl die Sonne jetzt schien war das Dach noch nass. Sie stand dort saugte die wundervolle Aussicht ein und aß ihr Sandwich, das ihre Mutter ihr, wie immer mit viel Liebe zubereitet hatte. Melanie schüttelte den Kopf. Es rührte sie, dass ihre Mutter ihr das Pausenbrot machte… immer noch. Mittlerweile war auf ihrer Brotdose zwar keine Bibi Blocksberg mehr, sondern sie hatte eine „stylische“ Tupperdose in den verschiedenen Farben der „Jungen Welle“ dabei, aber ansonsten hatte sich nicht viel verändert. Nur dass sie jetzt 26 war.

Stefanie, Melanies Freundin aus Kindertagen lebte nicht mehr in Hamburg. Sie war nach dem Studium zu einer Reise durch Europa aufgebrochen. Melanie hatte sie einerseits beneidet, andererseits wusste sie, dass sie einfach kein Globetrotter war. In Dénia auf dem spanischen Festland hatte Stefanie sich verliebt. Nicht in Juan oder José, sondern in Michael, der in gleicher Mission unterwegs war wie Stefanie und sich in einem Hotel gerade das Geld für die weitere Reise verdiente. Die beiden wurden unzertrennlich.

Ab und zu schickte sie Melanie eine Karte oder eine E-Mail, immer verbunden mit der Einladung sie mal besuchen zu kommen. Aber Melanie konnte sich das einfach nicht vorstellen. Sie war noch nie geflogen, sie sprach kein Wort spanisch und überhaupt. Sie im Ausland und womöglich noch am Strand im Bikini… das hätte sie sich nie getraut. Aber wenn sie, wie heute auf dem Dach stand und sich aus Hamburg wegträumte, dann träumte sie sich gerne ans Meer. Sie stellte sich vor, wie ihr Bikini aussah und auch, wie sie darin aussah; wunderschön und vor allem selbstbewusst. Wenn sie die Wahl gehabt hätte, dann wüsste sie genau, wie sie aussehen und wie sie sich verhalten würde. Die Männer wären verrückt nach ihr und würden sie auf Händen tragen und nachts…. MELANIE! Sie rief sich zur Ordnung. Alles nur Tagträumereien, die zu nichts führten Und doch für einen kleinen Augenblick war die dunkle Wolke über ihr aufgerissen und hatte ein bisschen blauen Himmel gezeigt. Wenn sie nicht zu eilig damit beschäftigt gewesen wäre sich zur Ordnung zu rufen, dann hätte sie ihn auch gesehen.