© Torsten Eichholz
Monika Felten, Jahrgang 1965, lebt mit ihrer Familie auf dem Lande in der Nähe von Kiel, ist verheiratet und Mutter von zwei Söhnen. Eigentlich ist sie gelernte technische Zeichnerin, arbeitet aber seit der Jahrtausendwende ausschließlich als freie Autorin und Schriftstellerin.
Für ihre Romane »Elfenfeuer« und »Die Macht des Elfenfeuers« erhielt sie 2002 und 2003 den Deutschen Phantastik Preis.
www.monikafelten.de
Muriel und Ascalon erhalten einen neuen Auftrag von der Schicksalsgöttin: Diesmal müssen das mutige Mädchen und das magische Pferd in die Zeit der Maya zurückreisen, um zu verhindern, dass ein großes Geheimnis zu früh enthüllt wird. Dabei muss Muriel bis an ihre Grenzen gehen, doch der treue Wallach steht ihr wieder schützend zur Seite.
Ein neues Abenteuer mit Ascalon, dem magischen Pferd – aus der Feder der Fantasy-Bestsellerautorin Monika Felten mit einem ausführlichen Glossar zur Zeit der Mayas.
Mit schweren Schritten bahnen sich zwei Männer einen Weg durch das Dickicht des Dschungels. Raschelnd fahren ihre Füße durch das trockene Laub am Boden, während sie sich mit ihren Buschmessern durch das Unterholz schlagen. Hin und wieder bleiben sie stehen und binden rote Stoffbänder an die Bäume: Markierungen, die ihnen helfen sollen, den Rückweg zu finden.
»Da!« Der Erste hält an, winkt den anderen zu sich und deutet in den Dschungel hinein, wo unter Moosen, Baumwurzeln und Ranken die Überreste einer verwitterten Steinmauer zu sehen sind.
»Das Fundament einer Pyramide!« Ehrfurcht liegt in der Stimme des Mannes. Seine Augen leuchten, als er den Blick nach oben richtet und den grünen Hügel betrachtet, der sich unmittelbar vor ihm inmitten des Urwalds erhebt. Längst hat die Natur zurückerobert, was tausend Jahre zuvor von Menschenhand geschaffen wurde; zerstören konnte sie es nicht.
Sofort machen sich die Männer daran, die Pyramide zu erklimmen. Die Freude über den Fund lässt sie alle Mühsal vergessen. Stufe um Stufe steigen sie hinauf. Höher und höher.
Oben angekommen, erwartet sie eine bittere Überraschung. Frische Einschnitte unterhalb der Tempelspitze zeigen, dass sie nicht die ersten Suchenden an diesem Ort sind. Grabräuber sind ihnen zuvorgekommen.
Das kratzende Geräusch ihrer Stiefelsohlen auf dem harten Stein begleitet sie wie das hämische Lachen einer alten Frau, als sie wenig später die verwitterten Stufen hinabsteigen. Sie gehen nun hintereinander. Niemand sagt ein Wort. Zu groß ist die Enttäuschung, zu schmerzlich das Wissen, auch diesmal zu spät gekommen zu sein.
Plötzlich hallt ein erstickter Schrei durch den Dschungel.
Es kracht und poltert, dann ist es still.
»Fernando?« Der Mann an der Spitze fährt erschrocken herum. Von seinem Begleiter fehlt jede Spur. Es ist, als hätte der Boden ihn verschluckt.
»Bei allen Toren des Himmels!« Mit einem Ruck richtete sich die Schicksalsgöttin von der gepolsterten Liegestatt auf, auf der sie eine zeitlose Weile geruht hatte, schwang die Beine von dem bronzenen Diwan und ging zu dem marmornen Brunnen in der Mitte der großen Halle, die sie ihr Heim nannte.
Sie wusste: Der Traum war ein Zeichen. Ein Zeichen, wie sie es in den vergangenen Jahrhunderten schon oft erhalten hatte. Nun war es an ihr, das Geheimnis zu entschlüsseln, das sich dahinter verbarg, und die nötigen Schritte einzuleiten.
Mit einer anmutigen Bewegung nahm sie einen gläsernen Krug zur Hand, tauchte ihn in das kristallklare Wasser und goss etwas davon in eine silberne Schale.
Als sich die Oberfläche beruhigt hatte, strich sie mit der Hand über das Wasser, murmelte leise Worte in einer altertümlichen Sprache und beobachtete, was geschah.
Für eine Weile war ihr Gesicht das einzige Bild, das sich auf der Wasseroberfläche spiegelte. Dann begann es zu verschwimmen. Nach und nach formten sich im Wasser die Umrisse von tönernem Geschirr, von Schmuck und Gebeinen, die irgendwo am Boden einer Höhle lagen, wo sie ganz oder nur zum Teil aus einer dicken Staubschicht hervorschauten. Die Göttin seufzte und fuhr mit der Hand erneut über das Wasser. Knochen und Schmuck waren nicht das, wonach sie suchte.
Das Bild bewegte sich. Langsam wanderte es über den Höhlenboden. Fragmente einer Trommel und Überreste eines Jaguarfells tauchten auf und verschwanden, ohne dass die Göttin sie eines Blickes würdigte. Doch dann …
»Ich wusste es!« Mit einer herrischen Geste gebot die Göttin dem Bild innezuhalten. Es zeigte nun eine Knochenhand, die aus dem Humus der Jahrhunderte hervorragte. Aber nicht die bleichen Gebeine waren es, denen ihre Aufmerksamkeit galt. Sie hatte nur Augen für das, was neben dem Toten auf der Erde lag. Im ersten Augenblick sah es aus wie ein zerbrochener Tonkrug, auf dem das Bildnis eines Kriegers prangte, der einen Hirsch erlegt hatte. Aber die Göttin wusste, dass es weit mehr war als nur das. Unter den Scherben lugte etwas Helles hervor, das wie ein Stofffetzen aussah. Doch auch das war ein Trugschluss. Was dort lag, war kein altes Stück Gewebe. Es war ein wertvolles Schriftstück, das nicht in falsche Hände gelangen durfte.
Der Schlüssel zum Geheimnis der Maya.
Plötzlich kam Bewegung in das Bild. Ein Lichtschein, wie von einer Taschenlampe, fuhr suchend über den Höhlenboden, verharrte auf der Knochenhand und schwenkte dann auf das Tongefäß. Hände tauchten auf, entfernten vorsichtig Schmutz und tönerne Bruchstücke und trugen das Schriftstück fort, das niemals hätte gefunden werden dürfen. Zurück blieben Scherben und bleiche Finger, die das Geheimnis nicht länger hatten hüten können.
Für einen Augenblick schien es, als sei die Göttin verärgert. Doch der Moment verstrich schnell, und nur Sekunden später hatte sie ihren Gleichmut wiedergewonnen.
»Nun denn, ich sehe, es gibt Arbeit«, sagte sie zu sich selbst, stieß einen leisen Seufzer aus und löschte das Bild in der Schale mit einem Handstreich aus.
Sie hatte genug gesehen und wusste, was zu tun war.
»Aufwachen, Señorita.« Schwungvoll öffnete Teresa die Schlafzimmertür und zog die Vorhänge zurück. »In einer halben Stunde sind sie da!«
Das Licht der Morgensonne flutete ins Zimmer.
Muriel zog sich die dünne Sommerdecke über den Kopf und murmelte etwas Unverständliches.
»Muriel!«
Mit einem Ruck war die Bettdecke fort und ein kühler Windzug streifte Muriels Beine.
»He, was soll das? Ich habe Ferien«, schimpfte sie schlaftrunken und tastete, ohne die Augen zu öffnen, nach der entschwundenen Decke.
»Das weiß ich, mi chica«, antwortete Teresa freundlich, aber bestimmt. »Aber heute ist ein besonderer Tag und da wird ausnahmsweise mal nicht ausgeschlafen.«
»Paps!« Augenblicklich war die 13-Jährige hellwach. Sie setzte sich auf, schaute die Haushälterin des Birkenhofs an und fragte besorgt: »Ist Mama … sind sie schon zurück? Hab ich etwa verschlafen?«
»Keine Sorge.« Die rundliche Spanierin lächelte vergnügt. »Du hast nichts verpasst. Sie sind noch auf der Autobahn. Der Flieger aus Mexiko ist pünktlich um vier Uhr gelandet, aber deine Eltern hatten großes Pech. Sie steckten noch fast eine Stunde in einem Stau auf der Autobahn fest.«
»Puh!« Muriel strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn. »Da hab ich ja noch mal Glück gehabt. Danke, dass du mich geweckt hast.«
»Schon gut.« Teresa strich Muriel liebevoll über die Wange. »Aber jetzt beeil dich. Mirko und Vivien sind schon in der Küche. Wir wollen deinen Vater doch gebührend empfangen.«
»Bin schon unterwegs!« Mit einem Satz war Muriel aus dem Bett und begann sich anzuziehen. Sie hatte ihren Vater lange nicht gesehen und freute sich riesig, dass er über die Sommerferien nach Hause kam. Christian Vollmer arbeitete seit dem Winter als Ingenieur auf einer Baustelle in Mexiko und hatte bisher noch keinen Urlaub bekommen.
In rekordverdächtiger Zeit schlüpfte Muriel in ihre kurze Jeans und streifte sich ein Top mit Spaghettiträgern über. Es war zwar erst kurz nach sechs Uhr, aber nach einer tropischen Sommernacht, in der das Thermometer nicht unter 20 Grad gesunken war, hatte die aufgehende Sonne die Luft schon wieder kräftig erwärmt.
Seit fast einer Woche lastete über dem Birkenhof eine schwüle, hochsommerliche Hitze, die sich abends nicht selten in heftigen Gewittern entlud. Und wie es aussah, würde es auch noch eine Weile so bleiben. Der Wetterbericht am Abend hatte keine Hoffnung auf eine Abkühlung gemacht. Mit bis zu 30 Grad würde es auch heute wieder unerträglich heiß werden.
»Muriel, wo bleibst du denn?«, tönte Teresas Stimme von unten herauf. »Rapido! Wir wollen doch, dass alles bereit ist, wenn sie ankommen!«
»Ich komme schon.« Muriel legte die Haarbürste zur Seite und band ihre braunen Haare im Nacken mit einem Haargummi zusammen. Mit bloßen Füßen schlüpfte sie in ihre Flip-Flops und machte sich auf den Weg in die Küche.
Auf der Treppe und im Flur roch es nach frisch aufgebrühtem Kaffee. Muriel schnupperte. Sie hatte dem Lieblingsgetränk ihrer Mutter bisher nichts abgewinnen können, aber der Duft hatte etwas Heimeliges an sich und sie liebte ihn über alles.
»Na endlich.« Teresa atmete auf, als sie in die Küche kam. »Jetzt aber schnell. Du und Mirko, ihr müsst mir nämlich noch helfen, das hier über der Haustür festzumachen.« Sie deutete auf eine große Papierrolle, die auf dem Küchentisch lag.
»Ich will auch mithelfen!« Vivien, Muriels sechsjährige Schwester, hockte in ihrem neuen rosa Sommerkleid auf der Arbeitsplatte vor dem Fenster und schaute auf den Hof hinaus. Ihre langen, blonden Haare waren von der Sonne ganz hell geworden, was ihr ein engelsgleiches Aussehen verlieh.
»Nein, du bist noch zu klein.« Teresa deutete auf zwei Trittleitern, die sie schon bereitgestellt hatte. »Muriel, Mirko, ihr nehmt euch jeder eine Leiter«, sagte sie im Befehlston. »Ich trage das Plakat.«
»Jawohl, Sir!« Mirko, drei Jahre jünger, aber nur wenige Zentimeter kleiner als seine große Schwester, salutierte wie beim Militär und schnappte sich einen Tritt. Muriel tat es ihm gleich.
»Und ich?« Vivien schmollte.
»Du bleibst da sitzen und passt auf, wenn sie kommen.«
»Aber ich …«
»Señorita, wir haben jetzt keine Zeit für lange Diskussionen.« Teresa blieb hart. Wie ein General, die große Papierrolle unter dem Arm, marschierte sie aus der Küche. Muriel und Mirko hinterher.
»Und wo soll das hin?«, erkundigte sich Mirko auf dem Flur.
»Mi chico! Über die Haustür natürlich«, erklärte Teresa. »Es ist ein Willkommensplakat für euren Vater. Ich habe die halbe Nacht daran gesessen.« Sie seufzte. »Aber bei der Hitze schlafe ich sowieso kaum.«
»Was steht denn drauf?«, wollte Muriel wissen.
»Das wirst du gleich sehen.« Teresa lächelte geheimnisvoll, öffnete die Haustür und deutete nach oben. »Da hängen wir es auf. Ihr beide stellt euch auf die Leitern und ich schaue nach, ob …« Ein Schatten huschte an ihr vorbei nach draußen.
»O Titus!« Teresa keuchte erschrocken auf. »Du kommst aber auch immer im unmöglichsten Augenblick.« Verärgert gab sie dem großen Schweizer Sennenhund einen Klaps auf das schwarze Hinterteil. Aber der beachtete sie nicht. Als gäbe es nichts Wichtigeres, tapste er die Stufen hinab und verschwand schnuppernd und schnüffelnd im Gebüsch.
»Dios mío! Dieser Hund ist wirklich eine Plage.« Teresa schaute Titus kopfschüttelnd nach, wandte sich dann aber wieder an Muriel und Mirko. »Na, was ist? Wollt ihr mir nicht helfen? Mirko, du gehst nach rechts. Muriel nach links. Und beeilt euch. Sie können jeden Augenblick hier sein.«
Die Papierrolle entpuppte sich als ein riesiges Plakat, auf dem ein großes rotes Herz mit der Aufschrift »Willkommen zu Hause« prangte. Rings um das Herz hatte Teresa mit dicken Buchstaben die Vornamen der Familienmitglieder und der Angestellten des Birkenhofs aufgemalt.
»Hey, sogar Titus steht mit drauf.« Muriel lachte.
»Na klar, der freut sich doch auch, wenn er endlich wieder mit deinem Vater durch den Wald joggen kann«, erklärte Teresa. Sie reichte den beiden Hammer und Nägel und nach ein paar kurzen Anweisungen prangte das Willkommensschild unübersehbar oberhalb des Eingangs. Keinen Augenblick zu früh: Schon waren in der Ferne Motorengeräusche zu hören, die sich rasch näherten.
»Sie kommen!«, kreischte Vivien in der Küche so laut, dass es die Pferde auf der Weide hören mussten.
Hastig schleppten Muriel und Mirko die Leitern ins Haus, liefen in die Küche und spähten aus dem Fenster, um ja nicht zu verpassen, wann der Wagen ihrer Mutter auf den Hof einbog.
Dann war es so weit.
Eine Staubwolke hinter sich herziehend, kam der silberne Jeep die Straße entlang und steuerte auf die Hofeinfahrt zu.
»Sie kommen! Sie kommen!« Übermütig sprang Vivien von der Arbeitsplatte und lief, gefolgt von Muriel, Mirko und Teresa zur Haustür. Kaum eine Minute später stand das Birkenhof-Empfangskomitee unter dem Willkommensplakat bereit. Mit klopfendem Herzen und vor Aufregung geröteten Wangen beobachteten die vier, wie der Jeep auf dem Hof vorfuhr und unmittelbar vor der Haustür zum Stehen kam.
»Paps!« Als sich die Beifahrertür öffnete, gab es für Vivien kein Halten mehr. Überglücklich stürmte sie auf den hochgewachsenen, dunkelhaarigen Mann zu, der aus dem Wagen stieg, und flog ihm in die Arme.
»Hoppla, mein Engel.« Christian Vollmer blieb gerade noch die Zeit, den Rucksack, den er in der Hand hatte, auf den Boden zu stellen, ehe seine jüngste Tochter ihn erreichte. »Das ist ja ein toller Empfang«, sagte er lachend, wirbelte Vivien überschwänglich herum und drückte ihr einen Kuss auf die Wange.
»Hi, Paps!« Muriel und Mirko waren Vivien etwas langsamer gefolgt.
»Muriel, Mirko!« Christian Vollmer wollte Vivien absetzen und die beiden umarmen, aber die klammerte sich so fest an ihn, dass es ihm nahezu unmöglich war. So blieb ihm nichts anderes übrig, als die Sechsjährige mit dem linken Arm festzuhalten, während er Muriel und Mirko mit dem rechten abwechselnd umarmte.
»Toll, dass du wieder da bist.« Muriel schmiegte sich an ihren Vater und gab ihm einen Kuss auf die stoppelige Wange.
Dann war Mirko an der Reihe. »Jetzt habe ich endlich wieder Verstärkung«, sagte er, während er seinen Vater umarmte. »Du glaubst gar nicht, wie ätzend das ist, jeden Tag über Pferde reden zu müssen.«
»So schlimm?« Christian Vollmer runzelte in gespielter Besorgnis die Stirn. Dann knuffte er Mirko an die Schulter, senkte die Stimme und sagte grinsend: »Keine Sorge, Sohnemann. Ab heute werden hier wieder richtige Männergespräche geführt.«
»Kinder! Nun lasst euren Vater doch erst mal zu Hause ankommen.« Renata Vollmer, Muriels Mutter, kam lachend um den Wagen herum auf die vier zu. »Ihr habt noch zwei Monate Zeit, ihm alles zu erzählen.« Sie seufzte und warf einen Blick zur Haustür, wo Teresa die Begrüßungsszene sichtlich gerührt beobachtete. »Kommt, lasst uns hineingehen«, schlug sie vor. »Die Fahrt über die Autobahn war sehr anstrengend. Ein Schluck Kaffee zum Munterwerden wäre jetzt genau das Richtige.«
»Gute Idee«, stimmte Muriels Vater zu. »Auf Teresas Kaffee freue ich mich schon seit einem halben Jahr.«
Vivien auf dem linken und Mirko im rechten Arm haltend, ging er auf die Haustür zu, während Muriel sich den Rucksack schnappte. Er war sehr schwer und sie fragte sich, was wohl darin sein mochte. Sie wollte ihren Vater gerade danach fragen, als ein schwarzer Schatten aus dem Gebüsch hervorstürmte und sich auf ihn stürzte.
»Titus! Zurück!« Muriels Befehl blieb ohne Wirkung.
Der große Schweizer Sennenhund hatte Christian Vollmers Stimme erkannt und raste in einer Geschwindigkeit, die seine 40 Kilo Lebendgewicht Lügen strafte, auf ihn zu. Erst im allerletzten Augenblick bremste er ab, stellte sich auf die Hinterbeine und begrüßte ihn auf herzliche Hundeart.
Vivien kreischte auf und brachte sich mit einem gewagten Sprung in Sicherheit, während Mirko sich gekonnt unter dem Arm seines Vaters hindurchduckte und ein paar Schritte zurückwich.
»Titus!« Muriel stellte den Rucksack ab, packte den massigen Sennenhund am Halsband und versuchte, ihn von ihrem Vater fortzuzerren. »Kannst du dich nicht benehmen?«, herrschte sie ihn an. »Ich weiß ja, dass du dich freust, aber …«
»Lass nur, Muriel.« Ihr Vater tätschelte Titus liebevoll den Kopf. »Er hat schließlich auch ein Recht darauf, mich zu begrüßen.« Er bückte sich, kraulte Titus hinter den Ohren und sagte lachend: »Na, Dicker! Du hast aber ganz schön zugelegt. Hast dir mit den Damen wohl ein ziemlich faules Leben gemacht, während ich weg war.«
Titus ließ ein sonores »Wuff« ertönen.
Alle lachten.
»Oh, sí! Da haben Sie ein wahres Wort gesprochen, Señor Vollmer.« Teresa kam die Stufen hinunter, um den Heimkehrer nun auch zu begrüßen. »Ich bin froh, dass Sie wieder da sind«, sagte sie. »Seit Sie weg sind, bewegt sich der faule Kerl kaum noch. Er hat es dringend nötig, dass ihm jemand Beine macht.«
»Teresa!« Christian Vollmer erhob sich und umarmte die rundliche Haushälterin herzlich. »Wie schön, dich wiederzusehen. Und keine Sorge wegen Titus, den werde ich schon auf Trab bringen. Aber jetzt muss ich erst mal eine Tasse von deinem unwiderstehlichen Kaffee haben.« Er runzelte die Stirn wie jemand, der befürchtete, gleich eine Enttäuschung zu erleben, und fragte: »Du hast doch welchen gekocht – oder?«
»Natürlich!« Teresa nickte. »Ich habe nicht vergessen, wie sehr Sie eine Tasse Kaffee am Morgen schätzen.«
»Na, worauf warten wir dann noch?« Mit einer Reisetasche in der Hand stapfte Muriels Mutter auf die Haustür zu. »Alle Mann in die Küche!«
Ein halbes Jahr war eine lange Zeit. Es gab so vieles zu erzählen, dass Christian Vollmer kaum dazu kam, seinen Kaffee zu trinken. Der Bau einer Autobahn durch den Dschungel Yucatáns war eine spannende Angelegenheit. Er schilderte seine Begegnungen mit Schlangen, Spinnen und anderem exotischen Getier so anschaulich, dass die Kinder ihm wie gebannt lauschten und immer wieder nachfragten. Es dauerte fast eine Stunde, bis die Flut der Fragen langsam weniger wurde.
»Wenn ich zurückfliege, dauert es noch etwa vier Monate, dann ist die Arbeit für mich erledigt. Aber jetzt …«, er machte eine Pause, grinste und blickte vielsagend in die Runde, »… werde ich erst mal auspacken. Ich habe nämlich jedem von euch etwas mitgebracht.«
»Ein Geschenk?« Viviens Augen leuchteten, als sie das hörte. »Was ist es?«
»Abwarten.« Christian Vollmer lächelte geheimnisvoll und bedeutete ihr, sich wieder auf ihren Stuhl zu setzen. Dann wandte er sich Muriel zu und fragte: »Gibst du mir bitte mal meine Tasche?«
Gespannte Stille herrschte in der Küche, als er den Rucksack entgegennahm, auf den Tisch stellte und mit den Worten »Dann wollen wir doch mal sehen, ob alles heil geblieben ist« hineingriff. Alle hielten den Atem an, als er einen großen, in Unmengen Papier gehüllten Gegenstand hervorholte und vorsichtig auswickelte.
»Die ist für Teresa«, sagte er, während er eine bauchige tönerne Vase aus den Papierlagen zutage förderte. Sie war rotbraun und mit geometrischen Mustern in Ockergelb und Schwarz bemalt.
»Ich habe sie bei den Indios in Chichén Itzá* (Alle mit * gekennzeichneten Begriffe werden im Glossar am Ende des Buches erklärt) für dich gekauft«, erklärte er, während er der Haushälterin die Vase reichte. »Sie sollen direkte Nachkommen der Maya sein und verdienen sich ein paar Pesos, indem sie Nachbildungen von Maya-Kunst an Touristen verkaufen.«
»Danke, Señor!« Sichtlich gerührt nahm Teresa die Vase in die Hände und betrachtete sie von allen Seiten. »Die ist wunderschön.«
»Du … du warst in Chichén Itzá?« Muriel horchte auf. »Echt? Hast du da auch die große Pyramide mit den vier Treppen gesehen?«, fragte sie in Erinnerung an einen Film, den sie im Frühjahr im Fernsehen gesehen hatte.
»Du meinst die Pyramide des Kukulcán*?« Ihr Vater nickte. »Ja, die habe ich gesehen. Ich bin sogar hinaufgeklettert.«
»Cool!« Muriel staunte.
»Wie hoch ist die denn?«, wollte Mirko wissen. »Höher als die Pyramiden in Ägypten?«
»Nein, so hoch nicht«, erklärte Christian Vollmer. »Sie ist etwa 30 Meter hoch und hat an jeder Seite Treppen bis zur Spitze. Heute hat man zwei der Treppen wieder restauriert. Die anderen beiden sind in ihrem ursprünglichen Zustand belassen worden. Alle vier Treppen haben zusammen 365 Stufen. So viele wie ein Jahr Tage hat.«
»Im Fernsehen haben sie erzählt, dass die Maya gute Astronomen waren«, ergänzte Muriel, die sich noch genau an den Film erinnerte. Der Gedanke, dass ihr Vater dort arbeitete, wo vor mehr als 1000 Jahren eine so geheimnisvolle und spannende Kultur existiert hatte, hatte sie von Anfang an fasziniert.
»Das stimmt.« Ihr Vater senkte die Stimme und fuhr fort: »Manche behaupten sogar, sie hätten Kontakt zu Außerirdischen gehabt.« Er zwinkerte ihr zu und grinste. »Wenn du möchtest, erzähle ich dir später mehr davon. Jetzt will ich erst einmal weiter Weihnachtsmann spielen.«
»Ja, gern.« Muriel nickte. Das Erzählen konnte warten. Sie war genauso neugierig wie ihre Geschwister und wollte unbedingt wissen, was ihr Vater wohl für sie mitgebracht hatte. Zunächst aber war Mirko an der Reihe. Er bekam ein Trikot der mexikanischen Fußball-Nationalmannschaft, auf dem alle Nationalspieler unterschrieben hatten.
»Für mich?« Mit großen Augen starrte Mirko das grüne Trikot an, auf dem in schwarzer Schrift fast 20 Namen prangten. »Ist … ist das echt?«
»Natürlich!« Christian Vollmer tat entrüstet. »So wahr ich hier stehe. War gar nicht so leicht, es zu besorgen. Freust du dich?«
»Und wie!« Mirko strahlte übers ganze Gesicht. »Das bekommt einen Ehrenplatz in meinem Zimmer.«
»Und was hast du für mich?«, fragte Vivien ungeduldig. Ohne dass es jemand bemerkt hatte, war sie so nahe an den Rucksack herangerutscht, dass sie schon fast hineinsehen konnte.
»Für dich?« Christian Vollmer schob seine jüngste Tochter sanft, aber bestimmt an ihren Platz zurück, griff erneut in den Rucksack und zog mit den Worten: »Für dich habe ich das hier«, eine kleine Schachtel daraus hervor.
»Was ist das?« Vivien war so aufgeregt, dass sie kaum noch still sitzen konnte. Ihr Vater schien es zu bemerken und sich einen Spaß daraus zu machen, sie noch ein wenig warten zu lassen. In aller Ruhe legte er die Schachtel auf die Tischplatte, hob langsam den Deckel und nahm schließlich ein funkelndes Silberarmband heraus, das aus lauter kleinen grünen, in Silber gefassten Herzen bestand.
»Uiii. Ist das für mich?« Vivien stieß vor Begeisterung einen spitzen Laut aus, nahm das Schmuckstück an sich und betrachtete es ehrfürchtig.
»Das Grüne ist Malachit*«, erklärte ihr Vater, während er ihr das Armband ums Handgelenk legte und sorgfältig verschloss. »Ein besonders schöner Kristall, wie ich finde. Ich habe es bei einem Silberschmied gesehen und sofort an dich gedacht.«
»Es ist sooo schön. Danke, Paps.« Vivien konnte den Blick nicht von dem Armband abwenden.
Muriel räusperte sich und ihr Vater verstand sofort: »O Muriel, entschuldige«, sagte er. »Für dich habe ich natürlich auch noch etwas.« Die Schachtel, die er aus dem Rucksack nahm und ihr reichte, war noch kleiner als die, in der Viviens Armband gelegen hatte. Im ersten Augenblick war Muriel enttäuscht, aber als sie die Schachtel öffnete, verschlug es auch ihr die Sprache. Im Innern lag eine silberne Kette mit einem kunstvoll gearbeiteten und sehr außergewöhnlichen Anhänger, der in zwei Hälften geteilt war. In der oberen waren zwei grimmige Gesichter mit blauen Augen zu sehen, die zwischen zwei verzierten Flügelpaaren hervorschauten. Dazu gab es noch eine ganze Reihe anderer Verzierungen und Schnörkel, von denen eine wie eine Schlange aussah. Die untere Hälfte war eher schlicht und hatte die Form einer Pfeilspitze.
»Weißt du, was das ist?«, hörte sie ihren Vater fragen.
»Nein.« Muriel schüttelte den Kopf. »Aber es ist sehr hübsch.«
»Das ist die Nachbildung eines Opferdolchs der Maya«, erklärte ihr Vater. »Ich habe gehört, dass die Maya-Priesterinnen früher so einen Schmuck als Zeichen ihres Standes trugen. Damals natürlich in Gold, weil es kein Silber gab. Aber ich finde, auch in Silber ist es etwas ganz Besonderes. Die Augen sind übrigens aus Lapislazuli*.«
»Es sieht wunderschön aus. Geheimnisvoll und irgendwie auch unheimlich.« Muriel flüsterte fast.
»Christian! Findest du wirklich, dass ein Opferdolch das richtige Geschenk für ein 13-jähriges Mädchen ist?« Ihre Mutter war näher herangerutscht und betrachtete den Kettenanhänger mit sichtlichem Unbehagen. »Ist das nicht etwas geschmacklos?«
»Na hör mal, es ist ein antikes Schmuckstück!«, verteidigte sich ihr Vater. »Und ein Unikat dazu. Ich habe es gesehen und musste sofort an Muriel denken. Ich konnte nicht anders, ich musste es kaufen. Es erschien mir wie für sie gemacht.«
»Die Kette ist wunderschön.« Muriel stand auf und umarmte ihren Vater. »Danke, Paps«, sagte sie aus ganzem Herzen. »Ich werde gut auf sie achtgeben und sie nur zu besonderen Anlässen tragen.«
»Na, zum Glück haben wir davon nicht allzu viele.« Renata Voller seufzte, schüttelte dann aber lachend den Kopf und sagte an ihren Mann gewandt: »Nun, da scheinst du ja für jeden das Richtige gefunden zu haben.«
»Und was hat Paps dir mitgebracht?«, platzte Vivien heraus.
»Mir?« Ihre Mutter zögerte kurz, dann stand sie auf und schloss ihren Mann in die Arme. »Mir hat er sich selbst mitgebracht«, sagte sie und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange. »Das ist alles, was ich mir wünsche.«
Am späten Nachmittag hatte sich die Aufregung um die Rückkehr von Christian Vollmer gelegt. Muriels Eltern hatten sich ins Büro zurückgezogen, um ein paar wichtige Dinge zu besprechen, Teresa werkelte in der Küche und auch für die anderen hatte der Alltag wieder begonnen.
Obwohl Muriel heute lieber allein ausgeritten wäre, hatte sie ihrer Mutter versprochen, Vivien auf den Ausritt mitzunehmen. Sie wollte ihren Vater nicht schon am ersten Tag mit den kleinen Streitigkeiten belästigen, die sie so oft mit ihrer dickköpfigen Schwester ausfocht.
So machten sie sich am späten Nachmittag gemeinsam auf den Weg zur Weide, um Ascalon und Nero zu holen.
Muriels Mutter war Tierärztin und Pferdepsychologin und besaß, was Pferde anging, ein großes Herz. Immer wieder kam es vor, dass sie alte und kranke Pferde aufnahm, damit sie auf dem Birkenhof ihr Gnadenbrot bekamen. Nero, ein 20 Jahre alter Percheron-Wallach, der früher von Forstarbeitern zum Holzrücken eingesetzt worden war, war eines der jüngeren Tiere der kleinen Birkenhof-Herde und lange Zeit Muriels Liebling gewesen.
Als der sechsjährige Ascalon im Frühjahr auf den Hof gekommen war, hatte sich das schlagartig geändert. Muriel hatte Ascalons Pflege übernommen und nur noch Augen für den prachtvollen American-Saddlebred-Wallach. Seitdem waren die beiden unzertrennlich.
Nero schien das nicht zu bekümmern, denn an Zuwendung mangelte es ihm nicht. Seit Muriel ihre gesamte Freizeit mit Ascalon verbrachte, widmete sich Vivien voller Hingabe dem stämmigen Kaltblüter und nannte ihn inzwischen stolz ihr Pferd. Da ihre Mutter es aber noch nicht erlaubte, dass sie allein ausritt, war es für sie das Größte, wenn sie Muriel und Ascalon begleiten durfte. Sie versuchte, so oft wie nur möglich dabei zu sein, während Muriel es so oft wie möglich verhindern wollte. Nero war langsam und behäbig. Mit dem jungen Ascalon konnte er nicht mithalten und so waren die Ausritte mit Vivien für sie eher langweilig.
»Wir sollten mit Ascalon und Nero zur Wille reiten«, schlug Muriel vor. »Die beiden freuen sich bestimmt über eine Abkühlung. Der Bach auf der Weide führt ja kaum noch Wasser.«
»Au ja.« Vivien nickte zustimmend.
Sie erreichten den Stall und traten in den Schatten. Natürlich war es auch drinnen noch viel zu warm, aber nach dem Weg über den heißen, sonnenbeschienenen Hofplatz empfanden die Mädchen die 28 Grad hinter den Mauern des alten Backsteingebäudes schon als kühl.
»Wir satteln die Pferde besser hier drinnen«, entschied Muriel, während sie sich suchend nach Ascalons Halfter umschaute. »Auf dem Hof ist es nicht auszuhalten. Ich hoffe nur, es gibt heute kein Gewitter, das uns den Ausritt verdirbt.« Sie stutzte. »He, wo ist denn das Halfter hin? Ich weiß genau, dass ich es gestern Abend an seinen Platz gehängt habe.«
»Wirklich?« Vivien grinste. »Vielleicht bist du ja auch schon ein Hitzeopfer. So wie Teresa.«
»Wie Teresa?« Muriel konnte ihrer Schwester nicht ganz folgen.
»Ja. Teresa hat gestern vergessen, die Milch in den Kühlschrank zu stellen. Mittags war sie dann sauer.«
»Wer? Teresa?«
»Nee, die Milch natürlich.« Vivien schnappte sich Neros Halfter und lief zu dem großen Tor, das von der rückwärtigen Wand des Stalls auf die Weide hinausführte.
»Du könntest mir ruhig suchen helfen!«, rief Muriel ihr nach. Aber ihre Schwester war schon nicht mehr zu sehen.
»Ist ja mal wieder typisch.« Muriel schüttelte den Kopf und setzte die Suche fort. Ganz einfach war das nicht. An den Haken, die aus der Stallwand hervorschauten, hingen neben zwei Dutzend Halftern auch jede Menge Trensen und Ausbinder. Eigentlich hatte das Geschirr eines jeden Pferdes hier einen festen Platz, trotzdem kam es häufig zu Verwechslungen.
»Das sind die Kobolde aus der alten Wassermühle, die nachts in den Stall schleichen und sich einen Spaß daraus machen, alles durcheinanderzubringen«, hatte Andrea, die Pferdepflegerin des Birkenhofs, einmal zu Vivien gesagt. Das war natürlich nur ein Scherz gewesen, aber Vivien hatte sich daraufhin monatelang nicht im Dunkeln in den Stall getraut.
Muriel schmunzelte, als sie daran dachte. Allerdings war sie ganz sicher, am Vorabend alles richtig gemacht zu haben, und fragte sich, ob ihr nicht doch jemand einen Streich spielen wollte.
»Muuuuriel!« Viviens gellender Schrei ließ sie herumfahren. Die Tonlage verriet Panik, die nur einen Schluss zuließ: Auf der Weide musste etwas geschehen sein.
Augenblicklich waren Halfter und Kobolde vergessen. Muriel hetzte zum Tor. Sie hatte es noch nicht ganz erreicht, als Vivien mit rotem Gesicht und vor Schreck geweiteten Augen in den Stall gestürzt kam und sich schluchzend in ihre Arme warf.
»He, du zitterst ja.« Muriel schloss ihre kleine Schwester in die Arme und fragte: »Was ist denn los?«
»Da … da ist jemand auf der Weide bei den Pferden.« Viviens Stimme bebte vor Angst. »Ein … ein Geist.«
»Ein Geist?« Muriel runzelte die Stirn. »So ein Blödsinn«, sagte sie bestimmt. »Du weißt doch, es gibt keine Geister. Schon gar nicht mitten am Tag.«
»Aber ich habe ihn gesehen!«, beharrte Vivien. »Vielmehr sie. Es war eine Frau.«
»Eine Frau?« Muriel horchte auf. »Wo hast du sie denn gesehen?«
»Sie stand im Schatten der großen Eiche – bei Ascalon.«
Bei Ascalon!
Muriel zuckte zusammen. Ihr Herz pochte heftig.
»Wie sah sie denn aus?«, fragte sie vorsichtig.
»Schwarz«, erwiderte Vivien, ohne lange zu überlegen. »Sie hatte einen langen schwarzen Mantel an und ein Tuch über dem Kopf.«
»Ach, das war bestimmt nur ein Schatten«, startete Muriel hastig einen Erklärungsversuch. »Weißt du, wenn das Sonnenlicht durch die Baumkrone fällt, kann es schon mal sein, dass …«
»Da war aber eine Frau!« Vivien löste sich aus Muriels Armen und machte einen Schritt auf die Tür zu. »Sieh doch selbst nach, wenn du es mir nicht glaubst.«
»Das wird wohl das Beste sein.« Muriel erhob sich und reichte ihrer Schwester die Hand. »Kommst du mit?«
»Und wenn … wenn der Geist noch da ist?«, fragte Vivien ängstlich.
»Dann gehen wir hin und fragen ihn, was er auf unserem Grundstück macht.« Muriel grinste schelmisch und fügte eilig hinzu: »Ach, Quatsch. Da ist nichts. Du wirst sehen.«
»Aber du gehst vor.« Zögernd ergriff Vivien Muriels Hand.
»Klar.« Muriel spielte die tapfere große Schwester fast perfekt. Wäre da nur nicht dieses Herzklopfen gewesen. Ein Glück nur, dass Vivien so sehr mit sich selbst beschäftigt war. Zwei Armlängen hinter Muriel ging sie auf das große Tor zu.
»Da«, flüsterte sie, als sie das Tor erreichten. »Da hinten habe ich sie gesehen.« Sie hob den Arm und deutete zu der alten knorrigen Eiche hinüber, in deren Schatten die Pferde wie so oft Schutz vor der Nachmittagssonne gesucht hatten. »Da war ich aber schon dichter dran.« Vivien versteifte sich. »Sie … sie hat mich angesehen.«
»Und dann?«
»Dann bin ich weggerannt.« Vivien schaute Muriel an und fügte fast trotzig hinzu: »Was hätte ich denn tun sollen? Ich hatte solche Angst. Der Geist war …«
»Es gibt keine Geister! Komm mit, wir sehen nach.« Die widerstrebende Vivien mit sich ziehend, marschierte Muriel auf die Eiche zu. Zwanzig Schritte vom Baum entfernt hielt sie an, fasste ihre Schwester bei den Schultern, schob sie vor sich und sagte: »Siehst du? Es ist niemand da. Kein Geist, keine Kobolde. Nichts. Nur Licht, Schatten und die Pferde.« Sie schaute Vivien an und grinste: »Na, wer ist hier nun das Hitzeopfer?«
»Das ist gar nicht komisch.« Vivien schnitt eine Grimasse. »Ich weiß, was ich gesehen habe.«
»Und ich weiß, dass ich mein Halfter gestern auf den richtigen Platz gehängt habe. Und vermutlich war Teresa auch ganz sicher, die Milch in den Kühlschrank gestellt zu haben.« Muriel knuffte Vivien freundschaftlich in die Seite. »Du siehst, wir fangen alle schon an zu fantasieren.«
»Aber ich …«
»Komm, wir holen jetzt die Pferde«, wechselte Muriel schnell das Thema. »Sonst wird es nichts mehr mit dem Ausritt heute Abend.« Sie ließ Vivien los und ging auf Ascalon zu. Das Halfter konnte sie ihm auch noch im Stall anlegen. Nötig war es ohnehin nicht. Ascalon wusste genau, was sie von ihm erwartete, ganz so, als ob er ihre Gedanken lesen konnte. Er war eben ein ganz besonderes Pferd. Langsam ging sie über die Wiese, als sie plötzlich einen Blick auf sich ruhen spürte.
Jemand beobachtete sie.
Muriel erschauerte. Es war ein fremdes und unheimliches Gefühl, und obwohl sie sicher war, dass nichts Böses darin lag, wurde ihr doch etwas mulmig zumute. Verstohlen reckte sie sich und schaute zum Wald hinüber. Und wirklich: Im Schatten der Bäume bewegte sich eine schemenhafte Gestalt.
Muriel sog die Luft scharf durch die Zähne. Vivien hatte die Wahrheit gesagt. Da war tatsächlich eine Frau in dunklen Gewändern – aber es war kein Geist! Sie war dieser Frau schon einmal begegnet. Vor ein paar Wochen hatte Ascalon sie auf einem wundersamen Ritt durch die Nacht zu ihr geführt und …
»Muriel!« Viviens Worte drangen wie aus weiter Ferne bis in ihre Gedanken vor. »Hilf mir mal.«
»Was ist denn?« Muriel konnte den Blick nicht vom Waldrand lösen, wo die Gestalt der Frau langsam mit den Schatten verschmolz.
»Nero will sich das Halfter nicht anlegen lassen.« Vivien klang ziemlich genervt.
»Oh … ja. Warte, ich helfe dir.« Ein letztes Mal wanderte Muriels Blick zum Waldrand.
Von der Frau war nichts mehr zu sehen.
Warum ist sie gekommen? Was hat das zu bedeuten?
Diese und andere Fragen schwirrten ihr im Kopf herum, als sie sich anschickte, Vivien zu helfen, die immer noch vergeblich versuchte, Nero das Halfter überzustreifen. Der Percheron-Wallach war sichtlich nervös. Jedes Mal, wenn der Strick ihn berührte, zuckte er zusammen und wandte den Kopf ab.
»Bestimmt hat er den Geist auch gesehen«, meinte Vivien. »Und jetzt hat er Angst.«
»Ach was. Ihm ist es sicher nur zu heiß«, entgegnete Muriel. Sie nahm Vivien das Halfter ab, packte Nero mit geübtem Griff an den Stirnhaaren und streifte es ihm über. »Siehst du, ist kein Problem«, sagte sie lachend, während sie Vivien den Führstrick reichte. »Vielleicht solltest du mal ein bisschen wachsen, dann ist es leichter.«
»Ha, ha.« Vivien schnitt eine Grimasse und stapfte in Richtung des Stalls davon.
Sie hatten die Pferde fast fertig geputzt, als Christian Vollmer überraschend in den Stall kam.
»Ah, das ist er also!«, sagte er mit einem bewundernden Blick auf Ascalon. »Ich muss sagen, du hast am Telefon nicht übertrieben. Ascalon ist wirklich ein Prachtkerl. Mir scheint, da hast du ein echtes Schnäppchen gemacht.«