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Zum Text

Sie sind jung, sie sind frech, sie verweigern sich dem System und fordern den Staat heraus. Sie wollen sich nicht mehr anpassen. Sie wohnen gemeinsam in Abrisshäusern, planen in langen Nächten am See ihre nächsten Aktionen, drucken heimlich Flugblätter, feiern in ihrer illegalen Nachtbar, bis der Morgen anbricht, und demonstrieren am Tag in der ersten Reihe. Sie werden verfolgt, aber mit jeder neuen Aktion verlieren sie an Angst und die Diktatur an Kraft. Deutschland erlebt von Leipzig aus zum ersten Mal in der Geschichte eine gelungene Revolution.

Peter Wensierski erzählt in einer spannenden Nahaufnahme die wahre Geschichte einer ungewöhnlichen Gruppe junger Leute, die einen Kampf führen, den andere für aussichtslos halten.

Ein inspirierendes Buch über die Kraft jedes Einzelnen.

Roland Jahn, Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen

Zum Autor

Peter Wensierski, geboren 1954 im Ruhrgebiet, begann seine Arbeit als Journalist 1979 mit Berichten und Reportagen aus der DDR. Er war damals der jüngste westliche Reisekorrespondent. Als Dokumentarfilmer, Reporter und Buchautor berichtete er über die aufkommende Oppositionsbewegung, ab 1986 für das ARD-Fernsehmagazin Kontraste. Seit 1993 arbeitet er beim SPIEGEL im Deutschlandressort. Mit dem Buch Schläge im Namen des Herrn eröffnete er 2006 die Debatte über Missbräuche in der Heimerziehung. Sein 2014 erschienenes Buch Die verbotene Reise über eine ungewöhnliche Flucht aus der DDR wurde ein Bestseller.

Peter Wensierski

Die unheimliche Leichtigkeit der Revolution

Wie eine Gruppe
junger Leipziger die Rebellion
in der DDR wagte

Deutsche Verlags-Anstalt

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Porträts 1 und Porträts 2 © privat, mit Ausnahme von: Carola Bornschlegel © Armin Wiech/Archiv Bürgerbewegung; Jochen Lässig © Martin Jehnichen/Archiv Bürgerbewegung Leipzig; Rainer Müller und Thomas Rudolph © Ansgar Vössing; Siggi Schefke © Aram Radomski; Uwe Schwab © Christoph Motzer/Archiv Bürgerbewegung Leipzig

1. Auflage

Copyright © 2017 Deutsche Verlags-Anstalt, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München,

und SPIEGEL-Verlag, Hamburg, Ericusspitze 1, 20457 Hamburg

Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

Foto Umschlagvorderseite oben: Gesine Oltmanns, 1988, © Anita Unger; unten: Demonstration am 4. 9. 1989 v. r. Carola Bornschlegel, Udo Hartmann, Uwe Schwabe, Christian Dietrich, Thorsten Beinhoff, Gesine Oltmanns, Katrin Hattenhauer, © Armin Wiech/Archiv Bürgerbewegung Leipzig; Umschlagrückseite: Gesine Oltmanns und Katrin Hattenhauer auf der Demonstration am 4. 9. 1989, © Armin Wiech/Archiv Bürgerbewegung Leipzig

Karte: Peter Palm, Berlin

Typografie: DVA/Andrea Mogwitz

Satz und Bildbearbeitung: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

Gesetzt aus der Berling Nova

ISBN 978-3-641-20039-8
V002

www.dva.de

Inhalt

Vorbemerkung

Prolog

Polka im Schweitzer-Haus

Die Stadt, die Gruppen und das Friedensgebet

Ein Abend am See

Ein Haus im Leipziger Osten

Frühstück im Plattenbau

Der Marsch an der Pleiße

Der lange Sommer 88

Der kurze Brief zum langen Streit

Handeln und beten

Die Eroberung der Stadt

Herzklopfen

Luftballons und Zigaretten

Ein gebrauchter Weihnachtsbaum

Die Januarnacht

Der Morgen danach

Das Netzwerk

Der Sprung auf die Mauer

Nachspiel

Februarschnee

Ein neuer Plan

Swing-Musik zum Wahlbetrug

Der Sommer der Revolution

Freiheit und Musik

Schall und Rauch

Die Macht der Straße

Jetzt liegt es an uns

Wie es für sie weiterging

Über die Entstehung dieses Buches

Dank

Anhang

Glossar

Chronik 1987 bis 1990

Bildteil

Vorbemerkung

Dieses Buch erzählt die wahre Geschichte einer Gruppe junger Leute, die Ende der achtziger Jahre in Leipzig lebten.

Alle authentischen Äußerungen jener Zeit sind kursiv wiedergegeben. Sie entstammen in gekürzter Form damaligen Tonbandmitschnitten, Abhör- und sonstigen Protokollen, Originaltexten, Briefen, Vermerken, Zetteln oder Tagebüchern bis hin zu Schulaufsätzen. Rekonstruierte wörtliche Rede steht in normalen »Anführungszeichen«. Mit einem Stern* versehen sind Eigennamen und Begriffe, die in einem Glossar am Ende des Buches erklärt werden. Dort findet sich überdies eine Chronik der Ereignisse von 1987 bis 1990.

Eines Tages müssen wir alle sterben.

Aber an allen anderen Tagen nicht!

Prolog

Mariannenstraße 46

Frank ging an den Mülltonnen vorbei auf die Sonnenblumen zu, die Katti vor der Backsteinmauer am Ende des Hofes ausgesät hatte. Ihre gelben Köpfe leuchteten in der Dämmerung noch viel stärker als am Tag. Im Frühjahr hatte sie schnell noch Samenkörner in ihre Taschen gestopft, bevor sie gemeinsam in die Stadt zogen. Frank erinnerte sich gut daran. Mitten im Gespräch war Katti manchmal auf der Straße stehen geblieben, weil sie einen passenden Ort entdeckt hatte. Sie hatte die Körner dann ganz nebenbei verstreut, auf Trümmergrundstücken oder rund um Gaslaternen. Sie hatte dabei gelacht und gesagt, sie wisse gar nicht so genau, was da am Ende einmal herauskomme.

Heute war Frank wieder mit ihr in der Stadt unterwegs gewesen. Sie fanden einige der Stellen wieder, an denen sie im Frühjahr die Blumen gesät hatten. Es war spät geworden, als sie in ihr Viertel zurückkehrten. In den dicht bebauten Straßen hinter dem Bahnhof, im Leipziger Osten, wo sie lebten, blieb es an diesem Abend noch lange warm.

Im Hof, den Katti und Frank nun im Dämmerlicht betraten, stand der von ihm aus alten Dielenbrettern zusammengezimmerte Tisch. Um ihn herum saßen Rainer und Uwe, die heftig aufeinander einredeten, Anita, Gesine, Kathrin, Anke, Conny, Rico, Micha und Jochen, dessen Gitarre neben ihm lag.

Ein Fenster zur Wohnung im Erdgeschoss stand offen. Christian, der neue Freund von Gesine, saß dort und ließ seine Beine in den Hof baumeln. Aus einem alten Kofferradio kam Musik.

In einem Stockwerk darüber brannte Licht. Dort oben bewegte sich ein Schatten an der Wand auf das Fenster zu und öffnete es. Eine alte Frau schaute herunter. Es war Oma Läppchen.

Frank zögerte, einen kleinen Moment nur, bevor er auf die anderen zuging. Uwe reichte ihm ein Glas, und Rainer schenkte ihm ein. Ganz voll, genau bis an den Rand. Gesine und Kathrin lachten und wollten auch mehr vom Wein. Jochen nahm die Gitarre zur Hand.

Es versprach, eine lange Nacht zu werden.

Draußen vor dem Haus, auf der anderen Straßenseite, saßen seit dem Nachmittag zwei Männer in einem grauen Wartburg und beobachteten alles.

Bis zum nächsten Morgen ist noch viel Zeit, dachte Frank. Sie waren jetzt alle zusammen. Ich muss nicht wissen, was morgen passiert.

Polka im Schweitzer-Haus

Frühjahr 1988

Der junge Mann auf dem Fahrrad fuhr langsam die Straße entlang, eine Hand am Lenker, in der anderen ein Buch, in dem er seelenruhig las und von dem er nur ab und zu aufschaute.

Anita blieb stehen. Statt die Straße zu überqueren, sah sie ihm von der Bordsteinkante aus nach. Das Ampelmännchen zeigte schon längst grün für sie. Er war einfach bei Rot über die Kreuzung gefahren.

Da ertönte die Sirene eines Funkstreifenwagens. Der langgezogene Jaulton war laut und nah. Der Radfahrer begriff sofort, klappte sein Buch zu und trat in die Pedale.

Der Lada der Leipziger Volkspolizei näherte sich bedrohlich schnell. Der Radler strengte sich an, dabei musste er auch noch Schlaglöchern und den Schienen der Straßenbahn ausweichen. Anita fand, das Ende der kurzen Flucht war abzusehen.

Allerdings gab es da noch diese kleine Seitenstraße, Durchfahrt verboten, Einbahnstraße. Mit einem rasanten Schwenk bog der Flüchtende im letzten Moment dort ein. Zum Erstaunen Anitas wagten es die beiden Volkspolizisten nicht, ihm entgegen der vorgeschriebenen Fahrtrichtung zu folgen. Sie stoppten ihren Wagen, schalteten das Signalhorn ab und schauten ihm nur noch hinterher. Anita setzte ihren Weg fort, aber der Kerl auf dem Rad ging ihr weiter durch den Kopf. Den will ich kennenlernen, dachte sie.

Anita wollte an diesem Morgen ihre Freundin Gesine besuchen, doch die war nicht da. Sie setzte sich ins Treppenhaus, steckte sich eine Zigarette an und wartete eine Weile. Es war still im Haus, im Hintergrund war nur ab und zu das Quietschen einer Straßenbahn zu hören.

Ihre Freundin erschien nicht. Sie hatte vor, Gesine zu einer gemeinsamen Tramptour im nächsten Sommer zu überreden. Im vergangenen Jahr war Anita alleine unterwegs gewesen, das hatte ihr nicht gefallen. Kein Solo-, aber auch kein Meutenurlaub mehr, hatte sie sich in Budapest geschworen. Sie saß da und träumte davon, gemeinsam mit ihrer besten Freundin durch die Lande zu ziehen.

Nach der dritten Alten Juwel* gab sie das Warten auf, machte sich auf den Rückweg durch die Stadt und beschloss, zum Täubchenweg zu gehen. Dort lag das Albert-Schweitzer-Haus, ein Pflegeheim, in dem sie lange Zeit gearbeitet hatte. Sie könnte dort endlich ein paar liegen gebliebene Sachen abholen.

Es war ein weiter Fußweg, aber die niedrig stehende Frühjahrssonne schien hell und wärmte schon. Ihr gleißendes Licht warf schwarze Schatten und gab den Häusern in den Straßen der Stadt klare und scharfe Konturen. Anita lief auf ihrem Weg durch den Leipziger Osten an verfallenen Gebäuden vorbei, schaute aber kaum noch hin, denn so war es schon seit Jahren, auch in anderen Teilen der Stadt. Ganze Häuserzeilen waren unbewohnt, die Fensterscheiben eingeworfen, der Bürgersteig gesperrt oder mit Brettergerüsten gegen herunterfallende Mauerteile und Dachziegel geschützt. Immer wieder große Brachen, Reste von Kellern, über denen einmal Häuser gestanden hatten, Trümmer von abgerissenen Gebäuden, vor kurzem erst zusammengeschobene Haufen, aus denen schwarze Holzbalken in die Luft ragten.

Im Täubchenweg stand Anita schließlich vor ihrer alten Arbeitsstelle. Das kirchliche Pflegeheim war ein mehrstöckiger, recht gut erhaltener Bau. Im Hof lag ein Kindergarten, daneben eine Polizeistation. Altersheime der Kirche hatten zwar einen besseren Ruf als staatliche Einrichtungen, doch selbst hier waren die Menschen in Zimmern mit bis zu 15 Betten untergebracht. Für persönliche Dinge und so etwas wie Privatsphäre war da kaum Platz. Jeder der Bewohner besaß nur noch das Bett und einen kleinen Nachttisch.

Anita betrat das Gebäude. Es roch muffig. Sie hielt kurz inne. War das etwa Musik? Sie ging weiter, eine Treppe hoch. Die Musik wurde lauter. Auf der obersten Stufe angekommen, konnte sie bis zum Ende des Ganges schauen. Zwischen Schlafsaaltür und Flur drehte sich ein junger Pfleger mit weißer Hose und Jacke schwungvoll zu Polkamusik mit einer der alten Frauen. Die grauhaarige Dame kicherte und gluckste vor Vergnügen. Ihr weißes, dünnes Nachthemd wehte weit um sie herum.

Anita lächelte. Sie erinnerte sich an die Momente von Freude, die es auch während ihrer Arbeit hier immer wieder gegeben hatte. Dann stutze sie. Moment mal, dachte sie, das ist doch … Es war der Radfahrer, den sie am Morgen auf der Flucht vor der Volkspolizei gesehen hatte.

Wenig später saßen sie zusammen im karg eingerichteten Pausenraum mit der Polstergarnitur aus braunem Cord, vergilbten Vorhängen am Fenster und einer leeren Schrankwand. Sie tauschten sich über ihre Erlebnisse bei der Arbeit im Albert-Schweitzer-Haus aus. Uwe erzählte von der alten Frau Reiter, die immer nur dieselbe Zeitung mit Bildern von Blumen und anderen Pflanzen las. »Wenn ich neben dem Bett der 93-Jährigen stand, zeigte sie mit dem Finger auf ein Bild und sagte: ›Die will ich kaufen, wenn ich wieder einen Garten hab!‹«

Obwohl es traurig war, mussten beide lachen.

Uwe erzählte Anita von Frau Süß, der er jeden Abend ein Gutenachtküsschen geben musste, von Frau Meier, zu der er sagte, komm, wir gehen jetzt ins Bett, und sie antwortete, das habe ich noch nie mit einem fremden Mann gemacht, von Margot, der Behinderten, die mehrere Gebisse vertauschte, so dass die Frauen im Saal alle Gebisse durchprobieren mussten, bis jede wieder ihr eigenes hatte. Uwe, der mit seinen 25 Jahren kaum noch Haare auf dem Kopf trug, schilderte, wie fröhlich und eitel es im Saal beim Haareschneiden zugehen konnte, dabei verpasste er doch den Frauen meist nur einen »Rupper«, einen Kurzhaarschnitt mit dem Rasierer.

Er wurde ernst, als Anita von einer Frau berichtete, die sie immer vorsichtig gefüttert hatte, weil sie nicht mehr richtig schlucken konnte.

»Als ich freihatte, ist sie erstickt.«

Anita hatte oft ganz allein Nachtwache gehabt, und es war für sie schwer zu ertragen gewesen, wenn jemand im Sterben lag in einem Zimmer mit fünfzehn anderen.

Das hatte Uwe auch schon öfter miterlebt. »Ich muss hier manchmal einfach Blödsinn machen«, sagte er, »sonst kann man das alles gar nicht aushalten.«

Während er weiterredete, sah ihn Anita lange an. Es hatte etwas Warmherziges, wie er über die alten Frauen hier sprach. Das gefiel ihr. Da hatte jemand Freude am Leben und war an Menschen interessiert. Der allgegenwärtige Frust machte ihm offenbar nicht viel aus.

»Habt ihr damals auch, wenn es keine Windeln gab, im Keller selbst welche aus Zellstoff und Baumwolltüchern zusammengelegt?«, wollte Uwe wissen.

Anita nickte: »Na klar, immer wieder. Wir haben viel improvisiert, darin waren wir ziemlich gut. Trotz allem hab ich hier sehr gern gearbeitet.« Besonders gut gefallen hatte ihr, dass die meisten Alten so lebendige Geschichten aus der Zeit des Weltkriegs, aus den Aufbaujahren und vom Mauerbau erzählen konnten. »Ich habe viel über Leipzig erfahren.« Anita hatte das Schweitzer-Haus verlassen und bei der Kirche eine Ausbildung als Sozialarbeiterin begonnen.

Was ihm immer wehtue, sagte Uwe, seien die Kurzbesuche von Verwandten, die nur kämen, um die Renten der bettlägerigen Frauen abzuholen.

Nach einer Weile erschien Uwes Freund Frank, der in einer anderen Abteilung arbeitete. Er ließ sich mit einem Seufzer auf das Cordsofa fallen. Im Erdgeschoss hatten Kinder aus dem Kindergarten zur Unterhaltung der Alten gesungen. Frank musste deshalb einige seiner Frauen drei Stockwerke erst hinunter- und danach wieder hinauftragen. Einen Lift gab es nicht. Er war geschafft.

Uwe fragte ihn, ob Anke das Vorsingen organisiert habe. Er wusste, Frank interessierte sich für Anke. Sie war mit zwanzig Jahren eine der jüngsten und hübschesten Mitarbeiterinnen des Kindergartens im Hof. Anke hatte erst gestern mit Uwe und Frank zusammengesessen und von ihrem Elternabend berichtet, den sie zum Thema »Umweltschutz mit Kindern« veranstaltet hatte.

Ja, sie sei dabei gewesen, beantwortete Frank Uwes Frage. Aber im Moment war er mehr interessiert an der Frau in der flattrigen Hippiekleidung, die er nicht kannte. Als er erfuhr, dass Anita hier früher einmal gearbeitet hatte, kam Frank schnell auf das Regiment zu sprechen, das die alten Diakonissen im Hause führten.

»Für die sind doch Leute wie wir exotisch.«

Anita gab ihm recht. Frank und Uwe waren eher zufällig in dem christlichen Pflegeheim gelandet, weil sie irgendeinen Job brauchten, der sie vor Ärger mit den Behörden schützte. Solcher Ärger war unausweichlich für Jugendliche, die wie sie keine Chance auf eine übliche Berufskarriere hatten, nachdem ihnen bereits als Schülern das Abitur und erst recht ein Studium verwehrt worden war. Wer jedoch nicht arbeitete und damit nicht am Aufbau des Sozialismus teilnahm, konnte wegen asozialen Verhaltens* belangt werden. Viele Gleichaltrige landeten deswegen in Jugendwerkhöfen*.

»Wisst ihr, wie ich hier ins Schweitzer-Haus gekommen bin?«, fragte Uwe. »Ich bin beim Friedensgebet in der Nikolaikirche nach vorn gegangen und habe in meiner Fürbitte einen zivilen Ersatzdienst gefordert. Danach sprach mich eine Diakonisse an und meinte: ›Wieso reden Sie eigentlich immer nur davon? Sie könnten doch jetzt schon aktiv werden und bei uns im Pflegeheim arbeiten. Wir suchen junge kräftige Männer.‹ Sie gab mir eine Telefonnummer, ich rief an, ging hin, und seitdem arbeite ich hier.«

Frank meinte, ihm gehe das fromme Getue auf den Wecker. Immer wieder hätten sie Diskussionen mit den Diakonissen, die ihren Widerstandsgeist nicht verstünden.

»Sie finden sich damit ab, dass alles von Gott vorbestimmt sei, und hoffen darauf, dass er irgendwann ihre Gebete erhört.«

Er sah Anita an.

»Wir halten immer dagegen, dass wir selbst es sind, die etwas verändern müssen, und dass es keiner für uns machen wird. Auch ihr Jesus hat gegen Ungerechtigkeit gekämpft und nicht gewartet, dass es ein anderer für ihn erledigt.« Für ihn reiche es nicht, beim Friedensgebet in der Nikolaikirche nur eine Fürbitte auszusprechen. Was man als Anliegen vortrage, müsse man schon selbst mit Leben erfüllen. Für einen zivilen Ersatzdienst beten sei das eine, aber Veränderung gebe es nur durch Handeln. Wenn endlich junge Leute, statt zur Armee zu gehen, einen Ersatzdienst in Alten- und Pflegeheimen machen könnten, sähe die Lage in Häusern wie diesem doch ganz anders aus.

Leute wie sie, setzte Frank noch hinzu, seien für die Diakonissen doch nur billige Arbeitskräfte, genauso wie alle Menschen mit Ausreiseantrag, denen in ihrem Betrieb gekündigt wurde und die dann nur noch bei der Kirche jobben konnten – ob als Hilfspfleger im Altersheim oder als Gärtner auf dem Friedhof.

Frank hörte sich sehr radikal an in seinen Urteilen. Auch ihn hatte man wegen seiner pazifistischen Gesinnung nicht zum Abitur zugelassen, also begann er eine Lehre als Zimmermann. Doch die verlief anders als erhofft. Frank wurde vom Baukombinat Leipzig beim Hochziehen der Plattenbauten in Grünau, einer Großwohnsiedlung* im Leipziger Westen, eingesetzt. Das war nicht sein Lebenstraum.

Anita betrachtete die beiden Männer, denen sie gegenübersaß. Frank hatte wie sie selbst dunkle Haare und braune Augen. Ein gutaussehender, etwas geheimnisvoller, südländischer Typ, der trotz seiner heftigen Aussagen ruhig und nachdenklich sprach und dem immer wieder ein verschmitztes Lächeln über seine Lippen huschte. Einer, der es wagte, in ihrer Gegenwart offen Kritik zu üben, obwohl er sie doch erst ein paar Minuten kannte.

Uwe, der kräftige Radfahrer, sprach lebhaft geradeheraus, war geradlinig und offenherzig, spontan zu jeder Schandtat bereit.

Ihr gefielen beide.

Als Anita erfuhr, dass Uwe und Frank in der Grünauer Großwohnsiedlung* Wohnkomplex 8 wohnten, musste sie lachen. »WK8? Ich doch auch!«

Ihre Wohnungen, stellten sie fest, lagen sogar ganz nah beieinander.

Das war für junge Leute wie sie eher ungewöhnlich. Wohnraum war knapp. Viele wohnten deshalb lange bei ihren Eltern oder zogen mit achtzehn schwarz in leerstehende Altbauwohnungen. Quartiere, die keiner mehr haben wollte, mit Ofenheizung, Toilette im Hof, eiskalt im Winter. Anita hatte ihre Neubauwohnung als Ersatz zugewiesen bekommen. Sie hatte bis dahin mit ihrer kaum älteren Tante Jutta in einem heruntergekommenen Haus im Leipziger Osten gewohnt, das dann mit dem ganzen Straßenzug abgerissen wurde.

»Im Winter war in meinem Schlafzimmer die Außenwand zum fehlenden Nachbarhaus immer wieder mal mit Raureif überzogen«, erzählte sie. »Bevor ich nach Grünau kam, wurden wir erst in ein Bauarbeiterhotel einquartiert, nachdem ein Haus in der Nachbarschaft teilweise eingestürzt war, in dem noch Leute gewohnt hatten.« Jetzt hatte sie Heizung und Warmwasser, ihre Freunde aus den Altbauvierteln kamen sie gern besuchen, um zu baden oder ihre Wäsche zu waschen. Frank und Uwe waren auf ähnliche Weise aus den Altbauwohnungen ihrer Familien heraus an ihre Wohnungen in Grünau gekommen.

Man könne sich ja mal gegenseitig besuchen, sagte Frank. Uwe hatte eine bessere Idee.

»Am Wochenende soll es wärmer werden. Wir wollen uns mit ein paar Freunden am Kulkwitzer See treffen …«

»… komm doch einfach mit dazu!«, setzte Frank Uwes Worte fort.

Anita strich sich die langen Haare zurück und rückte ihr Stirnband zurecht, sie wollte noch die Heimleitung erwischen, nahm ihre Tasche, verabschiedete sich und meinte: »Vielleicht.«

Nachmittags um halb drei war Dienstschluss für Uwe und Frank. Sie freuten sich, jemand aus ihrem Plattenbauviertel kennengelernt zu haben, die besser zu ihnen passte als die vielen jungen Familien mit kleinen Kindern, die dort überwiegend lebten. Frank mochte die Kleinfamilienidylle ohnehin nicht sonderlich.

Sie wollten noch Anke aus dem Kindergarten abholen und gingen durch den Hinterausgang quer über den Hof, vorbei an einer Batterie überfüllter Mülltonnen, im Sommer ein Tummelplatz für allerlei Ungeziefer. Die Bettwäsche, die Uwe mittags aufgehängt hatte, war noch nicht trocken. Die graugewaschenen Laken blähten sich im Wind und schlugen ihnen ins Gesicht. Hinter einem Holzgatter lag ein einfacher, kleiner Spielplatz mit Klettergerüst und Sandkasten. Dort kam ihnen Anke entgegen.

Frank machte der angehenden Erzieherin mit den dunklen Haaren, den leuchtend blauen Augen und einem intensiven Blick schon länger den Hof. Anke besaß bereits eine ganze Sammlung seiner Zettel, die er an ihrer Wohnungstür in Leipzig-Schleußig hinterlassen hatte, da er sie meist nicht antraf. Anke fand ihn interessant.

Sie erzählte den beiden vom Kampf gegen die anhaltende Rattenplage im Kindergarten. Jeden Tag, zu Beginn des Frühdienstes morgens um sechs, fordere sie die ersten noch ganz müden Kinder auf: Haut gegen die Küchentür und bollert auch ordentlich gegen die Badezimmertür. »Sie machen es und haben sogar ihren Spaß dabei. Ich muss ihnen nicht sagen, warum.«

Nur so war Anke sicher, dass die Ratten aus den Spül- und Waschbecken mit den tropfenden Wasserhähnen verschwunden waren, bevor sie mit den Kindern hineinging.

Zu dritt machten sie sich mit ihren Fahrrädern auf den Weg in die Leipziger Innenstadt. Dort traf man eigentlich immer jemanden, den man kannte. Das Zentrum hatte dafür genau die richtige Größe, nicht zu groß, nicht zu klein.

Es war Freitagnachmittag und die Innenstadt belebter als gewöhnlich. Sie erreichten den Markt. Vor den Arkaden gegenüber der Mädlerpassage sahen sie von weitem einen kleinen Menschenauflauf. Um einen Gitarrenspieler hatte sich ein Halbkreis von Zuhörern geschart. Sie ahnten schon, wer es war.

Jochens Stimme wurde vom Säulengang vor dem Alten Rathaus ordentlich verstärkt und war weithin zu vernehmen. Sie konnten gut verstehen, was er sang:

»Hast du schon jemals das Gefühl gehabt, dies alles könnte anders sein, und dass es ohne Herrn und Sklaven geht und ohne dieses ›dein und mein‹? Geht dir ein Licht auf, wenn es dunkel wird, dass du dich viel zu selten wehrst, und dass der Zeitpunkt jetzt gekommen ist, an dem du endlich aufbegehrst …«

Das Lied stammte von einem Wiener Liedermacher. Was im Westen niemanden aufregte, war hier im Osten auf der Straße gesungen eine Provokation.

Und richtig, Anke, Frank und Uwe sahen, wie sich von der Seite zwei Uniformierte näherten. Den beiden Volkspolizisten folgten in gewissem Abstand zwei Herren in Zivil. Jochen sang immer noch das Georg-Danzer-Lied:

»Hast du schon jemals den Verdacht gehabt, dass du hier nur betrogen wirst und dass es doch nicht deine Schuld sein kann, wenn du in dieser Kälte frierst? Hast du schon jemals irgendwie geahnt, dass uns mehr zusteht als der Rest …«

Jetzt standen die beiden Polizisten direkt vor Jochen, der sie natürlich auch schon längst bemerkt hatte, aber einfach weiterspielte. Er schlug noch einen Akkord an, dann unterbrachen sie ihn: »Bürger, unterlassen Sie auf der Stelle das unerlaubte Musizieren. Das Instrument ist beschlagnahmt, kommen Sie mit zur Klärung des Sachverhalts!«

Jochen wollte protestieren, doch einer aus dem Kreis der Zuhörer kam ihm zuvor. »Einen friedlichen Musiker festnehmen, wo gibt’s denn so was? Immer nur die Polizei!« Ein Zweiter fiel ein: »Lassen Sie den Mann doch Gitarre spielen, das ist doch nichts Unrechtes!« Und ein Dritter: »Hört auf, solche Leute zu drangsalieren, die Leipzig mal was Schönes bieten!« Auch Anke, Uwe und Frank schimpften mit den anderen, eine überraschende Solidarität machte sich unter den Zuhörern breit, und den Uniformierten wurde es etwas mulmig. Sie ließen Jochen die Gitarre. Der hatte seinen Ausweis gezückt und meinte, sie könnten doch gleich hier alles aufnehmen. Das Dokument lenkte die beiden Volkspolizisten etwas ab, sie wirkten unentschlossen, wie sie weiter vorgehen sollten. Straßenmusik wurde, wie alle spontanen Aktivitäten, stets misstrauisch beäugt. Die Ordnungshüter duldeten keine öffentlichen Auftritte ohne staatliche Genehmigung – die allerdings kaum zu bekommen war.

Anke, Uwe und Frank kannten Jochen nicht nur von seinen illegalen Darbietungen auf der Straße. Er gehörte zum Arbeitskreis Gerechtigkeit, einer der unabhängigen Basisgruppen*, die seit Anfang des Jahres das Friedensgebet in der Nikolaikirche mitgestalteten, an dem sie auch regelmäßig teilnahmen.

Jochen hatte in Halle an der staatlichen Uni Theologie studiert, war aber zusammen mit seinem Freund Thomas und acht anderen Studenten wegen der Weigerung, in den Semesterferien am sechswöchigen Zivilverteidigungslager teilzunehmen, exmatrikuliert worden. Seit einem Jahr studierten Jochen und Thomas nun am nichtstaatlichen Theologischen Seminar der evangelischen Kirche in Leipzig, wo es keine vormilitärische Erziehung gab. Allerdings hatte Jochen sich inzwischen von kirchlichen Glaubensdogmen abgewandt und in der Peterskirche an der Schletterstraße zu »atheistischen Andachten« eingeladen. Das kam bei seinen Dozenten nicht so gut an, er verlor sein Stipendium. Sein Geld zum Leben verdiente er seither als Straßenmusiker – ohne Genehmigung der Behörden. Außerdem hatte er zwei Putzstellen. Jochen war einer, der sich durchzuschlagen wusste.

Die uniformierten und zivilen Herren hatten ihn inzwischen in ihre Mitte genommen. Sie wollten ihn unbedingt aus der Öffentlichkeit entfernen, doch das war nicht einfach, die Passanten maulten weiter, einige von den jüngeren setzten sich sogar als Blockade auf den Boden und riefen, dass sie weiter Musik hören wollten.

Jochen wurde dennoch samt Gitarre Richtung Streifenwagen geschoben. Als er seine drei Freunde entdeckte, zwinkerte er ihnen zu. Sie mussten lachen, als einer der beiden Polizisten im Gedränge seine Mütze verlor. Oder hatte sie ihm jemand vom Kopf geschlagen?

Die Polizisten fuhren mit Jochen davon. Seine Freunde machten sich keine großen Sorgen. Sie wussten, dass sie ihn nach der Feststellung der Personalien wieder gehen lassen würden. So war es bei Zuführungen* bisher immer gelaufen. Zum Musizieren reiste Jochen oft in andere Städte wie Dresden oder Halle. Immer wieder gab es dabei Ärger mit der Volkspolizei. Er hatte sich daran gewöhnt und nahm es gelassen.

Frank lachte und meinte, Jochen könne ja auf sein Theologiestudium verweisen und die Notwendigkeit, als künftiger Pfarrer auch mal liturgische Gesänge vor Publikum üben zu müssen.

Anke verabschiedete sich von den beiden, sie wollte noch zu einem Treffen ihrer Gruppe Frieden und Umweltschutz mit Kindern. Frank war etwas überrascht, dass sie plötzlich nur noch zu zweit waren. Er wäre gerne mit Anke etwas trinken gegangen. Uwe aber hatte nichts vor, die Sonne schien, und der Abend war noch lange nicht in Sicht. Das brachte Frank auf die Idee, eine Runde durch den Leipziger Auwald zu radeln. Das war einer seiner Lieblingsorte, den er auch oft allein durchstreifte. Frank fühlte sich dort glücklich, und er hatte sich einen Naturführer organisiert, weil er es wichtig fand, die Namen der Pflanzen und Bäume zu kennen. Damit hatte er auch Anke beeindrucken können.

Bald fuhren Uwe und Frank an der im Auwald noch offen fließenden Pleiße entlang. Früher hatte der Fluss einmal als Lebensader durch die Stadt geführt. Doch seit den fünfziger Jahren war er im Stadtgebiet größtenteils in Abwasserrohren verschwunden oder überbaut worden. Die Pleiße war durch die um Leipzig liegende Industrie hochgradig belastet, und wo sie noch offen zutage trat, stank sie entsetzlich. Anblick und Geruch des schmutzigen Flusses sollte den Leipzigern offenbar möglichst erspart bleiben.

Frank fand, die versteckte Pleiße war das Symbol schlechthin für die ganze Situation der Stadt und der geschundenen Region.

Offensichtliche Probleme wurden nicht offen diskutiert. Doch wenn die Leipziger ihre Fenster aufmachten, ließ sich nichts verheimlichen. Dann stank es je nach Windrichtung aus den Industrieanlagen von Böhlen, Leuna, Schkopau, Espenhain, Wolfen oder Miltitz. Die Stadt war regelrecht umzingelt von veralteten Anlagen der Chemie- und Kohleindustrie, von kahlen Wäldern und Mondlandschaften. Um ihr Produktionssoll zu erfüllen, schalteten die Fabriken nachts ihre Luft- und Abwasserfilter ab, sofern überhaupt welche vorhanden oder funktionstüchtig waren. An grauen Wintermorgen konnte der »Industrienebel« genannte Smog so dicht sein, dass die Verkehrspolizei an wichtigen Kreuzungen Fackeln aufstellen musste. Die Zerstörung der Umwelt prägte den Alltag in der Stadt, legte sich auf die Gemüter und ließ die Menschen abstumpfen.

Die beiden Freunde waren an einem Wehr stehen geblieben und beobachteten, wie der Wind mit dem gelbgrünen Schaum auf dem Wasser spielte. Sie waren schon seit Jahren in einer kirchlichen Umweltgruppe aktiv. Anfangs hatte ihr Kreis versucht, an Informationen über Umweltbelastungen heranzukommen und diese zu verbreiten. Dann hatten sie kleine Aktionen ausprobiert. Einen Park säubern, Bäume am Rand eines Tagebaus pflanzen, Eingaben* an die Behörden machen, Ausstellungen in Kirchenräumen, Radtouren als Gruppe, vom Aussterben bedrohte Märzenbecher im Auwald ausgraben und zwecks Vermehrung teilen …

Frank musste spöttisch lächeln, als er an all die inzwischen in seinen Augen harmlosen Aktionen dachte. Auf den Seminaren kirchlicher Umweltgruppen in Torgau, Beyern oder anderswo hatte es in letzter Zeit immer heftigere Auseinandersetzungen um die weitere Ausrichtung der Arbeit gegeben: Wie radikal durften sie werden, wenn selbst Aktivitäten wie das Pflanzen von Bäumen vom Staat schon misstrauisch beäugt wurden? Sollte man mehr mit staatlichen Stellen und DDR-Naturschutzorganisationen zusammenarbeiten? Nur die legalen Möglichkeiten ausnutzen?

Die Umweltprobleme wurden von Jahr zu Jahr größer, und der Staat unternahm nichts. Frank hatte irgendwann die Nase voll von all den Aktivitäten, die wenig bis nichts bewirkten.

»Leute, es ist Zeit, etwas zu riskieren«, stritt Frank sich mit den anderen in der Gruppe, »wir brauchen phantasievolle Protestaktionen, um mehr Menschen zu erreichen. Und Regeln kann man auch umgehen.«

Auch Uwe hatte sich entschieden, etwas anderes zu machen, als weiter Märzenbecher umzupflanzen. Als ihn während eines Klausurwochenendes der Umweltgruppe morgens beim Zähneputzen jemand anpflaumte, er solle das Wasser doch bitte nicht so lange laufen lassen, war’s das für Uwe: »Wenn du sonst keine Probleme in diesem Land siehst …«

Sie verfolgten mit ihren Augen die umherfliegenden Schaumflocken. Frank sann darüber nach, was sie nach all den Diskussionen tun könnten. Dann sagte er plötzlich: »Wir könnten doch mal eine Demonstration entlang der Pleiße auf die Beine stellen.«

Beide wussten, dass dies ein absolutes Reizwort war, für den Staat wie für die Kirche. Schon die bisherigen Aktionen mussten mit harmlosen, möglichst fromm klingenden Begriffen getarnt werden. Selbst die öffentliche Parksäuberung hatte einige Kirchenleute gestört, und beim Fahrradcorso waren alle von der Volkspolizei kontrolliert worden, obwohl sie kein Plakat oder Transparent dabeihatten und vorschriftsmäßig höchstens zu zweit nebeneinander gefahren waren. Der Gedanke, einfach zu einer Demonstration aufzurufen, war in der DDR undenkbar. In der Verfassung war das Demonstrationsrecht erheblich eingeschränkt. Frei einberufene oder spontane Versammlungen waren praktisch illegal, Demonstrationen blieben auf Kundgebungen der Partei und anderer regimetreuer Organisationen begrenzt.

Würden sie die Demonstration entlang der Pleiße stattdessen Pilgerweg nennen, so wäre es vielleicht sogar möglich, Handzettel mit einer Einladung dazu auf einem Abzugsgerät der Kirche herzustellen.

Frank wusste, dass Uwe eine Demonstration lieber wäre als ein Pilgerweg. Aber so weit waren sie jetzt noch nicht.

Sie standen immer noch am Wehr. Sie schwiegen und schauten eine Weile vor sich hin.

»Sieh dir bloß den toten Fluss an«, meinte Uwe.

Das brachte Frank auf eine Idee.

»Na klar, wir nennen es einfach Pleiße-Gedenkumzug, weil der Fluss tot ist. Ist nicht im Juni wieder Weltumwelttag? Das würde doch passen. Wir demonstrieren dann entlang der Pleiße – von Connewitz durch den Auwald bis zum Clara-Zetkin-Park!«

Frank brauchte Uwe nicht weiter zu überzeugen.

»Ok, lass es uns probieren!«

Sie machten sich gutgelaunt auf den Rückweg in die Stadt. Als es schon dunkel wurde, betraten Frank und Uwe ein Haus neben der Thomaskirche. Dort im Stadtjugendpfarramt konnte sich die Umweltgruppe regelmäßig treffen. Obwohl die beiden nicht mehr dazugehörten, waren sie mit den Leuten in der Gruppe befreundet geblieben. Sie setzten sich zu ihnen.

Mal sehen, wie unsere Idee hier ankommt, dachte Frank. Er ahnte schon, dass nicht alle bei einer solchen Aktion mitmachen, ja sie sogar ablehnen würden. Aber vielleicht könnten sie wenigstens einen Teil der Leute für den Pleiße-Gedenkumzug gewinnen. Bis Juni blieb noch viel Zeit.