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Schüren Verlag GmbH
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© Schüren 2013
Umschlaggestaltung: Wolfgang Diemer, Köln unter Verwendung
eines Fotos aus dem Film No Country for Old Men (Paramount/Miramax)
Druck: CPI, Leck
Printed in Germany
ISBN 978-3-89472-706-2 (Print)
ISBN 978-3-89472-707-9 (eBook)

Mythologie des Thrillers

Thrill: Die Lust an der Angst

Jahrmarktvergnügungen

Vieles von dem, was wir als Unterhaltung bezeichnen, zumal was unsere Sinne reizt, mit Sensationen lockt, hat einen seiner Ursprünge in den mehr oder minder «billigen» Vergnügungen des Jahrmarkts. Nicht nur hat der Film hier eine erste Heimat gehabt, er hat auch seine Inspirationen empfangen im Rummel, der ein Gegengift gegen den Alltag und zugleich seine Spiegelung ist. Diese Vergnügungen lassen sich in verschiedene Sparten, wenn man so will: Genres, einteilen. Da ist zum einen das Essen. Nicht gewöhnliches, auch nicht raffiniertes oder bekömmliches Essen gibt es auf dem Jahrmarkt, sondern es gibt «extremes» Essen: extrem Süßes, extrem scharf Gebratenes, extrem Salziges etc. Eine Reihe von Speisen gibt es nur oder fast nur auf dem Jahrmarkt, so wie es bei den Naturvölkern Speisen gibt, die nur anlässlich bestimmter Feste verzehrt werden. Man kann davon ausgehen, dass in diesen Speisen ein magischer Geschmack steckt, ein Geschmack von Verbotenem, der den kulturellen Konsens der Essgewohnheiten in Frage stellt. Auf dem Jahrmarkt ist man nicht nur anderes, man isst auch anders.

Klasse zwei der Jahrmarktvergnügungen sind die Kraft-, Konkurrenz- und Aggressionsspiele: Man «haut den Lukas», man zerbricht Porzellan, man wirft mit Bällen auf kunstvoll geschichtete Pyramiden, man schießt auf stehende oder bewegliche Ziele, und jedes dieser Aggressionsspiele stellt eine Belohnung in Aussicht, die zweifellos nicht viel wert ist und doch viel bedeutet. Es ist eine Trophäe. Eine dritte Klasse bilden die Sensationsdarstellungen, die Zelte, in denen «Todesfahrer» auf engstem Kreis Kunststücke mit ihren Motorrädern vorführen, wilde Tiere ausgestellt werden, dressierte Flöhe eine Art Parodie auf den Zirkus abgeben oder bärenstarke Männer ihre Kunst beweisen. Die vierte Klasse der Jahrmarktvergnügungen lässt sich als Erlebnis von Rausch- und Schwindelzuständen definieren: die Fahrt in der Achterbahn, das Kettenkarussell, die Schiffschaukel etc. Klasse fünf ist die Erzeugung von «kleinen» Angstzuständen, in der Geisterbahn, im Labyrinth, im Spiegelkabinett. Als sechste Klasse schließlich wären die Glücksspiele zu nennen, die Lotterien, Automaten- und Geschicklichkeitsspiele. In dieselbe Richtung weisen die (heute wohl nur noch in der ironischen Reminiszenz der «Wahrsageautomaten» vorhandenen) Zukunftsdeutungen und die magischen Darbietungen von Hypnotiseuren und Zauberern.

Allen Jahrmarktvergnügungen, einschließlich dem des Alkoholgenusses und einer von der Feststimmung bedingten größeren erotischen Freizügigkeit, gemeinsam ist ein Element des Sichauslieferns in einem begrenzten, womöglich an der Grenze des Kontrollierten angelegten Rahmen. Natürlich gehört zum Wesen aller dieser Vergnügungen auch eine Form der Regression, ein lärmender und doch geordneter Protest gegen die Wohlerzogenheit, die solch «primitiven» Wünschen im Alltag keine Erfüllung gewährt.

Das Alltagsleben ist hier sozusagen auf den Kopf gestellt: Was gemeinhin verboten oder doch nur in entsprechenden Sublimationen gestattet ist, das ist hier nicht nur gestattet, sondern wird durch – wenn auch in sich relativ wertlose – Belohnungen gefördert: hemmungslos zu lärmen, Aggressionen auszuleben, abergläubischen Mummenschanz zu bewundern.

Jahrmarktvergnügungen sind ein frontaler Angriff auf die Sinne, bis an die Grenze ihrer Belastbarkeit und ganz sicher mit einem mythischen Ziel von Zerstörung und Selbstzerstörung ausgestattet, das sich aber erschöpft in den willigen Objekten, die sich, aufgeputzt wie die Opfer eines heidnischen Rituals, der Zerstörung scheinbar lustvoll darbieten. In den Riten der Jahrmarktsvergnügungen könnte man einen «Masochismus der Objekte» diagnostizieren, der dem «Sadismus der Objekte» im Allgemeinen Leben gegenübersteht. In den Schwindel- und Rauscherzeugungen der Karussells und Berg-und-Tal-Bahnen ist dieser Sadismus der Objekte auf eine ins Unmäßige gesteigerte Art wieder da, jedoch verbunden mit einer Art der Bewegung zur Destruktion: der simulierte «Absturz» von Mensch und Maschine. Es ist allemal eine Herausforderung ans Schicksal. Entweder wird das Objekt «gedemütigt», das Porzellan zerschlagen, der Nagel mit einem Hammerschlag in den Balken getrieben, das Geschoss des «Lukas» bis an die Spitze der Skala gebracht, oder man selbst ist der Gedemütigte; wenn man die Fahrt in der Achterbahn wagt, zeigt man seine Überlegenheit gegenüber der Mechanik und kann zugleich ein Urerlebnis der Geschwindigkeit genießen. Jahrmarktvergnügungen sind, abgesehen vielleicht von dem kulinarischen und voyeuristischen Beiwerk, nicht denkbar ohne das bewusste Erleben von Angst und von der Hoffnung, nach überstandener Prüfung in die Sicherheit seines Alltags zurückzukehren, mit beiden Beinen wieder auf dem festen Boden zu stehen. Diese Erfahrung von Angst macht Spaß, und sie stählt gegen die Angst im Alltagsleben, indem sie Angst auf eine «niedrigere», direktere Ebene zurückführt, als sie im üblichen Leben vorkommt: Statt sozialer, zivilisatorischer oder psychischer Ängste wird hier eine feste, von einer und nur einer konkreten Gefahrensituation ausgehende Angst durchlebt, die überstanden zu haben ein Gefühl der Befriedigung hinterlässt. Diese Angstzustände sind zugleich aber auch immer gekoppelt mit einem mehr oder minder deutlichen erotischen Erleben. Diese Kombination kann man als das Wesen des Thrills ansehen: den Weg zur Lust über die Angst.

Diese Bewegung: das Staunen über eine Situation, die Fremdes, Gefährliches, Aufregendes oder große Reize verspricht – die Hingabe an eine konkrete, dennoch nicht im Bereich des «Fassbaren» angesiedelte Gefahr (Bewegung, Geschwindigkeit, Verdoppelungen durch Spiegelungen etc.) – der vorübergehende Verlust an Orientierung – die letztendliche Wiedergewinnung der Sicherheit, ist unschwer auch als Grundstruktur des Thrills auszumachen. Abgründe, unkontrollierbare Geschwindigkeiten, Masochismus und Sadismus von Objekten sind zwar nur ein Element des Genres, doch es funktionieren auch die vielen anderen Gefahren des Thrillers – Identitätsverlust, Morddrohung, Gefangenschaft etc. – nach ähnlichen Formeln; es sind, ganz entschieden, Ausnahmesituationen inmitten eines ansonsten geordneten oder gesicherten Alltags (was die Bedrohung im Thriller von denen im Western, im Gangsterfilm, im Kriegsfilm und sogar auch im Horror-Film wesentlich unterscheidet).

Thrill und Erotik

Die Verbindung von Angst und Lust ist bei den meisten Formen der Freizeitgestaltung anzutreffen, im Sport, bei allen Formen von spielerischer Konkurrenz, im Umgang mit dem «neuen Objekt», mit allem, was von außen an uns herangetragen wird und nicht einfach bezwungen oder integriert werden kann, sondern nachhaltig auch auf uns selber einwirkt.

«Das natürlichste neue Objekt ist die Jungfrau, und es ist erstaunlich, wie viele nervenkitzelnde Situationen (thrills) mit dem Adjektiv ‹jungfräulich› verbunden werden. Man spricht von jungfräulichem Land, einem jungfräulichen Gipfel oder dem jungfräulichen Weg zu einem Gipfel, von jungfräulichen Bereichen der Geschwindigkeit etc. Im Grunde genommen ist jeder neue Sexualpartner ein thrill, besonders wenn er oder sie einer anderen Rasse, Farbe oder Religion angehört. Die neuen, ungewohnten Vergnügungsweisen betreffen unter anderem: neue Speise, neue Kleider, neue Sitten, bis zu neuen Weisen ‹perverser› Sexualbetätigung. In all diesen Erscheinungen finden wir dieselben drei grundlegenden Züge: die objektive äußere Gefahr, welche Furcht auslöst, das freiwillige und absichtliche Sich-ihr-Aussetzen und die zuversichtliche Hoffnung, dass alles schließlich doch gut enden wird.» (Michael Balint)

Die Lust an der Angst ist also eine Folge der Sehnsucht nach dem Neuen, und diese wiederum kann ihren Ursprung wohl in nichts anderem haben als in der Unzufriedenheit mit dem eigenen Realitätsentwurf, der zu eng gefasst oder nach falschen Prinzipien gestaltet erscheint. So ist in der Gefahr, der man sich aussetzt, die Hoffnung verborgen, aus ihr als «neuer Mensch» entlassen zu werden. Man kennt aus den Medien jene Läuterungs- und Identitätsphilosophie etwa von Bergsteigern, die extreme Strapazen auf sich genommen haben, um eine mystische Wandlung in den hohen, gefahrvollen Regionen des Berges zu erfahren. Tatsächlich scheint von solcher Wandlung nicht mehr spürbar als ein gewisser Zuwachs von Souveränität und Selbstbewusstsein. Amerikanische Bergsteiger, die auf die üblichen Sicherheitsvorkehrungen in der Wand verzichten, haben sich als Wahlspruch gewählt: «If Life Gets Boring, Risk it!», und auch dies scheint zunächst den Verdacht zu erhärten, der Thrill sei eine Art Nebenprodukt oder Gegenmittel für den Überdruss, die Melancholie, die Langeweile und diene viel eher der Stabilisierung einer Persönlichkeit als ihrer Wandlung. Allerdings mag der ziemlich eindeutige Suchtcharakter vieler Unternehmungen, die die Gefahr oder das Risiko (zum Beispiel das eines Spielers) zum Inhalt haben, misstrauisch machen. Wenn der wirkliche Thrill eine Verbindung von Lust und Angst ist, mit dem Ziel einer «Wiedergeburt» auf anderer Ebene, so lässt sich hier eine erste Sackgasse ausmachen, in die eine solche Strategie führen mag: die mehr oder minder vollständige Ersetzung der Lust durch die Angst. Dass diese Ersetzung um so perfekter gelingt, je abstrakter oder symbolischer der erotische Gehalt des Wagnisses ist, kann nun kaum noch verwundern.

Der wirkliche Thrill besteht eben nicht in der Ausgrenzung der Gefühle in der Gefahr und nicht im Rückzug auf den Narzissmus. Es ist die untrennbare Verbindung von emotionaler Nähe und Gefahr. Allein in der Achterbahn zu fahren ist nicht einmal das halbe Vergnügen. Doch was da spielend wiederholt wird, ist in Wahrheit Abbild einer wirklichen Gefahr, dass die im Thrill zusammenfallenden Gefühle von Angst und Hingabe sich nicht wieder scheiden ließen. Die Gefahr ist, dass in der Liebe etwas schief gehen kann, nicht so sehr die, dass man versagen oder ohne Befriedigung bleiben könnte, als vielmehr die, dass die Fremdheit des Partners, zunächst im Thrill der erotischen Begegnung aufgehoben, über die Zuneigung triumphieren würde, ja dass sich in seinem Bild Wesenszüge von einer nicht vorhersehbaren Konsequenz und Gefahr durchsetzen könnten. Der Thrill und seine Verarbeitung im Genre des Thrillers wird daher um so bedeutender sein, je mehr eine Gesellschaft mit ihren Konventionen auf eine Festschreibung erotischer Beziehungen in sanktionierten Bahnen drängt und je härter sie Abweichungen davon unter Strafe stellt.

Die Instabilität der Empfindungen, die bereits in den Jahrmarktsvergnügungen angesprochen wird, setzt sich auf einer anderen Ebene fort in der Instabilität der Gefühle, die einander zu überlagern, gar zu neutralisieren, aber auch zu steigern in der Lage sind. Es ist die Dosis Geheimnis, die Prise Gefahr in der Liebe, die zugleich ersehnt und gefürchtet wird – auch an sie muss man sich spielend gewöhnen, und auch sie bedürfen zur reinen Darstellung der Extremsituation, in der alltägliche Sicherheiten ihre Wirksamkeit verlieren. Die evozierte Angst ist unter anderem auch ein Mittel, Verdrängtes ans Licht zu bringen; die Angst im Thrill mag als Alibi für die Gestaltung verdrängter Wünsche und Vorstellungen gelten, ganz ähnlich wie im Albtraum der Schrecken nur den verbotenen Wunsch verdecken soll. Zugleich aber kann man sich ans Leben mit der Angst gewöhnen.

Übersetzt man Thrill einmal mit Erregung (was zumindest an Mehrdeutigkeit dem angelsächsischen Begriff nahe kommt), so ist eine Struktur der Empfindung auszumachen, die von einem Zustand der relativen Ruhe über eine Phase der allmählichen Steigerung zu einer Klimax kommt, um dann wieder in einen Zustand der Ruhe zu münden: der Thrill folgt also einem Erregungs-«Drama», das einmal für alle Formen der sinnlichen Erregung gegolten haben mag, heute sich jedoch vorwiegend im Modell der Sexualität noch fassen lässt. Dass die Strukturen der Erfahrung von Liebe und die von Gefahr im Thriller kongruent sind, kann kaum verwundern, ist doch der Thriller im Allgemeinen ein negatives Liebesdrama. Die entstehende Spannung lässt sich auch als die verschiedener emotionaler Aggregatzustände deuten: In einer Beziehung, die nach Wärme der Gefühle verlangt, bleibt einer der Partner merkwürdig kalt. Das ist der Ausgangspunkt des Entsetzens.

Vor diesem Hintergrund wird verständlich, dass im Thriller Verbrechen, Mord und Bedrohung in gewisser Weise emotionslos ausgeführt werden, dass der Anschlag auf Leben, Eigentum und Sicherheit des Mitmenschen gleichsam ohne nachvollziehbare Aggression erfolgt. Der Mobster im amerikanischen Gangsterfilm hat eine Menge Wut aufgestaut auf seine soziale Unterprivilegiertheit, auf seine beengten Verhältnisse im Ghetto, auf die staatlichen Verfolgungen, bevor er zum «Gegenangriff» gegen die Gesellschaft antritt; der Westerner, der zum Kampf bereit ist, weiß um die Bedeutung der Herausforderung: es geht um seine Identität; die Halbwesen des Horrorgenres scheinen Gier und Hass in Personifizierung zu sein etc. Der Verbrecher im Thriller – sei es der eher sympathisch gezeichnete in den Filmen mit dem Thema des großen Coups, sei es der wahnsinnige Mörder, sei es der Spion, der der freien Welt durch den Verrat schadet – bedroht die Gesellschaft eigentlich ohne erkennbaren Grund; die Gefahr, die von ihm ausgeht, ist bis an den Rand der Absurdität mechanisch und abstrakt. Erst in dem Moment, wo wir der Motivation des Täters auf die Spur gekommen sind, löst sich die Lähmung des Schreckens. Die Abwesenheit (oder doch oft: die scheinbare Abwesenheit) von Gefühlen, bzw. ihre völlige «Abnormalität» auf der einen und die Überbetonung von Gefühlen auf der anderen, der Seite der Opfer, gehören so sehr zum Wesen des Suspense wie das Wissen um die Gefahr, der dennoch nicht zu entgehen ist. Im Thriller geht es oft um Liebesgeschichten zwischen Menschen, die einander fremd bleiben, und die Reaktionen darauf, Frigidität, Vergewaltigung, Hass, Furcht, entladen sich in Handlungen von zwanghafter Natur. Selbst im perfekten Einbruch des Meister-Verbrechers und in der ruhelosen Aktion des Agenten steckt noch etwas von dieser Erfahrung von «Lieblosigkeit».

Das «Trompe l’oeil der Gefühle» offenbart etwas von der sozialen Vermittlung von Sexualität und individueller Bindung: Da gibt es den Ehemann, der seine Frau langsam umbringt, ihres Geldes wegen, während er ihr noch seine Liebe beteuert, da sind die Spione, die mit den Agentinnen der anderen Seite schlafen, um ihnen ein paar Geheimnisse zu entlocken, und umgekehrt, da zeigt sich mit einem Mal der freundliche Nächste als gefährliches Monstrum, da wandelt sich, ist man einmal unter Verdacht geraten, die sympathische Umwelt in ein System von Verfolgungsinstanzen und gnadenlosen Jagdinstinkten, da erweist sich gerade der, den die Freundschaft in eine Gruppe aufgenommen hat, als Verräter etc. Gefühle sind ein gefährliches Terrain.

Kinderspiele

In jedem Spiel steckt der Thrill als Anreiz, das freiwillige Eintauchen in eine Situation der Gefahr. Man verzichtet auf gewohnte Sicherheit, lässt sich die Augen verbinden wie im «Blindekuh-Spiel», wird zum Gejagten oder Gesuchten, man muss einem «schwarzen Mann» entkommen. Wie auch in vielen Sportarten gibt es ein Zusammenspiel von dem Erreichen und Verbleiben in einer bestimmten Sicherheitszone, einer Art geschütztem Zuhause, dem «Mal», in dem man nicht angegriffen werden kann, und andererseits dem Drang (oder sogar einer den Regeln entsprechenden Pflicht), dieses «Zuhause» zu verlassen, um sich der Gefahr auszusetzen, zugleich aber auch die Chance zu gewinnen zu erhalten bzw. andere am Erreichen ihres Ziels zu hindern. Auch Brettspiele wie «Mensch ärger’ dich nicht», «Fang den Hut» oder «Hindernisrennen», die in keiner Spielesammlung fehlen, funktionieren nach diesem Prinzip.

Man verlässt den sicheren, befriedeten Raum, um draußen den Gegnern gegenüberzutreten, wobei ständig die Fronten wechseln, und indem man sich mit ihnen misst, erringt man seine Identität, eine neue Form der Sicherheit mit jedem Sieg. Man kann Kinder beobachten, die kaum einmal sich von ihrem gespielten «Zuhause» fort wagen, aufgeregt einen Schritt tun, wenn es sich gar nicht vermeiden lässt, um dann sofort wieder zurückzuspringen. Andere Kinder setzen sich permanent aus, finden ihr größtes Vergnügen in der Gefahrensituation und zeigen deutlich Unmutszeichen, wenn auch nur Augenblicke lang «nichts los» ist. Es lassen sich hier wohl zwei extreme Typen definieren: einer, der die Gefahr sucht, und einer, der sie meidet. Das ist viel weniger das Problem des Flüchtens oder Standhaltens, keine Unterscheidung von Mut und Tapferkeit, gar von Männlichkeit und Weiblichkeit; es handelt sich viel eher um eine Eichung auf den Thrill: Eine Reihe von Sozialisierungsmechanismen kommen zusammen, um einem Menschen die Erfahrung des Unbekannten als lohnende und lustvolle Sache erscheinen zu lassen oder nicht. Im Thrill liegt nicht nur die Begegnung mit der Gefahr, sondern auch die mit dem Fremden und vor allem mit dem Unerwarteten. Wer sich diesen Kinderspielen aussetzt, muss mit allem möglichen rechnen, sogar damit, dass ihm der Rückweg versperrt wird.

Nicht selten sind die Helden von Thrillern gerade Menschen, die eigentlich nicht der Kategorie der Gefahrsuchenden angehören, sondern eher biedere Charaktere, die sich in der Sicherheit einer durch und durch bürgerlichen Existenz ganz bei sich fühlen. Oder doch nicht. Eine geheime Sehnsucht nach dem Abenteuer und der Fremdheit mag sie leiten, und weil sie zum Schritt in die Gefahr von allein nicht imstande sind, geraten sie durch Zufall in einen Abgrund der Gefahr, aus dem sie nur als gewandelte Menschen wieder hervorkommen können. In der Gefahr begegnet man anderen möglichen Liebespartnern, als das je in der Sicherheit der Fall gewesen wäre, und man begegnet ihnen anders. Das ist die Lust im Thrill, dass mit der Sicherheit auch die moralische, soziale, erotische Fesselung verloren geht. Unter der Bedrohung des «schwarzen Mannes» verlieren die Konventionen ihre Gültigkeit.

Das Erwartete und das Unerwartete in eine Balance zu bringen, scheint das Wesen aller Spiele zu sein. Es ist auch das Wesen aller Geschichten, die von fragwürdig gewordener Identität handeln. Im Thrill steckt dabei allerdings auch die mögliche Belohnung der Angst: Nach der intensiven Selbsterfahrung erreicht man, vielleicht analog einer «Läuterung», eine neue Stufe des Selbstwertes. Es liegt hier eine gewisse Kongruenz von erotischem und religiösem Thrill. Die Angst verbindet den Wunsch nach Liebe mit der Metaphysik, oder, anders ausgedrückt: im Thrill gibt es immer einen erotischen und einen metaphysischen Aspekt. Der «schwarze Mann» im Spiel ist nur ein anderes Kind, das einen mit einem Schlag auf den Rücken aus dem Spiel wirft, und er ist doch viel mehr: der Teufel möglicherweise.

Jedes Spiel entspricht einer Tradition, der Übermittlung von Regeln. Und doch ist wohl letztlich nur der in der Lage zu obsiegen, der diese Tradition zu durchbrechen, zumindest listenreich zu umgehen versteht. Wer sich stur an die Regeln hält, kann, wenn er nicht überdurchschnittlich stark oder schnell ist, gleich im «Mal» bleiben oder sich freiwillig fangen lassen. Wer andererseits die Regeln gewaltsam bricht, wird das Spiel zerstören oder von den anderen eliminiert. Aber wer schöpferisch mit den Regeln umgeht, ihnen Weiterungen, Variationen, Deutungsmöglichkeiten abtrotzt, die Gewohnheit durchbricht, die sich mit der Tradition gebildet hat, hat gute Aussichten. Die Gefahr im Thriller zwingt die Protagonisten nicht nur dazu, sich gegen die Konventionen zu verhalten, über sich selbst hinauszuwachsen, sie fordert auch einen Zuwachs an Freiheit. Es gilt, einen Weg zu finden, den vor einem noch niemand gegangen ist, freudig am Anfang, dann, wenn man zu weit gegangen oder gelockt worden ist, umzukehren, mit dem Mut der Verzweiflung. Jedes Spiel, jeder Thrill hat mit dem Umgang mit der Tradition und mit den Regeln zu tun; so wie man sich bei den Jahrmarktvergnügungen die Vernünftigkeit der Sinne in Frage stellen lässt, so lässt man sich hier auf ein Duell mit den Regeln ein, die erst das Fortkommen, dann das Überleben (im Spiel) hindern. Man versteht, warum es derselbe Mensch ist, dem jedes Spielen (anscheinend) zuwider ist, und der Geschichten mit einem Thrill-Effekt für eine großen, fast persönlich beleidigenden Unfug hält.

Ohne ein großes Maß an Schuldgefühlen ist man hierzulande nicht bereit, einen Menschen ins Leben zu lassen, und um mit diesen Schuldgefühlen fertig zu werden, hat man zwei grundsätzliche Strategien zugelassen: sich ans Objekt (an die Tradition, die Vernunft, die Regel, den Partner, die Heimat etc.) zu klammern, oder vor dem Objekt zu fliehen, die Thrill seeking Personality zu entwickeln, die scheinbar der Prototyp unserer Gesellschaft ist, in Wahrheit jedoch nur der große Mythos einer Gemeinschaft, die Angst und Lust so voneinander getrennt hat, dass sich beide Empfindungen eher gegenseitig negieren als bedingen.

Es gibt im Alltagsleben kaum Thrill. Auch in dem, was man Karriere nennt und das neben Liebe, Verbrechen und Politik das Gefährlichste ist, was das Alltagsleben zu bieten hat, ist Angst und Lust bis zur Krankheit voneinander geschieden. (Krankheit ließe sich als Angst interpretieren, in der kein Platz für die Lust mehr ist, so ist etwa die Angst vor der Krankheit eine jener Ängste, die sich nicht mehr im Thrill aufheben lassen; sie lässt sich mit keiner Lustkomponente mehr koppeln.) Man verspürt entweder Angst oder Lust, um in der Freiheit verzweifelt zu versuchen, beides wieder zusammenzubekommen, im Spiel oder in der Unterhaltung. Im Thriller ist Lust und Angst wieder so verbunden, dass beides gemeinsam zu einem Motiv für die Bewegung nach vorn, für Ausbruch oder Aufbruch wird. Der «schwarze Mann» wird hier zum Prüfstein dafür, wie viel Liebe in der Begierde steckt, und erweist umgekehrt, wie viel Begierde die Liebe braucht. Es ist zwar scheußlich in der Hölle, aber man sollte einmal da gewesen sein.

Gefährliche Wandlungen

In unseren Gesellschaften gilt es als ausgemacht, dass die Bildung der Persönlichkeit abgeschlossen ist, wenn das Stadium der Kindheit durchlaufen ist. Erwachsensein ist gleichbedeutend mit dem inneren und äußeren Befehl, sich ab nun nicht mehr grundsätzlich zu ändern, sondern seine Anlagen zu entwickeln, eine Karriere zu machen, die auf den erworbenen Fähigkeiten aufbaut. Das begabte Kind wird zum Wissenschaftler oder Künstler, das gestörte Kind zum Verbrecher etc. So tief in uns sitzt dieses Urteil, dass es kaum einen wissenschaftlichen Ansatz gibt, der eine Identitätswandlung woanders als beim Kind oder beim Geistesgestörten annimmt. Ein «Erwachsener», der seine Meinung ändert, sein Erscheinungsbild oder seinen sozialen Status, aus sich selbst heraus und nicht im Sinne der Anpassung an den Zeitgeist, gilt als charakterlos und bringt alles durcheinander. Doch trotz der «Unmöglichkeit» dieser Vorstellung existiert sie als Traum und Mythos in allen großen Geschichten.

Die Wissenschaft hilft uns, hier zur Erträglichkeit des Schicksals sozialer, psychischer Prädestination einen Fatalismus zu entwickeln, der sich noch als Erkenntnis tarnen kann. Man braucht gar nicht auf die Vaterfigur der Psychoanalyse, Sigmund Freud, zurückzukehren; selbst ein so «modern» denkender Psychologe wie Erik Erikson beschränkt seinen Begriff von menschlicher Entwicklung auf die Kindheit bis zum Übergang ins Erwachsenenalter. Wenn wir glauben, dass es im Menschen sozusagen «drinsteckt», dass er sich nur im Vorerwachsensein entwickelt und dass alles, was sich später ereignet, bloße Variation der in dieser Zeit erworbenen Beziehungen zur Umwelt sei, erlaubt sich kaum die Frage, ob denn eine Wandlung der Identität, wäre sie uns möglich, überhaupt gestattet sei. Besser lebt es sich mit dem Gefühl, jede Wandlung ließe sich nach intensiver Betrachtung sowieso als Illusion entlarven. «Es gibt», hat Mel Brooks gesagt, «nur eine todsichere Möglichkeit, über Nacht seine Persönlichkeit radikal zu verändern, nämlich indem man am Morgen nicht mehr aufwacht.»

Aber es muss da ein Rest der Unbehaglichkeit über die starre Gesetzmäßigkeit eines Entwicklungsprozesses bleiben, der klar gegliedert nach Beginn, Mitte und Ende zu sein hat. Das ist das Bild vom Marathonläufer, der einmal startet und sich langsam, Schritt um Schritt, seinem Ziel nähert, oder das Bild vom Radrennfahrer, der Runde um Runde zurücklegt, bis die Zeit für das Rennen abgelaufen ist. Das Erreichen des Ziels, das vorgegeben ist und eine möglichst gute Position im Feld der Konkurrenten, die von objektiv messbaren Normen bestimmt ist, definieren die Bewegung. Persönlicher Fortschritt ist nichts anderes als die Annäherung an das Ziel. Stehenbleiben, gar in eine andere Richtung sich zu bewegen, wäre eine grobe Fehlhaltung und hätte Verwarnung oder Disqualifikation zur Folge.

Diese gebräuchliche Metapher vom individuellen Schicksal als Wettlauf setzt die Entwicklung gleich mit der Erfüllung einer Aufgabe. Eine andere Deutung der Entwicklung interpretiert sie als Variation mit einem vorgegebenen Material, etwa so, wie man einen Stein unbehauen als Findling lassen oder ihn polieren, bemalen, zerstören, in eine andere Form bringen kann, dabei doch aber immer den gleichen Stein vor sich haben wird. Das individuelle Schicksal wird hier also metaphorisch als «Veredlungsprozess» eines vorgegebenen Rohstoffs dargestellt, bei dem sozusagen ein ästhetischer oder produktiver Mehrwert für die Gesellschaft abfällt.

Beide in der Psychologie und Psychiatrie verwendeten Modelle der menschlichen Entwicklung gestatten es, der Gesellschaft und ihren Instanzen feste Normen zur Beurteilung des Individuums in die Hand zu geben, abweichendes Verhalten als «Rückschritte», «Fehlentwicklungen» etc. zu normieren. Kurzum, die Bahn eines Menschen ist in gewissem Grade vorgeschrieben, keiner soll glücklich werden, der gegen seine Bestimmung lebt, so will es auch die populäre Mythologie. Über solch eine Determination funktionieren alle sozialen Herrschaftsmodelle. Daher ist auch das Lernen auf diese Weise angelegt als eine stufenweise Aneignung von Terminologie und Klassifikation, die jeweils eine Rückkehr zur vorherigen Stufe unmöglich macht, zugleich nach oben, wie eine Pyramide, das Weltverständnis enger macht. Hat man einmal zum Beispiel die Klassifikation von Zahlen angenommen, so «kann man nicht mehr zurück», kann seine Umwelt nicht mehr anders als in der vergleichenden Quantität einordnen. Nur ein Irrer oder ein Wilder, denken wir, könnte anders als in Zahlen denken.

Die Determination unseres individuellen Schicksals regelt sich also über die Abfolge bestimmter normierender Point of No Return. Dies sind zum Teil institutionalisierte Prüfungen, zum Teil selbstauferlegte Proben des Könnens, zum Teil aber auch nichts anderes als Internalisierungen von Denk- und Verhaltensvorschriften. Sie mögen von einem Wechsel der Umgebung, der Mitmenschen, der Anforderungen von Institutionen begleitet sein, aber die meisten «Wendepunkte» in unserem Leben sind vorgegeben; man hat sie erwartet wie eine jährliche Abschlussprüfung, und man hat sich, so gut man es versteht, darauf vorbereitet.

Sicher gehört zu jeder Prüfungssituation, so sie einen wirklichen Wendepunkt bedeutet, ein starkes Element von Thrill: Die Lust am eigenen Fortschritt verbindet sich mit der Angst, der Prüfung nicht gewachsen zu sein, beziehungsweise nach dem Point of No Return auf gewohnte Sicherheiten verzichten zu müssen. Jeder Fortschritt bedeutet zunächst einen Zuwachs an Einsamkeit, und wird man ihr gewachsen sein? Je mehr allerdings die Abfolge der Prüfungen in eine verbindliche Planung eingeschrieben ist, desto mehr verliert der vorgebliche Wendepunkt an Aussicht auf Gewinn von Selbstbewusstsein und Erfolg. Denn zum einen erlaubt die Planung mehr und mehr nur noch ein Antreten zu Prüfungen, bei denen die Aussicht zu bestehen hoch ist (schon wegen der Einsparung gesellschaftlicher Produktivkräfte), zum anderen erhöht die erzwungene Vorbereitung den Zwang zum positiven Abschluss. Die Ökonomie bestimmt die Art der «Wendepunkte» im Leben des Einzelnen, und ökonomische Vorteile sind es, die sie in Aussicht stellen. Die daraus abzuleitende negative Utopie wäre eine Abfolge von Prüfungen, deren Bestehen kaum Erfolg und Ruhm einbringt, deren Nichtbestehen aber übermäßige Schande und Misserfolg bedeutete. Tendenziell ist dieser Vorgang in allen unseren sozialen Prüfungssituationen und in den bei uns möglichen Karrieren zu diagnostizieren: Dem Thrill als Motivation für den persönlichen Fortschritt wird die Grundlage für die Lust entzogen, und die Angst in ihm wird übermächtig. Ist es für das Wohlbefinden einer einzelnen Person entscheidend, dass in ihrem Movens Lust und Angst zumindest zu gleichen Teilen balanciert sind, so profitiert im Gegensatz dazu eine jede Gesellschaftsform vom Überhandnehmen der Angst.

Mit anderen Worten: Dem gesellschaftlichen Teil des Lebens wird weitgehend der Thrill entzogen; die Einheit von Lust und Angst wird gesprengt, indem die Angst dem sozialen, die Lust einem (mehr oder weniger imaginären) «privaten» Bereich zugeordnet wird. Und beides wäre nur noch im Mythos zusammenzubringen.

Die Metamorphosen, die ein Mensch im Laufe seiner gesellschaftlichen Entwicklung durchmachen muss, sind also zu einem großen Teil vorgegeben und gefordert, kaum kommt es einmal dazu, dass man sich ausprobiert, man wird ausprobiert. Dagegen zu protestieren ist eine Verweigerung, die nur mit einer radikalen, gefährlichen Wandlung der Identität zu bewerkstelligen wäre, für die es kein Modell gibt. Um so größer mag demjenigen, der sich nicht mit der Abschaffung des Thrill abfinden mag, die Hoffnung auf den Zufall erscheinen, der in einer Situation unerwarteter Bewährung eine «Transformation» nicht vorhersehbarer Qualität ermöglichen könnte.

«Ein transformierender Zwischenfall sehr subtiler Art ist es, wenn man eine seltsame, aber wichtige Rolle gespielt und unerwartet gut gemeistert hat. Ob man Bewunderung oder Verachtung für diese Rolle empfand, ist dabei nicht von Bedeutung. Der springende Punkt ist, dass man sie nie glaubte spielen zu können, niemals dieses potenzielle ‹Ich› in sich selbst erwartet hätte. Sofern man seine Darbietungen nicht als ‹Nicht-Ich› oder durch Einflüsse außerhalb der eigenen Kontrolle motiviert abtun kann, trägt man die Verantwortung für sie oder garantiert für ihre Glaubwürdigkeit. Verächtliche oder heroische Rollen sind gleichermaßen geeignet, eine unerwartete Neuorientierung der Selbstachtung zu veranlassen. Aber verbreiteter und subtiler sind jene Zwischenfälle, in denen einem wie durch ein Wunder die Ausführung von Rollen gelingt, die man – zumindest bis jetzt – für unerreichbar hielt.» (Anselm Strauss)

So eine «seltsame, aber wichtige Rolle» spielen sehr viele Thriller-Helden, die durch Zufall oder unbewusstes Verlangen in gefährliche Situationen geraten sind, und mag dies auch nicht überall so deutlich sein wie bei einer Reihe von Figuren aus Filmen Alfred Hitchcocks, dieser erzwungene/ersehnte Rollentausch, diese gegen die Determination gerichtete Wandlung, die einem niemand verbieten kann, weil sie ja ohne eigenes Verschulden und gar zum eigenen Entsetzen erfahren wird, geadelt durch Gefahr und Verzweiflung und Einsamkeit, ist ein Kern des Genres. Und mit diesem Abenteuer in der seltsamen, aber wichtigen Rolle geht die Auslotung der eigenen Moral einher, die sich frei von den Konventionen und Geboten des Alltags entwickeln kann. Die beglückende Erfahrung dabei mag sein, dass man viel «besser» sein kann, als man erwartet hat, und noch mehr, dass man viel «schlechter» sein kann.

So erscheint es also als notwendig, zur Rückgewinnung des Thrill und damit zur neuen Schaffung von Möglichkeiten der Selbsterfahrung Masken anzulegen, Rollen anzunehmen, die nicht der eigenen Alltagspersönlichkeit entsprechen. Da die eigene Existenz zunehmend fremdbestimmt ist, eigenes nur noch insofern repräsentiert ist, als dass man am eigenen Leib erfüllen muss, was einem zugetragen wird, ist das Aneignen einer fremden Existenz der einzige Weg zu sich selbst geworden. Natürlich ist dieser Vorgang, aus seiner Person sozusagen herauszutreten, zugleich auch einer der stringentesten Tabubrüche – gestattet nur in Formen, die fest im Griff sind: im Karneval und im Kino. Dieses Paradox ist der einzige denkbare Weg, gegen das in Bahnen oder Varianten festgeschriebene Gefängnis der «Entwicklung» zu protestieren. Um eine wirkliche «Transformation» zu erreichen, muss allerdings dabei die Grenze zwischen gesellschaftlich sanktioniertem Rollenspiel und wirklichem Rollentausch erfahren und überschritten werden. Ein guter Thriller macht diesen Übergang zu einem Wesenselement seiner Spannung.

Der größte vorstellbare Thrill ist es, seine Identität zu verlieren; er verbindet die größte Angst vor völliger Auflösung und die große Lust bei der Erfahrung einer Neugeburt. Thriller sind also in ihrem Kern Proteste gegen die Fremdbestimmung des Menschen und eine geträumte Flucht über Lust und Angst in neue Rollen. Den Geheimagenten in den besseren Beispielen des Genres bewundert man nicht so sehr wegen seines patriotischen Auftrags oder gar wie einen Westerner, sondern gerade wegen seiner Ungreifbarkeit, der Flüchtigkeit seiner Erscheinungsformen und dem ständigen Rollenwechsel. Die Big Caper-Motive zeigen die konzentrierteste Verbindung von Lust und Angst in der verbotenen Tat; der unheimliche Mörder zerstört die Alltäglichkeit des Lebens und ist zugleich das schreckliche Beispiel einer fehlgelaufenen Wandlung; vom Ausbrechen handeln im ganz direkten Sinn viele Gefängnisfilme und im übertragenen Sinne viele Filme, in denen sich jemand auf eine Aufgabe einlässt, die ihm eigentlich ein wenig zu groß erscheint.

Der Held eines Western tut genau das, wozu er in der Lage und wozu er bestimmt ist; er ist in seinen Aktionen, in denen er den Gegensatz zwischen Denken und Handeln aufhebt, ganz bei sich. Beim Helden des Thrillers besteht fast immer ein Missverhältnis zwischen dem, was er tut beziehungsweise zu tun gezwungen ist, und dem, wozu er bestimmt zu sein scheint, und es besteht ein Widerspruch zwischen Denken und Handeln. Daher muss, so oder so, der Held eines Thrillers sich ändern, zumindest muss er schließlich einer Realität ins Auge sehen, die er in seinem bisherigen Leben leicht hat verdrängen können. Wenn zum Beispiel in einem Film, in dem unter einer kleinen Gruppe von Menschen einer ist, der die anderen durch Mord bedroht, am Ende die Wahrheit herausgekommen ist, kann wohl der Held oder die Heldin nie wieder so sein, wie er oder sie zuvor gewesen ist. Jeder Thriller gestattet einen Einblick in die Abgründe des menschlichen Verhaltens, ist eine Begegnung des Helden mit dem Bösen.