Hans Drawe

Die Verführung

Novelle

Diese Novelle ist eine Fiktion.

Ähnlichkeiten mit lebenden Personen wären rein zufällig.

Copyright: © 2018 Hans Drawe

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Hans Drawe schrieb Drehbücher für Spiel- und Fernsehfilme, mehrere Hörspiele und die Romane Kopfstand (Hoffmann & Campe) und Griebnitzsee. Außerdem den Lyrikband Seelengesichter und die Theaterstücke: Der Englische Pass, Der Serienschreiber und Der Gang vor die Hunde (nach Kästner), die in Ingolstadt, Düsseldorf und Berlin unter der Regie von Horst Ruprecht aufgeführt wurden. Für den Englischen Pass erhielt er den Preis der Bayrischen Theatertage, für das Drehbuch Ein Mädchen aus zweiter Hand den Bundesfilmförderungspreis. In seiner Tätigkeit als Hörspielregisseur am Hessischen Rundfunk inszenierte er diverse Hörspiele, Hörbücher und Features. Hörbuch des Jahres 2000 für Wasserzeichen der Poesie (Regie) und den Deutschen Hörbuchpreis (Regie) für König der Könige von Ryszard Kapuscinsky.

Um sich an ihrem untreuen Ehemann, dem geschätzten und gut vernetzten Stasi-Offizier Gottfried Badinsky zu rächen, verführt die Unterstufenlehrerin Aimée Badinsky ihren siebzehnjährigen Praktikanten Stefan Kopmann. Stefan, der seine Kommilitonin Melanie liebt, aber von der Beurteilung Aimées abhängig ist, gerät in eine moralische Zwickmühle, als aus der sexuellen Begegnung mit seiner Mentorin Liebe entsteht. Auf dem Höhepunkt der Geschichte, der Feier zum Tag der Befreiung, geraten der betrunkene Badinsky und Stefan aneinander. Es ist ein Kampf wie zwischen David und Goliath, bei dem diesmal der Mächtigere gewinnt, da er die Moral unbeschadet außer Kraft setzen kann.

Nach vielen Jahren träumte ich gestern erneut von den beiden Schüssen und sah Gottfried mit schreckhaft aufgerissenen Augen und aufgedunsenem Gesicht am erleuchteten Schlafzimmerfenster gestikulieren. In blauem Nebel schwebte ein Zinksarg auf den Schultern schwarzgekleideter Männer opernhaft an mir vorüber. Aimée, Aimée, rief ich mit krächzender Stimme. Doch keiner der Männer hörte mich. Auch mein blutiges Hemd bemerkte niemand, das ich mir verzweifelt vom Leib zu reißen versuchte. Ich bedrohte Gottfried mit einer Wasserpistole und schrie: Du hast sie umgebracht. Dunkelheit. Ein Schuss krachte, und ich erwachte schweißgebadet.

Diese Geschichte hatte sich bei meinem Lehrerpraktikum vor einem halben Jahrhundert ereignet und war in all den Jahren allmählich in meinem Bewusstsein versickert. Durch den Traum ist sie wieder gegenwärtig. Aimée Badinsky! Der Name klingt wie eine Beschwörung. Ich sehe sie auf ihrem scheppernden, rostigen Fahrrad, einem Strohhut mit blauem Band, das im Wind flatterte, und dem Batikrock mit den tellergroßen hellblauen Blumen auf dunkelblauem Stoff. Oder: Aimée mit schwarzem Borsalino, einer engen schwarzen Hose, einen Stumpen rauchend und meine schweißfeuchten Bizepse betastend.

Heute frage ich mich, warum ich diese Geschichte nicht schon früher aufgeschrieben habe. Aus Scham? Oder weil ich nicht glaubte, die damaligen Verhältnisse objektiv beurteilen zu können? Weil sich im Westen niemand für eine Story aus der „Zone“ interessierte? Ich weiß es nicht. Andererseits ist es müßig, den Gründen nachforschen zu wollen. Mitunter schlummern Geschichten jahrelang in uns, erwachen und fordern, aufgeschrieben zu werden. „Alles hat seine Zeit“, behauptet Koheleth, und so ist es wohl auch mit dieser Geschichte, die mein Leben veränderte. Ja, sage ich mir, jetzt ist genau der richtige Zeitpunkt!

***

Ich erinnere mich an blühende Apfelplantagen, Fichten, Laubbäume, Wiesen, wiederkäuende Kühe und grasende Pferde, als Helbi und ich Mitte April 1960 in einem Bummelzug vom Lehrerbildungsinstitut in Kobig zur Insel Heiligenpfort gefahren waren, die sich in der Nähe der Kleinstadt Fahrenhorst befand, in der wir ein Jahr zuvor mit zwei anderen Kommilitonen unser Praktikum in einer dritten Klasse absolviert hatten. Auf der Insel sollten wir pädagogische Erfahrungen in einer Dorfschule sammeln, in der Kinder von der ersten bis zur vierten Klasse in einem Raum unterrichtet wurden. Helbi und ich waren damals siebzehn Jahre alt. Erst nach der Lehrerprüfung wurden wir Achtzehn und sollten unsere Lehrerstellen in einem Dorf oder einer Stadt zugewiesen bekommen. Helbi schien es egal zu sein, wo man ihn einsetzen würde, mir nicht. Ich wollte unbedingt in eine Stadt, am besten nach Berlin, doch das war aussichtslos. Dennoch war ich stolz, in ein paar Monaten als Lehrer arbeiten zu dürfen und mich selbst ernähren zu können.

***

Bevor ich mit der eigentlichen Geschichte beginne, möchte ich meinen Kommilitonen Helbi vorstellen. Er galt als begabt, charmant, war ein Ass in Mathematik und Physik und mit pädagogischem Geschick gesegnet. Kurz: der geborene Lehrer. Ohne ihn hätte ich die Mathematikprüfung im zweiten Kurs nie bestanden und wäre aller Wahrscheinlichkeit nach vom Institut geflogen.

Helbi war mit zwei älteren Schwestern aufgewachsen und hatte ein offeneres und entspannteres Verhältnis zu Mädchen als ich, einem Einzelkind. Mädchen erschienen mir damals als geheimnisvolle Wesen und schüchterten mich ein. In ihrer Gegenwart lief ich rot an und stotterte. Ein Mädchen musste mich ansprechen, wenn es Interesse an mir hatte.

Mit richtigem Namen hieß Helbi Helmut Binder. Er war einen halben Kopf größer als ich. Er bürstete sein braunes glänzendes Haar oft minutenlang vor dem Spiegel, hatte träumerische braune Augen und ein lustiges Schnurrbärtchen, um das ich ihn beneidete. Bei Filmen ab achtzehn winkten ihn die Kartenabreißerinnern ohne nach seinem Ausweis zu fragen durch.

Im Institut begegnete ich ihm nur während des Unterrichts oder im Waschraum, wenn wir für den Tanzabend in der Aula die Sakkos oder Schlipse tauschten, und bei den Mahlzeiten, da er sich meistens in der Wetterstation aufhielt oder mit irgendwelchen Mädchen poussierte. Und natürlich an den Heimfahrtstagen, wenn wir im selben Zug fuhren. Helbi wohnte nur zwanzig Kilometer entfernt in Gögern, ich in Borde. Bei den Rückfahrten stiegen wir oft am S-Bahnhof Bellevue aus, was uns von der Institutsleitung verboten war und Helbis Vater, einem hundertfünfzigprozentigen Parteigenossen, nicht zu Ohren kommen durfte. An der Imbissbude kauften wir uns eine Zigarette (damals möglich) und eine Cola und betrachteten beim Rauchen staunend die grell und reißerisch aufgemachten Illustrierten und die Werbung für Bier und Cola, Theater und Kino. Schon damals schien es uns unvorstellbar, dass diese bunte Welt dem Untergang geweiht sein sollte, wie wir im Philosophieunterricht gelernt hatten. Vor allem, wenn wir anschließend durch die dunklen und schäbigen S–Bahn-Stationen von Ost-Berlin fuhren.

***

Am Bahnhof Fahrenhorst ergatterten wir ein Taxi bis zur Anlegestelle der Fähre. Die Sonne strahlte. Für die Jahreszeit war es ungewöhnlich warm. Wir schwitzten, rissen uns die Pullover vom Leib und knöpften uns das Hemd auf. Unsere Koffer hingen bleischwer an den Händen, da sie diverse pädagogische Wälzer enthielten. Außerdem hatte ich meinen Punchingball zu schleppen, den mir unser Trainer für meine Trainingseinheiten mitgegeben hatte. Auch der Fährmann wischte sich mit einem ölverschmutzten Taschentuch den Schweiß von der Stirn, obwohl er nur ein Unterhemd trug. Auf seinem linken Unterarm prangte ein tätowierter Anker und auf dem rechten Oberarm ein roter Stern mit der Jahreszahl 1917.

Außer uns saßen nur wenige Fahrgäste auf der Fähre – ein Liebespaar, das die Köpfe aneinander gelehnt hatte und verträumt auf den See schaute, und zwei Familien mit Kindern, die herumtobten und uns neugierig beäugten.

„Seid ihr die Lehrerstudenten?“, fragte uns ein Mädchen mit schwarzen Zöpfen, in die rote Schleifen gebunden waren.

„Ja, das sind wir“, sagte Helbi und fügte lächelnd hinzu: „Was dagegen?“

Das Mädchen schüttelte den Kopf, lief zu seinen Eltern zurück und tuschelte mit ihnen. Beide sahen zu uns herüber und musterten uns.

Am linken Ufer der Insel reihten sich ein paar neuerbaute Datschen der Parteifunktionäre des Kreises aneinander, weiter im Norden duckten sich zwei gut erhaltene Gründerzeitvillen unter knorrige Eichen, und auf der rechten Seite, oberhalb der Fischfabrik, schmiegten sich die Katen der Fischer und Arbeiter an das steinige Ufer des Sees. Hinter dem Sportplatz entdeckten wir die Schule, ein von drei hundertjährigen Kastanien beschattetes zweistöckiges Gebäude aus Backstein.

***

Aimée hatte fünf Jahre vor uns am Institut für Lehrerbildung studiert und als Einzige ihres Jahrgangs mit Eins abgeschlossen. „Da kommt ihr in sehr gute Hände“, hatte uns unser Klassenlehrer Rühmer mit auf den Weg gegeben, der sie in Pädagogik und Psychologie unterrichtet hatte.

Gewundert hatte uns ihr französischer Vor- und polnischer Nachname.

Vereinbart war, dass sie uns von der Fähre abholen sollte. Doch der gepflasterte Platz an der Anlegestelle gähnte verlassen in der Mittagshitze. Lediglich ein lahmer Hund bewegte sich gemächlich mit heraushängender Zunge auf die Datschen der Funktionäre zu.

„Seid ihr die Lehrerstudenten?“, rief der Fährmann, als wir die Fähre verließen.

„Ja“, sagte Helbi.

„Sie wohnt da oben in der gelben Villa hinter den Datschen.“

Das Abfahrtssignal der Fähre hallte über den See.

Auf der Insel war kein Fahrgast zugestiegen.

„Das Beste ist, wir gehn schon mal vor“, meinte Helbi. „Irgendwann muss sie ja auftauchen.“

Am Tor der Fischfabrik winkte uns ein einarmiger Mann in buntem Hemd zu. „Ihr seid bestimmt die Lehrerstudenten! Demnächst komm ich mal bei euch vorbei. Ich bin der Parteisekretär vom Fischkombinat.“

„Schön“, rief Helbi und grinste.

Der Weg zur Schule schlängelte sich an Katen vorbei. Vor einigen hockten ältere, schwarzgekleidete Frauen und musterten uns.

„Gefällt mir hier“, sagte Helbi. „Da bräuchten wir nur noch einen Kahn.“

Vor der Schule stellten wir unsere Koffer ab und warfen durch das Fenster einen Blick auf die ramponierten hellbraunen Bänke und Tische im Klassenraum. Vier Wochen Unterricht in dieser Trostlosigkeit, dachte ich. Vier Wochen abgeschnitten von der Welt. Vier Wochen ohne Melanie!

Von einer ausgebleichten Holzbank beobachteten wir die Anlegestelle und die Industrieschornsteine von Fahrenhorst.

Helbi rauchte. „Wo sie nur bleibt?“

Ich rauchte damals nicht mehr, da ich in Kobig einer Boxstaffel beigetreten war, die am 1. Mai zum ersten Mal öffentlich kämpfte.

Als Helbi seine Zigarette austrat, fiel uns eine junge, zarte Frau Mitte zwanzig auf, die mit einem Fahrrad über den unteren Uferweg zu uns herauf radelte. Sie hielt ihren Hut mit der linken Hand fest und hatte Mühe, den Berg zu bezwingen. Vor der Schule lehnte sie ihr Rad an eine der Kastanien und sagte keuchend: „Entschuldigt, Jugendfreunde. Ich hab verschlafen. Ohne Nachmittagsschlaf bin ich nur ein halber Mensch.“ Sie lachte und nieste. „Diese blöde Allergie“, rief sie, putzte sich mit einem Spitzentaschentuch die Nase und steckte es hinter einen breiten schwarzen Gummigürtel. „Hatten Sie eine gute Reise?“, fragte sie, wartete unsere Antwort aber gar nicht ab und sperrte die Schultür auf. „Vorsicht, wackeliges Geländer“, warnte sie uns von der Treppe aus, die zum Dachgeschoss führte.

Helbi und ich hatten Schwierigkeiten, die Koffer über die schmale Treppe ins Zimmer zu hieven und das Geländer nicht zu berühren. Außerdem war mir mein Punchingball im Weg.

Aimée schaute uns belustigt von der oberen Plattform zu.

„Was haben Sie denn da?“, fragte sie mich und wies auf den Punchingball.

„Einen Punchingball.“

Ihre Augenbrauen hoben sich erstaunt.

„Zum Trainieren. Boxen.“

„Oh!“ Sie drehte sich mit einer ausholenden Geste um ihre eigene Achse und sagte: „Ihr Reich. Kein Schloss, aber das haben Sie ja sicher nicht erwartet.“

An der linken und rechten Wand standen zwei Betten aus Nussbaum mit gedrechselten Säulchen an Kopf- und Fußenden und passende hüfthohe Nachttische mit Auflageplatten aus Marmorimitat. Auf den gelben zylinderförmigen Kunststoffschirmen der Nachttischlampen flogen bei angeschaltetem Licht verschiedenfarbige Schmetterlinge auf.

„Zu Mittag können Sie, außer sonntags, kostenlos in der Genossenschaft essen. Um das Frühstück und Abendbrot müssen Sie sich selber kümmern“, sagte Aimée. „Für das heutige Abendessen empfehle ich das Seehotel. Spezialität Bratkartoffeln mit Sülze und spreewälder Gurken.“

Sie nieste wieder in ihr Taschentuch. „Also dann, bis morgen. 8 Uhr.“

***

Wir packten unsere Koffer aus und richteten uns ein.

„Und? Wie findest du sie?“, fragte Helbi, nachdem wir uns auf die knarrenden Betten geworfen hatten. „Sie bewegt sich wie eine Katze. Ihr Körper ist ein einziges Lauern“, meinte er nachdenklich.

„Lauern? Worauf?“, fragte ich erstaunt.

Helbi lächelte. „Worauf wohl?”

Die leidenschaftliche Frau sei ohnehin die hässliche, behauptete er nach einer längeren Pause. „Der Schönen musst du dauernd den Hof machen. Die Hässliche dagegen schmückt sich mit dir, um sich vor sich selbst zu bestätigen, und verzeiht dir, wenn du sie schlecht behandelst oder mieser Laune bist. Die Schöne hält sich für den Nabel der Welt und möchte ständig hofiert werden. Deshalb sind sie im Bett auch so langweilig.“

„Und die Kinokassiererin?“, fragte ich.

Alle am Institut wussten, dass er mit diesem Marina-Vlady-Typ eine kurze Liaison gehabt hatte, bevor sie sich in den Stadtcasanova Strelewski verliebte.

„Eine Ausnahme.“

„Eine Ausnahme?“

„Weil sie Nymphomanin ist.“

Das Wort Nymphomanin hatte ich noch nie gehört, wusste nur vom Literaturunterricht, dass es sich bei Nymphen um Naturgottheiten handelt und Manie, Besessenheit, Wahn, Wahnsinn bedeutet. Doch die Kassiererin schien mir weder wahnsinnig, noch besessen zu sein.

„Ich hab vor einigen Wochen auch noch nicht gewusst, was das ist“, sagte Helbi, der meinen fragenden Blick bemerkt hatte. „Die können von der Sache nie genug kriegen, verstehst du?“

„Ja?“

„Sieh im Lexikon nach.“ Er steckte sich eine Zigarette an, blies den Rauch in die Luft und sagte: „Das Tolle an älteren Weibern ist, dass sie keinen Schmu von wegen Liebe machen. Sie wollen einzig ihr Vergnügen und wissen genau, wenn es problemlos klappt.“

Das hätte ich auch gern gewusst, hakte aber nicht nach, da ich mir keine weitere Blöße geben wollte. Ich hatte noch nie mit einem Mädchen geschlafen. Damals gab es weder die Pille, noch Kondomautomaten; Sanex nur in Drogerien oder Apotheken, in denen ältere Frauen oder dickbäuchige Männer mit Glatze und Schnurrbart bedienten, denen ich mich niemals anvertraut hätte.

„Weißt du, was ich glaube? Dass sie unglücklich ist“, sagte Helbi. „Ein Mann, der eine Frau im richtigen Augenblick tröstet, hat die besten Chancen, sie herum zu kriegen.“

Ich starrte durch das Dachfenster in den wolkenlosen Himmel, wobei ich auf der schmalen Holzeinfassung ein Pfauenauge entdeckte, das vor Lebensfreude hektisch mit den Flügeln schlug. „Willst du sie denn rumkriegen?“, fragte ich.

„Mal sehen. Die ist auf jeden Fall scharf.“

Wenig später schnarchte er, und mir spukte die Nymphomanin im Kopf herum. Ich musste an die Kinokassiererin denken und spürte eine heftige Erregung. Ich wusste genau, in welchem Zimmer ihr Bett stand, da ich Helbi und ihr einmal nachgeschlichen war und meinen Freund in einem Fenster angezogen und kurz vor dem Löschen des Lichts in einem anderen nur im Unterhemd gesehen hatte.

Insgeheim wünschte ich mir, dass auch Melanie eine Nymphomanin wäre. Ich wollte endlich ein Mann sein und mit einer Frau geschlafen haben. Doch mehr als Küssen ließ sie nicht zu.

***

Am nächsten Morgen warteten wir gespannt vor dem Klassenzimmer. Einige Schüler spielten Fangen an den Kastanien und warfen uns neugierige Blicke zu. Über dem See schwebten schiefergraue Wolken, und von der Anlegestelle in Fahrenhorst hallte das Tuten der Fähre herüber. Mehrere Silbermöwen flogen vom Anlegeplatz Richtung Fischkombinat.

Aimée verließ die Bäckerei Habel und hastete die regennasse Straße zu uns herauf. „Was für ein scheußliches Wetter“, rief sie, als sie das Schulgebäude betrat. Kurz darauf unterrichtete sie Heimatkunde, Deutsch, Rechnen. Sie wirkte streng und fordernd, zu Beginn auch hektisch. Das übersichtlich gegliederte Tafelbild und das mit roter Kreide hervorgehobene Bildungs- und Erziehungsziel trugen entscheidend zum Unterrichtserfolg bei.

Helbi und ich saßen eingequetscht in der hinteren Bank und protokollierten den Unterrichtsverlauf. Da ich möglichst alles mitschreiben wollte, sah mein Schriftbild krakelig aus. Nur ich konnte lesen, was ich geschrieben hatte.

Nach Schulende bewerteten wir die Stunden im Klassenzimmer.

Zu meiner Überraschung rauchte Aimée einen Stumpen. Ihre Allergie schien abgeklungen zu sein. Ihr straff nach hinten gekämmtes dunkelblondes Haar hatte sie mit einem Gummiring zu einem Pferdeschwänzchen gebunden, wodurch sie wie eine Achtzehnjährige aussah. Erst jetzt bemerkte ich, dass ihre Augen im Licht von braun in ein dunkles Grün changierten. Ihre schmalen dunkelbraunen Augenbrauen wölbten sich über eine hohe leicht gebogene Stirn. Unter den Augen spannte sich die Haut über die Wangenknochen makellos bis zum spitzen Kinn und der feinen Nase, die ihrem Gesicht einen ironischen Ausdruck verliehen. Dazu im Gegensatz der Mund mit den leicht aufgeworfenen sinnlichen Lippen, der ein beunruhigendes Spannungsfeld schuf und den Betrachter irritierte.

Der Rauch des Stumpens ringelte bizarre Muster in die Luft und zerfaserte vor der Weltkarte, während sich Helbi bewundernd über die Stunden ausließ.

„Und Ihre Meinung, Jugendfreund Kopmann?“, fragte Aimée mit ironischem Unterton.

„Ich schließe mich meinem Vorredner an“, sagte ich großspurig. „Großartige Stunden.“

Aimée musterte mich kurz. „Keine eigene Meinung?“

„Besser als er kann ich es auch nicht sagen.“

„Dann werden Sie beim nächsten Mal den Anfang machen. Geben Sie mir bitte ihre Notizen. Ihre Schrift ist miserabel. Wie soll das erst mit dem Tafelbild werden? Das müssen Sie unbedingt üben. So geht das nicht. Sie schreiben mir heute Abend noch eine Seite in gestochener Schönschrift. Die sehe ich mir morgen an.“

Eine Seite Schönschrift! Ich kam mir wie ein Klippschüler vor.

***

Am Spätnachmittag verschwand die Sonne öfter hinter den Wolken. Ich zog meinen Trainingsanzug an und lief mit Bleigewichten um den Bauch am oberen Uferweg entlang, da ich für meinen Kampf eineinhalb Kilo abspecken musste, um im Bantamgewicht kämpfen zu können.