ROBERT SCHEER wurde 1973 in Carei, Rumänien geboren. Seine Muttersprache ist Ungarisch. 1985 emigrierte er mit seiner Familie nach Israel. Nach einer abgebrochenen Karriere als Rockmusiker studierte er Philosophie in Haifa und Tübingen. Seit 2003 lebt er in Tübingen. Weiteres zum Autor unter www.robertscheer.de
Von Robert Scheer erschienen bisher:
Der Duft des Sussita. Roman, Hanser Berlin
Pici. Sachbuch, Marta Press, Hamburg Matthäus-Passion. Ein humorvolles Roadmovie aus Israel.
Roman, Hamsa Verlag, BoD, Hamburg
Tacheles. Ein Freibad-Roman, KDP
Über dieses Buch:
Der Journalist Harry Löwe hat das Gefühl, alles zu verlieren. Er kann nicht mehr arbeiten und glaubt, auch nicht mehr lieben zu können.
Erst ein neuer Job als Handwerker hilft ihm aus seinem Tief heraus – und in ein neues Leben hinein. Ein Leben, das niemals frei von den Schatten der Vergangenheit ist, aber dennoch ein Gutes werden kann.
Bibliografische Informationen der
Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Bibliografische Daten im Internet über www.dnb.de abrufbar
Robert Scheer
Zweite Chance. Roman
© 2020 Robert Scheer
Alle Rechte vorbehalten
Satz: RapidSatz
Umschlag: BCover
Herstellung und Verlag: BoD - Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 978-3-75263-487-7
Für Sabine
Harry Löwe räusperte sich.
»Herzlichen Dank an die Jury für den Journalistenpreis. Ha! Unglaublich. Es gab Zeiten, in denen ich von diesem Preis geträumt habe.
Und dann wachte ich auf …
Ich wurde 1973 in Rumänien geboren. Mutter und Vater sind Donauschwaben. Wir stammen aus Siebenbürgen, dem nördlichen Teil Rumäniens, an der Grenze zu Ungarn. Die bekannteste Persönlichkeit meines Geburtslandes ist zweifellos Graf Dracula. Dicht gefolgt von Peter Maffay.
Siebenbürgen ist aber nicht nur Vampire – nicht nur Peter Maffay. Es ist mehr als das, viel mehr als das.
Die Landschaft meines Heimatlandes ist äußerst schön. Die wilden Karpaten Rumäniens sind heute noch Heimatort und Spielplatz der allergrößten europäischen Einwohnerschaft von Großraubtieren: Wölfen, Luchsen, Marderhunden, Goldschakalen und Braunbären. Es gibt zahlreiche Gämsen, Dachse, Füchse, Wildkatzen, Edelmarder, Wildschweine, Feldhasen, Iltisse, Rehe und Hirsche.
In der Luft fliegen Steinadler und Bartgeier hoch und höher am Horizont, weiter, immer weiter. Bunte Schmetterlinge erfreuen das Auge. Wasserpieper, Tannenmeisen, Schwarzspechte, Fichtenkreuzschnäbel, Auerhühner und Mauerläufer sind hier beheimatet. Die verschiedensten Bäume wurzeln hier: Ahornbäume, Linden, Platanen, Weiden und Eichen. Birken, Eschen, Ulmen und Buchen. Tannen, Kiefern, Eiben, Lärchen und Fichten. Es gibt abertausende von Käferarten. Lachsforellen, Forellen, Äschen und dutzende andere Fischarten schwimmen in den klaren Gewässern. An Bodenschätzen finden sich Erdgas, Steinsalz, Bauxit und Kohle. Die Böden sind fruchtbar. Es werden Obst, Mais, Weizen und Wein angebaut.
Die ursprüngliche und einzigartige Schönheit der Natur, das wertvolle Vermächtnis und das reiche Erbe überwältigten und überwältigen immer noch Kaiser und Könige. Sobald die Begeisterung einsetzt und die Seele in die Höhe hebt, bleibt das Entzücken für immer im Herzen wie ein unsterbliches Gedicht. Oder wie die bunten Farbpigmente einer Tätowierung, die unendlich tief in die Haut gestochen sind.
Auch Prinz Charles, der Prinz von Wales, verliebte sich in Transsylvanien. In der Ortschaft Valea Zălanului betreibt er sogar Rumäniens erstes authentisches denkmalgeschütztes Gasthaus. Wenn er könnte, wäre er vielleicht ein siebenbürgischer Bauer. Wie alle aus meiner Familie. Hunderte von Jahren in Folge.
Als ich noch jung war und in Rumänien wohnte, habe ich gerne auf Deutsch – meiner Muttersprache – gelesen und geschrieben. Bei uns Zuhause sprach man Schwäbisch, aber in unserer Umgebung redete man überwiegend Ungarisch. Ich wuchs also mit drei Sprachen auf: Deutsch und Ungarisch und Rumänisch. Siebenbürgen war schon immer multilingual.
Im Jahre 1984 emigrierte ich als elfjähriges Einzelkind mit meinem Vater – der im Übrigen kein Bauer mehr war, sondern Lehrer – nach Deutschland. Damals waren die Kommunisten an der Macht. Der rumänische Diktator Nicolae Ceauşescu verkaufte seine Donauschwaben und Sachsen für einige tausend Deutsche Mark pro Person an die Bundesrepublik – und übrigens auch seine Juden für einige tausend Dollar an Israel. Das Geld brauchte er unter anderem, um die Schulden des Landes zu begleichen, was ihm letztendlich auch gelang. Rumänien war schuldenfrei, als der Diktator an Weihnachten des Jahres 1989 von seinem Volk hingerichtet wurde.
Da meine donauschwäbische Familie aus einem kleinen Dorf in der Nähe der ungarischen Grenze im Norden von Siebenbürgen stammt, konnten wir, Vater und ich, legal nach Deutschland emigrieren. Die Rumänen wollten uns verkaufen. Und die Deutschen haben diesem Geschäft zugestimmt. Diesbezüglich gab es naturgemäß eine Abmachung zwischen beiden Ländern.
Als die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und Rumänien gut waren, wurde gern Handel mit dem Kauf und Verkauf von Menschen betrieben. Als die Beziehungen nicht mehr so gut waren, litten die Geschäfte, insbesondere aber die Menschen. Das Abkommen war eine politische Bemühung, launisch wie eine Diva.
Ich weiß nicht, wie es mit dem Menschenhandel-Business zuging, als Vater und ich nach Deutschland emigrierten – ich nehme an, es florierte. Oder nicht. Oft fragte ich mich, ob die Familie Löwe aus Petrifeld ein lohnendes Geschäft für Deutschland war. Ob ich, Harry Löwe, ein lukratives Geschäft für alle Seiten war.
Wie manche Landsleute aus unserem Dorf ließen wir uns im bayerischen Anzing nieder. Nun waren wir wieder da, in der alt-neuen Heimat, in der Bundesrepublik Deutschland. Wir waren keine kleine Minderheit mehr in einem Land, in dem östlichen Teil Europas, in Rumänien, in Siebenbürgen, wohin unsere Vorfahren vor hunderten von Jahren ausgewandert waren. Warum wanderten sie eigentlich nach Transsylvanien aus? Vielleicht weil sie am Verhungern waren oder die falsche Konfession hatten. Oder ihnen Land versprochen wurde. Eine neue Heimat. Wer weiß. Es ist lange her. Seitdem ist viel Wasser die Donau hinunter geflossen.
Um ein besseres Leben zu haben? Packten sie deswegen ihre Siebensachen und gingen? Wahrscheinlich emigrierten meine Vorfahren nicht Richtung Osten, weil sie das wollten, sondern weil sie mussten; sie wurden dazu gedrängt. Im Heimatland zu bleiben war ungünstiger als aufzubrechen und ins Unbekannte zu gehen. Man war gezwungen zu gehen. Musste. Denn wer verlässt schon gerne seine Heimat? In der Welt von gestern sehnte man sich nicht nach Abenteuer, sondern nach Sicherheit. Wenn die Sicherheit zuhause nicht vorhanden war, dann waren die Menschen verpflichtet fortzugehen.
Wir, die Löwen, waren auf einmal zu Hause. Endlich. In Deutschland. Zurückgekehrt. Die Heimwandernden. Deutsche in Deutschland. So dachten wir. Mit der Zeit wurde uns aber klar, dass wir auch in Deutschland Fremde waren. In Rumänien nannte man uns Deutsche oder Schwaben – gar Nazis. In Deutschland wurden wir interessanterweise Rumänen genannt.
Für viele war es ungeheuer, ja, ein Schock. Ein Schicksalsschlag. Verrat. Unverschämtheit. Wir? Rumänen?! Für die meisten schien es, als würde die Welt kopfstehen.
Da die Mehrheit der Einwohner in der Heimat – die Deutschen in der Bundesrepublik – so dachten, mussten wir uns daran gewöhnen, in Deutschland Rumänen zu sein. Wir. Entwurzelte. Auswärtige. Fremdländisch. Jawohl, Fremde im Vaterland. Etwas, was wir nie gewesen waren. Hier waren wir es. Ein deutscher Ausländer in Deutschland – niemand dachte, es sei witzig. Rumäniendeutsche wurde einfachheitshalber zu Rumänen reduziert, das Deutsche ausradiert, einfach so – die Geschichte vergessen. Aber wir haben unsere Geschichte. Dass wir alle in den dunkelsten Zeiten bei der SS und der Wehrmacht gekämpft hatten, wie meine beiden Großväter auch: Das wollte man vergessen, aber konnte es nicht. Und wir mussten damit klar kommen. Oder eben nicht. Alle haben ihre Geschichte. Ich auch. Alle.
Als Student in der schwäbischen Provinz fing ich an, als Freelancer für Zeitungen zu arbeiten. Mit der Zeit integrierte ich mich in diesem Beruf. Ich wurde einer von euch, liebe Kolleginnen und Kollegen. Es gefiel mir, ein Journalist zu sein.
Im Jahre 2012 kam ich hierher, nach Berlin, um für eine der größten Zeitungen zu arbeiten. Und dann, kurz danach … war alles vorbei … ich … Journalismus … alles! Die Leere … Ha! 2016 ging ich nach Tübingen zurück. Fertig, dachte ich. Alles vorbei. Und dann … ich fing an, zu arbeiten, nach drei Jahren. Als Handwerker. Eine neue Chance. Unglaublich!
In meinem ganzen Leben war ich nur Journalist gewesen – und nun: Handwerker. Der Zufall wollte, dass ich eine kleine Reportage über meine neue Arbeit schrieb. Über meine netten Kollegen mit denen ich viele Stunden verbracht und die ich von ganzem Herzen zu lieben gelernt hatte. Sie stehen mir sehr nah; sie sind meine Freunde.
Ja … Man denkt, alles wird bald vorbei sein – und dann ist da unerwartet eine neue Chance. Dies alles habe ich aber einer besonderen Frau zu verdanken. Ohne sie stünde ich sicherlich nicht hier auf diesem Podium, um diesen Preis entgegenzunehmen. Wo bist du, Oana?«
Der Redner pausierte. Er schaute suchend ins Publikum. Die plötzliche Stille fühlte sich heiß wie Glut an und füllte den eleganten Saal.
»Ah! Da bist du ja. Meine Freundin … Oana. Diesen Preis habe ich dir zu verdanken. Und mein Leben, das heißt, dass ich noch lebe. Das weißt du nämlich nicht. Ich habe es dir nie gesagt. Du hast mein Leben gerettet. Danke. Und du warst es, Oana, die meine Reportage zu der Zeitung weitergeleitet hast – und nun bin ich Journalist des Jahres!«
Trotz seines Namens war er nicht der König der Tiere. Harry Löwe wäre fast im Sternzeichen des Stiers geboren worden. Aber seine schwer atmende und schwitzende junge Mutter schaffte es noch rechtzeitig, wenn auch ohne jegliche Absicht, ihn zwei Minuten vor Mitternacht zur Welt zu bringen. Es war eine kühle, dichte Frühlingsnacht. Dunkel und still. Im Krankenhaus auch. Am Himmel leuchtete der Mond dünn. Die Sterne glitzerten unsicher, wie die Augen eines aus dem Schlaf gerissenen Stiers.
Die Krankenschwester hielt nun den Neugeborenen in ihren Händen hoch, so als wäre der Kleine eine Trophäe oder ein Menschenopfer.
»Warum dieses Schweigen, Süßer? Du bist nicht etwa stumm? Na, komm schon. Wir warten. Jaja, jaja.«
Das kleine Männchen gab keinen Laut von sich, obwohl die stramme Schwester es mit Tricks und Engagement liebevoll dazu verführen wollte. Ihre Nase war klein und rot, und sie spielte den Clown: Sie grinste, redete mit ihm, lächelte es an, machte große Augen, dann kleine, legte das Baby auf ihre füllige Brust, führte es nah an ihr lachendes Mondgesicht mit dicken rosa Backen, grinste, machte komische Geräusche, bewegte ihre buschigen Augenbrauen, runzelte ihre fettige Stirn, schüttelte es immer wieder, als würde in ihrer Hand ein Spielzeug, eine Gummipuppe liegen, und nicht ein gerade eben Auf-die-Welt-Gekommener.
»Ich werde bald weinen, wenn du nicht schreist. Wollen wir zusammen weinen? Komm schon. Es ist spät. Weißt du, wie spät?« Die Schwester hielt nun das Baby in ihrer rechten Hand, während sie sich die Zeit nahm, die kleine, runde vergoldete Uhr an ihrem linken Arm zu betrachten. »Es ist null Uhr 13. Es ist bereits der 21. April 1973.« Die Schwester hielt das Baby nun fest in ihren beiden kräftigen und leicht behaarten Armen. Sie schaukelte es in der Luft, als wollte sie es das Fliegen lehren.
»Siehst du, wie dunkel es draußen ist? Hoooo! Duuuunkel. Haaaaa. Du sollst der Dunkelheit zeigen, dass du Angst hast. Sogar die Wölfe heulen in der Nacht. Auuua. Auuuuuuua. Ja! Wir alle haben Angst. Wir sind Menschen. Wir sind unsicher. Wir möchten wichtig sein, da wir so sehr unsicher sind. Ja. Duuuunkel. Kleine Menschen wie du fürchten sich im Dunkeln, weißt du? Du weißt es nicht? Dann tu, was ich dir sage. Tu so, als würdest du dich fürchten und wärst kein braver Junge. Unsicher. Ängstlich. Menschlich. Verstehst du? Schrei. Schrei! Tu, was ich tue. Schau. Ahhh ... Ahhh. Willst du mir nachmachen? Möchtest du lieber heulen? Auuuuua. Sag: Auuuuuua.«
Die Schwester schaute das Baby an und lächelte schelmisch, dann sagte sie mit schneidender, scharfer Stimme: »Ja, ja, du darfst es mir nachmachen. Ahhh.« Es kam aber nichts. Keine Stimme. Kein Laut. Kein Geschrei. Egal, was die Schwester tat oder sagte. Egal, wie sie sich bemühte. Nichts. Das große nackte Baby schwieg weiter, brav wie ein Toter. Wie die Nacht.
»Sag doch etwas, du kleine-große Schönheit. Sag etwas. Komm schon!«, sagte die ziemlich junge, aber älter als ihre Jahre aussehende Krankenschwester, die nun auch dem Kind ihre weißen und aus purem Gold glänzenden Zähne zeigte. Und langsam ungeduldig wurde. Aber sie wollte nicht aufgeben, noch nicht. Sie war eine gewissenhafte Person und außerdem eine gut ausgebildete Krankenhausschwester mit mehreren Jahren Erfahrung. Sie war stolz auf ihre Arbeit. Es machte ihr Spaß, Leuten zu helfen. Ihr Beruf war gleichzeitig ihre Berufung.
Sie hob ihren Zeigefinger und tappte damit mehrere Male auf die rechte Wange des Neugeborenen, als würde sie eine Spritze verabreichen und gleich in die Venen stechen. Sie zeigte ihre lange rote Zunge und sagte dann: »Bist du tot oder lebendig? Mach schon, was ich dir sage. Mach. Aaaach. Ahhhhhhh. Komm schon. Mach schon. Ahhhh.« Langsam aber sicher ging die Geduld der Schwester zu Ende. Schließlich war sie auch nur ein Mensch. Vielleicht war das Baby tot-geboren. Vielleicht war all ihre Mühe umsonst. Sie schüttelte etwas resigniert ihren Kopf, wobei sich ihr blondierter Pferdeschwanz von einer zu der anderen Seite bewegte, ähnlich wie eine Kuckucksuhr. Sie führte mit leichter Bewegung ihre linke Hand in ihre Kitteltasche. Und sie nahm wahr, dass sie leer war.
Helmuth, der Vater von Harry, hatte das Geld nicht in ihren Kittel geschmuggelt. Noch nicht. Er hatte es völlig vergessen. Später würde er diese Untat natürlich korrigieren und sich entschuldigen. »Schlicht vergessen … das erste Kind … Sie wissen … Entschuldigung.«
In Rumänien war es Sitte, den Ärzten und Krankenschwestern Geld zu geben. In Briefumschlägen, oder einfach das bare Geld in Scheinen in die Kittel- oder Hosentasche zu schieben. Als ob nichts passiert wäre. Hoppala – das Geld ist schon da! Manche Ärzte und Krankenschwestern bedankten sich. Andere nicht. Die Details und wie man sich in so einer Situation verhielt, sprich: der Stil, waren lediglich Geschmackssache.
Geld aber musste sein. Nur das zählte. Bauern, die kein Geld hatten, brachten Hühner und Eier, Fleisch, Schnaps, Obst und Gemüse von ihren Dörfern mit. Manchmal reichten sie den Ärzten lebendige Hasen und gar Ferkel in die Hand und bedankten sich herzlich. Was die Bauern und ärmeren Leute eben hatten, das brachten sie ins Krankenhaus und gaben es den Ärzten.
Die Mehrheit der Ärzte bevorzugte Geld vor scheuen Hasen und hungrigen Schweinen. Wenn sie unter sich waren, witzelten sie oft miteinander über die herzlichen Bauern.
Ein Arzt beschwerte sich vor seinen Kollegen über die vielen Hasen, die aus ihren Käfigen flüchteten und im ganzen Krankenhaus verstreut waren, sich Ecken zum Verstecken oder einfach das Weite suchten. Dutzende von Hasen rannten auf und ab die Treppen und den Flur entlang, als wären sie mit Duracell-Batterien aufgeladen und daher, verständlicherweise, extrem hart zu erwischen. Die Hasen waren blitzschnell und rasten davon. Das Krankenhaus wurde zu einem Spielplatz, in dem die Tiere mit den Menschen Verstecken spielten. Ein Spital der Superlative. Sobald die zahmen und durchaus kuscheligen Kerlchen ertappt und gefangen wurden, flüchteten sie wieder und sprinteten um ihr Leben. Das Bild war surreal: Das Krankenhaus machte den Eindruck einer Zirkusnummer, in der die Hasen von einem Hut in den anderen eilten, nur um wieder zu verschwinden. Nicht alle waren von dieser Spitalmagie beeindruckt.
Nach dieser Zirkusnummer im Krankenhaus wurden die Hasen aber doch irgendwann gefangen und kamen gepfeffert und gesalzen in die heiße Pfanne. Hasen waren nicht jedermanns Sache, nicht einmal, wenn sie richtig gebraten wurden.
Schweine-, Hühner- und Rindfleisch trafen mehr als Hasenfleisch den Geschmack der Menschen von damals. Manche aßen aber auch gern Wild, Pferde und exotische Tiere aus dem Wald. »Keine Mahlzeit ohne Fleisch« – das war die Prämisse, die man ständig beweisen musste.
Irgendwann kam mal doch ein Tag ohne Fleisch, aber wenn es so geschah, war es »kein richtiger Tag«, denn da fehlte es offensichtlich an »richtigem Essen«. Denn unter »richtigem Essen« verstand man Fleisch, gerne vom Schwein, mit irgendeiner Garnierung, beispielsweise eine Variation von Kartoffeln, gekocht oder gebraten, Nudeln oder Reis. Dazu kamen saure Gurken, saurer Kohl oder eine andere saure Geschmacksrichtung.
Alle aus biologischem Anbau versteht sich, da es damals nichts anderes gab – nur Bio. Nachtisch war auch stets gerne gesehen, sogar mit Geduld erwartet. Hauptsache süß, cremig und nahrhaft. Insbesondere die ungarischen Torten und Kuchen waren angesagt: krémes, zserbó und dobos. Aber auch salzige Gebäckspezialitäten wurden oft serviert. Dazu kam ein Kaffee mit Sahne in eleganten Tassen, gerne begleitet von Zigaretten.
Auch wenn die Kinder damals nicht rauchten, inhalierten sie ungewollt, und zu ihrem Ungenuss, den Duft des Kaffees mit dem Zigarettenrauch. In gewissem Sinne wurde diese aromatische Mischung für viele, so auch für Harry, der »Duft der Kindheit«. Wenn Harry an den Geruch seiner Kindheit dachte, wusste er Bescheid: Kaffee und Zigaretten. Es gab auch andere Gerüche, die Harry prägten, wie die Stahlgerüche in seinem Dorf, die Tiere, sein Haus, die Bäume und Pflanzen und Blumen, seine Großmutter, sein Vater, die Kirche, das Rathaus, die Schule und natürlich die Küche. Aber zweifellos war der Hauch von Zigaretten und Kaffee das Bestimmende und Prägendste. Viele Menschen rauchten damals, und zwar überall. Das Rauchen galt für viele damals als sexy und gehörte oft zum täglichen Leben wie Brot, Wasser, Fleisch und Eier.
Der Begriff Vegetarier war damals völlig unbekannt. Und wenn er bekannt gewesen wäre, hätten die Menschen darüber gelacht. Am Anfang hätten sie gedacht, man wolle mit ihnen Spaß treiben. »Vegetarier«, hätte man gesagt, »das klingt aber nach einem Witz.« Wenn man dann deutlich gemacht hätte, dass es solche Leute gäbe – Hitler war schließlich einer von denen! –, hätte man wahrscheinlich keine Worte gefunden, um den Blödsinn und die Idiotie zu beschreiben; also hätte man weiterhin gelacht.
Der Kommunismus war nicht das richtige System für Vegetarier. Man musste lange Stunden Schlange stehen, um Grundnahrungsmittel wie Brot und Milch und Öl und Butter zu besorgen. Es fehlte an allem. An Grundnahrung mangelte es ständig. Man war froh, wenn man etwas kaufen konnte – man konnte nicht wählerisch sein.
Den Vegetarier hätten die Leute von damals als komisch empfunden, denn es ging hier nicht um die Entscheidung, bloß Obst, Gemüse, Eier, Fisch und Milchprodukte zu essen, sondern um Luxus. Ja, es musste sich um ein Luxusproblem handeln. So hätten die Leute von damals den Vegetarismus möglicherweise verstanden. Sie hätten wahrscheinlich gedacht: »Den Vegetariern geht es so gut, dass sie gleich den Verstand verloren hatten.«
Mit Veganern hätten sie höchstwahrscheinlich ganz und gar nichts anfangen können, geschweige denn sie verstehen. Sie hätten gefragt: »Was zum Teufel soll ein Veganer sein?« Wenn ein Vegetarier als komisch gegolten hätte, dann wäre ein Veganer ein Wahnsinniger. Ein Spinner. Kaum vorzustellen, dass es solche Leute im Kommunismus gegeben hatte. Das damalige politische System war anscheinend noch nicht reif für derart fortschrittlichen Ideen. Man war froh, wenn man etwas zu essen hatte. Über das Essen zu philosophieren, war nicht angesagt.
Nüsse kannte man, Gemüse und Obst auch, aber Tofu – nein, Veganer zu sein, im Kommunismus; das wäre unmöglich. Lachhaft. Verrückt. Da wären sogar die Hasen beliebter, als nur Nüsse oder Gemüse. Hasen kannte ja jeder. Und wenn es nicht anders ging, dann aß man eben Hasen, die allgemein bekannte Tierart. Das war nichts Besonderes.
Für manche war Hasenfleisch im Übrigen eine Delikatesse; einige Bauern züchteten und verkauften die Tiere. Einige wenige von diesen Hasen kamen dann auch bis ins Krankenhaus, da die Ärzte ebenfalls keine Vegetarier waren.
Ein anderer verzweifelter Arzt wusste nicht, was er mit so vielen Hühnern machen sollte, die netterweise in sein Büro gebracht worden waren. Ganz zu schweigen von den Schweinen. Die Schweine waren stets eine Nummer zu groß, auch wenn sie bloß Ferkel waren. Für jeden behandelnden Arzt und für jedes Krankenhaus ein logistisches, nicht zu sagen hygienisches Problem. Manchmal musste man eben wegschauen. Das Grunzen hörte man natürlich, wie ein Echo der Grausamkeit, aber man schaute weg.
Die Ärzte bedanken sich dennoch für die Geschenke, ob nun lebendige oder tote, da sie die ärmeren und einfacheren Menschen der sozialistischen Gesellschaft nicht beleidigen wollten. Höflichkeit musste sein. Ärzte waren hoch angesehene Persönlichkeiten, ganz oben in der sozialen Hierarchie. Ihre Diplome waren echt und nicht gekauft. Geld war aber, trotz allem, die bequemste Variante. Die Mehrheit der Ärzte zog Bares dem Schwein oder dem Hasen vor. Manchmal waren aber Überraschungen nicht auszuschließen, die bunt und in allen möglichen Varianten den Weg ins Krankenhaus fanden.
Alle Patienten gaben etwas ab, je nach Möglichkeit. Es war normal. Nirgendwo stand geschrieben, dass man den Ärzten Geld geben sollte. Nein. Es war ein unausgesprochenes Gesetz, das sich noch lange vor dem Kommunismus herumgesprochen hatte, und an das sich alle hielten. Dieses Gesetz der Gabe wurde nur in Ausnahmefällen gebrochen, wenn zum Beispiel jemand wirklich nichts, gar nichts zu geben hatte. Bei einigen Zigeunern – wie die Roma damals genannt wurden – kam es öfter vor; sie hatten nichts, also gaben sie nichts. Die ärztliche Behandlung, die sie bekamen, war dementsprechend.
Wer aber mehr hatte, gab mehr, wer weniger, der gab weniger. Von Ingenieuren wurde eine höhere Abgabe als von einfachen Arbeitern erwartet. Tatsächlich verdienten die Ingenieure mehr als die Arbeiter, aber nicht sehr viel. Der Unterschied des Gehalts war relativ klein. Die kommunistische Gesellschaft war in diesem Sinne einheitlich, ja fast gleich. Aber alle, ob Ingenieure, Arbeiter, Lehrer, Professoren, Bäcker, Metzger, Schriftsteller, Funktionäre, Bergmänner oder Näherinnen, fast alle gaben etwas ab. Alle, fast ohne Ausnahme, fühlten sich dazu verpflichtet.
Die Ärzte bekamen von ihren Patienten meistens Lei, die rumänische Währung. Fremdwährung war im Kommunismus strikt verboten und wer mit nur einem Dollar erwischt wurde, konnte mehrere Jahre ins Gefängnis geschickt werden. Die Fremdwährung war eine heikle Sache. Eine Bedrohung. Eine kapitalistische Ungeheuerlichkeit, um die Reichen reicher und die Armen ärmer zu machen. Nichts als Manipulation. Dekadenz. Kurzum: nicht gut.
Man hatte Riesenangst, den Dollarschein in die Hand zu nehmen. Wenn beispielsweise jemand aus den USA nach Rumänien zu Besuch kam, passierte es oft, dass die Menschen neugierig waren, dieses außerordentliche Geld, worüber sie so viel gehört hatten, endlich aus der Nähe, mit eigenen Augen, zu sehen. Sie baten höflich den Auslandsbesucher, das Geld anschauen zu dürfen. Ihre Augen wurden groß und blinkten. »Aber nur schauen«, sagten sie. Sie fassten nämlich den grünen Dollarschein nie selber an. Wenn sie es getan hätten, und den amerikanischen Geldschein mit eigenen Händen berührt hätten, drohte ihnen Gefängnis. Man konnte ihn nur mit Glotzaugen bestaunen, den berüchtigten und bösen Dollar, aber ihn anzufassen fürchtete man sich wie vor der Pest. Er war nicht koscher.
Die Angst der sozialistischen Menschen von der Fremdwährung war riesig. Das fremde, kapitalistische Geld war gefährlich, lebensgefährlich. Es konnte den Untergang bedeuten, eines Einzelnen oder der ganzen Familie. Das Risiko, solche Dinge anzufassen oder, noch schlimmer, zu besitzen, war für die meisten allzu groß. Daher gab es kaum Fremdwährung im Umlauf. Man hatte Todesangst davor. Man ließ sich im Normalfall auf solche Geschäfte nicht ein.
Dennoch kam es manchmal vor, dass einige verzweifelte Patienten Dollar oder Deutsche Mark in die Taschen der Ärzte schoben. Die Patienten gaben den Ärzten Geld, und diese nahmen es schweigend entgegen. Was hätten sie auch tun können? Es war ihre Pflicht.
Alle Ärzte nahmen Geld, denn das war die Regel. Von den Patienten Geld nicht zu nehmen wäre rebellisch, ja fast revolutionär gewesen. Es lohnte sich einfach nicht, gegen das herrschende System und seine geltenden Normen zu verstoßen. Die Regeln waren klar und deutlich: Die Menschen gaben den Ärzten und die Ärzte nahmen, was ihnen gegeben wurde. Es war unkompliziert. Und praktisch.
Natürlich gab man nicht nur den Ärzten Geld, sondern auch dem Behördenpersonal – allen. Auch Lehrer bekamen von den Eltern der Schüler Geschenke. Geld (oder ausländische Markenzigaretten wie Kent, Marlboro, aber auch Schokolade, Kaffee und Whiskey) in die Taschen von Fremden weiterzuleiten, um Dienstleistungen oder Waren zu erhalten, war selbstverständlich. Es gehörte zum bestehenden System des rumänischen Sozialismus, wie das Kind zu seinen Eltern gehört.
Was aber damals nicht selbstverständlich war, war die sexuelle Aufklärung. Niemand wusste darüber Bescheid. Die Eltern schwiegen darüber und in der Schule wurde das Thema ignoriert, als existierte so etwas überhaupt nicht. Man wollte es nicht wahrhaben. Sex war da – aber er war nicht da. Nicht vorhanden. Nicht präsent. Kein Thema. Es war stets das Gleiche: Schweigen. Über Sex wurde geschwiegen.
Wenn es also zwischen zwei jungen Menschen, meistens nach einer längeren Beziehung, zum Geschlechtsverkehr kam, war stets ein Baby oder gleich mehrere das Resultat; der Beweis der Liebe. Wenn der Mann noch nicht mit der Frau verheiratet war – wie im Fall der Löwen –, dann holte er das nach, sobald er erfuhr, dass sie schwanger war.
Als Harry zur Welt kam, waren seine Eltern bereits verheiratet, seit Ende Januar. Abtreibungen wurden nur äußerst selten ausgeführt, da diese verboten und gefährlich waren. Oder man kannte das nicht. Aber über Dinge wie Abtreibung dachte man kaum nach – so unaufgeklärt war die damalige sozialistische Gesellschaft in Sachen Sexualität. Es war eine Art Tabu. Es war so auch gewollt, da das Regime Nachwuchs für den Aufbau der neuen sozialistischen Gesellschaft durch Industrialisierung brauchte. Deswegen war »so viel Nachwuchs wie nur möglich« an- und Abtreibung abgesagt. Beim Thema Sex herrschte nur ein Prinzip: das Prinzip Zufall. Man redete darüber nicht, tat es aber doch und musste die daraus entsprungenen Konsequenzen hinnehmen.
Die Paare heirateten jung, und schon kamen die Kinder auf die Welt. Als wären sie Matrjoschki; ineinander schachtelbare Holzpuppen. Das war vollkommen normal. Wenn man über 30 war und noch keine Kinder hatte – galt dies als außergewöhnlich und die Eltern und Verwandten und Bekannten und sogar Fremde und Unbeteiligte machten sich Sorgen. Diese Regeln galten übrigens nicht nur in der Provinz, aber durchaus im ganzen Land, auch in den größeren Städten; Sex war tabu. Man war gezwungen, in diesem Bereich ein Autodidakt zu sein und irgendwann die lebhaften Erzählungen mit den Störchen, die Kinder zur Welt brachten, als Mythos zu verstehen. Voller Bewunderung stand man mit offenem Mund da – es waren nicht die Störche, sondern der Sex zwischen Mutter und Vater. Eine fantastische Entdeckung, eine unglaubliche, ja, fast eine erschreckende Entdeckung. Vaters Samen plus Mutters Ei ergibt ein Kind.
Die Schwester schaukelte das kleine Geschöpf in der Luft, von rechts nach links und umgekehrt, so als wäre das Baby ein Verbrecher, der für seine bewiesene Schuld aufrecht stehen sollte, sie anerkennen, alles gestehen. Es machte den Eindruck, das Leben sei eine Strafe. Von Anfang bis Ende.
Als Gegensatz dieser Weltanschauung wollten die Kommunisten das Paradies in dieser Welt etablieren, eine Gesellschaft aufbauen, in der alle Menschen gleich sind. Im sogenannten realen Sozialismus wäre das Leben ein Geschenk und keine Strafe oder Sünde. Aber diese Ideen waren nur pure Ideen. Noch nicht real, aber bereits in Entstehung.
Der rumänische Kommunismus war jung, blauäugig und doch mit großen Plänen in die Zukunft blickend, nicht einmal 30 Jahre alt. Historisch gesehen ein Säugling. Frisch, und dennoch irgendwie verbraucht. Eine neugebaute Ruine.
»Wenn du nichts sagst, werde ich dich dazu zwingen müssen«, lachte die Krankenschwester und kitzelte den Bauch des Babys. »Ich mag gekitzelt werden, und du? Du auch? Ich kichere immer, wenn ein Kerlchen mich kitzelt. Wirst du auch Frauen wie mich kitzeln? Ja? Willst du das? Ja? Du willst das. Du wirst das auch tun. Bestimmt wirst du das. Alle Jungs mögen ihre Mädchen kitzeln. Warte nur, und du wirst es sehen. Merk dir das, was ich dir gerade gesagt habe. Möchtest du schon jetzt probieren? Oh, du bist so ungezogen! Haha. Üben? Ein Vorgeschmack von der Zukunft? Ja? Nein?«
Dennoch war es noch keine Zeit, um sich Sorgen zu machen. Es waren ja nur einige Augenblicke vergangen seit der für die Mutter schmerzhaften Geburt. Petras erste Geburt war das (und ihre letzte, das wusste sie aber nicht), und obwohl mit gewaltigen Schmerzen verbunden, doch angeblich ohne Komplikationen. Es war haargenau so, wie es in der Bibel beschrieben wurde: Tatsächlich gebar Petra Harry unter Schmerzen.
Die 21-jährige Petra Löwe war am Ende ihrer Kräfte. Sie lag versteinert in ihrem Bett, sah wie eine alte Frau aus, die gerade auf ihre letzte Ölung wartet. Ihr Kopf war oval und schön. Ihre Adlernase und knochigen Gesichtszüge waren streng, aber nicht bedrohlich. Zwei graue Knopfaugen leuchteten dünn wie eine ausgebrannte Laterne. Ihre goldbraunen, leicht lockigen Haare waren unordentlich, manche Haarsträhnen fielen wild in ihr Gesicht und auf das Kissen. Nur ihr Gesicht war zu sehen; ihr Körper war in die weiße Krankenhausdecke gewickelt wie ein Baby. Petra hielt den Blick auf einen Punkt in der Ferne gerichtet. Auf das Baby? Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Ihre Miene war starr. Der Schweiß auf ihrer breiten Stirn glänzte wie ein verloren gegangener Perlenschmuck. Der Duft erinnerte an verfaulte Eier.
Seit sie sehr jung war, hatte Petra Kinder gewollt. Und nun war das erste da. Die Geburt war für sie zu anstrengend gewesen, um Freude zu spüren. Sie zitterte unter der Decke. Petras graue Knopfaugen schienen die Gestalt der Krankenschwester, die mit dem Baby beschäftigt war, zu fixieren. Ihr Atem stockte. »Mein kleiner Junge … Harry … mein Harry«, murmelte sie so leise, dass niemand sie hören konnte.
Die nette Krankenschwester wollte unbedingt das Baby zum Schreien bringen, da dieses existenzielle Brüllen, das sie von ihm bisher vergeblich erwartete, wie ein Code war, ein Zeichen, ein Geständnis, dass alles mehr oder weniger in Ordnung sei. Aber diese in die Welt geworfene Stimme blieb stumm.
Die Schwester machte ihre Arbeit gewissenhaft und wollte behilflich sein. Sie gab nicht nach, immer noch nicht: »Schrei für mich, mein Schöner. Komm, komm. Du kannst es. Ich bin mir sicher, dass du es kannst. Zeig mir doch, was du kannst. Du lebst doch, ich sehe ja. Du willst es mir doch zeigen, oder? Zeig es mir und schrei für mich. Jetzt. Schrei. Laut. Ahhh. Mach es mir nach. Ahhh. Komm schon. Bitte. Mach schoooon.«
Anstatt des üblichen Herumtobens landete, ohne nur die geringste Vorwarnung, dafür aber mit einer gewaltigen Wucht, eine Menge Flüssigkeit, wie aus einem frischen Brunnen sprudelnd, im feinen Gesicht der Schwester. Das überraschte Antlitz badete in der warmen Brühe. Mehr und mehr Saft wurde aus dem winzigen Schlauch des Sprösslings geschossen. Ohne Ende. Ins Gesicht. Überall. Alles Volltreffer. Wie geübt. Als die nette Schwester vor lauter Flüssigkeit kaum noch atmen konnte und mehrere Male »Mein Gott, mein Gott« – und zwar auf Ungarisch – gerufen hatte, fing das Baby an zu lachen. Es kichert tatsächlich, dachte die Schwester, als sie von dem kleinen Teufel weiterhin mit verblüffender Genauigkeit angepinkelt wurde. »Alle Männer sind doch gleich«, sagte sie und wiederholte den Satz einige Male vor sich hin. Dann verband sie die letzten zwei Sätze zu einem großen Ganzen: »Alle Männer sind doch gleich. Mein Gott. Mein lieber Gott. Alle Männer gleich. Mein Gott!« Es wäre nicht ganz falsch zu behaupten, dass dies die Geburtsstunde des rumänischen Rap und Poetryslam war.
In Wirklichkeit kicherte oder gar lachte das Baby nicht, sondern stellte seine frühreife Tristesse allen Anwesenden zur Schau, um sie darauf aufmerksam zu machen. Nach dem Motto: »Seht mich doch, liebe Mutter und liebe Krankenschwester und alle anderen Interessierten: Ich bin geboren – Ich existiere! Ich leide!« Aber nicht nur das neugeborene Wesen schien traurig zu sein: Die Mutter lag da wie eine mumifizierte Leiche mit ihrem bleichen Teint und ihrer versteinerten Miene. Und die nette Schwester hatte nicht mehr nur schöne Gedanken und Gesichtszüge. Sie hätte Harry gleich eine Ohrfeige erteilt – wenn er nur ein bisschen größer wäre.
Der Schwester gefiel nun wirklich nicht, angepinkelt zu werden – von einem Baby. Ihre Arbeit war getan, also legte sie das Geschöpf neben seine Mutter, und ohne etwas zu sagen, verließ sie mit großen und schnellen Schritten das Zimmer.
Vielleicht freute sich Harrys Vater, Helmuth, auf seinen Sohn. Helmuths Gesichtsausdruck verriet dies aber nicht. Er wartete draußen, weil damals die Väter bei der Geburt nicht willkommen waren, und rauchte.
Da Helmuth Löwe noch relativ jung war, gerade mal 25 Jahre alt, machte er sich keine großen Gedanken über die Zukunft. Die Familie Löwe wurde mit dem neuen zusätzlichen Mitglied einen Mann größer. Nichts Außergewöhnliches.
Viele seiner Freunde und Bekannten waren verheiratet und hatten Kinder. Einige hatten sogar mehrere Kinder. Es war, als hätte Helmuth in die Zukunft sehen können. Nach diesem Kind würden andere folgen. Vielleicht zwei. Oder gar drei. Er würde älter. Mittelalt. Alt. Sehr alt. Damals war für ihn 70 sehr alt, uralt. Seine Kinder würden irgendwann selber zu Kindererzeugern werden. Er würde Großvater werden. Petra und er würden Rentner, die mit den vielen Enkelkindern spielten, ihnen Geschenke kauften und Geburtstage feierten. Man musste kein Hellseher sein, um in die Zukunft zu blicken. Helmuth sah seine Zukunft mit Klarheit vor seinem geistigen Auge, als er im Krankenhaus auf einem Stuhl im Wartezimmer saß und geduldig wartete.
Er schloss seine Augen, beugte sich tief, öffnete seine Augen, atmete durch und nahm paffend einige Züge von der Zigarette, die zu erlöschen drohte. Nachdem er den ausgegangenen Zigarettenstummel in den Müll geworfen hatte, ging er zurück zu seinem Platz und setzte sich wieder.
Es fiel ihm der »Retter der Mütter« Ignaz Semmelweis ein, der Ungar mit dem deutschen Namen. Die Ärzte sollten die Hände waschen, so könnten sie das Leben der Mütter retten. Was heute als das Banalste gilt, die hygienischen Fortschritte, war in Semmelweis’ Zeit alles andere als selbstverständlich. Seine Hygienevorschriften galten als der reinste Unfug und wurden kategorisch abgelehnt. Unfassbar.
Helmuth war hier allein. Für längere Zeit saß er für sich, so als wäre er der letzte Mann auf der Welt. So als wären alle anderen Menschen verschwunden und nur er noch auf dieser Erde, von allen allein gelassen. Was würde er allein auf dieser Welt anstellen können, fragte er sich. Er, der fast eins 90 große Mann, mit dem Schnurrbart und zwei buschigen Koteletten, den man »Storch« nannte. Früher hatte ihn diese Bezeichnung genervt, aber irgendwann machte er damit Frieden und akzeptierte sie.
Schon als Jugendlichen hatten ihn seine Freunde so genannt, wenn sie Ball spielten oder in der Schule. Es war nicht böse gemeint, sondern eine Art natürliche Folge seiner Gestalt, wie er aussah, wie er lief, seiner Körperhaltung. Ein Storch. Das war er.
Keiner hatte ihn Helmuth genannt. Nur Leute, die ihn nicht kannten. Sein eigener Name kam ihm fremd vor. Sogar seine Mutter nannte ihn »Storch« oder »Storch Vögelchen«. Als er älter wurde, musste er zugeben, dass er irgendwie doch dem Vogel ähnelte. Als wäre er ein Storch mit menschlichen Zügen. Ein Storch-Mensch.