Die Autorin
Inge Seiffge-Krenke ist Professorin für Entwicklungspsychologie. Sie hat 2020 den EARA Lifetime Achievement Award für ihre herausragenden Beiträge zur Erforschung des Jugendalters erhalten. Sie ist Psychoanalytikerin (DPV) für Erwachsene, Kinder und Jugendliche und als Supervisorin in der Aus- und Weiterbildung tätig.
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2., aktualisierte Auflage 2021
Alle Rechte vorbehalten
© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:
ISBN 978-3-17-041752-6
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pdf: ISBN 978-3-17-041753-3
epub: ISBN 978-3-17-035715-0
Auf die Idee, die Adoleszenz sei erst der »Vorwaschgang« für die Identitätsentwicklung, könnte man kommen, wenn man sich die Forschung zur Identitätsentwicklung anschaut. So wurden zwar in der Meta-Analyse zur Identitätsentwicklung von Jane Kroger und Kollegen (2010) auch Jugendliche einbezogen, der Schwerpunkt lag aber deutlich im jungen Erwachsenenalter. Die Ergebnisse sind über die vielen einbezogenen Länder hinweg recht einheitlich und zeigen, dass die Identitätsentwicklung bei Jugendlichen im Sinne einer Operationalisierung der Eriksonschen Konstrukte (als Kombination von Exploration und Commitment) gerade erst zaghaft begonnen hat und bis zu ihrem Abschluss noch fast 20 Jahre vergehen werden. Auch dann entwickeln Menschen ihre Identität weiter, besonders heute, wo die Brüchigkeit von Beziehungen und beruflichen Perspektiven häufig Neuorientierungen und Anpassungen in der Identität erfordern.
Dennoch, Erikson, dessen Konzeption diesem Buch zugrunde liegt, hatte meiner Ansicht nach recht: Auch wenn die Identitätsentwicklung prinzipiell ein lebenslanger Prozess ist, kommt der Adoleszenz diesbezüglich doch eine besondere Bedeutung zu. Heute verorten wir die Identitätsentwicklung keineswegs deshalb zentral in der Adoleszenz, weil wir sie, wie Erikson, als in der Adoleszenz für weitgehend abgeschlossen halten, sondern deshalb, weil es keinen Lebensabschnitt gibt, in dem so viele sozial-kognitive Lernprozesse in schneller Folge durchlaufen werden, die für die Entwicklung der Identität aus Beziehungen wichtig und notwendig sind.
Meine These ist, dass sich Identität aus Beziehungen entwickelt (Seiffge-Krenke, 2012a), und die Voraussetzungen für diese relationale Identität sind in keinem Lebensabschnitt so bedeutsam und veränderbar wie in der Adoleszenz. Tatsächlich sind sogar die raschen emotionalen und kognitiven Lernprozesse eine Voraussetzung dafür, dass sich die Identität der Jugendlichen so rasch verändern kann – körperlich, aber auch psychisch und sozial. Auch Susan Harter beschäftigte sich eingehend mit den Facetten dieser Entwicklung und beschrieb und untersuchte die »possible selves« (Harter et al., 1997), die sie zum einen auf kognitive Fortschritte, zum anderen auf den Sozialisationsdruck der Adoleszenz (d. h. die zunehmende Anpassung an erwachsene Rollen und Werte) zurückführt.
Bei der Untersuchung der Lernprozesse, die zum adoleszenten Identitätsstatus führen, ist auffällig, dass in der frühen Kindheit eher die Selbstwahrnehmung und Selbstbeschreibung, in der mittleren und späten Kindheit und verstärkt auch noch in der Adoleszenz eher das Selbstkonzept untersucht wurden. Alle drei Komponenten sind wichtig, aber Identität ist noch umfangreicher und komplexer und umfasst sehr viele verschiedene Facetten.
Erikson (1968) definierte Identität als »ein Gefühl für sich selbst, das aus der Integration vergangener, gegenwärtiger und zukünftiger Erfahrungen resultiert« (S. 36), und betonte sowohl Kontinuität als auch Veränderung über Zeiten und Kontexte. Wir werden also einen komplexeren Ansatz wählen, um diese Gleichheit und Kontinuität über Zeiten und Kontexte zu verdeutlichen. Er wird die geschlechtsspezifische Identitätsentwicklung, die Einflüsse der Familie durchaus auch im Sinne einer »Identitätsbremse« (Seiffge-Krenke, 2012a) und die starke Abhängigkeit der Identitätsentwicklung vom Entwicklungskontext, kulturellen Einflüssen und den Wandel in der Identitätsentwicklung über die Lebenspanne aufgreifen und zeigen, welche zentrale Entwicklungsprozesse in der Adoleszenz stattfinden – auch wenn die Identitätsentwicklung noch lange nicht abgeschlossen ist. Die Spiegelmetapher, die für die Entwicklung im Säuglings- und Kleinkindalter wichtig ist für die Unterscheidung von Ich und Nicht-Ich, erfährt in der Adoleszenz durch die besonderen Fähigkeiten von Jugendlichen eine ganz neue Erweiterung. Sehr viele verschiedenen Perspektiven von anderen Menschen wahrzunehmen, zu integrieren und sich »im Spiegel der anderen« zu sehen und zu erkennen, wird wichtig und lässt sich zum einem an der ungewöhnlich hohe Rate an selbstreflexiven Aktivitäten, aber auch an der intensiven Nutzung der sozialen Medien festmachen.
Dieser Entwicklungsprozess ist nicht ohne Gefährdungen, wie wir am Ende sehen werden. Die Adoleszenz als zentrale Schnittstelle für die Identität kann also zur beschleunigten Weiterentwicklung, aber auch zur Stagnation, ja zur Krise mit psychischen und körperlichen Symptomen führen.
Die klassischen Theorien der Identitätsentwicklung, jene von Marcia und Erikson, sind auch Grundlage dieses Buches. Die Theorie von Erikson ist jedoch umfangreicher als jene von Marcia, denn sie schließt ein Stufenmodell der psychosozialen Entwicklung ein, in der die Identitätsentwicklung nur eine, wenngleich zentral wichtige Phase darstellt. Außerdem, und dies ist für unsere heutigen multikulturellen Gesellschaften wichtig, hat er eine eindeutige kulturelle Perspektive in seinem Werk und sieht die Identitätsentwicklung immer als abhängig vom kulturellen und Entwicklungskontext.
Ich möchte zunächst auf Erikson selber, seinen Lebensweg, seine Schriften eingehen, bevor das Stufenmodell und dann seine spezifischen Annahmen zur Identitätsentwicklung dargestellt werden. Es ist tatsächlich wichtig, die Identitätsentwicklung in einen größeren Kontext zu stellen, denn sie beginnt und endet keineswegs mit der Adoleszenz. Dies gilt heute in noch viel stärkerem Masse als zu Zeiten Eriksons. Die Adoleszenz schafft nur, wie in Kapitel 3 ( Kap. 3) dargestellt, die besonderen Voraussetzungen für ein beschleunigtes Voranschreiten der Identität, und die sind auch notwendig, denn in dieser Phase kommen gänzlich neue Aufgaben auf das Individuum zu. Nach Erikson haben Marcia und in der Folge einige andere Forscher die Identitätskonzeptionen übernommen. Auch dies wird Gegenstand dieses Kapitels sein. Die detaillierten Untersuchungsergebnisse finden sich dann aber ausführlich in Kapitel 3 ( Kap. 3).
Erik Homburger Erikson (* 15. Juni 1902 bei Frankfurt am Main; † 12. Mai 1994 in Harwich, Massachusetts, USA) war einer der bedeutendsten Vertreter der psychoanalytischen Ich-Psychologie nach dem 2. Weltkrieg. Mit seiner Weltoffenheit, seiner kreativen Energie und seinem liebenswürdigen Humor gilt er als einer der letzten Grandseigneurs seines Fachgebietes (Conzen, 2002). Erikson hat es verstanden, klinische Tätigkeit, gesellschaftskritisches Engagement und ethische Prinzipen zusammenzubringen. Er trat gegen Gewaltherrschaft, Krieg und Rassismus ein und prägte in den 1960 und 1970er Jahren das Denken einer ganzen Generation und insbesondere auch die amerikanische Studentenbewegung. Als er 1992 im Alter von fast 92 Jahren starb, würdigte der damalige Präsident Bill Clinton ihn als herausragenden Wissenschaftler und steten Anwalt der Humanität. Das von ihm entwickelte Stufenmodell der psychosozialen Entwicklung nimmt innerhalb seiner Theorie einen besonderen Platz ein, darin ist die Identitätsentwicklung im Jugendalter zentral. Biographische Erfahrungen und Brüche beeinflussten seine Identität und entsprechend auch sein Werk.
Wenn wir gegenwärtig, wie noch genauer zu schildern sein wird, eine veränderte Identitätsentwicklung mit einer relativ langen Phase der Exploration, des Ausprobierens, für charakteristisch halten, so sollte dies nicht den Blick darauf verstellen, dass es schon immer Personen gab, die eine ausgedehnte Explorationsphase durchmachten, in der sie sich fragten, wer sie seien und welche Ziele sie in ihrem Leben anstreben wollten. Allerdings war eine solche Entwicklung eher die Ausnahme, und, wie man anhand der Biographie von Erikson sehen kann, durchaus auch quälend. Vielleicht waren aber die vielen biographischen Brüche und die von ihm selbst als belastend erlebte Unschlüssigkeit und Unklarheit, welchen Beruf er ergreifen sollte, die persönliche Grundlage dafür, dass er sich dem Identitätsthema widmen konnte.
Erikson wurde 1902 bei Frankfurt/Main geboren. Er war der Sohn einer dänischen Jüdin, die sich kurz zuvor von ihrem dänischen Ehemann getrennt hatte, der allerdings nicht der leibliche Vater von Erikson war. Sein ganzes Leben lang hat Erikson die Frage, wer sein Vater war, sehr beschäftigt, er stellte viele Nachforschungen an, und es belastete ihn, dass er diese Frage nie wirklich klären konnte. Die ersten drei Jahre seines Lebens trug er den Nachnamen seiner Mutter, er hieß also Erik Abrahamsen, nach deren Heirat mit dem Kinderarzt der Familie 1905 hieß er Erik Homburger. Auch sein Stiefvater war Jude, und manche antisemitischen Angriffe während seiner Schulzeit in Karlsruhe machten aus ihm einen scheuen und zurückhaltenden Jugendlichen. Hier lernte er mit 16 Jahren Peter Blos kennen, der aus Karlsruhe stammte, mit dem er später intensiv zusammenarbeiten sollte und der ebenfalls eine Differenzierung in Phasen mit spezifischen Entwicklungsanforderungen und Aufgaben formulierte, allerdings lediglich für das Jugendalter.
Nach seinen Schuljahren geriet Erikson in eine Krise, weil er sich für keinen Beruf entscheiden konnte. Eriksons Eltern hatten genaue Vorstellungen von seiner beruflichen Ausrichtung, mit denen er sich jedoch nicht anfreunden konnte. Durch seine Weigerung, die von den Eltern gewünschte Arztlaufbahn einzuschlagen, geriet er nach dem Abitur in ein langes krisenhaftes Moratorium. Er versuchte sich als Künstler, brach aber immer wieder den Versuch, eine künstlerische Ausbildung an einer Kunstakademie zu absolvieren, ab und unternahm eine Wanderung durch Europa. Diese Wanderjahre, in denen er sich immer wieder als Künstler versuchte, waren durch eine innere Unausgeglichenheit gekennzeichnet, die ihn später, wie er schreibt (Erikson, 1982), zu dem Thema der Identitätskrise disponierte.
Später holte ihn Peter Blos nach Wien, wo er als Lehrer an der Burlingham-Rosenfeld-Schule arbeitete, deren Direktor sein Freund Peter Blos war. Erikson war zu jener Zeit Mitte zwanzig und verstand sich selbst als Künstler. Er arbeitete mit Holzschnitten und stellte verschiedentlich aus, u. a. in München zusammen mit Max Beckmann und Wilhelm Lehmbruck. Erikson war zwar weiterhin an der Kunstakademie eingeschrieben, machte sich aber, rastlos wie er war, immer wieder auf die Wanderschaft und verbrachte eine Zeit in der Toskana. Rückblickend schreibt er: »Ich war zu jener Zeit wohl ein ›Bohemien‹.« Erst in der Wiener Zeit und nur mit Hilfe seines Freundes Peter Blos habe er »regelmäßig arbeiten« gelernt (Erikson1982, S. 27).
Die frühe Psychoanalyse mit ihren unkonventionellen Ansichten, die insbesondere die sexuelle Prüderie und Doppelmoral entlarvte, übte auf Erikson einen großen Reiz aus. Die dort vertretenen Ideen halfen ihm dabei, Klarheit über sich selbst zu gewinnen und seine berufliche und weltanschauliche Identität zu formen. Er machte seine Lehranalyse bei Anna Freud und unterzog sich einer Ausbildung zum Psychoanalytiker. In dieser Zeit, etwa 1927, hatte er eine schwere depressive Krise und lernte auch seine spätere Frau Joan, eine Kanadierin, kennen. Seine Heirat in diesen Jahren war ein weiterer Faktor für nun zunehmende Stabilität in seinem Leben. Aus der Ehe gingen vier Kinder hervor. Das jüngste Kind, Neil (* 1944), litt an einem Down-Syndrom und es blieb eine belastende Erfahrung für die gesamte Familie, dass Neil in ein Heim gegeben wurde und jung, mit 21 Jahren, starb.
Nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten verließ die Familie mit dem ältesten Sohn Kai Wien und emigrierte in die USA. Dieser Wechsel war auch mit einer Veränderung des Nachnamens der Familie verbunden. Der bisherige Name »Homburger« wurde für alle in »Erikson« (»Eriks Sohn«) umgeändert, lediglich Erikson behielt den Namen »Homburger« als mittleren Bestandteil seines Namens bei.
Eriksons Ideen über Kultur und Gesellschaft wurden beflügelt durch die Bekanntschaft mit Alfred Kroeber, einem deutschen Anthropologen, der in Berkeley einen der letzten Überlebenden der Yahi-Indianer in die westliche Zivilisation gebracht und die Anpassungsversuche von Ishi beobachtet und beschrieben hatte. Gemeinsam mit Kroeber lebte er im Jahr 1938 eine Zeitlang mit einer Untergruppe der Sioux-Indianer, den Oglaja, im Pine Ridge Reservat, Süd Dakota, zusammen und analysierte deren Zusammenleben und die Kindererziehung, die er in Kindheit und Gesellschaft darstellt. In diesem Buch beschreibt er auch den an der Westküste lebenden Indianerstamm der Yurok, die andere Erziehungshaltungen ihren Kindern gegenüber hatten als die Oglaja. Wie sich dieses so andere Erziehungsverhalten in einem anderen kulturellen und Lebenskontext auswirkte, schildert er eindrucksvoll. Beide Indianerstämme hatten sehr verschiedene Lebensräume und entwickelten auch sehr verschiedene Identitäten und Persönlichkeitsmerkmale.
Nach seiner Emigration war Erikson zunächst als Psychotherapeut und Dozent tätig und hatte später eine Professur in zwei sehr renommierten amerikanischen Hochschulen (Harvard und Berkely) inne, eine ganz ungewöhnliche und in Deutschland ohne akademische Ausbildung undenkbare Karriere. Zu diesem Zeitpunkt gab es durch die Emigration vieler jüdischer Psychoanalytiker wie Karen Horney, Erich Fromm, Wilhelm Reich bereits Erweiterungen des klassischen Ansatzes, für Erikson blieb das Werk von Sigmund Freud aber seine wichtigste geistige Prägung. Er entwickelte Freudianische Ideen weiter, mit seiner Stufenfolge der Entwicklung und der Identitätstheorie bezeichnete er sich als Stiefsohn Freuds. Erikson wurde 1956 nach Frankfurt eingeladen, um den Festvortrag zum 100. Geburtstag von Sigmund Freud zu halten. Zahlreiche Ehrungen und Preise, z. B. 1970 der Pulitzer Preis für seine Arbeit über Ghandi, krönten das Lebenswerk des genialen Autodidakten (Conzen, 2017). In seinen späteren Lebensjahren, etwa ab 1980, zog sich Erikson zunehmend zurück und litt wieder stärker unter Depressionen und Gefühlen der Wertlosigkeit, die ihn auch früher schon begleitet hatten. Möglicherweise setzte er sich während dieser Zeit wieder verstärkt mit Fragen der Identität auseinander. In der letzten Stufe seines psychosozialen Modells der Entwicklung geht es wiederum verstärkt um Identität und die Frage der Akzeptanz und Zufriedenheit mit dem eigenen realisierten Identitätsentwurf. In dieser Zeit war seine Frau Joan seine wertvollste Stütze, sie setzte die Arbeit an dem Stufenmodell der psychosexuellen Entwicklung fort und beschäftigte sich besonders mit der letzten Phase, dem Übergang zum Tod. Sie starb 3 Jahre nach ihrem Mann, im Jahre 1997.
In Identität und Lebenszyklus gibt er einigen Aufschluss über ein Thema, dass ihn persönlich wohl auch sehr beschäftigt haben mag. Er schildert verschiedene Fallvignetten aus seinen psychotherapeutischen Behandlungen, in denen Unterdrückte, Ausgestoßene unbewusst das negative Bild übernehmen, das die Gesellschaft oder verschiedene Gruppen ihnen zuschreiben. Für einen Patienten, einen hochgewachsenen Ranger, verlief das Leben äußerlich erfolgreich, aber er war innerlich von Ängsten, Zweifeln und Zwängen geplagt. Nur seine Frau wusste, dass er als Jude geboren und in einer Judenstraße in einer Großstadt aufgewachsen war. In der Analyse wurde deutlich, dass seine Freunde und Gegner unbewusst die Rolle der deutschen Jungen einnahmen, die den kleinen Jungen auf seinem Schulweg quälten – der Weg, wie er schreibt, »von einer abgelegenen und vornehmeren Judenstrasse durch feindliche Häuserruinen und Bandenkriege zu einem kurzfristigen Aufenthalt in einem demokratischen Klassenraum« (Erikson, 1971, S. 30). Die Analyse dieses Mannes zeigte auf betrübliche Weise das negative Bild einer jüdischen Identität, eines jüdischen Aussehens, dem dieser Patient sogar durch Schönheitsoperationen abhelfen wollte. Hier wird deutlich, dass die Identität auch das körperliche Ich umfasst, und bereits Freud betonte, dass das erste Ich vor allem ein körperliches ist. Selbstkonzept und Körperkonzept sind also untrennbar in der Identität miteinander verschmolzen.
Identität war für Erikson nicht nur durch Kontinuität und Wandel gekennzeichnet (man verändert sich und bleibt sich selbst dennoch treu), sondern auch durch Kohärenz, d. h. man erlebt sich als der oder die Gleiche, in ganz unterschiedlichen Rollen und Kontexten. Ich möchte daran erinnern, dass der Begriff der Kohärenz auch für die Bindungstheorie und -forschung von Bedeutung ist. Die Identität ist damit das organisierende Prinzip der menschlichen Entwicklung.
Für die Generation von Erikson waren kulturelle Brüche, Verfolgung und Ablehnung Alltagserfahrungen, und dies macht sein Werk heute so wertvoll. Erikson hat einmal formuliert, dass sich die Identität als Schnittpunkt zwischen eigenen Wünschen und dem, was die Umwelt gestattet, entwickelt, und damit den Balanceakt zwischen individuellen Wünschen und Zielen in der Selbstverwirklichung und den gesellschaftlichen Barrieren auf den Punkt gebracht. Gegenwärtig sind in den postmodernen Gesellschaften rasche gesellschaftliche Umbrüche, ökonomische Krisen und Kriege und eine kontinuierliche Migration in die westlichen Industrienationen kennzeichnend, so dass eine große kulturelle Diversität entstanden ist. Erikson warnte vor der unkritischen Ausblendung von Ängsten und Konflikten, und so ist es auch zu verstehen, dass er in seinem Phasenmodell bei jeder Entwicklungsstufe, die von ihm als normative Krise bezeichnet wird, Polaritäten einer geglückten und einer problematischen Entwicklung unterscheidet.
Peter Blos’ Buch On Adolescence: A Psychoanalytic Interpretation, 1962 erschienen, auch noch heute ein Standardwerk über die psychoanalytische Konzeption des Jugendalters, enthält auch eine Differenzierung in Phasen mit spezifischen Entwicklungsanforderungen und Aufgaben. Für das Phasenmodell von Erikson war charakteristisch, dass die 8 Phasen altersspezifisch aufeinander aufbauen, d. h. die Lösung einer altersspezifischen Krise die Voraussetzung für das Voranschreiten der Entwicklung und die Lösung der folgenden Krise ist. Kritisch ist zu bemerken, dass die Vorstellungen der persönlichen Reife teilweise etwas Normatives haben und insbesondere in den letzten 3 Phasen stark am Familienzyklus orientiert sind. Die ersten Phasen sind auch noch sehr deutlich an die Freud’sche Entwicklungstheorie angelehnt.
Phase 1: Ur-Vertrauen vs. Ur-Misstrauen (1. Lebensjahr)
In dieser Phase erlebt das Kind in enger Interaktion mit der Mutter das Gefühl des Ur-Vertrauens. Freud hat diese Phase als orale Phase bezeichnet, und tatsächlich ist das Stillen ein Stück Objektbeziehung: »An diesem Punkt lebt und liebt es mit dem Munde, und die Mutter lebt und liebt durch ihre Brust« (Erikson, 1971, S. 63). Dies zeigt die wechselseitige Regulation zwischen Mutter und Säugling in einer Beziehung, in der Körperkontakt, Erfüllen wichtiger körperlicher Bedürfnisse des Kindes in einer verlässlichen Beziehung im Vordergrund stehen bzw. die Anfänge des Misstrauens, von körperlichen Unlustzuständen und Spannungszuständen gelegt werden. Werden Bedürfnisse nach körperlicher Nähe, Geborgenheit, Schutz und Nahrung verweigert, weil die Mutter Probleme mit ihrer Rolle hat oder weil äußere Umstände dies verhindern, können frühe Verlassenheitsängste und diffuse Ohnmachtszustände entstehen.
Phase 2: Autonomie vs. Scham und Zweifel (1. bis 3. Lebensjahr)
Diese Phase lehnt sich, aufbauend auf vertrauensvollen frühen Beziehungen, an die anale Phase von Freud an, in der es um Festhalten und Hergeben geht und das Kind einen autonomen Willen entwickelt. Wird die Körperbeherrschung von den Eltern lobend unterstützt, entwickelt sich zunehmend Autonomie, d. h. das Kind erkundet mit ersten tastenden Schritten seine Umwelt. Zugleich kann es nun, bei beginnender Schamentwicklung, zu Unsicherheiten und Zweifeln beim Kind kommen, wenn es etwa sehr streng kontrolliert, eingeengt oder wegen kleiner Fehler beschämt wird. Erziehungsmethoden, die dem Kind ein »vernichtendes Gefühl des Beschämtseins« (Erikson, 1971, S. 79) vermitteln, hält er für gefährlich: »Die Scham beutet ein zunehmendes Gefühl des Kleinseins aus, das sich paradoxerweise gerade dann entwickelt, wenn das Kind stehen lernt und nun des Verhältnisses seiner eigenen Größe und Kraft zu der seiner Umwelt gewahr wird« (ebenda, S. 80). Das Kind muss erleben können, dass es selbst explorieren und die Umwelt erkunden darf, ohne dass durch seine zunehmende Autonomie die vertrauensvolle Beziehung zu den Eltern bedroht oder verändert wird.
Phase 3: Initiative vs. Schuldgefühle (3. bis 5. Lebensjahr)
Hier orientiert sich Erikson an Freud; sein Fokus liegt stark auf der Bewältigung oder dem Scheitern des Ödipuskomplexes mit den entsprechenden Konsequenzen für die Über-Ich- und Gewissensbildung. Gerade die zunehmende Autonomie, die das Kind nun erreicht hat, verbunden mit zunehmenden Fertigkeiten in Bezug auf Sprache, Bewegungsfreiheit und Vorstellungswelt machen es dem Kind in dieser Stufe möglich, seine Beziehungen sehr zu erweitern. Die Wissbegier ist auffallend und bezieht sich auch auf Sexualität, Zeugung und Geburt. Das (sexuelle) Interesse am jeweils anderen Elternteil ist geweckt, und Jungen scheinen durch ihr sicht- und greifbares Genitale besser ausgestattet als Mädchen. Ähnlich wie Freud beschrieb Erikson die Entwicklung in dieser Phase etwas stärker aus der Sicht des Jungen. Durch die Identifizierung mit den elterlichen Geboten und auf der Basis der bereits vorhandenen Schamentwicklung entstehen nun Schuldgefühle wegen kleiner Missetaten, wird die Eigeninitiative gebremst.
Phase 4: Werksinn vs. Minderwertigkeitsgefühl (6. Lebensjahr bis Pubertät)
Ab dem 6. Lebensjahr wächst das Wissen enorm, Jungen und Mädchen wollen ihre Talente ausprobieren, haben Freude an der Arbeit und Kreativität. Dieser Werksinn nach Erikson ist in allen Kulturen ausgeprägt, und alle Kulturen unternehmen auch eine systematische Unterweisung im Arbeiten, im Werkzeuggebrauch, in handwerklichen Fertigkeiten. Vor allem die Schule ist der Ort, in dem sich das Kind deutlich als kompetent bzw. inkompetent, überlegen bzw. unterlegen in Bezug auf die eigenen Fertigkeiten fühlt. Aber auch im Freizeitbereich, bei Hobbies und sportlichen oder musikalischen Aktivitäten mit Gleichaltrigen kann das Kind Anerkennung oder Minderwertigkeit und Scheitern erleben.
Phase 5: Ich-Identität vs. Ich-Identitätsdiffusion (Jugendalter)
Mit Eintreten in die Pubertät werden alle früheren Identifizierungen in Frage gestellt. Jugendliche beschäftigen sich extrem mit sich und mit der Frage, wie er oder sie in den Augen anderer erscheinen, welchen Beruf sie wählen sollen. Unklare Zukunftsoptionen verstärken das Gefühl der Unsicherheit und des Umbruchs und tragen zur Orientierungslosigkeit bei. Bei der Neukonzeptualisierung der Identität, die sich an die veränderte körperliche Erscheinung anpassen muss, geht es um eine Überprüfung und Integration früherer Identifizierungen. Es wird zugleich nach neuen Rollen und Modellen für das eigene zukünftige Ich gesucht, mit teilweise schwärmerischen Beziehungen zu (nicht-elterlichen) Erwachsenen. Das kann auch bei einer Identitätsdiffusion, »um sich zusammenzuhalten« (Erikson, 1971, S. 110), zu völliger Überidentifikation mit Helden, Cliquen etc. führen. Die Gleichaltrigen sind eine wichtige Stütze in diesem komplizierten Lösungsprozess.
Phase 6: Intimität vs. Isolation (frühes Erwachsenenalter)
Bereits in der davorliegenden Phase geht es um den Aufbau von Partnerschaftsbeziehungen als Erweiterung der Identität. Dieses Thema steht nun im Zentrum, und es sollte ein gewisses Maß an Intimität mit einem Partner möglich sein, ohne dass man Angst hat, seine Grenzen, seine Identität zu verlieren. »Es gibt keine wahre Zweiheit ehe man nicht selber eine Einheit ist« (Erikson, 1971, S. 115). Psychoseähnliche Ängste vor zu großer Nähe, aber auch zu große Distanzierung vom Partner und zu starke Selbstbezogenheit zeigen an, dass dieser Konflikt nicht gut gelöst werden konnte. Wird dieser Konflikt dagegen, aufbauend auf den erfolgreichen Lernprozessen der früheren Phasen, gemeistert, ist der junge Erwachsene zur Liebe fähig.
Phase 7: Generativität vs. Stagnation und Selbstabsorption (Erwachsenenalter)
Liebe ist die Voraussetzung für Generativität im Sinne Eriksons, die mehr umfasst als lediglich das Zeugen und Versorgen eigener Kinder. Es geht darum, insgesamt Sorge für die zukünftige Generation zu tragen, sich um sie zu kümmern und sich sozial verantwortlich in die Gesellschaft zu integrieren. Menschen, denen dies nicht gelingt, stagnieren in ihrer Entwicklung, dies hält Erikson, ebenso wie die Flucht vor der Intimität, für eine Kernpathologie. Verantwortung für andere zu übernehmen, wird als wesentlich für eine reife Persönlichkeitsentwicklung angesehen. Wenn dies nicht gelingt, führt dies zur Stagnation, zu Einsamkeit und Egoismus. Die Fähigkeit zur Fürsorge sollte allerdings nicht so weit gehen, sich selbst dabei aus den Augen zu verlieren.
Phase 8: Ich-Integrität vs. Verzweiflung (reifes Erwachsenenalter)
In dieser Phase erfolgt in der Regel ein Lebensrückblick mit einer Bilanzierung, inwieweit man seinen Identitätsentwurf auch verwirklichen konnte und mit seinem Leben zufrieden ist, oder ob man verzweifelt versucht, noch nicht gelebte Facetten umzusetzen: »Die Zeit ist kurz, zu kurz, um ein neues Leben zu beginnen« (Erikson, 1971, S. 119). Die Verzweiflung am Lebensende, die Todesfurcht sind wesentliche Anzeichen dafür, dass der Konflikt dieser Phase nicht angemessen gelöst werden konnte. Eine Auseinandersetzung mit dem eigenen gelebten Leben ist für Erikson wichtiger Abschluss, in dem erneut integrative Fertigkeiten notwendig sind, um die verschiedenen Aspekte des gelebten Lebens zusammenzubringen und nicht ob des Resultats zu verzweifeln.
Jede der acht Phasen stellt demnach eine Krise dar, mit der das Individuum sich aktiv auseinandersetzten sollte. Die Stufenfolge ist für Erikson unumkehrbar. Die erfolgreiche Bewältigung einer Entwicklungsphase liegt in der Klärung des Konflikts auf dem positiv ausgeprägten Pol. Die vorangegangenen Phasen bilden somit das Fundament für die kommenden Phasen, und angesammelte Erfahrungen werden verwendet, um die Krisen der höheren Lebensalter zu verarbeiten. Dabei wird ein Konflikt nie vollständig gelöst, sondern bleibt ein Leben lang aktuell, war aber auch schon vor dem jeweiligen Stadium als Problematik vorhanden. Das wird besonders deutlich beim Identitätsthema, wie noch zu zeigen sein wird.
Die erste Fassung des Stufenmodells wurde 1950 im Buch Childhood and Society unter »Wachstum und Krisen der gesunden Persönlichkeit« veröffentlicht. Es ist interessant zu sehen, dass es offenkundig nicht ganz einfach ist, die Phase, in der man sich gerade befindet, konzeptuell zu bearbeiten. Erikson ist selbst ein gutes Beispiel dafür, dass man in der Regel nicht den Blick hat für die eigene Entwicklungsphase, sondern dass dies eher durch eine Sicht von außen ermöglicht wird (Seiffge-Krenke, 2012a):
Das siebte Stadium Generativität war ursprünglich gar nicht vorgesehen. Wie ist es entstanden? Erikson war mit seiner Frau auf dem Weg zu einem Vortrag; von Berkeley aus wollte er den Zug nach Los Angeles nehmen. Zu diesem Zeitpunkt hatten sie drei kleine Kinder. Während der Autofahrt von Berkeley zur Train Station San Francisco amüsierten sie sich darüber, dass Shakespeare, als er die »Seven ages of men« aus »As you like it« beschrieben hat, komplett das Play Stage vergessen hatte, und kamen sich sehr weise vor. »Oh Schreck, er hat sieben Stadien und das Spielstadium vergessen. Haben wir nicht auch sieben Stadien? Was haben wir eigentlich übersehen? Wir sind von Intimität, Stadium 6, zu Integrität im höheren Erwachsenenalter, Stadium 7, gesprungen«. Während der Autofahrt, die Zeit eilte, haben Erikson und seine Frau relativ schnell ein neues, ein siebtes Stadium entwickelt, die Generativität. Interessanterweise sind sie auf das Stadium, in dem sie sich selber befanden, Generativität, erst durch einen Zufall gekommen (Erikson, 1982/1997, S. 3).
Nach Eriksons Tod legte seine Frau Joan eine Weiterentwicklung des Modells vor, in dem sie 9 Phasen postuliert (Erikson, 1982/1997). Die letzte Phase der Gerotranszendenz setzt sich mit dem Altern und dem Tod auseinander. Sie ordnet sie den 80- und 90-Jährigen zu, die sich mit körperlichen Einschränkungen und Verfall, Aufgeben der Autonomie beschäftigen müssen, und nennt sie »a second childhood without play« (Erikson 1982/1997, S. 118). Die Perspektive liegt hier auf dem Kosmischen, Transzendenten, dem Eins-Sein mit der Welt.
Die Entwicklung des Selbst, der Identität als »subjective feeling of sameness and continuity across times and contexts« ist für Erikson (1959, S. 21) eine lebenslange Aufgabe, die sich am Ende des Lebens noch einmal verstärkt stellt. Dennoch hat er damals die entscheidenden Impulse für die Identitätsentwicklung zentral in der Adoleszenz zwischen den Polen Identitätssynthese und Identitätskonfusion angesiedelt und von deren Scheitern eine Beeinträchtigung der folgenden Entwicklungsaufgaben (Intimität und Elternschaft) postuliert. Im Unterschied zu früheren psychoanalytischen Ansätzen, die die Bedeutung der Triebdynamik in der Adoleszenz (S. Freud) und die entsprechenden Abwehrprozesse ins Zentrum der Adoleszentenentwicklung stellten (A. Freud), hat er den psychoanalytischen Raum sehr erweitert. Erikson hat eine Konzeption vorgelegt, in der er die individuelle Entwicklung des Einzelnen und gesellschaftliche Anforderungen, aber auch eigene Kompetenzen einbezieht, eine Idee, die später von Havighurst (1956) in seinem Konzept der altersspezifischen Entwicklungsaufgaben aufgegriffen wird: Es gibt für jede Entwicklungsphase typische Aufgaben des Individuums, die von der Gesellschaft an es herangetragen werden und die es kompetent realisieren, bewältigen muss.
Das Jugendalter wurde erstmals von Erikson (1968) als eine Phase beschrieben, die für den lebenslangen Prozess der Identitätsentwicklung von herausragender Bedeutung ist. In seiner Theorie der psychosozialen Entwicklung nahm er an, dass acht Themen lebenslang identitätsrelevant sind, von denen jeweils eines altersabhängig besonders drängend und krisenhaft ist. Die aktive Auseinandersetzung mit der jeweiligen lebensphasentypischen Krise ist dabei für die Bewältigung der nachfolgenden Krise hilfreich. Sein Modell ist also eine Stufenfolge von aufeinander aufbauenden Entwicklungsschritten mit spezifischen Herausforderungen, die jeweils gelöst werden müssen. Obwohl er annahm, dass der generelle Zeitplan des Durchlaufens der phasenspezifischen Krisen stark an Bedingungen der biologischen Reife geknüpft ist, betonte er die Bedeutung von Kultur und sozialer Umwelt für ihre Lösung.
Die Krise, die nach Erikson das Jugendalter charakterisiert, war zwischen den Polen Identitätssynthese (d. h. der Integration von früheren Identitätsaspekten und Identifikationen aus der Kindheit) und Identitätskonfusion (der Unfähigkeit, das Ganze zu einer kohärenten Identität zu integrieren) angesiedelt. Sie besteht in der Herausforderung, die eigene Identität zu definieren. Ihr wird von ihm die größte Bedeutung von allen zu bewältigenden Krisen beigemessen. Sie ist dadurch charakterisiert, dass der junge Mensch das, was er bisher von den Eltern unhinterfragt übernommen hat, z. B. politische, religiöse oder sexuelle Orientierung, in Zweifel zieht. Idealerweise wird eine möglicherweise sich einstellende Identitätsdiffusion aufgehoben, in dem der Jugendliche sich mit verschiedenen alternativen Identitätsformen auseinandersetzt, um sich dann aktiv und autonom für eine Identitätsform zu entscheiden.
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