Die Autorin

Inge Seiffge-Krenke ist Professorin für Entwicklungspsychologie. Sie hat 2020 den EARA Lifetime Achievement Award für ihre herausragenden Beiträge zur Erforschung des Jugendalters erhalten. Sie ist Psychoanalytikerin (DPV) für Erwachsene, Kinder und Jugendliche und als Supervisorin in der Aus- und Weiterbildung tätig.

Inge Seiffge-Krenke

Die Jugendlichen und ihre Suche nach dem neuen Ich

Identitätsentwicklung in der Adoleszenz

2., aktualisierte Auflage

Verlag W. Kohlhammer

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2., aktualisierte Auflage 2021

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-041752-6

E-Book-Formate:

pdf:        ISBN 978-3-17-041753-3

epub:     ISBN 978-3-17-035715-0

 

Inhalt

 

 

  1. 1          Einleitung: Adoleszenz – die Zeit, in der die Identitätsentwicklung zentrale Bedeutung gewinnt
  2.  
  3. 2          Theorien zur Identitätsentwicklung
  4.  
  5. 2.1       Identitätsentwicklung als Lebensaufgabe nach Erik H. Erikson
  6. 2.1.1   Erik H. Erikson: Der Begründer der psychoanalytischen Identitätstheorie und seine ganz persönliche Identitätskrise
  7. 2.1.2   Das Phasenmodell der menschlichen Entwicklung
  8. 2.2       Die klassischen Theorien der Identitäts- entwicklung: Erikson und Marcia
  9. 2.2.1   Eriksons Konzept der Identitätsentwicklung im Jugendalter
  10. 2.2.2   Der Ansatz von Marcia
  11. 2.2.3   Weitere Identitätskonzeptionen
  12. 3          Selbst und Identität in der Kindheit und im jungen Erwachsenenalter und die Zentralität der adoleszenten Identitäts- entwicklung
  13.  
  14. 3.1       Selbst- und Identitätsentwicklung in der Kindheit
  15. 3.1.1   Selbstwahrnehmung in der frühen Kindheit
  16. 3.1.2   Selbstwahrnehmung und Selbstcharakterisierung in der mittleren Kindheit
  17. 3.2       Die Zentralität der Adoleszenz für die Selbst- und Identitätsentwicklung
  18. 3.2.1   Bedeutende Entwicklungsvoraussetzungen für die Zentralität der Adoleszenz
  19. 3.2.2   Spannungsbogen zwischen nicht abgeschlossener Hirnentwicklung, Verfrühung der körperlichen Reife und Verspätung der Identitätsentwicklung
  20. 3.3       Und wie geht’s weiter im jungen Erwachsenenalter?
  21. 3.3.1   Identität als Kombination von Exploration und Commitment
  22. 3.3.2   Auffallende Veränderungen in den letzten Jahren: Mehr Exploration, Instabilität und eine starke Selbstfokussierung bei jungen Erwachsenen
  23. 4          Die Suche nach dem neuen Ich bei männlichen Jugendlichen
  24.  
  25. 4.1       Die Veränderung der Beziehungen zwischen Vätern und Söhnen und ihre Folgen für die Identitätsentwicklung
  26. 4.1.1   Sind Söhne noch der »Spiegel« des Vaters?
  27. 4.1.2   Sind »neue Väter« förderlicher für die Identität von Söhnen?
  28. 4.1.3   Exploration und die Bedeutung des Väterlichen
  29. 4.1.4   Väter, die die Identitätsentwicklung ihrer Söhne nicht stützen können
  30. 4.2       »Haben und Zeigen«: Identitätsentwicklung und Körperselbst im Kontext von Freunden und der Clique
  31. 4.2.1   Veränderte Selbstwahrnehmung und Körperwahrnehmung
  32. 4.2.2   Freunde als Ansprechpartner, mit Freunden geteilte neue Erfahrungen
  33. 4.2.3   Bedeutung der Jungenclique: »Haben und Zeigen«
  34. 4.3       Oszillieren zwischen Identitätsbarrieren und -erweiterungen: Homophobie und riskantes Verhalten
  35. 4.3.1   Vermeidung zu großer Nähe bei der Identitätskonstruktion, riskante Explorationen
  36. 4.3.2   Identität im Gewaltkontext: Bullying
  37. 4.4       Erweiterung der Identität durch Zugang zu romantischen Partnern
  38. 4.5       Aggression, die »Leerstelle Vater« und ihre Bedeutung für die Identitätsentwicklung
  39. 4.6       Stabilität und Veränderung der Identitäts- dimensionen im Jugendalter, langsamere Entwicklung der Jungen
  40. 5          Die Suche nach dem neuen Ich bei weiblichen Jugendlichen
  41.  
  42. 5.1       Identitätsherausforderungen durch die körperliche Reife: Bedeutung der Körperscham, von Narzissmus und Entfremdung
  43. 5.1.1   Attraktivität, Figurprobleme und Körper- entfremdung als typische Merkmale des adoleszenten Körperkonzeptes
  44. 5.1.2   Bedeutung der Körperscham
  45. 5.1.3   Das negativere Körperbild von Mädchen: Seit Jahrzehnten konstant
  46. 5.1.4   Die Vermarktung des weiblichen Körpers
  47. 5.2       Ein neuer Blick auf das Selbst: Die relationale Identität der Mädchen in Freundschaftsbeziehungen
  48. 5.2.1   Die Berücksichtigung des Erlebens anderer, Schamentwicklung und Fortschritte in der Kontrolle von negativen Emotionen
  49. 5.2.2   Strenge Normen und starke Geschlechts- typisierungen in der Gruppe der Mädchen
  50. 5.2.3   Intimer Austausch und Co-rumination: Potentiale und Gefahren für die Identitätsentwicklung
  51. 5.3       Identifikatorische Prozesse, aber auch Gefahren durch die Gleichgeschlechtlichkeit von Mutter und Tochter
  52. 5.3.1   Eltern als Identitätsbremse – besonders stark bei Mädchen
  53. 5.3.2   Wenn die Differenzierung misslingt: Die Tochter als Selbstobjekt der Mutter
  54. 5.4       Unterstützung der Weiblichkeit und die selektive Identifizierung mit dem Vater
  55. 5.4.1   Die Bedeutung des Vaters für die Entwicklung der Weiblichkeit seiner Tochter
  56. 5.4.2   Die tüchtige Tochter: Identifizierung mit Differenz
  57. 5.5       Der Beitrag der romantischen Partner: Noch Platz fürs Selbst?
  58. 5.5.1   Positive und negative Einflüsse von Partnerschaften
  59. 5.5.2   Verwirrende Gefühle: »Freunde« oder »Lover«?
  60. 5.5.3   Noch Platz fürs Selbst: Ein spezifisch weibliches Problem?
  61. 5.6       Verringerung der Geschlechtsunterschiede über die Jugendzeit, verstärkte Exploration der Mädchen
  62. 6          Sexuelle Identität und bisexuelles Schwanken als normales Entwicklungs- phänomen
  63.  
  64. 6.1       Männliche oder weibliche Identität
  65. 6.1.1   Entwicklungsverlauf und Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen Jugendlichen
  66. 6.1.2   Homosexualität und Bisexualität als sexuelle Orientierung
  67. 6.1.3   Transgender und das dritte Geschlecht
  68. 6.2       Bisexuelles Schwanken als Entwicklungs- phänomen
  69. 6.2.1   Ursprünge des Konzepts der Bisexualität bzw. des bisexuellen Schwankens
  70. 6.2.2   Bisexuelles Schwanken speziell im Jugend- alter: das Fünfphasenmodell von Blos
  71. 6.3       Einige Illustrationen: Bisexuelles Schwanken bei Horney und Colette, ihre Verdeutlichung im Mädchentagebuch
  72. 6.3.1   Bisexuelles Schwanken bei Karen Horney
  73. 6.3.2   Bisexuelles Schwanken bei Colette
  74. 6.3.3   Bisexuelles Schwanken in Mädchentage- büchern
  75. 6.4       Bisexuelles Schwanken und der Verzicht auf die Phantasie, beide Geschlechter zu sein
  76. 6.4.1   Bisexualität und vollständiger Ödipuskomplex
  77. 6.4.2   Die Bedeutung der Doppelidentifikation und der Optimierungsdruck
  78. 7          Schule, Werte, Sinn
  79.  
  80. 7.1       Identität und Schule
  81. 7.1.1   Bloß kein Streber sein
  82. 7.1.2   Schulstress, Zukunftsangst und Orientierungsprobleme
  83. 7.2       Werte, Ideale, Religion – noch eine Stütze der Identität?
  84. 7.2.1   Jugendliche Identitäten im Veganismus
  85. 7.2.2   Politische Verantwortung übernehmen: Fridays for future
  86. 7.2.3   Sinnkrisen und religiöse Werte
  87. 8          Auf der Suche nach Resonanz: Identitäts- konstruktion durch alte und neue Medien
  88.  
  89. 8.1       Identitätsexploration: Die Sicht auf das Selbst in Tagebüchern
  90. 8.1.1   Das fortgesetzte Gespräch zur Exploration der eigenen Identität
  91. 8.1.2   Analysen zur Ich-Entwicklung in Jugend- tagebüchern verschiedener Generationen
  92. 8.2       Das Internet als ideales Medium zur Identitätsentwicklung?
  93. 8.3       Im Spiegel der anderen: Soziale Medien und Smartphones
  94. 8.3.1   In ständiger Verbindung bleiben: das Smartphone
  95. 8.3.2   Im Spiegel der anderen: Selbstvergewisserung mit der Kamera
  96. 8.3.3   Narrative Identität, die Verführung zur beschönigenden Selbstdarstellung und die Erfindung von Biographien
  97. 8.4       Gefährliche Foren
  98. 8.5       Warum in der Adoleszenz und warum mehr Mädchen?
  99. 9          Das »narzisstische Zeitalter« und ein verändertes Elternverhalten als Einfluss- faktoren auf die Identitätsentwicklung
  100.  
  101. 9.1       Identitätsentwicklung und narzisstische Phänomene in der Adoleszenz
  102. 9.1.1   Empirische Belege für die Perspektive der Spiegelung des Selbst im anderen
  103. 9.1.2   Weitergehende starke Selbstfokussierung und Exploration der eigenen Identität im jungen Erwachsenenalter
  104. 9.2       Das »Zeitalter des Narzissmus« und familiendynamische Veränderungen, die zu einer erhöhten Selbstfokussierung und einer verzögerten Identitätsentwicklung beitragen
  105. 9.2.1   Gesellschaftliche Veränderungen: Das »narzisstische Zeitalter«
  106. 9.2.2   Familiendynamische Einflüsse: Narzisstischer »Missbrauch« durch die Eltern, elterliche Separationsängste und zu viel Unterstützung
  107. 9.3       Ineinandergreifen von normaler und pathologischer Entwicklung
  108. 9.3.1   Der ganz normale Narzissmus?
  109. 9.3.2   Wenn man nichts wert ist
  110. 10       Der Einfluss des kulturellen Kontexts auf die Identitätsentwicklung
  111.  
  112. 10.1    Entwicklung der ethnischen Identität: Besonderheiten bei adoptierten Jugendlichen
  113. 10.2    Herausforderungen für Jugendliche mit Migrationshintergrund
  114. 10.3    Identität und Familienbeziehungen in verschiedenen Kulturen
  115. 10.3.1 Ähnliche Identitätsentwicklung bei Jugendlichen aus vielen Ländern
  116. 10.3.2 Eltern als
    Identitätsbremse – ein universelles Phänomen?
  117. 10.4    Identitätsstress: Der Blick über den Tellerrand
  118. 11       Integration und Ausblick
  119.  
  120. Die Bedeutung konzeptueller Differenzierungen
  121. Die Schnittstelle zwischen Normalität und Pathologie
  122. Warum ist die Adoleszenz so zentral für die Identitätsentwicklung?
  123. Differentielle Befunde: Unterschiede in der Identitätsentwicklung von Jungen und Mädchen
  124. Geschlechtsidentität – keine einfache Entwicklung
  125. Wertorientierungen und ihre Bedeutung für die Identitätsentwicklung
  126. Die Spiegelmetapher und die neuen Medien
  127. Sind Eltern hilfreich bei der Identitätskonstruktion?
  128. Universalität von Identitätsexploration und problematischem elterlichen Einfluss
  129. Literatur
  130.  

 

1

Einleitung: Adoleszenz – die Zeit, in der die Identitätsentwicklung zentrale Bedeutung gewinnt

 

 

Auf die Idee, die Adoleszenz sei erst der »Vorwaschgang« für die Identitätsentwicklung, könnte man kommen, wenn man sich die Forschung zur Identitätsentwicklung anschaut. So wurden zwar in der Meta-Analyse zur Identitätsentwicklung von Jane Kroger und Kollegen (2010) auch Jugendliche einbezogen, der Schwerpunkt lag aber deutlich im jungen Erwachsenenalter. Die Ergebnisse sind über die vielen einbezogenen Länder hinweg recht einheitlich und zeigen, dass die Identitätsentwicklung bei Jugendlichen im Sinne einer Operationalisierung der Eriksonschen Konstrukte (als Kombination von Exploration und Commitment) gerade erst zaghaft begonnen hat und bis zu ihrem Abschluss noch fast 20 Jahre vergehen werden. Auch dann entwickeln Menschen ihre Identität weiter, besonders heute, wo die Brüchigkeit von Beziehungen und beruflichen Perspektiven häufig Neuorientierungen und Anpassungen in der Identität erfordern.

Dennoch, Erikson, dessen Konzeption diesem Buch zugrunde liegt, hatte meiner Ansicht nach recht: Auch wenn die Identitätsentwicklung prinzipiell ein lebenslanger Prozess ist, kommt der Adoleszenz diesbezüglich doch eine besondere Bedeutung zu. Heute verorten wir die Identitätsentwicklung keineswegs deshalb zentral in der Adoleszenz, weil wir sie, wie Erikson, als in der Adoleszenz für weitgehend abgeschlossen halten, sondern deshalb, weil es keinen Lebensabschnitt gibt, in dem so viele sozial-kognitive Lernprozesse in schneller Folge durchlaufen werden, die für die Entwicklung der Identität aus Beziehungen wichtig und notwendig sind.

Meine These ist, dass sich Identität aus Beziehungen entwickelt (Seiffge-Krenke, 2012a), und die Voraussetzungen für diese relationale Identität sind in keinem Lebensabschnitt so bedeutsam und veränderbar wie in der Adoleszenz. Tatsächlich sind sogar die raschen emotionalen und kognitiven Lernprozesse eine Voraussetzung dafür, dass sich die Identität der Jugendlichen so rasch verändern kann – körperlich, aber auch psychisch und sozial. Auch Susan Harter beschäftigte sich eingehend mit den Facetten dieser Entwicklung und beschrieb und untersuchte die »possible selves« (Harter et al., 1997), die sie zum einen auf kognitive Fortschritte, zum anderen auf den Sozialisationsdruck der Adoleszenz (d. h. die zunehmende Anpassung an erwachsene Rollen und Werte) zurückführt.

Bei der Untersuchung der Lernprozesse, die zum adoleszenten Identitätsstatus führen, ist auffällig, dass in der frühen Kindheit eher die Selbstwahrnehmung und Selbstbeschreibung, in der mittleren und späten Kindheit und verstärkt auch noch in der Adoleszenz eher das Selbstkonzept untersucht wurden. Alle drei Komponenten sind wichtig, aber Identität ist noch umfangreicher und komplexer und umfasst sehr viele verschiedene Facetten.

Erikson (1968) definierte Identität als »ein Gefühl für sich selbst, das aus der Integration vergangener, gegenwärtiger und zukünftiger Erfahrungen resultiert« (S. 36), und betonte sowohl Kontinuität als auch Veränderung über Zeiten und Kontexte. Wir werden also einen komplexeren Ansatz wählen, um diese Gleichheit und Kontinuität über Zeiten und Kontexte zu verdeutlichen. Er wird die geschlechtsspezifische Identitätsentwicklung, die Einflüsse der Familie durchaus auch im Sinne einer »Identitätsbremse« (Seiffge-Krenke, 2012a) und die starke Abhängigkeit der Identitätsentwicklung vom Entwicklungskontext, kulturellen Einflüssen und den Wandel in der Identitätsentwicklung über die Lebenspanne aufgreifen und zeigen, welche zentrale Entwicklungsprozesse in der Adoleszenz stattfinden – auch wenn die Identitätsentwicklung noch lange nicht abgeschlossen ist. Die Spiegelmetapher, die für die Entwicklung im Säuglings- und Kleinkindalter wichtig ist für die Unterscheidung von Ich und Nicht-Ich, erfährt in der Adoleszenz durch die besonderen Fähigkeiten von Jugendlichen eine ganz neue Erweiterung. Sehr viele verschiedenen Perspektiven von anderen Menschen wahrzunehmen, zu integrieren und sich »im Spiegel der anderen« zu sehen und zu erkennen, wird wichtig und lässt sich zum einem an der ungewöhnlich hohe Rate an selbstreflexiven Aktivitäten, aber auch an der intensiven Nutzung der sozialen Medien festmachen.

Dieser Entwicklungsprozess ist nicht ohne Gefährdungen, wie wir am Ende sehen werden. Die Adoleszenz als zentrale Schnittstelle für die Identität kann also zur beschleunigten Weiterentwicklung, aber auch zur Stagnation, ja zur Krise mit psychischen und körperlichen Symptomen führen.

 

2

Theorien zur Identitätsentwicklung

 

 

Die klassischen Theorien der Identitätsentwicklung, jene von Marcia und Erikson, sind auch Grundlage dieses Buches. Die Theorie von Erikson ist jedoch umfangreicher als jene von Marcia, denn sie schließt ein Stufenmodell der psychosozialen Entwicklung ein, in der die Identitätsentwicklung nur eine, wenngleich zentral wichtige Phase darstellt. Außerdem, und dies ist für unsere heutigen multikulturellen Gesellschaften wichtig, hat er eine eindeutige kulturelle Perspektive in seinem Werk und sieht die Identitätsentwicklung immer als abhängig vom kulturellen und Entwicklungskontext.

Ich möchte zunächst auf Erikson selber, seinen Lebensweg, seine Schriften eingehen, bevor das Stufenmodell und dann seine spezifischen Annahmen zur Identitätsentwicklung dargestellt werden. Es ist tatsächlich wichtig, die Identitätsentwicklung in einen größeren Kontext zu stellen, denn sie beginnt und endet keineswegs mit der Adoleszenz. Dies gilt heute in noch viel stärkerem Masse als zu Zeiten Eriksons. Die Adoleszenz schafft nur, wie in Kapitel 3 ( Kap. 3) dargestellt, die besonderen Voraussetzungen für ein beschleunigtes Voranschreiten der Identität, und die sind auch notwendig, denn in dieser Phase kommen gänzlich neue Aufgaben auf das Individuum zu. Nach Erikson haben Marcia und in der Folge einige andere Forscher die Identitätskonzeptionen übernommen. Auch dies wird Gegenstand dieses Kapitels sein. Die detaillierten Untersuchungsergebnisse finden sich dann aber ausführlich in Kapitel 3 ( Kap. 3).

2.1       Identitätsentwicklung als Lebensaufgabe nach Erik H. Erikson

Erik Homburger Erikson (* 15. Juni 1902 bei Frankfurt am Main; † 12. Mai 1994 in Harwich, Massachusetts, USA) war einer der bedeutendsten Vertreter der psychoanalytischen Ich-Psychologie nach dem 2. Weltkrieg. Mit seiner Weltoffenheit, seiner kreativen Energie und seinem liebenswürdigen Humor gilt er als einer der letzten Grandseigneurs seines Fachgebietes (Conzen, 2002). Erikson hat es verstanden, klinische Tätigkeit, gesellschaftskritisches Engagement und ethische Prinzipen zusammenzubringen. Er trat gegen Gewaltherrschaft, Krieg und Rassismus ein und prägte in den 1960 und 1970er Jahren das Denken einer ganzen Generation und insbesondere auch die amerikanische Studentenbewegung. Als er 1992 im Alter von fast 92 Jahren starb, würdigte der damalige Präsident Bill Clinton ihn als herausragenden Wissenschaftler und steten Anwalt der Humanität. Das von ihm entwickelte Stufenmodell der psychosozialen Entwicklung nimmt innerhalb seiner Theorie einen besonderen Platz ein, darin ist die Identitätsentwicklung im Jugendalter zentral. Biographische Erfahrungen und Brüche beeinflussten seine Identität und entsprechend auch sein Werk.

2.1.1     Erik H. Erikson: Der Begründer der psychoanalytischen Identitätstheorie und seine ganz persönliche Identitätskrise

Wenn wir gegenwärtig, wie noch genauer zu schildern sein wird, eine veränderte Identitätsentwicklung mit einer relativ langen Phase der Exploration, des Ausprobierens, für charakteristisch halten, so sollte dies nicht den Blick darauf verstellen, dass es schon immer Personen gab, die eine ausgedehnte Explorationsphase durchmachten, in der sie sich fragten, wer sie seien und welche Ziele sie in ihrem Leben anstreben wollten. Allerdings war eine solche Entwicklung eher die Ausnahme, und, wie man anhand der Biographie von Erikson sehen kann, durchaus auch quälend. Vielleicht waren aber die vielen biographischen Brüche und die von ihm selbst als belastend erlebte Unschlüssigkeit und Unklarheit, welchen Beruf er ergreifen sollte, die persönliche Grundlage dafür, dass er sich dem Identitätsthema widmen konnte.

Erikson wurde 1902 bei Frankfurt/Main geboren. Er war der Sohn einer dänischen Jüdin, die sich kurz zuvor von ihrem dänischen Ehemann getrennt hatte, der allerdings nicht der leibliche Vater von Erikson war. Sein ganzes Leben lang hat Erikson die Frage, wer sein Vater war, sehr beschäftigt, er stellte viele Nachforschungen an, und es belastete ihn, dass er diese Frage nie wirklich klären konnte. Die ersten drei Jahre seines Lebens trug er den Nachnamen seiner Mutter, er hieß also Erik Abrahamsen, nach deren Heirat mit dem Kinderarzt der Familie 1905 hieß er Erik Homburger. Auch sein Stiefvater war Jude, und manche antisemitischen Angriffe während seiner Schulzeit in Karlsruhe machten aus ihm einen scheuen und zurückhaltenden Jugendlichen. Hier lernte er mit 16 Jahren Peter Blos kennen, der aus Karlsruhe stammte, mit dem er später intensiv zusammenarbeiten sollte und der ebenfalls eine Differenzierung in Phasen mit spezifischen Entwicklungsanforderungen und Aufgaben formulierte, allerdings lediglich für das Jugendalter.

Nach seinen Schuljahren geriet Erikson in eine Krise, weil er sich für keinen Beruf entscheiden konnte. Eriksons Eltern hatten genaue Vorstellungen von seiner beruflichen Ausrichtung, mit denen er sich jedoch nicht anfreunden konnte. Durch seine Weigerung, die von den Eltern gewünschte Arztlaufbahn einzuschlagen, geriet er nach dem Abitur in ein langes krisenhaftes Moratorium. Er versuchte sich als Künstler, brach aber immer wieder den Versuch, eine künstlerische Ausbildung an einer Kunstakademie zu absolvieren, ab und unternahm eine Wanderung durch Europa. Diese Wanderjahre, in denen er sich immer wieder als Künstler versuchte, waren durch eine innere Unausgeglichenheit gekennzeichnet, die ihn später, wie er schreibt (Erikson, 1982), zu dem Thema der Identitätskrise disponierte.

Später holte ihn Peter Blos nach Wien, wo er als Lehrer an der Burlingham-Rosenfeld-Schule arbeitete, deren Direktor sein Freund Peter Blos war. Erikson war zu jener Zeit Mitte zwanzig und verstand sich selbst als Künstler. Er arbeitete mit Holzschnitten und stellte verschiedentlich aus, u. a. in München zusammen mit Max Beckmann und Wilhelm Lehmbruck. Erikson war zwar weiterhin an der Kunstakademie eingeschrieben, machte sich aber, rastlos wie er war, immer wieder auf die Wanderschaft und verbrachte eine Zeit in der Toskana. Rückblickend schreibt er: »Ich war zu jener Zeit wohl ein ›Bohemien‹.« Erst in der Wiener Zeit und nur mit Hilfe seines Freundes Peter Blos habe er »regelmäßig arbeiten« gelernt (Erikson1982, S. 27).

Die frühe Psychoanalyse mit ihren unkonventionellen Ansichten, die insbesondere die sexuelle Prüderie und Doppelmoral entlarvte, übte auf Erikson einen großen Reiz aus. Die dort vertretenen Ideen halfen ihm dabei, Klarheit über sich selbst zu gewinnen und seine berufliche und weltanschauliche Identität zu formen. Er machte seine Lehranalyse bei Anna Freud und unterzog sich einer Ausbildung zum Psychoanalytiker. In dieser Zeit, etwa 1927, hatte er eine schwere depressive Krise und lernte auch seine spätere Frau Joan, eine Kanadierin, kennen. Seine Heirat in diesen Jahren war ein weiterer Faktor für nun zunehmende Stabilität in seinem Leben. Aus der Ehe gingen vier Kinder hervor. Das jüngste Kind, Neil (* 1944), litt an einem Down-Syndrom und es blieb eine belastende Erfahrung für die gesamte Familie, dass Neil in ein Heim gegeben wurde und jung, mit 21 Jahren, starb.

Nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten verließ die Familie mit dem ältesten Sohn Kai Wien und emigrierte in die USA. Dieser Wechsel war auch mit einer Veränderung des Nachnamens der Familie verbunden. Der bisherige Name »Homburger« wurde für alle in »Erikson« (»Eriks Sohn«) umgeändert, lediglich Erikson behielt den Namen »Homburger« als mittleren Bestandteil seines Namens bei.

Eriksons Ideen über Kultur und Gesellschaft wurden beflügelt durch die Bekanntschaft mit Alfred Kroeber, einem deutschen Anthropologen, der in Berkeley einen der letzten Überlebenden der Yahi-Indianer in die westliche Zivilisation gebracht und die Anpassungsversuche von Ishi beobachtet und beschrieben hatte. Gemeinsam mit Kroeber lebte er im Jahr 1938 eine Zeitlang mit einer Untergruppe der Sioux-Indianer, den Oglaja, im Pine Ridge Reservat, Süd Dakota, zusammen und analysierte deren Zusammenleben und die Kindererziehung, die er in Kindheit und Gesellschaft darstellt. In diesem Buch beschreibt er auch den an der Westküste lebenden Indianerstamm der Yurok, die andere Erziehungshaltungen ihren Kindern gegenüber hatten als die Oglaja. Wie sich dieses so andere Erziehungsverhalten in einem anderen kulturellen und Lebenskontext auswirkte, schildert er eindrucksvoll. Beide Indianerstämme hatten sehr verschiedene Lebensräume und entwickelten auch sehr verschiedene Identitäten und Persönlichkeitsmerkmale.

Nach seiner Emigration war Erikson zunächst als Psychotherapeut und Dozent tätig und hatte später eine Professur in zwei sehr renommierten amerikanischen Hochschulen (Harvard und Berkely) inne, eine ganz ungewöhnliche und in Deutschland ohne akademische Ausbildung undenkbare Karriere. Zu diesem Zeitpunkt gab es durch die Emigration vieler jüdischer Psychoanalytiker wie Karen Horney, Erich Fromm, Wilhelm Reich bereits Erweiterungen des klassischen Ansatzes, für Erikson blieb das Werk von Sigmund Freud aber seine wichtigste geistige Prägung. Er entwickelte Freudianische Ideen weiter, mit seiner Stufenfolge der Entwicklung und der Identitätstheorie bezeichnete er sich als Stiefsohn Freuds. Erikson wurde 1956 nach Frankfurt eingeladen, um den Festvortrag zum 100. Geburtstag von Sigmund Freud zu halten. Zahlreiche Ehrungen und Preise, z. B. 1970 der Pulitzer Preis für seine Arbeit über Ghandi, krönten das Lebenswerk des genialen Autodidakten (Conzen, 2017). In seinen späteren Lebensjahren, etwa ab 1980, zog sich Erikson zunehmend zurück und litt wieder stärker unter Depressionen und Gefühlen der Wertlosigkeit, die ihn auch früher schon begleitet hatten. Möglicherweise setzte er sich während dieser Zeit wieder verstärkt mit Fragen der Identität auseinander. In der letzten Stufe seines psychosozialen Modells der Entwicklung geht es wiederum verstärkt um Identität und die Frage der Akzeptanz und Zufriedenheit mit dem eigenen realisierten Identitätsentwurf. In dieser Zeit war seine Frau Joan seine wertvollste Stütze, sie setzte die Arbeit an dem Stufenmodell der psychosexuellen Entwicklung fort und beschäftigte sich besonders mit der letzten Phase, dem Übergang zum Tod. Sie starb 3 Jahre nach ihrem Mann, im Jahre 1997.

In Identität und Lebenszyklus gibt er einigen Aufschluss über ein Thema, dass ihn persönlich wohl auch sehr beschäftigt haben mag. Er schildert verschiedene Fallvignetten aus seinen psychotherapeutischen Behandlungen, in denen Unterdrückte, Ausgestoßene unbewusst das negative Bild übernehmen, das die Gesellschaft oder verschiedene Gruppen ihnen zuschreiben. Für einen Patienten, einen hochgewachsenen Ranger, verlief das Leben äußerlich erfolgreich, aber er war innerlich von Ängsten, Zweifeln und Zwängen geplagt. Nur seine Frau wusste, dass er als Jude geboren und in einer Judenstraße in einer Großstadt aufgewachsen war. In der Analyse wurde deutlich, dass seine Freunde und Gegner unbewusst die Rolle der deutschen Jungen einnahmen, die den kleinen Jungen auf seinem Schulweg quälten – der Weg, wie er schreibt, »von einer abgelegenen und vornehmeren Judenstrasse durch feindliche Häuserruinen und Bandenkriege zu einem kurzfristigen Aufenthalt in einem demokratischen Klassenraum« (Erikson, 1971, S. 30). Die Analyse dieses Mannes zeigte auf betrübliche Weise das negative Bild einer jüdischen Identität, eines jüdischen Aussehens, dem dieser Patient sogar durch Schönheitsoperationen abhelfen wollte. Hier wird deutlich, dass die Identität auch das körperliche Ich umfasst, und bereits Freud betonte, dass das erste Ich vor allem ein körperliches ist. Selbstkonzept und Körperkonzept sind also untrennbar in der Identität miteinander verschmolzen.

2.1.2     Das Phasenmodell der menschlichen Entwicklung

Die acht Phasen der psychosozialen Entwicklung nach Erikson (1959, dt. 1971)

Identität war für Erikson nicht nur durch Kontinuität und Wandel gekennzeichnet (man verändert sich und bleibt sich selbst dennoch treu), sondern auch durch Kohärenz, d. h. man erlebt sich als der oder die Gleiche, in ganz unterschiedlichen Rollen und Kontexten. Ich möchte daran erinnern, dass der Begriff der Kohärenz auch für die Bindungstheorie und -forschung von Bedeutung ist. Die Identität ist damit das organisierende Prinzip der menschlichen Entwicklung.

Für die Generation von Erikson waren kulturelle Brüche, Verfolgung und Ablehnung Alltagserfahrungen, und dies macht sein Werk heute so wertvoll. Erikson hat einmal formuliert, dass sich die Identität als Schnittpunkt zwischen eigenen Wünschen und dem, was die Umwelt gestattet, entwickelt, und damit den Balanceakt zwischen individuellen Wünschen und Zielen in der Selbstverwirklichung und den gesellschaftlichen Barrieren auf den Punkt gebracht. Gegenwärtig sind in den postmodernen Gesellschaften rasche gesellschaftliche Umbrüche, ökonomische Krisen und Kriege und eine kontinuierliche Migration in die westlichen Industrienationen kennzeichnend, so dass eine große kulturelle Diversität entstanden ist. Erikson warnte vor der unkritischen Ausblendung von Ängsten und Konflikten, und so ist es auch zu verstehen, dass er in seinem Phasenmodell bei jeder Entwicklungsstufe, die von ihm als normative Krise bezeichnet wird, Polaritäten einer geglückten und einer problematischen Entwicklung unterscheidet.

Peter Blos’ Buch On Adolescence: A Psychoanalytic Interpretation, 1962 erschienen, auch noch heute ein Standardwerk über die psychoanalytische Konzeption des Jugendalters, enthält auch eine Differenzierung in Phasen mit spezifischen Entwicklungsanforderungen und Aufgaben. Für das Phasenmodell von Erikson war charakteristisch, dass die 8 Phasen altersspezifisch aufeinander aufbauen, d. h. die Lösung einer altersspezifischen Krise die Voraussetzung für das Voranschreiten der Entwicklung und die Lösung der folgenden Krise ist. Kritisch ist zu bemerken, dass die Vorstellungen der persönlichen Reife teilweise etwas Normatives haben und insbesondere in den letzten 3 Phasen stark am Familienzyklus orientiert sind. Die ersten Phasen sind auch noch sehr deutlich an die Freud’sche Entwicklungstheorie angelehnt.

Phase 1: Ur-Vertrauen vs. Ur-Misstrauen (1. Lebensjahr)

In dieser Phase erlebt das Kind in enger Interaktion mit der Mutter das Gefühl des Ur-Vertrauens. Freud hat diese Phase als orale Phase bezeichnet, und tatsächlich ist das Stillen ein Stück Objektbeziehung: »An diesem Punkt lebt und liebt es mit dem Munde, und die Mutter lebt und liebt durch ihre Brust« (Erikson, 1971, S. 63). Dies zeigt die wechselseitige Regulation zwischen Mutter und Säugling in einer Beziehung, in der Körperkontakt, Erfüllen wichtiger körperlicher Bedürfnisse des Kindes in einer verlässlichen Beziehung im Vordergrund stehen bzw. die Anfänge des Misstrauens, von körperlichen Unlustzuständen und Spannungszuständen gelegt werden. Werden Bedürfnisse nach körperlicher Nähe, Geborgenheit, Schutz und Nahrung verweigert, weil die Mutter Probleme mit ihrer Rolle hat oder weil äußere Umstände dies verhindern, können frühe Verlassenheitsängste und diffuse Ohnmachtszustände entstehen.

Phase 2: Autonomie vs. Scham und Zweifel (1. bis 3. Lebensjahr)

Diese Phase lehnt sich, aufbauend auf vertrauensvollen frühen Beziehungen, an die anale Phase von Freud an, in der es um Festhalten und Hergeben geht und das Kind einen autonomen Willen entwickelt. Wird die Körperbeherrschung von den Eltern lobend unterstützt, entwickelt sich zunehmend Autonomie, d. h. das Kind erkundet mit ersten tastenden Schritten seine Umwelt. Zugleich kann es nun, bei beginnender Schamentwicklung, zu Unsicherheiten und Zweifeln beim Kind kommen, wenn es etwa sehr streng kontrolliert, eingeengt oder wegen kleiner Fehler beschämt wird. Erziehungsmethoden, die dem Kind ein »vernichtendes Gefühl des Beschämtseins« (Erikson, 1971, S. 79) vermitteln, hält er für gefährlich: »Die Scham beutet ein zunehmendes Gefühl des Kleinseins aus, das sich paradoxerweise gerade dann entwickelt, wenn das Kind stehen lernt und nun des Verhältnisses seiner eigenen Größe und Kraft zu der seiner Umwelt gewahr wird« (ebenda, S. 80). Das Kind muss erleben können, dass es selbst explorieren und die Umwelt erkunden darf, ohne dass durch seine zunehmende Autonomie die vertrauensvolle Beziehung zu den Eltern bedroht oder verändert wird.

Phase 3: Initiative vs. Schuldgefühle (3. bis 5. Lebensjahr)

Hier orientiert sich Erikson an Freud; sein Fokus liegt stark auf der Bewältigung oder dem Scheitern des Ödipuskomplexes mit den entsprechenden Konsequenzen für die Über-Ich- und Gewissensbildung. Gerade die zunehmende Autonomie, die das Kind nun erreicht hat, verbunden mit zunehmenden Fertigkeiten in Bezug auf Sprache, Bewegungsfreiheit und Vorstellungswelt machen es dem Kind in dieser Stufe möglich, seine Beziehungen sehr zu erweitern. Die Wissbegier ist auffallend und bezieht sich auch auf Sexualität, Zeugung und Geburt. Das (sexuelle) Interesse am jeweils anderen Elternteil ist geweckt, und Jungen scheinen durch ihr sicht- und greifbares Genitale besser ausgestattet als Mädchen. Ähnlich wie Freud beschrieb Erikson die Entwicklung in dieser Phase etwas stärker aus der Sicht des Jungen. Durch die Identifizierung mit den elterlichen Geboten und auf der Basis der bereits vorhandenen Schamentwicklung entstehen nun Schuldgefühle wegen kleiner Missetaten, wird die Eigeninitiative gebremst.

Phase 4: Werksinn vs. Minderwertigkeitsgefühl (6. Lebensjahr bis Pubertät)

Ab dem 6. Lebensjahr wächst das Wissen enorm, Jungen und Mädchen wollen ihre Talente ausprobieren, haben Freude an der Arbeit und Kreativität. Dieser Werksinn nach Erikson ist in allen Kulturen ausgeprägt, und alle Kulturen unternehmen auch eine systematische Unterweisung im Arbeiten, im Werkzeuggebrauch, in handwerklichen Fertigkeiten. Vor allem die Schule ist der Ort, in dem sich das Kind deutlich als kompetent bzw. inkompetent, überlegen bzw. unterlegen in Bezug auf die eigenen Fertigkeiten fühlt. Aber auch im Freizeitbereich, bei Hobbies und sportlichen oder musikalischen Aktivitäten mit Gleichaltrigen kann das Kind Anerkennung oder Minderwertigkeit und Scheitern erleben.

Phase 5: Ich-Identität vs. Ich-Identitätsdiffusion (Jugendalter)

Mit Eintreten in die Pubertät werden alle früheren Identifizierungen in Frage gestellt. Jugendliche beschäftigen sich extrem mit sich und mit der Frage, wie er oder sie in den Augen anderer erscheinen, welchen Beruf sie wählen sollen. Unklare Zukunftsoptionen verstärken das Gefühl der Unsicherheit und des Umbruchs und tragen zur Orientierungslosigkeit bei. Bei der Neukonzeptualisierung der Identität, die sich an die veränderte körperliche Erscheinung anpassen muss, geht es um eine Überprüfung und Integration früherer Identifizierungen. Es wird zugleich nach neuen Rollen und Modellen für das eigene zukünftige Ich gesucht, mit teilweise schwärmerischen Beziehungen zu (nicht-elterlichen) Erwachsenen. Das kann auch bei einer Identitätsdiffusion, »um sich zusammenzuhalten« (Erikson, 1971, S. 110), zu völliger Überidentifikation mit Helden, Cliquen etc. führen. Die Gleichaltrigen sind eine wichtige Stütze in diesem komplizierten Lösungsprozess.

Phase 6: Intimität vs. Isolation (frühes Erwachsenenalter)

Bereits in der davorliegenden Phase geht es um den Aufbau von Partnerschaftsbeziehungen als Erweiterung der Identität. Dieses Thema steht nun im Zentrum, und es sollte ein gewisses Maß an Intimität mit einem Partner möglich sein, ohne dass man Angst hat, seine Grenzen, seine Identität zu verlieren. »Es gibt keine wahre Zweiheit ehe man nicht selber eine Einheit ist« (Erikson, 1971, S. 115). Psychoseähnliche Ängste vor zu großer Nähe, aber auch zu große Distanzierung vom Partner und zu starke Selbstbezogenheit zeigen an, dass dieser Konflikt nicht gut gelöst werden konnte. Wird dieser Konflikt dagegen, aufbauend auf den erfolgreichen Lernprozessen der früheren Phasen, gemeistert, ist der junge Erwachsene zur Liebe fähig.

Phase 7: Generativität vs. Stagnation und Selbstabsorption (Erwachsenenalter)

Liebe ist die Voraussetzung für Generativität im Sinne Eriksons, die mehr umfasst als lediglich das Zeugen und Versorgen eigener Kinder. Es geht darum, insgesamt Sorge für die zukünftige Generation zu tragen, sich um sie zu kümmern und sich sozial verantwortlich in die Gesellschaft zu integrieren. Menschen, denen dies nicht gelingt, stagnieren in ihrer Entwicklung, dies hält Erikson, ebenso wie die Flucht vor der Intimität, für eine Kernpathologie. Verantwortung für andere zu übernehmen, wird als wesentlich für eine reife Persönlichkeitsentwicklung angesehen. Wenn dies nicht gelingt, führt dies zur Stagnation, zu Einsamkeit und Egoismus. Die Fähigkeit zur Fürsorge sollte allerdings nicht so weit gehen, sich selbst dabei aus den Augen zu verlieren.

Phase 8: Ich-Integrität vs. Verzweiflung (reifes Erwachsenenalter)

In dieser Phase erfolgt in der Regel ein Lebensrückblick mit einer Bilanzierung, inwieweit man seinen Identitätsentwurf auch verwirklichen konnte und mit seinem Leben zufrieden ist, oder ob man verzweifelt versucht, noch nicht gelebte Facetten umzusetzen: »Die Zeit ist kurz, zu kurz, um ein neues Leben zu beginnen« (Erikson, 1971, S. 119). Die Verzweiflung am Lebensende, die Todesfurcht sind wesentliche Anzeichen dafür, dass der Konflikt dieser Phase nicht angemessen gelöst werden konnte. Eine Auseinandersetzung mit dem eigenen gelebten Leben ist für Erikson wichtiger Abschluss, in dem erneut integrative Fertigkeiten notwendig sind, um die verschiedenen Aspekte des gelebten Lebens zusammenzubringen und nicht ob des Resultats zu verzweifeln.

Jede der acht Phasen stellt demnach eine Krise dar, mit der das Individuum sich aktiv auseinandersetzten sollte. Die Stufenfolge ist für Erikson unumkehrbar. Die erfolgreiche Bewältigung einer Entwicklungsphase liegt in der Klärung des Konflikts auf dem positiv ausgeprägten Pol. Die vorangegangenen Phasen bilden somit das Fundament für die kommenden Phasen, und angesammelte Erfahrungen werden verwendet, um die Krisen der höheren Lebensalter zu verarbeiten. Dabei wird ein Konflikt nie vollständig gelöst, sondern bleibt ein Leben lang aktuell, war aber auch schon vor dem jeweiligen Stadium als Problematik vorhanden. Das wird besonders deutlich beim Identitätsthema, wie noch zu zeigen sein wird.

Die erste Fassung des Stufenmodells wurde 1950 im Buch Childhood and Society unter »Wachstum und Krisen der gesunden Persönlichkeit« veröffentlicht. Es ist interessant zu sehen, dass es offenkundig nicht ganz einfach ist, die Phase, in der man sich gerade befindet, konzeptuell zu bearbeiten. Erikson ist selbst ein gutes Beispiel dafür, dass man in der Regel nicht den Blick hat für die eigene Entwicklungsphase, sondern dass dies eher durch eine Sicht von außen ermöglicht wird (Seiffge-Krenke, 2012a):

Das siebte Stadium Generativität war ursprünglich gar nicht vorgesehen. Wie ist es entstanden? Erikson war mit seiner Frau auf dem Weg zu einem Vortrag; von Berkeley aus wollte er den Zug nach Los Angeles nehmen. Zu diesem Zeitpunkt hatten sie drei kleine Kinder. Während der Autofahrt von Berkeley zur Train Station San Francisco amüsierten sie sich darüber, dass Shakespeare, als er die »Seven ages of men« aus »As you like it« beschrieben hat, komplett das Play Stage vergessen hatte, und kamen sich sehr weise vor. »Oh Schreck, er hat sieben Stadien und das Spielstadium vergessen. Haben wir nicht auch sieben Stadien? Was haben wir eigentlich übersehen? Wir sind von Intimität, Stadium 6, zu Integrität im höheren Erwachsenenalter, Stadium 7, gesprungen«. Während der Autofahrt, die Zeit eilte, haben Erikson und seine Frau relativ schnell ein neues, ein siebtes Stadium entwickelt, die Generativität. Interessanterweise sind sie auf das Stadium, in dem sie sich selber befanden, Generativität, erst durch einen Zufall gekommen (Erikson, 1982/1997, S. 3).

Nach Eriksons Tod legte seine Frau Joan eine Weiterentwicklung des Modells vor, in dem sie 9 Phasen postuliert (Erikson, 1982/1997). Die letzte Phase der Gerotranszendenz setzt sich mit dem Altern und dem Tod auseinander. Sie ordnet sie den 80- und 90-Jährigen zu, die sich mit körperlichen Einschränkungen und Verfall, Aufgeben der Autonomie beschäftigen müssen, und nennt sie »a second childhood without play« (Erikson 1982/1997, S. 118). Die Perspektive liegt hier auf dem Kosmischen, Transzendenten, dem Eins-Sein mit der Welt.

2.2       Die klassischen Theorien der Identitätsentwicklung: Erikson und Marcia

Die Entwicklung des Selbst, der Identität als »subjective feeling of sameness and continuity across times and contexts« ist für Erikson (1959, S. 21) eine lebenslange Aufgabe, die sich am Ende des Lebens noch einmal verstärkt stellt. Dennoch hat er damals die entscheidenden Impulse für die Identitätsentwicklung zentral in der Adoleszenz zwischen den Polen Identitätssynthese und Identitätskonfusion angesiedelt und von deren Scheitern eine Beeinträchtigung der folgenden Entwicklungsaufgaben (Intimität und Elternschaft) postuliert. Im Unterschied zu früheren psychoanalytischen Ansätzen, die die Bedeutung der Triebdynamik in der Adoleszenz (S. Freud) und die entsprechenden Abwehrprozesse ins Zentrum der Adoleszentenentwicklung stellten (A. Freud), hat er den psychoanalytischen Raum sehr erweitert. Erikson hat eine Konzeption vorgelegt, in der er die individuelle Entwicklung des Einzelnen und gesellschaftliche Anforderungen, aber auch eigene Kompetenzen einbezieht, eine Idee, die später von Havighurst (1956) in seinem Konzept der altersspezifischen Entwicklungsaufgaben aufgegriffen wird: Es gibt für jede Entwicklungsphase typische Aufgaben des Individuums, die von der Gesellschaft an es herangetragen werden und die es kompetent realisieren, bewältigen muss.

2.2.1     Eriksons Konzept der Identitätsentwicklung im Jugendalter

Das Jugendalter wurde erstmals von Erikson (1968) als eine Phase beschrieben, die für den lebenslangen Prozess der Identitätsentwicklung von herausragender Bedeutung ist. In seiner Theorie der psychosozialen Entwicklung nahm er an, dass acht Themen lebenslang identitätsrelevant sind, von denen jeweils eines altersabhängig besonders drängend und krisenhaft ist. Die aktive Auseinandersetzung mit der jeweiligen lebensphasentypischen Krise ist dabei für die Bewältigung der nachfolgenden Krise hilfreich. Sein Modell ist also eine Stufenfolge von aufeinander aufbauenden Entwicklungsschritten mit spezifischen Herausforderungen, die jeweils gelöst werden müssen. Obwohl er annahm, dass der generelle Zeitplan des Durchlaufens der phasenspezifischen Krisen stark an Bedingungen der biologischen Reife geknüpft ist, betonte er die Bedeutung von Kultur und sozialer Umwelt für ihre Lösung.

Die Krise, die nach Erikson das Jugendalter charakterisiert, war zwischen den Polen Identitätssynthese (d. h. der Integration von früheren Identitätsaspekten und Identifikationen aus der Kindheit) und Identitätskonfusion (der Unfähigkeit, das Ganze zu einer kohärenten Identität zu integrieren) angesiedelt. Sie besteht in der Herausforderung, die eigene Identität zu definieren. Ihr wird von ihm die größte Bedeutung von allen zu bewältigenden Krisen beigemessen. Sie ist dadurch charakterisiert, dass der junge Mensch das, was er bisher von den Eltern unhinterfragt übernommen hat, z. B. politische, religiöse oder sexuelle Orientierung, in Zweifel zieht. Idealerweise wird eine möglicherweise sich einstellende Identitätsdiffusion aufgehoben, in dem der Jugendliche sich mit verschiedenen alternativen Identitätsformen auseinandersetzt, um sich dann aktiv und autonom für eine Identitätsform zu entscheiden.

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