Der Autor

Craig Whitlock, geboren 1968, schreibt als investigativer Journalist für die Washington Post. Seit 2001 berichtet er als Auslandskorrespondent, Pentagon-Reporter und Spezialist für nationale Sicherheit über den globalen Krieg gegen den Terrorismus. 2019 erhielt er für seine Berichterstattung über den Krieg in Afghanistan den George Polk Award for Military Reporting, den Scripps Howard Award for Investigative Reporting, den Investigative Reporters and Editors Freedom of Information Award sowie den Robert F. Kennedy Journalism Award für internationale Berichterstattung. Whitlock hat aus mehr als 60 Ländern – darunter Deutschland – berichtet und war dreimaliger Finalist für den Pulitzer-Preis. Er lebt in Silver Spring, Maryland.

Craig Whitlock

Die Afghanistan Papers

Der Insider-Report über Geheimnisse, Lügen und 20 Jahre Krieg

Aus dem Englischen
von Ines Bergfort, Christiane Frohmann, Stephan Gebauer und Ralf Vogel

Ullstein

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www.ullstein.de

ISBN 978-3-8437-2651-1
Die Originalausgabe ist 2021 unter dem Titel The Afghanistan Papers – Secrets, Lies and America’s Longest War bei Simon & Schuster in New York erschienen.
© 2021 der deutschen Ausgabe: Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
© 2021 der Originalausgabe by Craig Whitlock
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Dr. Annalisa Viviani, München
Umschlaggestaltung: zero-media.net, München nach einer Vorlage von Simon & Schuster
Titelmotiv: Jacket design by David Litman;
Alan Cotton / Alamy Stock Photo, Nenov / Getty
Images, Washington Post
Autorenfoto: © The Washington Post
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Widmung

Für Jenny und Kyle,
in Liebe und Bewunderung

Nur eine freie Presse kann Täuschungsversuche der Regierung aufdecken. Und die höchste Pflicht einer freien Presse besteht darin, sämtliche Bestandteile der Regierung daran zu hindern, das Volk zu täuschen und Menschen in ferne Länder zu schicken, wo sie von fremden Krankheiten, Kugeln und Granaten getötet werden.


Richter Hugo L. Black in dem Epigraf, das er der Formulierung der Mehrheitsmeinung im Urteil des Supreme Court im Fall New York Times gegen die Vereinigten Staaten voranschickte, auch bekannt als »Pentagon Papers«-Fall, 30. Juni 1971.

Vorwort

Zwei Wochen nach dem Terrorangriff am 11. September 2001, als sich die Vereinigten Staaten auf einen Krieg in Afghanistan vorbereiteten, wurde Verteidigungsminister Donald Rumsfeld von einem Journalisten mit einer direkten Frage konfrontiert: Konnte er sich vorstellen, dass amerikanische Regierungsvertreter in dem Bemühen, den Feind in die Irre zu führen, den Medien Falschinformationen über Militäreinsätze geben würden?

Rumsfeld stand am Rednerpult im Presseraum des Pentagon. Wenige Tage nachdem die American-Airlines-Maschine Flug 77 in die Westfront der Anlage eingeschlagen und 189 Menschen getötet hatte, roch das Gebäude noch immer nach Rauch und Kerosin. In seiner Antwort zitierte der Verteidigungsminister den britischen Premierminister Winston Churchill: »In Kriegszeiten ist die Wahrheit so kostbar, dass sie stets von einer Leibwache von Lügen geschützt werden sollte.« Rumsfeld erinnerte daran, dass die Alliierten im Jahr 1944 vor der Landung in der Normandie eine als »Operation Bodyguard« bezeichnete Desinformationskampagne gestartet hatten, um die Deutschen in Bezug auf Ort und Zeitpunkt der Invasion Westeuropas zu täuschen.

Rumsfeld klang, als wollte er die Praxis verteidigen, in Kriegszeiten Lügen zu verbreiten. Doch dann vollzog er eine Kehrtwende und erklärte, er selbst werde das nie tun: »Die Antwort auf Ihre Frage ist Nein, ich kann mir keine solche Situation vorstellen. Ich kann mich nicht entsinnen, die Presse jemals belogen zu haben. Ich habe es nicht vor, und ich glaube, dass es keinen Grund dafür geben wird. Es gibt Dutzende Möglichkeiten, wie man vermeiden kann, sich in eine Lage zu bringen, in der man lügen muss. Und ich begebe mich nicht in eine solche Lage.«

Auf die Frage, ob das für alle Verantwortlichen im Verteidigungsministerium gelte, sagte er nach einer kurzen Pause lächelnd: »Sie scherzen wohl.«

Die Mitglieder des Pressekorps brachen in Lachen aus. Das war typisch Rumsfeld: schlau, energisch, spontan, entwaffnend. Der ehemalige Wrestlingstar aus Princeton wusste, wie man es vermeidet, sich in einer unvorteilhaften Position festnageln zu lassen.

Als die amerikanische Luftwaffe zwölf Tage später, am 7. Oktober 2001, begann, Afghanistan zu bombardieren, ahnte niemand, dass der längste Krieg in der Geschichte der Vereinigten Staaten begonnen hatte, ein Militäreinsatz, der für die Usa länger dauerte als die Beteiligung an den beiden Weltkriegen und der Vietnamkrieg zusammengenommen.

Anders als seinerzeit der Krieg in Vietnam und im Gegensatz zur Invasion des Irak fand der Einsatz in Afghanistan fast einhellige Unterstützung in der amerikanischen Öffentlichkeit. Von Entsetzen und Wut über den verheerenden Terrorangriff erfüllt, erwarteten die Amerikaner, dass ihre Regierung die Heimat verteidigte wie seinerzeit nach dem japanischen Angriff auf Pearl Harbor. Nur drei Tage nach den Anschlägen vom 11. September erteilte der Kongress der Bush-Administration die Erlaubnis, gegen al-Qaida und jeden Staat in den Krieg zu ziehen, der dem Terrornetz Zuflucht gewährte.

Die NATO aktivierte zum ersten Mal den Artikel 5 ihres Gründungsvertrags, die Bestimmung über die kollektive Verpflichtung des Bündnisses, jeden Mitgliedstaat zu verteidigen, der angegriffen wird. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen verurteilte die »entsetzlichen Terroranschläge« einstimmig und forderte die Staatengemeinschaft auf, die Täter zur Rechenschaft zu ziehen. Sogar feindliche Mächte erklärten sich mit den Vereinigten Staaten solidarisch. Im Iran nahmen Tausende an Mahnwachen teil, und die Hardliner hörten zum ersten Mal seit 22 Jahren auf, beim Freitagsgebet »Tod den Vereinigten Staaten« zu rufen.

Der Rückhalt der Weltgemeinschaft war so stark, dass amerikanische Regierungsvertreter nicht lügen oder die Wahrheit verdrehen mussten, um den Krieg zu rechtfertigen. Aber bald begannen das Weiße Haus, das Pentagon und das Außenministerium, falsche Angaben zu machen und militärische Rückschläge zu beschönigen. Im Lauf der Monate und Jahre setzte sich die Heuchelei fest. Der Militärführung und den Diplomaten fiel es immer schwerer, Fehler einzugestehen und die Lage gegenüber der Öffentlichkeit realistisch und aufrichtig darzustellen.

Niemand wollte zugeben, dass sich ein Konflikt, der als gerechter Krieg begonnen hatte, in ein aussichtsloses Unterfangen verwandelt hatte. Washington und Kabul verschworen sich miteinander, um die Wahrheit zu vertuschen. Das Verschweigen von Tatsachen führte unausweichlich zur Täuschung und schließlich zu offenkundig abwegigen Behauptungen. Bei zwei Gelegenheiten – erstmals im Jahr 2003 und ein weiteres Mal im Jahr 2014 – erklärte die amerikanische Regierung die Kampfeinsätze für beendet. Beide Male war das nichts anderes als Wunschdenken und hatte wenig mit der Realität in Afghanistan zu tun.


Präsident Barack Obama hatte versprochen, den Krieg zu beenden und die Truppen heimzuholen, aber als sich seine zweite Amtszeit im Jahr 2016 ihrem Ende näherte, war ihm das noch immer nicht gelungen. Die Amerikaner waren der nicht enden wollenden Konflikte in fernen Ländern überdrüssig. Viele desillusionierte Bürger hörten einfach auf, der Regierung zuzuhören.

Zu diesem Zeitpunkt berichtete ich seit fast sieben Jahren für die Washington Post über das Verteidigungsministerium und die amerikanischen Streitkräfte. Ich hatte vier Verteidigungsminister und fünf Generalstabschefs kommen und gehen sehen und war viele Male im Tross hochrangiger Offiziere nach Afghanistan und in die umgebende Region gereist. Davor hatte ich sechs Jahre lang als Auslandskorrespondent für die Washington Post gearbeitet und über die Umtriebe von al-Qaida und anderen Terrorgruppen in Afghanistan, Pakistan, dem Nahen Osten, Nordafrika und Europa berichtet.

Wie viele Journalisten wusste ich, dass die Situation in Afghanistan vertrackt war. Ich glaubte nicht mehr an die leeren Behauptungen der amerikanischen Streitkräfte, sie machten Fortschritte und seien auf dem richtigen Weg. Die Washington Post und andere Medien berichteten seit Jahren über die systemischen Probleme in diesem Krieg. In Sachbüchern und Memoiren schilderten Beteiligte die entscheidenden Kämpfe in Afghanistan und das politische Hickhack daheim in Washington. Aber ich fragte mich, ob all diese Beobachter wirklich überblickten, weshalb diese Militärintervention gescheitert war.

Wie hatte es dazu kommen können, dass dieser Feldzug zum Stillstand gekommen war und dass es keine realistische Hoffnung auf einen dauerhaften Sieg gab? Die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten hatten die Taliban und al-Qaida im Jahr 2001 in kürzester Zeit besiegt. Was war von da an schiefgelaufen? Niemand hatte umfassend Rechenschaft über die strategischen Fehler abgelegt oder der Öffentlichkeit mit schonungsloser Offenheit erklärt, warum der Feldzug in eine Sackgasse geraten war.

Bis heute ist keine Untersuchungskommission eingerichtet worden, die den Afghanistankrieg aufarbeiten könnte, wie es seinerzeit mit der 9/11-Kommission geschah, welche die Regierung dafür zur Rechenschaft zog, dass es ihr nicht gelungen war, den schlimmsten Terroranschlag der Geschichte auf amerikanischem Boden zu verhindern. Genauso wenig hat der Kongress eine Afghanistan-Version der Fulbright-Anhörungen durchgeführt, in denen die Senatoren offensiv den Krieg in Vietnam hinterfragten. Da es in beiden Parteien zahlreiche Personen gibt, die Verantwortung für die vielen Fehler tragen, lassen sich nur wenige Politiker auf das Wagnis ein, nach den Schuldigen zu suchen.

Im Sommer 2016 erhielt ich den Hinweis, dass eine kaum bekannte Bundesbehörde, das Office of the Special Inspector General for Afghanistan Reconstruction (SIGAR), Interviews mit Hunderten Kriegsteilnehmern geführt hatte und dabei auf ein hohes Maß an aufgestauter Frustration gestoßen war. SIGAR hatte diese Interviews im Rahmen eines Projekts mit dem Titel »Lessons Learned« durchgeführt, dessen Zweck es war, politische Irrtümer in Afghanistan zu diagnostizieren, um derartige Fehler in Zukunft zu vermeiden.

Im September desselben Jahres begann SIGAR, eine Reihe von »Lessons Learned«-Berichten zu veröffentlichen, in denen die Probleme in Afghanistan analysiert wurden. Aber in diesen Berichten, deren Inhalt unter einer dicken Schicht von Behördensprache versteckt war, fehlten die harsche Kritik und die Schuldzuweisungen, die, wie mir erzählt wurde, in den Interviews durchaus zum Vorschein gekommen waren.

Die Aufgabe eines Enthüllungsjournalisten besteht darin herauszufinden, welche Wahrheiten die Regierung verbirgt und die Öffentlichkeit darüber aufzuklären. Also richtete ich Anfragen nach Maßgabe des Freedom of Information Act an SIGAR, um an Niederschriften, Notizen und Tonaufnahmen der Interviews heranzukommen. Ich begründete meine Anfragen damit, dass die Öffentlichkeit ein Recht habe, von der internen Kritik am Umgang der Regierung mit dem Krieg zu erfahren. Sie hatte ein Recht auf die ungeschminkte Wahrheit.

SIGAR zögerte die Antworten auf meine Anfragen immer wieder hinaus. In Anbetracht der Tatsache, dass der Kongress diese Behörde dafür eingerichtet hatte, dass die Regierung Rechenschaft für die gewaltigen Mengen an Steuergeldern ablegte, die für den Krieg aufgewandt wurden, war dieses Verhalten heuchlerisch. Die Post musste schließlich zwei Klagen vor Bundesgerichten anstrengen, um SIGAR dazu zu zwingen, die »Lessons Learned«-Dokumente herauszugeben. Nach dreijährigem Rechtsstreit gewährte mir SIGAR schließlich Zugang zu mehr als 2000 Seiten an bis dahin unveröffentlichten Gesprächsniederschriften. Es waren Interviews mit 428 Personen, die direkt am Krieg beteiligt gewesen waren, von Generälen und Diplomaten bis hin zu Mitarbeitern von Hilfsorganisationen und afghanischen Regierungsvertretern.

Die Behörde redigierte Teile der Dokumente und verbarg die Identitäten der meisten Interviewpartner, was sie mit Datenschutzbedenken begründete. Dennoch zeigten die Interviews, dass viele hochrangige amerikanische Amtsträger den Krieg im privaten Gespräch als beispiellose Katastrophe bezeichneten, womit sie der Schönfärberei in den öffentlichen Bekundungen des Weißen Hauses, des Pentagon und des State Department widersprachen, die den Amerikanern Jahr für Jahr versicherten, in Afghanistan Fortschritte zu machen.

Da sie davon ausgingen, dass ihre Aussagen nicht in die Öffentlichkeit gelangen würden, gestanden die Regierungsvertreter und Militärs gegenüber den Interviewern von SIGAR, dass eine mangelhafte Planung den Militäreinsatz zwangsläufig zum Scheitern verurteilt hatte und dass Washington viele Milliarden US-Dollar für vergebliche Versuche verschwendet hatte, Afghanistan in ein modernes Land zu verwandeln. Die Interviews zeigten auch, dass die Bemühungen der Amerikaner, die ausufernde Korruption in Afghanistan unter Kontrolle zu bringen, eine schlagkräftige afghanische Armee und leistungsfähige Polizeieinheiten aufzubauen und den blühenden Opiumhandel einzudämmen, im Sand verlaufen waren.

Viele der befragten Personen beschrieben wiederholte Bemühungen der Regierung in Washington, die Öffentlichkeit systematisch in die Irre zu führen. Sie erklärten, die Verantwortlichen im Hauptquartier in Kabul – sowie im Weißen Haus – hätten regelmäßig Statistiken manipuliert, um den Eindruck zu erwecken, die USA seien auf dem besten Weg, den Krieg zu gewinnen, obwohl es offenkundig nicht so war.

Erstaunlich war, dass mehrere Generäle einräumten, den Krieg ohne geeignete Strategie geführt zu haben.

»Es gab keinen Plan für den Feldzug. Es gab einfach keinen«, beklagte sich General Dan McNeill von der US-Army, der unter Präsident Bush zweimal das Kommando in Afghanistan gehabt hatte.1

»Wir hatten keine schlüssige langfristige Strategie«, erklärte der britische General David Richards, der von 2006 bis 2007 die amerikanischen und NATO-Truppen befehligt hatte.2 »Wir forderten ein kohärentes langfristiges Vorgehen – eine richtige Strategie – und bekamen stattdessen eine Vielzahl taktischer Anweisungen.«

Andere Verantwortliche waren der Meinung, die Vereinigten Staaten hätten den Krieg von Anfang an falsch geführt und Fehler aufgrund von Fehlentscheidungen begangen, die Fehleinschätzungen entsprungen seien.

»Wir wussten nicht, was wir taten«, sagte Richard Boucher, der Topdiplomat der Bush-Administration für Süd- und Zentralasien.3

»Wir hatten nicht die leiseste Ahnung, worauf wir uns eingelassen hatten«, meinte auch Generalleutnant Douglas Lute von der Army, der unter Bush und Obama im Weißen Haus für die Kriegsführung zuständig war.4

Lute bedauerte, dass derart viele amerikanische Soldaten in Afghanistan das Leben verloren hatten. Geradezu schockierend war jedoch, dass er die politische Zurückhaltung ablegte, die von einem Drei-Sterne-General erwartet wird, und so weit ging anzudeuten, durch die Schuld der Regierung seien diese Opfer umsonst gewesen.

»Würde das amerikanische Volk das Ausmaß dieser Funktionsstörung kennen … 2400 Menschenleben sind verloren«, sagte Lute. »Wer wird sagen, dass sie umsonst starben?«5

Im Lauf von zwei Jahrzehnten wurden mehr als 775.000 amerikanische Soldaten und Soldatinnen nach Afghanistan geschickt. Mehr als 2300 wurden getötet, 21.000 wurden verwundet. Die amerikanische Regierung hat keine Angaben zu den Gesamtkosten des Kriegs gemacht, aber den meisten Schätzungen zufolge beliefen sich die Ausgaben auf mehr als eine Billion US-Dollar.


Aufgrund der ungeschminkten Beschreibungen der Geschehnisse, die dazu führten, dass die Vereinigten Staaten in einem Krieg in einem fernen Land in eine aussichtslose Lage gerieten, und der Versuche der Regierung, diese Berichte vor der amerikanischen Öffentlichkeit zu verbergen, haben die »Lessons Learned«-Befragungen große Ähnlichkeit mit den 1971 veröffentlichten »Pentagon Papers«, der vom Verteidigungsministerium geheim gehaltenen Geschichte des Vietnamkriegs.

Die Veröffentlichung der »Pentagon Papers« löste im Jahr 1971 einen Skandal aus. Diese Dokumente belegten, dass die Regierung die Öffentlichkeit lange Zeit darüber im Dunkeln gelassen hatte, wie die Vereinigten Staaten in den Vietnamkrieg verwickelt worden waren.

Die 47 Bände und 7000 Seiten umfassende Studie beruhte zur Gänze auf internen Regierungsdokumenten: diplomatischen Depeschen, Memos über Entscheidungen, Nachrichtendienstberichte. Um die Geheimhaltung zu wahren, verbot Verteidigungsminister Robert McNamara den Autoren, irgendwelche Beteiligten zu befragen.

Das »Lessons Learned«-Projekt von SIGAR unterlag keinen derartigen Einschränkungen. Die Mitarbeiter führten die Interviews in den Jahren 2014 bis 2018 und sprachen überwiegend mit Regierungsvertretern, die unter Bush und Obama gedient hatten.

Anders als die »Pentagon Papers« waren die »Lessons Learned«-Dokumente ursprünglich nicht als Staatsgeheimnisse eingestuft. Doch als die Washington Post auf eine Veröffentlichung drängte, schritten andere Behörden ein und stuften einen Teil des Materials nachträglich als vertraulich ein.

Die »Lessons Learned«-Befragungen enthalten kaum Enthüllungen über militärische Operationen, dafür jedoch zahlreiche kritische Stimmen, die der offiziellen Darstellung des Kriegs widersprechen, und zwar vom Beginn der Kampfhandlungen bis zum Regierungsantritt von Donald Trump.

Zusätzlich zu den »Lessons Learned«-Befragungen verschaffte ich mir Zugang zu Hunderten Seiten zuvor vertraulicher Mitteilungen zum Afghanistankrieg, die Donald Rumsfeld zwischen 2001 und 2006 diktiert oder erhalten hatte. Diese von Rumsfeld und seinen Mitarbeitern als »Schneeflocken« bezeichneten Memos enthalten knappe Anweisungen oder Kommentare, die der Verteidigungsminister seinen Untergebenen diktierte. Oft verschickte er im Lauf eines Tages mehrere solcher Mitteilungen.

Im Jahr 2011 veröffentlichte Rumsfeld eine Auswahl seiner »Schneeflocken«, die er zur Begleitung seiner Memoiren (Known and Unknowm) ins Internet stellte. Aber der Großteil seiner »Schneeflockensammlung« – eine gewaltige Menge an Papieren, die schätzungsweise 59.000 Seiten umfassen – blieb unter Verschluss.

Im Jahr 2017 reichte das National Security Archive, ein gemeinnütziges Forschungsinstitut mit Sitz an der George Washington University, unter Berufung auf den Freedom of Information Act eine Klage ein, um das Verteidigungsministerium zur Herausgabe dieser Mitteilungen zu zwingen, und das Pentagon begann, die unter Verschluss gehaltenen »Schneeflocken« zu sichten und schrittweise freizugeben. Das National Security Archive gewährte mir Zugang zu diesen Dokumenten.

Die in Rumsfelds brüskem Stil verfassten Memos enthielten zahlreiche Hinweise auf Probleme, die dem amerikanischen Militär noch mehr als ein Jahrzehnt später zu schaffen machen würden. »Mir ist nicht klar, wer die Bösen in Afghanistan sind«, beklagte sich Rumsfeld in einem Memo an seinen Nachrichtendienstchef – und das fast zwei Jahre nach Beginn des Kriegs.6

Ich erhielt auch Zugang zu einigen Oral-History-Interviews, die die gemeinnützige Association for Diplomatic Studies and Training mit ehemaligen Mitarbeitern der amerikanischen Botschaft in Kabul geführt hatte. Die Interviews enthielten die schonungslosen Lagebeurteilungen dieser Mitarbeiter des Außenministeriums, die sich darüber beklagten, dass die Regierung in Washington Afghanistan nicht verstehe und den Krieg falsch führe.

Beim Studium der Interviews und Mitteilungen wurde mir klar, dass sie eine geheime Geschichte des Kriegs enthielten – eine schonungslose Darstellung eines Konflikts, dessen Ende nicht abzusehen war.

Unter Mitarbeit zahlreicher talentierter Redaktionsmitglieder veröffentlichte die Washington Post im Dezember 2019 eine Reihe von Artikeln über diese Dokumente. Millionen Menschen lasen die Artikelserie. Als Service für die Öffentlichkeit stellte die Zeitung auch eine Datenbank der Interviews und »Schneeflocken« ins Internet.

Der Kongress, der den Krieg jahrelang weitgehend ignoriert hatte, beschäftigte sich in zahlreichen Anhörungen mit den Ergebnissen. Generäle, Diplomaten und andere Funktionsträger räumten gegenüber den Parlamentariern ein, dass die Regierung gegenüber der Öffentlichkeit nicht ehrlich gewesen war. Abgeordnete aus allen politischen Lagern gaben ihrer Wut und Enttäuschung Ausdruck.

»Es sind vernichtende Dokumente«, erklärte der demokratische Abgeordnete Eliot Engel aus New York, der Vorsitzende des Außenpolitischen Ausschusses des Repräsentantenhauses. »Sie zeigen, dass kein aufrichtiges Gespräch zwischen dem amerikanischen Volk und seiner Regierung über die Vorgänge in Afghanistan stattgefunden hat.« Der republikanische Senator Rand Paul aus Kentucky bezeichnete die Serie im Gespräch mit der Washington Post als »außergewöhnlich beunruhigend. Sie zeichnet das Bild eines amerikanischen Engagements, das sehr unter einer schleichenden Ausweitung des Einsatzes und unter einem völligen Mangel an klaren und erreichbaren Zielen leidet.«

Die Enthüllungen trafen einen Nerv. Viele Leser hatten seit Langem den Verdacht, von der Regierung in die Irre geführt zu werden, und reagierten erbost. Die Öffentlichkeit wollte unbedingt weitere Beweise sehen und forderte Aufklärung darüber, was in Afghanistan wirklich vorging.

Ich wusste, dass die US-Army einige Oral-History-Interviews mit Soldaten geführt hatte, die in Afghanistan im Einsatz gewesen waren; das Ergebnis war die Veröffentlichung mehrerer akademischer Monografien über die Erfahrungen dieser Soldaten. Aber bald stellte ich fest, dass die Army noch auf einem gewaltigen Fundus derartiger Dokumente saß.

Zwischen 2005 und 2015 wurden im Rahmen des Projekts »Operational Leadership Experience«, das vom Combat Studies Institute in Fort Leavenworth (Kansas) im Auftrag des amerikanischen Heeres durchgeführt wird, mehr als 3000 Soldaten befragt, die im »Krieg gegen den Terror« im Ausland zum Einsatz gekommen waren. Die meisten von ihnen hatten im Irak gekämpft, aber viele waren in Afghanistan stationiert gewesen.

Ich verbrachte Wochen damit, diese nicht als vertraulich eingestuften und vollständig transkribierten Interviews durchzusehen, und wählte mehr als sechshundert aus, die mit Afghanistan-Veteranen geführt worden waren. Die Interviews enthielten eine lebensnahe Schilderung aus erster Hand, mehrheitlich von jungen Offizieren, die im Kampfeinsatz gewesen waren. Dazu kam eine kleinere Anzahl von Oral-History-Interviews, die vom Center for Military History der Army in Washington durchgeführt worden waren.

Da die Army diese Interviews für die Zwecke der historischen Forschung genehmigt hatte, sprachen viele der Soldaten sehr offen über ihre Erfahrungen, was sie gegenüber einem Journalisten vermutlich nicht getan hätten. In ihrer Gesamtheit lieferten diese Schilderungen ein unverfälschtes und schonungsloses Bild eines schlecht geführten Kriegs. Sie waren die Kehrseite der auf vorteilhafte Schlagzeilen reduzierten Berichte, die von der Militärführung im Pentagon unter die Leute gebracht wurde.

Eine weitere Sammlung aufschlussreicher Dokumente fand ich an der University of Virginia. Seit 2009 betreibt das Miller Center, eine auf politische Geschichte spezialisierte parteiunabhängige Partnerorganisation der Universität, ein Oral-History-Projekt zur Präsidentschaft von George W. Bush. Das Miller Center befragte rund hundert Personen, darunter wichtige Regierungsbeamte, externe Berater, Parlamentarier und ausländische Politiker.

Die meisten erklärten sich unter der Bedingung zu einem Interview bereit, dass die Niederschriften viele Jahre lang – oder bis nach ihrem Tod – vertraulich behandelt würden. Im November 2019 öffnete das Miller Center Teile seines Bush-Archivs für die Öffentlichkeit. Der Zeitpunkt der Öffnung kam mir sehr gelegen. Ich erhielt Zugang zu einem Dutzend Niederschriften von Oral-History-Interviews von Militärführern, Regierungsmitgliedern und anderen Verantwortlichen, die an der Kriegsführung in Afghanistan beteiligt waren.

Die Oral-History-Interviews der University of Virginia lieferten ebenfalls ein ungewöhnlich klares Bild von den Vorgängen in Afghanistan. Peter Pace, ein ehemaliger General des United States Marine Corps, der unter Bush Vorsitzender und stellvertretender Vorsitzender der Joint Chiefs of Staff gewesen war, äußerte sein Bedauern darüber, dass es ihm nicht gelungen war, offen und ehrlich mit der amerikanischen Öffentlichkeit über die Dauer der Kriegseinsätze in Afghanistan und dem Irak zu sprechen.

»Ich hätte dem amerikanischen Volk sagen sollen, dass dies keine Frage von Monaten oder Jahren, sondern eine Frage von Jahrzehnten war«, sagte Pace.7 »Weil ich das nicht tat, weil Präsident Bush das meines Wissens nicht tat, nahm das amerikanische Volk vermutlich an, dass der Einsatz rasch erledigt sein würde.«


In diesem Buch geht es nicht um eine umfassende Darstellung des Afghanistankriegs. Es ist auch keine militärhistorische Abhandlung, in der die Kampfhandlungen genau untersucht werden. Vielmehr versuche ich nachzuzeichnen, was schieflief und wie es kam, dass drei Präsidenten und ihre Regierungen nicht in der Lage waren, den Amerikanern die Wahrheit zu sagen.

Dieses Buch beruht auf Interviews mit mehr als tausend Personen, die direkt am Krieg teilnahmen. Die ausgewerteten »Lessons Learned«-Befragungen, die Oral-History-Interviews und Rumsfelds »Schneeflocken« umfassen mehr als 10.000 Seiten an Dokumenten.

Aus diesen unbearbeiteten und ungefilterten Dokumenten sprechen Menschen zu uns, die wussten, dass dem amerikanischen Volk gezielt eine manipulierte Darstellung des Kriegsgeschehens vorgelegt wurde. Unter diesen Menschen waren Verantwortliche, die in Washington an der Gestaltung der Politik beteiligt waren, und Soldaten, die in den Bergen und Wüsten Afghanistans kämpften.

Doch kaum ein hochrangiger Regierungsvertreter brachte den Mut auf, öffentlich einzugestehen, dass die Vereinigten Staaten in einem Krieg, den ursprünglich die große Mehrheit der Amerikaner befürwortet hatte, langsam auf eine Niederlage zusteuerten. Mit ihrem Schweigen machten sich die Angehörigen der militärischen und politischen Führung mitschuldig, drückten sich um ihre Verantwortung und wichen einer Neubewertung der Situation aus, die das Ergebnis des Konflikts möglicherweise verändert oder den Krieg verkürzt hätte. Stattdessen entschlossen sie sich, ihre Fehler zu vertuschen und zuzulassen, dass der Krieg außer Kontrolle geriet.

TEIL I

Ein trügerisches Siegesgefühl
(2001–2002)