Zum Buch
FBI-Agent Rob Barrett ist zwar unerfahren, doch ein Naturtalent, wenn es um Verhöre geht. Als er zu einem ungeklärten Doppelmord an einem jungen Paar nach Maine beordert wird, ist er der Einzige, der die Tatverdächtige zum Sprechen bringen kann. Nach dem Geständnis scheint der Fall zunächst glasklar, aber dann findet die Polizei nach und nach Beweise, die nicht den Aussagen der Täterin entsprechen. Wieso tauchen die Leichen 100 km vom erwarteten Fundort auf? Barrett muss alle Hebel in Bewegung setzen, wenn er seinen guten Ruf nicht für immer verlieren will …
Zum Autor
Michael Koryta begann bereits in jungen Jahren seine ungewöhnliche Karriere. Schon auf der Highschool arbeitete er nebenher für eine Privatermittler-Agentur. Später verdingte er sich als Reporter und unterrichtete an der Indiana University. Wenn er nicht gerade schreibt, begibt sich der Abenteurer und Outdoor-Fan Koryta bevorzugt in die Beartooth Mountains. Er gilt in den USA derzeit als einer der aufregendsten Thriller-Autoren.
Lieferbare Titel
Die mir den Tod wünschen
Die Gewalt der Dunkelheit
Todesangst
Michael Koryta
Die Wahrheit der Toten
Thriller
Aus dem Englischen von Frank Dabrock
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
Die Originalausgabe
How it Happened
erschien 2018 bei Little, Brown and Company
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Deutsche Erstausgabe 02/2020
Copyright © 2018 by Michael Koryta
Copyright © 2020 der deutschsprachigen Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Redaktion: Lars Zwickies
Umschlaggestaltung: Martina Eisele Design, München, unter Verwendung der Motive von:
Getty Images (Ed Freeman), Bigstock (Andrew Rybalko, xicro, UNUSUAL111, Gordan)
Satz: Fotosatz Amann, Memmingen
ISBN: 978-3-641-24501-6
V001
www.heyne.de
Für Christine
TEIL EINS
MITGEFANGEN MITGEHANGEN
And it would make a great story
If I ever could remember it right.
– Jason Isbell,
»Super 8«
1
Ich habe ihn zum ersten Mal an dem Tag gesehen, als wir ihn umgebracht haben.
Jackie hingegen kannte ich schon seit einer Ewigkeit. Wir waren nie befreundet, aber das hier ist eine Kleinstadt, und die Mädchen kennen sich alle untereinander. Wir gingen in dieselbe Klasse, zumindest bis zur Highschool. Dort belegte sie dann die Kurse für die begabteren Schüler. Sie ist nie viel ausgegangen. Ich kann mich vor allem noch daran erinnern, wie ihre Mutter starb, als sie die fünfte Klasse besuchte. Warum haben Sie mich überhaupt danach gefragt? Das ist lange her und hat nichts mit der Sache zu tun. Aber daran kann ich mich wahrscheinlich am besten erinnern, bevor wir sie dann umgebracht haben.
Ihre Mutter starb bei einem Autounfall. Ich glaube, sie ist im Schnee mit dem Wagen über den Mittelstreifen gerutscht. Jackie kam danach für ein paar Tage nicht in die Schule, und wir mussten für sie Karten schreiben, na ja, mit Bildern drauf und ein paar Zeilen, in denen wir unser Mitgefühl zum Ausdruck brachten. In der Woche darauf kam sie dann wieder in den Unterricht. Ihr Dad brachte sie ins Klassenzimmer und hielt ihre Hand dabei fest umklammert. Als wollte er sie nicht gehen lassen. Bei ihrem Anblick musste ich an die Karten denken, die wir für sie geschrieben hatten, und … Das hört sich jetzt schlimm an, aber ich war deswegen stinksauer. Denn obwohl es traurig war, dass ihre Mutter gestorben war, hatte sie doch immer noch ihren Dad, oder? Also, ich lebte damals bei meiner Großmutter. Meine Eltern waren zwar nicht tot, aber sie hätten es genauso gut sein können. Ich meine, mein Dad hat nie meine Hand gehalten, wie Howard Pelletier das bei Jackie getan hat. Niemand hat das. Sie tat mir zwar leid, aber … niemand hat die ganze Klasse gebeten, Karten für mich zu schreiben, wissen Sie? Es war den Leuten scheißegal, wie es mir ging. Die Leute haben sich nie für mich interessiert, man hat mich einfach … übersehen.
Ich kann nicht fassen, dass sie diese Karte aufbewahrt hat. Hat sie sie etwa alle aufgehoben? Aber das ist nicht wichtig. Nichts davon. Ich kapiere nicht, warum Sie danach gefragt haben, Barrett. Das hat nichts mit dem zu tun, was letzten Sommer passiert ist.
Der Tag, der wirklich wichtig ist, war der letzte richtig heiße Sommertag. Anfang September war es heißer als den ganzen August über. Ich schätze, das hatte irgendwie mit der Sache zu tun. Also, das soll jetzt keine Entschuldigung sein, aber ich muss immer wieder daran denken, wie alles angefangen hat und was dann passiert ist, und ich bin mir absolut sicher, dass wir das nicht getan hätten, wenn es nicht so heiß gewesen wäre. Wenn die Hitze allen nicht so zugesetzt hätte, besonders Mathias. Soll ich seinen vollständigen Namen sagen? Wir kennen ihn doch sowieso alle. Mathias Burke. Wissen Sie, was komisch ist? Jedesmal, wenn Sie seinen vollständigen Namen hören, kneifen Sie die Augen zusammen. Jedesmal, wenn ich ihn ausspreche, verkrampft sich Ihr Körper. Als würden Sie sich auf einen Faustschlag gefasst machen. Oder als würden Sie gleich zuschlagen. Was denn nun? Hey, Sie haben doch gesagt, dass ich alles mit meinen eigenen Worten erzählen soll, oder? Das haben Sie jetzt davon, Barrett.
Also schön … es war das erste Wochenende, nachdem die Touristen abgereist waren, die meisten jedenfalls, die Leute mit Kindern. Danach kehrte etwas Ruhe ein, und Mathias fiel die Decke auf den Kopf. An diesem Abend – einem Freitagabend – war er völlig aufgedreht. Kurz vor dem Explodieren. Als müsste sich etwas in seinem Innern Luft verschaffen. Er fluchte die ganze Zeit über die Hitze. Cass war ebenfalls davon genervt, weil sie Angst hatte, dass ihre Schminke verlaufen könnte. Sie sah damit immer aus wie eine Nutte. Sie schaffte es einfach nicht, sich dezent zu schminken, wissen Sie? Sie trug immer reichlich dick auf, obwohl viel weniger auch genügt hätte. Ich weiß, ich sollte nicht schlecht über sie reden, weil sie tot ist, aber das ist die Wahrheit.
Lassen Sie mich etwas zurückspringen – ich hatte die Tagesschicht im Spirituosenladen. Um sechs hatte ich Feierabend, und Cass kam rüber, um sich mit mir zu treffen. Wir wollten in die Stadt oder so. Oder in ihrem Wohnwagen ein wenig abhängen. Wir hatten nichts Besonderes vor. Wenn wir ein bestimmtes Ziel gehabt hätten, wären wir ihm an diesem Abend gar nicht über den Weg gelaufen. Aber wir hatten uns nichts vorgenommen.
Irgendwann tauchte Mathias dann im Laden auf … so gegen halb sechs, würde ich sagen. Kurz bevor ich Feierabend hatte. Ich kenne ihn seit Jahren, aber ich habe nie was mit ihm gehabt oder so. Wir haben nicht mal Zeit zusammen verbracht. Darum war ich auch so überrascht, als er mich fragte, was ich an diesem Abend vorhätte. Mathias ging kaum aus. Er schien die ganze Zeit zu arbeiten. Wenn er überhaupt mal was trank, dann im Winter. Im Sommer schien er zwanzig Stunden am Tag zu arbeiten. Als ich ihm sagte, dass Cass und ich was trinken gehen wollten, wirkte er enttäuscht. Für einen Moment fragte ich mich, ob er mich anbaggern wollte. Aber als Cass dann auftauchte, veränderte sich plötzlich sein Verhalten.
Er erzählte uns vom Haus einer Kundin, zu dem er Zugang hatte. Es gehörte irgendeiner reichen Schlampe, die es nur zwei Wochen im Jahr nutzte. Es sei echt was ganz Besonderes. Er wollte dort hinfahren, um was zu trinken und eine Runde zu schwimmen. Das klang ziemlich verlockend. Als er jedoch meinte, er könne etwas Stoff besorgen, schreckte mich das ab, denn ich versuchte gerade, clean zu werden. Aber Cass war ganz Feuer und Flamme.
Nachdem ich meine Schicht beendet hatte, gingen wir auf den Parkplatz. Dort genehmigten wir uns ein Sixpack Twisted Tea und ein paar Flaschen Bier, und Cass trank etwas Wodka. Mit Apfel- oder Himbeergeschmack, was weiß ich. Wir saßen auf der Heckklappe seines Pick-ups, rauchten Zigaretten und tranken etwas. Das war der Pick-up, den er für die Arbeit benutzte. Nicht der Wagen, mit dem wir sie getötet haben.
Die meiste Zeit unterhielten wir uns über die Hitze. Darum weiß ich auch noch, dass Mathias davon genervt war. Er schaute hinauf in die Sonne und redete darüber, als hätte sie es auf ihn persönlich abgesehen. Als würde die Sonne an diesem Tag so heiß brennen, weil sie Streit mit ihm suchte.
Wir hingen dort eine Weile ab, bis er irgendwann meinte, dass er einen tollen Ort kenne, wo wir etwas Spaß haben könnten. Außerdem hatte er Stoff dabei, von dem er mir etwas abgeben wollte, wenn ich ihn zu seinem Pick-up zurückfahren würde. Ich dachte nur, Du sitzt gerade auf deinem Pick-up, du Schlaumeier. Aber er meinte den Wagen vor dem Haus seiner Kundin, darum müsse ihn jemand dort rausfahren. Wissen Sie, als Hausverwalter hat er Zugang zu sämtlichen Ferienhäusern, die er betreut.
Also, ich habe den ganzen Sommer über eigentlich nur Alkohol getrunken. Und vielleicht etwas Gras geraucht, mehr nicht. Na ja, und ein paar Pillen eingeworfen. Aber ich habe kein hartes Zeug genommen, denn letzten Sommer sind eine Menge Leute gestorben, auch schon vor Cass. Es kam überall in den Nachrichten. Irgendjemand hatte aus DC schlechtes Heroin mitgebracht. Ein Schwarzer, glaube ich. Vielleicht war er auch Mexikaner. Jedenfalls weiß ich, dass der Stoff aus DC kam, denn die Leute haben ihn so genannt. Es war, als würde in diesem Sommer irgendein tödliches Fieber umgehen. Die Leute starben, ohne sich eine Überdosis zu verpassen, weil der Stoff mit irgendeiner Substanz verschnitten war. Keine Ahnung, was das für Zeug war. Ich weiß nur, dass der Stoff schlecht war und Menschen starben. Ich glaube, es gab in diesem Sommer in Maine mehr Drogentote als im gesamten Vorjahr. Vielleicht stimmt das auch nicht, aber das habe ich jedenfalls gehört.
Wie gesagt, ich versuchte damals gerade, clean zu werden. Doch wenn Cass und Mathias ohne mich gefahren wären, wäre ich alleine da zurückgeblieben. Mit einem beschissenen Sixpack Twisted Tea an einem Freitagabend. Wer hat darauf schon Lust? Also bin ich einfach … Sie wissen ja, wie das läuft. Schließlich gibt man eben irgendwann nach. Man rechnet ja nicht damit, dass irgendwas Schlimmes passiert. Ich sagte, ich würde zwar mitkommen, aber keine Drogen nehmen. Mathias zwinkerte mir darauf nur zu und sagte, Warten wir’s ab.
Also machten wir uns auf den Weg. Ich saß hinterm Steuer und Mathias auf dem Beifahrersitz. Cass, die eigentlich auf der Rückbank Platz nehmen sollte, krabbelte in die Mitte und hockte quasi auf seinem Schoß. Es war echt nervig, aber so war sie halt. Mich wunderte nur, dass Mathias offensichtlich nichts dagegen hatte. Ich habe ihn nie für einen dieser Typen gehalten, die … wie soll ich sagen? Er war eher der korrekte Typ. Immer mit seinem eigenen Kram beschäftigt. Darum fand ich sein Verhalten merkwürdig.
In diesem Moment wurde mir klar, dass er nicht nur ein wenig angetrunken war.
Jedenfalls saß ich hinterm Steuer und konzentrierte mich auf seine Wegbeschreibung, denn ich wollte nicht, dass man uns anhält. Er sagte, dass er uns zu diesem Ferienhaus bringen würde, sobald wir bei seinem Pick-up wären. Er schwärmte davon, wie toll das Haus sei, und kriegte sich gar nicht mehr ein. Allerdings hatte ich mir etwas anderes vorgestellt als das Haus, vor dem wir schließlich hielten, irgendwie extravaganter.
Sein Pick-up stand irgendwo an der Archer’s Mill Road. Ehrlich gesagt, kann ich mich an die Stelle nicht mehr genau erinnern. Er forderte mich auf, in eine Zufahrt zu biegen, und das tat ich dann auch. Sein Pick-up stand am unteren Ende der Zufahrt, und man konnte ihn von der Straße aus nicht sehen. Die Motorhaube war mit einer Plane bedeckt. Als ich ihn fragte, was es damit auf sich habe, grinste er übers ganze Gesicht, so nach dem Motto, Schaut euch die Karre mal an. Dann zog er die Plane runter.
Er hatte die Motorhaube strahlend weiß lackiert, und darauf prangte das schlecht gemalte Bild einer schwarzen Katze, wie es kleine Kinder zu Halloween malen, wissen Sie? Mit gesträubtem Fell, Buckel und erhobenem Schwanz. Und lauter schwarzen Schnörkeln.
Inzwischen wurde es dunkel, und er beleuchtete das Bild mit seinem Handy. Als ich näher ranging, konnte ich erkennen, dass die Katze rote Augen hatte. Sie sah echt merkwürdig aus, denn die Augen passten nicht zum Rest der Katze. Es hört sich zwar blöd an, aber irgendwie fand ich die Augen unheimlich.
Ich kapierte nicht, warum er so stolz auf diesen Pick-up war. Das Ding war einfach nur … dämlich. Mit der schwarzen Cartoon-Katze auf der beschissenen Motorhaube und der weißen Farbe, die so hell war, dass man kaum hinschauen konnte. Die Lackierung sah bescheuert aus, und der Pick-up war ziemlicher Schrott.
Dann packte er die Drogen aus, und bei seinem Pick-up haben er und Cass sich dann den ersten Schuss gesetzt. Ich lehnte dankend ab, das Bier reichte mir. Ich habe keine Ahnung, wie lange wir dort unten waren. Nachdem die beiden sich einen Schuss gesetzt hatten, tranken sie etwas, und ich rauchte ein paar Zigaretten und genehmigte mir ein oder zwei Bierchen. Vielleicht auch einen Schluck Wodka. Ich war immer noch ziemlich nüchtern, als Mathias meinte, dass er uns mit seinem bescheuerten Pick-up zum See fahren würde.
In der Fahrerkabine gab es lediglich eine Sitzbank. Weil ich so klein bin, hocke ich normalerweise immer in der Mitte, wissen Sie? Aber an diesem Abend saß Cass dort. Sie wollte neben Mathias sitzen.
Aber, hey, bevor ich weitererzähle, will ich eins klarstellen, okay?
Ich bin nur mitgefahren.
Sie kennen ja die Archer’s Mill Road, mit den ganzen Kurven. Mathias war betrunken und völlig durch den Wind, und er fuhr zu schnell. Es hätte jeden Augenblick was passieren können. Er ließ irgendwelchen furchtbaren Country-Rock laufen. Die Musik war zwar nicht so schlimm wie das Zeug von Nickelback, aber echt grauenvoll. Als ich rüberschaute und sah, wie Cass ihm mit der Hand in den Schritt fasste, wünschte ich, ich wäre nicht mitgekommen. Es ist besser, alleine zu sein als das fünfte Rad am Wagen, während in einem Pick-up direkt neben einem so ein Scheiß abgeht. Aber so war Cass eben, sobald sie sich einen Schuss gesetzt hatte. Wenn sie völlig von der Rolle war, wurde sie ziemlich locker. Sie müssen mir das nicht glauben, aber fragen Sie die Leute.
Als wir schließlich die Hütte erreichten, ging es mir wieder besser. Sie sah genauso aus, wie Mathias sie beschrieben hatte – es gab dort einen Steg und ein Floß, das Wasser war warm, und am Himmel funkelten unzählige Sterne. An die Sterne kann ich mich noch sehr gut erinnern. Denn nachdem Mathias und Cass ins Wasser gegangen und zum Floß geschwommen waren, lag ich mit dem Rücken auf dem Steg, damit ich den beiden nicht zuhören musste. Dort setzte ich mir auch zum ersten Mal einen Schuss. Weil ich nicht hören wollte, was die beiden dort draußen trieben. Alles schien ganz … schien ganz weit weg zu sein. All die Sterne.
Vielleicht war ich auch für eine Weile weggetreten. So muss es gewesen sein, denn an den Zeitraum zwischen dem Anblick der Sterne und dem Sonnenaufgang kann ich mich kaum erinnern. Inzwischen hatten Cass und Mathias das Wasser wieder verlassen und sich angezogen. Cass kam zum Steg rüber und trank ein Bier mit mir – das Bier war mittlerweile warm –, und ich sagte ihr, dass ich irgendwann mal auch gerne so eine Hütte besitzen würde. Sie war nichts Besonderes, wissen Sie, aber die Gegend war wunderschön und friedlich. Ich habe nie viel gebraucht, und dort war reichlich Platz für meine Tiere. Meine Hunde, Sparky und Bama, hätten sich dort wohlgefühlt. Ich glaube, Cass wollte, dass ich sie nach ihr und Mathias frage, aber das hatte ich nicht vor. Es war mir scheißegal, was die beiden getan hatten. Ich dachte mir, ich würde es sowieso erfahren, wenn ich sie irgendwann ins Krankenhaus bringe.
Wir waren alle ziemlich entspannt. Doch dann wurde Mathias plötzlich ganz hektisch, denn er konnte seine Schlüssel nicht finden. Er sagte, er habe sie verloren, als er mit Cass zum Floß rausgeschwommen sei. Er fluchte wie ein Rohrspatz und machte ihr Vorwürfe, und während Cass ihn anbrüllte, stapfte er durchs Wasser, als könnte er tatsächlich seine verdammten Schlüssel finden. Ich wollte mit der ganzen Sache nichts zu tun haben und setzte mich in den Pick-up. Und dann sah ich, dass die Schlüssel noch im Zündschloss steckten.
Ich fand das komisch, wissen Sie? Er verliert draußen im See seinen Verstand, und die verdammten Schlüssel stecken noch im Zündschloss. Ich sagte Cass Bescheid und musste lachen, aber inzwischen war sie stinksauer. Sie zog die Schlüssel heraus, hielt sie in die Höhe und rief, dass er ein dämlicher Scheißkerl sei. Dann stieg sie in den Wagen und startete den Motor, und ich stieg ebenfalls ein. Völlig durchnässt kam Mathias zu uns rübergerannt, und in dem Moment sah ich zum ersten Mal das Messer.
Cass saß hinterm Steuer und hätte einfach wegfahren können. Aber er hielt das Messer in die Höhe, trommelte gegen den Wagen und brüllte, dass er sie töten würde. Cass – also, das ist die Frage –, ich würde sagen, dass sie Angst vor ihm hatte. Aber da bin ich mir nicht sicher. Einerseits hatte sie Angst vor ihm, andererseits war sie erregt. Eigentlich hätte sie aussteigen müssen, aber sie rutschte einfach rüber und öffnete die Tür.
Ich habe viel darüber nachgedacht. Was, wenn sie ausgestiegen wäre? Wenn wir beide ausgestiegen wären?
Stattdessen blieb sie sitzen und bat mich, den Wagen nicht zu verlassen. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich wollte wohl nur, dass er sich voll auf sie konzentriert. Er öffnete die Tür und forderte uns auf, auszusteigen. Wir sollten zu Fuß nach Hause laufen. Cass sagte, er solle sich zum Teufel scheren. Sie werde auf keinen Fall aussteigen, und ich auch nicht. Ich habe die ganze Zeit keinen Ton gesagt. Es war wirklich übel … Cass war wie eine Art Schutzschild, wissen Sie? Ich wollte keine Aufmerksamkeit erregen. Und ich hatte Angst vor dem, was er ihr antun könnte, wenn ich die beiden alleine lassen würde. Ich hatte einfach nur Angst, Punkt.
Schließlich stieg er ein und sagte, Schön, ihr Schlampen, jetzt bekommt ihr, was ihr wollt. Da dachte ich, ich muss raus aus dem Wagen, mit oder ohne Cass. Doch dann fuhr er mit quietschenden Reifen los, und es gab kein Entkommen mehr.
Wir waren viel zu schnell.
Mathias raste von der Hütte fort und bog nach rechts statt nach links ab, und ich dachte, das ist die falsche Richtung. Aber das wollte ich ihm nicht sagen, nicht in seinem Zustand. Er schlug immer wieder auf das Armaturenbrett und sagte, dass wir jetzt bekommen würden, was wir wollten. Er fuhr schnell, irre schnell. Der Wagen nahm die ganze Straße ein. Je heftiger die Kurven waren, desto schneller fuhr er … Ich hatte Angst, dass er die Kontrolle verlieren würde. Ein ziemlich alberner Gedanke, wenn man bedenkt, was dann passiert ist, oder? Aber ich sehe diesen Moment noch ganz deutlich vor mir. Ich hatte Angst, dass wir uns mit dem Pick-up überschlagen würden.
Ich erinnere mich vor allem noch daran, wie ich während der Fahrt auf die Katze gestarrt habe. Sie kam mir jetzt noch verrückter vor. Am Abend zuvor war sie einfach nur dämlich gewesen. Aber als wir an diesem Morgen die Straße entlang rasten, wirkte sie … böse.
An der Archer’s Miller Road gibt es diese Obstplantage, und wir fuhren, keine Ahnung, mit etwa hundert Sachen daran vorbei. Es kam mir allerdings wie hundertfünfzig vor. Hinter der Plantage liegt der alte Friedhof. Außer an Halloween geht da niemand hin. Höchstens ab und zu mal ein paar Touristen, die Fotos machen. Cass und Mathias brüllten sich immer noch an, und plötzlich sagte er so was wie, Wenn du sterben willst, bringe ich dich an den richtigen Ort dafür. Dann bog er nach rechts ab – also, ich hatte das Gefühl, als würde er einfach von der Straße abfahren. Aber es gibt da diesen alten Schotterweg, der über den Friedhof führt, fast runter bis zum Wasser. Der Wagen hüpfte durch den Graben und landete auf dem Weg, während die Grabsteine an uns vorbeisausten. Ich war mir sicher, dass er gegen den größten von ihnen fahren wollte. Wie nennt man diese Dinger noch mal, die wie Festungen für Geister aussehen? Nicht Museum, aber so ähnlich. Museen für die Toten. Es gibt dort ein riesiges Exemplar, mitten auf dieser kleinen Anhöhe mit Blick aufs Wasser. Ich glaube, dass er es darauf abgesehen hatte. Dass er dagegenfahren und uns alle umbringen wollte, weil er auf einem Horrortrip war und ihm die Hitze am Vortag so zugesetzt hatte. Sonst gab es dafür keinen Grund.
Der Weg durch den Friedhof ist ziemlich holprig und steinig. Der Wagen hüpfte wie verrückt auf und ab – mein Arsch befand sich die Hälfte der Zeit buchstäblich in der Luft, und Mathias konnte den Pick-up kaum kontrollieren. Aber ich war froh, dass er die asphaltierte Straße verlassen hatte und mit niemandem mehr zusammenstoßen konnte. Was auch immer passieren würde, wenigstens würde es nur uns passieren.
Das war mein letzter Gedanke, bevor ich Jackie sah.
Sie stand mitten auf dem Weg und schaute aufs Wasser hinaus. Inzwischen ging die Sonne auf, und alles war in ein rosafarbenes, goldenes Licht getaucht. Als wir über den Hügel rasten, drehte sie sich zu uns um. Sie lächelte. Ich kann mich noch erinnern, wie sich ihr Gesichtsausdruck allmählich veränderte. Sie kennen doch diese Jalousien, bei denen man an einer Stange drehen muss, um den Raum abzudunkeln, oder? Genau so.
Aber ich glaube nicht, dass sie die Situation überhaupt ganz … erfasst hat. Ich meine, wir hatten dort nichts verloren, oder? Ich glaube, sie war einfach nur verwirrt und dachte, Was ist hier los?
Sie sprang entweder zu früh oder zu spät zur Seite – je nachdem, wie man es betrachtet. Sie versuchte uns auszuweichen, und Mathias versuchte ihr ebenfalls auszuweichen. Aber sie bewegten sich beide in dieselbe Richtung. Also … warten Sie. Ich vermute, dass er versucht hat, ihr auszuweichen. Ich will das gerne glauben. Sonst würde das bedeuten, dass er ausscherte, um … Wissen Sie, er hat es versucht.
Als Mathias mit Jackie zusammenstieß, wurde sie durch die Luft geschleudert und knallte so heftig gegen die Windschutzscheibe, dass sie splitterte. Dann war sie nicht mehr zu sehen, und Mathias stieg auf die Bremsen. Der Wagen wurde herumgeschleudert und krachte mit dem Heck gegen einen der alten Grabsteine. Der ist dabei zerbrochen. Sie haben Fotos davon gemacht und eines davon in der Zeitung veröffentlicht. Die Leute haben dann behauptet, dass Satanisten dort einen Mord begangen hätten oder so was in der Art. Aber der Pick-up ist mit der Ladefläche einfach gegen den Stein gekracht, als wir herumgewirbelt wurden.
Für einen Moment rührte sich nichts, und es war vollkommen still. Es schien, als würde keiner von uns atmen. Ich starrte bloß durch die Windschutzscheibe auf die Motorhaube, und darauf waren jetzt noch mehr rote Punkte. Ich wusste zwar, dass das Blutspritzer waren, aber irgendwie verschmolzen sie mit dem Rest des Bildes. Als gehörten sie zu der Katze. Als wären sie schon immer da gewesen.
Schließlich stieg ich aus dem Wagen, um Hilfe zu holen. Mathias stieg ebenfalls aus. Cass blieb noch einen Moment sitzen. Ich sah, wo Jackie gelandet war, und dann sah ich ihn ebenfalls. Ian Kelly. Damals kannte ich natürlich noch nicht seinen Namen. Das war für mich nur irgendein Mann. Er kam hinter uns den Weg herunter. Wir waren so schnell an ihm vorbeigefahren, dass wir ihn gar nicht bemerkt hatten. Kein Wunder. Wir waren direkt in den Sonnenaufgang gerast.
Er befand sich ein wenig oberhalb von uns, stand dort und starrte herunter. Zwischen uns und ihm lag Jackies Körper. Es war wie bei einem Duell. Dann rief er, Was zum Henker macht ihr da? Ich fand die Frage merkwürdig, denn die Sache war ja bereits passiert, wissen Sie? Es war ja nicht so, als wäre gerade irgendwas im Gange, was wir hätten beenden können.
Dann kam er auf uns zu. Ohne zu rennen, in normalem Tempo. Mathias lief ebenfalls los, und ich sah, dass er irgendetwas in der Hand hielt. Eine Stange oder ein Rohr. Die beiden gingen aufeinander zu, Jackies Körper und all das Blut waren genau zwischen ihnen. Cass hatte den Pick-up mittlerweile verlassen, und ich stand wie erstarrt da. Ich wollte nicht näher an das Blut rangehen. Aber der Mann kam weiter auf uns zu, offensichtlich stand er unter Schock.
Die beiden hatten Jackies Körper fast erreicht, als Mathias ihm mit dem Rohr einen Schlag verpasste. Einen einzigen Schlag, direkt auf den Kopf. Der Typ schaffte es nicht mal, seine Hand zu heben. Ich kann mich noch an das Geräusch erinnern. Es klang, als würde eine Faust eine Gipswand durchschlagen. Eine feuchte Gipswand.
Ich fing an zu schreien, doch als Mathias sich umdrehte und mich anstarrte, hörte ich sofort wieder auf. Der Blick, mit dem er mich anschaute … Ich wusste, dass er mich töten würde.
Er kam dann zu uns zurück, sah uns an und forderte uns auf, ihm dabei zu helfen, die beiden in den Pick-up zu verfrachten. Jeder wird sagen, Warum hast du das getan? Warum hast du nicht Nein gesagt, warum bist du nicht abgehauen, warum hast du nicht die Polizei verständigt? Aber niemand hat gesehen, wie er uns anstarrte. Entweder wir taten, was er verlangte, oder wir würden sterben. Das war klar. Das waren die beiden Alternativen.
Ich kann mich nur noch vage daran erinnern, wie wir die beiden aufgehoben haben. Mathias stieg in den Pick-up, setzte zurück und holte mehrere Abdeckplanen von der Ladefläche. Das heißt, es waren keine Abdeckplanen, sondern diese durchsichtigen Folien, mit denen man zerbrochene Fensterscheiben abhängt. Und dann haben wir, ähm … tut mir leid. Einen Moment. Entschuldigung.
Wir … äh, wir haben sie … quasi … zusammengefaltet. Sie eingewickelt. Ich habe versucht, nicht hinzusehen. Mathias brüllte, dass wir uns beeilen sollten, falls jemand vorbeikommt. Aber wir befanden uns um sechs Uhr morgens auf einem alten Friedhof außer Sichtweite der Straße – wer sollte da schon vorbeikommen? In diesem Moment fragte ich mich zum ersten Mal, was die beiden dort draußen zu suchen hatten. So früh morgens. Später kam es dann überall in den Nachrichten. Als ich erfuhr, warum sie dort gewesen waren, hatte ich erst recht ein schlechtes Gewissen. Ich meine, das war echt romantisch, wissen Sie? Ich bin nie mit einem Mann zusammen gewesen, der so früh aufgestanden ist, um so etwas zu tun. Scheiße, ich habe so einen Mann nicht mal kennengelernt.
Wir verfrachteten die beiden auf die Ladefläche des Pick-ups, und Mathias forderte uns auf, wieder einzusteigen. Ich glaube, dass weder Cass noch ich irgendwas gesagt haben. Ich konnte nicht mehr aufhören zu weinen und bekam kaum noch Luft. Ich wollte alles tun, was Mathias von uns verlangte, bis die ganze Sache vorbei war. Ich hatte schreckliche Angst vor ihm. Ehrlich gesagt, kam mir der Gedanke an Sie und Ihre Kollegen damals überhaupt nicht in den Sinn. Ich konnte an nichts anderes als an dieses kurze Stück Weg denken. Das war alles, was in diesem Moment existierte. Es gab nur noch diesen Weg, den Pick-up und Mathias. Mehr nicht.
Die Leute werden das nicht verstehen.
Cass fragte Mathias, wo er jetzt hinfahren wolle, und er sagte, dass wir die beiden Leichen entsorgen müssten. Er verließ den Friedhof, als hätte er ein ganz konkretes Ziel. Er fuhr zwar schnell, aber diesmal hatte er den Wagen unter Kontrolle und blieb auf der richtigen Fahrbahn. Er sagte, wir würden die beiden Leichen verschwinden lassen, uns aus dem Staub machen und den Pick-up mit Bleichmittel säubern. Sollte einer von uns beiden jemandem davon erzählen, würde er uns töten. Das war das erste Mal, dass er es aussprach. Aber das machte keinen Eindruck auf uns, denn das war uns bereits klar. Mir zumindest.
Er fuhr mit uns zum See zurück. Bis runter ans Wasser, zu der Stelle, wo er ein paar Minuten zuvor nach seinen Schlüsseln gesucht hatte.
Bevor ich sie dann im Zündschloss gefunden hatte.
Zunächst kümmerten wir uns um Jackie. Ich konnte ihr Gesicht kaum sehen. Da war zu viel Blut. Mit Klebeband befestigte Mathias ein paar von den Stangen, die auf der Ladefläche lagen, an ihrem Körper. Damit sie auch unterging. Als mir klar wurde, dass wir Jackie ins Wasser werfen würden, hielt ich das für eine dumme Idee. Denn die Stelle auf dem Friedhof, wo wir sie angefahren hatten, war nur fünfzig Meter vom Meer entfernt, und es war gerade Flut. Wir hätten nicht so weit fahren müssen. Die Strömung … die hätte die Leichen aufs Meer rausgetrieben. Solange sie niemand mit einer Hummerfalle oder etwas Ähnlichem herausgezogen hätte, wären sie nie gefunden worden. Dann könnte ich Ihnen jetzt genau erzählen, was passiert ist, und Sie würden sie trotzdem nicht finden. Aber Mathias bekam Panik, und wir brachten sie zum See. Das war ziemlich dumm, wenn man es recht bedenkt. Außerdem hat er sie auf seinen Pick-up geladen. Das wäre auch nicht nötig gewesen. Wir hätten sie nur zum Meer runterschleppen müssen, und die Strömung hätte den Rest erledigt.
Stattdessen sind wir zum See zurückgefahren. Wir wateten ins Wasser, bis es mir bis zum Hals reichte, und dann schwamm Mathias mit Jackie noch ein Stück weiter Richtung Floß. Dort ließ er sie los, und sie ging ziemlich schnell unter. Ich kann mich noch an das Blut im Wasser erinnern, aber kurz darauf war davon nichts mehr zu sehen.
Anschließend liefen wir zurück, um den Mann zu holen.
Nachdem wir ihn vom Wagen gehoben hatten, merkten wir, dass er sich noch bewegte. Ich glaube, dass ich es zunächst nur spürte, aber ich wollte es nicht wahrhaben. Dann sah ich zu seinem Kopf hoch … Ich weiß noch, dass die Plastikplane immer wieder nach innen gesaugt wurde und sich blähte. Da wurde mir klar, dass er noch atmete. Zumindest versuchte er es.
Cass sagte nur, Ach du Scheiße. Das war alles. Ach du Scheiße.
Und Mathias stach auf ihn ein. Ich hatte gar nicht mitbekommen, wie er das Messer gezückt hatte. Ich sah bloß, wie er sich über ihn beugte und durch die Plastikplane auf die Stelle einstach, wo sein Herz war.
Ich rastete völlig aus, und Mathias richtete sich wieder auf und starrte mich an, während das Messer auf meinen Körper zeigte. Ich sprang zurück, weil ich dachte, er wollte damit auf mich einstechen und mich töten. Aber dann sagte er mit ruhiger Stimme – ich werde nie vergessen, wie ruhig sie war, als würde er irgendwelche Spielregeln erklären –, Ihr müsst auch zustechen. Wir hängen zusammen da drin.
Er wartete darauf, dass ich seiner Aufforderung nachkam, aber dann nahm Cass das Messer. Sie … ohne zu zögern, stach sie auf ihn ein. Zu diesem Zeitpunkt bewegte er sich nicht mehr. Und die Plastikplane über seinem Mund auch nicht.
Dann hielt Cass mir das Messer hin, sah mir in die Augen und sagte, Kimmy, wir müssen uns beeilen. Mathias starrte uns beide bloß an, und als ich mich weigerte, das Messer zu nehmen, sagte er, Entweder du tust es, oder du landest mit den beiden im Wasser. Entscheide dich, Kimmy.
Also … äh, griff ich nach dem Messer. Doch ich ließ es fallen, weil ich so heftig zitterte. Ich ging auf alle viere und hob es wieder auf, und dann … dann streckte ich die Hand aus, stach zu und krabbelte davon. Mathias nahm das Messer und sagte, dass ich nicht fest genug zugestoßen hätte. Ich solle noch mal zustechen.
Und das tat ich.
Anschließend brachten wir ihn ins Wasser. Auf demselben Weg, zur selben Stelle. Das Wasser reichte mir bis zum Hals, ich bin ja nur 1,55 Meter groß. Mathias schwamm mit ihm noch etwa drei Meter weiter. Die beiden Leichen liegen zwischen dem Floß und dem Steg auf dem Grund. Mehr Richtung Floß. Dort werden Sie sie finden. Ich weiß nicht, wie tief das Wasser an dieser Stelle ist. Aber es ist nicht besonders tief. Das Wasser ist nur dunkel und der See verlassen.
Sie werden sie problemlos finden.
Mathias hat uns dann zu meinem Wagen zurückgefahren und uns die ganze Zeit Anweisungen gegeben. Was wir mit unseren Klamotten tun sollten, dass wir die Dusche und alles, was wir berührt hatten, mit Bleichmittel säubern sollten. Außerdem drohte er damit, uns umzubringen, falls wir jemandem von der Sache erzählen sollten. Falls wir zur Polizei gingen, würde er davon erfahren. Es würde ihm nichts ausmachen, in den Knast zu wandern, aber vorher würde er uns töten. So ging das die ganze Zeit – er erzählte uns, was wir tun sollten und was er mit uns anstellen würde, wenn wir nicht auf ihn hörten.
An mehr kann ich mich nicht erinnern. Ich habe keine Ahnung, was er anschließend getan hat und was mit dem Pick-up passiert ist. Dazu kann ich Ihnen nichts sagen, so sehr Sie sich auch bemühen.
Aber so ist es passiert.
Können wir jetzt Schluss machen?
2
Rob Barrett war mit Kimberly Crepeaux alleine im Zimmer. Die etwa 1,50 Meter große, fünfzig Kilo schwere Frau und Mutter eines Kindes war trotz ihrer zweiundzwanzig Jahre bereits fünfmal wegen anderer Delikte verhaftet worden, als sie das Geständnis zu ihrer Verwicklung in die Morde an Jackie Pelletier und Ian Kelly ablegte.
Mehrere Ermittler hatten auf einem Live-Video das Verhör verfolgt, und sobald Kimberly gegangen war, gesellte sich Lieutenant Don Johansson von der Maine State Police zu Barrett. Er war zehn Jahre älter als sein Kollege und hatte im Gegensatz zu ihm bereits mehrere Mordfälle bearbeitet. Als er das Zimmer betrat, hatte er die Augen weit aufgerissen und sagte, »Hei-li-ge Scheiße«, als könnte er nicht glauben, was er gerade gesehen und gehört hatte.
Die Polizei hatte Kimberly monatelang befragt, und niemand hatte damit gerechnet, dass sie heute ein Geständnis ablegen würde.
»Sie haben sie zum Reden gebracht«, sagte Johansson und setzte sich. »Sie haben es tatsächlich geschafft.«
Barrett nickte. Er saß immer noch auf seinem Stuhl, und sein Herz pochte unter dem Ansturm des Adrenalins. Er fühlte sich körperlich erschöpft, als würde er gerade nach einem Playoff-Spiel in der Umkleidekabine hocken. In den letzten zwanzig Minuten hatte er keine Miene verzogen und sich nicht bewegt, aus Angst, dass Kimberly bei der kleinsten Störung plötzlich verstummen könnte. Er war schon seit Langem der Überzeugung gewesen, dass sie die Wahrheit kannte und ein Geständnis ablegen wollte. Dennoch war er nicht auf das gefasst gewesen, was er dann zu hören bekam.
»Es war die Karte«, sagte Johansson und starrte Barrett leicht ungläubig an. »Die hat sie zum Reden gebracht. Wie zum Teufel sind Sie auf die Idee gekommen, ihr die Karte zu zeigen?«
Die Karte lag immer noch auf dem Tisch. Barrett nahm sie in die Hand und strich sanft darüber. Sie bestand aus einem Stück gefaltetem Bastelpapier und zeigte ein unbeholfen gemaltes Kreuz unter einem Regenbogen. Auf der Innenseite stand: Sie war eine liebevolle Mutter, und du kannst dich glücklich schätzen, jemanden wie sie gehabt zu haben. Es tut mir leid, dass sie gestorben ist, aber vergiss nicht, dass du immer noch einen liebevollen Vater hast. Die elfjährige Kimberly Crepeaux hatte den Text mit rosafarbenem Filzstift geschrieben und in Blau ihren Namen daruntergesetzt.
Barrett hatte auf einer Liste mit persönlichen Gegenständen, die die Ermittler nach Jackie Pelletiers Verschwinden bei der Durchsuchung in ihrem Haus erstellt hatten, einen Vermerk zu der alten, selbstgemalten Karte gefunden und ihren Vater gebeten, einen Blick darauf werfen zu dürfen. Niemand verstand, warum er sich dafür interessierte. Die Karte war, wie Kimberly festgestellt hatte, vollkommen bedeutungslos im Hinblick auf die schrecklichen Ereignisse, die sich mehr als ein Jahrzehnt später ereignet hatten.
Trotzdem brachte sie diese Karte schließlich zum Reden.
»Die Karte hat eine Beziehung zwischen den beiden hergestellt«, erklärte Barrett Johansson, während er die Kinderzeichnung von dem Regenbogen über dem Kreuz betrachtete. »Die Information, dass Jackie die Karte aufgehoben hatte, hat eine Beziehung zwischen den beiden hergestellt, obwohl Kimberly sich das nicht eingestehen wollte. Ich dachte, wenn ich Jackie ihr auf diese Weise nahebringe, wenn ich Kimberly dazu bringen kann, über ihre Beziehung nachzudenken, dann würde sie vielleicht endlich mit der Sprache rausrücken.« Er stieß einen langgezogenen Seufzer aus und schüttelte den Kopf. »Aber ich habe ganz bestimmt nicht damit gerechnet, dass sie mir so eine Geschichte erzählen würde.«
Johansson nickte, fuhr sich mit der Hand über das Kinn und wandte den Blick ab. »Glauben Sie, sie hat die Wahrheit gesagt?«
»Verdammt noch mal ja, das glaube ich.« Barrett war fast ein wenig überrascht, dass man ihm diese Frage stellte. Johansson hatte dasselbe wie er gehört; er hatte auf der Videoübertragung sogar ihr Gesicht sehen können, als sie ihre Geschichte erzählt hatte. Barrett verstand nicht, dass überhaupt noch irgendwelche Zweifel bestehen konnten.
»Ich will damit nur sagen, dass Kimmy nicht gerade für ihre Ehrlichkeit bekannt ist«, sagte Johansson.
»Sie hat gerade einen Mord gestanden, Don.«
»Es ist schon häufig vorgekommen, dass Menschen einen Mord gestanden haben, den sie nicht begangen haben.«
»Ich weiß das besser als jeder andere. Das gehört zu meinem Job. Ich habe mich zehn Jahre lang mit solchen Fällen beschäftigt und Vorträge darüber gehalten.«
»Ich weiß.«
Barrett spürte Wut in sich aufsteigen. Man hatte ihn vom FBI-Büro in Boston hierher geschickt, weil es Johansson und seinem Team trotz der unzähligen Berichte, dass Kimberly Crepeaux sich gegenüber mehreren Bekannten selbst belastet hatte, nicht gelungen war, sie zum Reden zu bringen. Und jetzt, wo Barrett ein Geständnis bekommen hatte, stellte Johansson es infrage. Seit Barretts Ankunft war es zwischen ihnen immer wieder zu Spannungen gekommen. Er konnte das zwar verstehen – kein örtlicher Polizeibeamter mochte es, wenn ihm ein FBI-Agent über die Schulter schaute –, aber trotzdem war er erstaunt, dass Johansson ihn ausgerechnet heute seine Ablehnung spüren ließ.
»Das Taucherteam wird herausfinden, ob sie die Wahrheit gesagt hat«, erklärte Barrett um einen gemäßigten Tonfall bemüht. »Wenn sie lügt, ist der See leer. Wenn nicht, dann sind die Leichen da unten. Stellen wir einen Suchtrupp zusammen.«
»Gut. Außerdem müssen wir Colleen auf den neuesten Stand bringen.«
Colleen Davis war die Staatsanwältin.
»Und die Familien«, sagte Barrett. Es schien, als würde Johansson leicht zusammenzucken.
»Es ist Ihr Geständnis«, sagte Johansson. »Sie haben es aus ihr rausgeholt, also dürfen Sie auch die Familien davon in Kenntnis setzen.«
Als ob das eine besondere Ehre gewesen wäre und nicht eine Last.
»Danke«, sagte Barrett, und falls Johansson den Sarkasmus in seiner Stimme bemerkte, ließ er es sich nicht anmerken. Er betrachtete den Stuhl, auf dem Kimberly Crepeaux gesessen hatte, als wäre sie immer noch da, und schüttelte den Kopf.
»Ich kann immer noch nicht glauben, dass Mathias es gewesen ist«, sagte er. »Bei Kimmy wundert mich das nicht. Und bei Cass Odom auch nicht. Möge ihre gequälte Seele in Frieden ruhen. Ich kann mir gut vorstellen, dass die beiden in die Sache verwickelt waren. Aber Mathias Burke … Kimmys Schilderung passt nicht zu dem Mann, den ich oder die Leute hier kennen.« Er schüttelte erneut den Kopf und stand auf. »Ich werde Colleen informieren und dann die Taucher herbestellen. Ich schätze, morgen früh wissen wir dann Bescheid.«
»Ja«, sagte Barrett, der die Karte aus Bastelpapier immer noch in der Hand hielt. »Ich denke schon.«
Johansson klopfte ihm auf die Schulter. »Gute Arbeit, Barrett. Sie haben gerade einen Fall abgeschlossen. Ihr erster, nicht wahr?«
War das eine Frage oder eine Feststellung?
»Ja«, gab Barrett zu. Der ältere Cop nickte und gratulierte ihm erneut zu seiner guten Arbeit, bevor er den Raum verließ, um die Staatsanwältin auf den neuesten Stand zu bringen und das Taucherteam anzufordern. Rob Barrett saß mit der Beileidskarte in der Hand da, die ein elfjähriges Mädchen für ein anderes elfjähriges Mädchen geschrieben hatte, dessen Leiche es später in eine Plastikplane wickeln und im trüben Wasser eines verlassenen Sees versenken sollte.
Ich muss ihre Eltern informieren, dachte er, und plötzlich wünschte er, Johansson wäre hier, denn er hätte ihm gerne den schwarzen Peter zugeschoben. Auch wenn er Johansson dafür in den Arsch kriechen und anerkennen müsste, dass er sehr viel mehr Berufserfahrung hatte.
In Wirklichkeit hatte Barrett keinerlei Erfahrung. Mit seinen vierunddreißig Jahren war er für einen FBI-Agenten zwar nicht außergewöhnlich jung. Aber er war ein Späteinsteiger und hatte mehr als ein Jahrzehnt unterrichtet, bevor er in den Polizeidienst gewechselt war. Er war erst seit neun Monaten beim FBI und hatte bisher keinen einzigen Mordfall bearbeitet. Das war nicht ungewöhnlich, denn in der Regel bearbeiteten FBI-Agenten keine Mordfälle – wenn man von den wenigen spektakulären Ausnahmen absah, bei denen es um Serienmörder und die Erstellung von Persönlichkeitsprofilen ging. Genau genommen leistete das FBI den Detectives von der Mordkommission nur Diensthilfe.
Rob Barrett hatte sich für diesen Fall freiwillig gemeldet. Es bedurfte einiger Anstrengungen, um seine Vorgesetzte in Boston, Roxanne Donovan, davon zu überzeugen, ihren jungen Agenten den Kollegen im ländlichen Maine zu überlassen. Aber es gab ein paar Argumente, die für ihn sprachen. Einerseits war eines der Opfer der Sohn eines bekannten Staatsanwalts aus Washington, der das FBI um Hilfe gebeten hatte. Andererseits war Rob Barretts Spezialgebiet die Erwirkung von Geständnissen, und der Polizei war es nicht gelungen, eine mögliche Zeugin zum Reden zu bringen. Außerdem verfügte Rob Barrett über, wie er es ausdrückte, eine gewisse Vertrautheit mit Port Hope.
Er vermutete, dass die beiden letzten Punkte nicht annähernd so viel Gewicht hatten wie der erste. Die Kellys hatten in Washington großen Einfluss und waren verärgert über das Tempo der Ermittlungen. Als Barrett Roxanne aufsuchte, um seine Argumente vorzubringen, wusste er, dass man aus Washington bereits die Bitte um Unterstützung an sie herangetragen hatte. Während des Gesprächs spielte er sein wahres Interesse und seine Verbindung – nein, seine Vertrautheit – mit Maine herunter.
»Ich kann in Ihrer Vorgeschichte keinerlei Bezug zu dieser Gegend erkennen«, sagte Roxanne und blätterte ein Dokument durch, das wahrscheinlich mehr Informationen zu seinem Leben enthielt, als er wissen wollte.
»Ich war dort immer nur im Sommer, bei meinem Großvater.«
»Aber Sie haben einige Zeit in Port Hope verbracht?«
Ja. Das hatte er. Er hatte sich in Port Hope verliebt – in das Meer, die Wälder und schließlich in ein Mädchen. All das geschah im Schatten eines Mannes, an den sich die Bewohner von Port Hope sehr viel besser erinnerten als an seinen Enkel. Ray Barrett war zwar bereits vor einigen Jahren gestorben, aber die gesplitterten Barspiegel und Narben an den Körpern diverser Männer zeugten immer noch von seiner Anwesenheit in Port Hope. In der Harpoon konnte man beides finden, in der Bar, in der Kimberly Crepeaux angeblich ihre Informationen zu dem Fall ausgeplaudert hatte, die Bar, die früher Robs Großvater gehört hatte.
Roxanne Donovan war davon ausgegangen, dass man Barrett in Maine höchstens für »ein oder zwei Wochen« benötigen würde.
Das war vor zwei Monaten gewesen. Kimberly Crepeaux legte nicht ohne Weiteres ein Geständnis ab, aber als sie schließlich einknickte, lieferte sie eine umfassende Schilderung der Ereignisse.
Und jetzt war es Barretts Aufgabe, die Familien der Opfer über all die Einzelheiten zu informieren.