Fabian Grimm und seine Freundin Lydia leben in Berlin, beide lieben die Großstadt, beide studieren, beide sind Vegetarier. Doch Lydias Studium – Forstwirtschaft – bringt das Paar zum Nachdenken: Für die Wälder und die Nutzflächen in der Landwirtschaft scheint das Jagen von Tieren unabdingbar, da sonst die Baumbestände und die Ernten in Gefahr sind. Und so folgte die Einsicht: Fleisch zu essen von einem Tier, dass vorher wild gelebt hat, ist moralisch vertretbar. Denn das waren die Gründe, warum das Paar vegetarisch lebte: Fabian und Lydia sind gegen Massentierhaltung, sie kritisieren die langen Transportwege von Lebensmitteln, die fehlende Beziehung zu unserer Natur. Und so wird die Jagd zu einer Alternative. Seitdem verzehrt Fabian Grimm nur, was er selbst geangelt oder geschossen hat. Und er verarbeitet alles: auch die Innereien und Knochen – für ihn eine Selbstverständlichkeit, denn Lebensmittel sind wertvoll, und wir sollten möglichst wenig davon wegwerfen.
Wie ich vom Vegetarier zum Jäger wurde
Ullstein
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Dieses Buch beschreibt meinen Weg vom Vegetarier zum Jäger. Meine Erlebnisse
und Erfahrungen sowie Begegnungen und Gespräche habe ich nach bestem Wissen
und Gewissen wahrheitsgemäß aufgeschrieben. Mit Rücksicht auf Persönlichkeitsrechte
habe ich die Namen und Wesenszüge einiger Personen verändert und einige
Orte verlegt oder umbenannt.
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© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
Lektorat: Regina Carstensen
Umschlaggestaltung: Zero Media, München
Umschlagmotiv: © Fabian Grimm
Autorenfoto: © Fabian Grimm
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ISBN 978-3-8437-2175-2
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Die Taube drückt sich in eine Ecke des Balkons, mehr schlecht als recht versteckt sie sich hinter dem Klappstuhl. Wir beobachten sie durch die geöffnete Balkontür. Auch sie scheint uns wahrzunehmen. Weder wir noch das Tier machen auch nur die kleinste Bewegung. Dann schließt sich ganz langsam ihr orangerotes Auge.
In der einen Hand halte ich noch ein halbes Brötchen, in der anderen einen Löffel mit Hummus. Beides lege ich auf meinen Teller, ganz vorsichtig, um jetzt bloß kein Geräusch zu machen. Tracy Chapman nimmt weniger Rücksicht und singt in unveränderter Lautstärke aus den Boxen auf dem Regal.
»Das war eine von den Krähen, oder?«
Im Flug hatte sie die Taube plötzlich bedrängt und mit dem Schnabel nach ihr gehackt. Dann ist die Taube abgestürzt.
Meine Freundin Lydia und ich sitzen bei einem späten Frühstück, das langsam in ein Mittagessen übergeht. Als wir vorhin den Tisch gedeckt haben, war es uns zum ersten Mal nach dem Sommer zu kühl, um draußen zu sitzen. Der sonnige Tag könnte einer der letzten sein, wir werden ihn nutzen: Das Buch mit per S-Bahn erreichbaren Wanderwegen rund um die Stadt liegt aufgeschlagen auf dem Tisch, daneben für jeden von uns zwei Brötchen, die nur darauf warten, als Proviant für eine lange Tour geschmiert zu werden, sobald wir den Kaffee ausgetrunken haben. Raus aus der Stadt, wie so oft in den letzten Wochen. Seit mehr als zwei Jahren wohnen wir in der winzigen Wohnung in Berlin-Mitte, direkt unterm Dach. Eigentlich sind knapp vierzig Quadratmeter fast ein bisschen zu wenig für zwei Menschen, aber solange es warm genug ist, um den großen Balkon zu nutzen, merken wir das kaum. Und wir haben hier oben Ruhe von der Stadt, den Blick auf den Fernsehturm und die bodentiefen Fenster ohne Vorhänge, weil uns außer den Tauben und Krähen sowieso niemand reinschauen kann. Die Vögel brüten auf den Dächern der Nachbarhäuser, hinterlassen überall dicke weiße Tropfen und verstopfen gelegentlich die Regenrinnen. Die Krähen haben sogar schon Essensreste vom Balkontisch geklaut. Ihr Krächzen und Gurren zu jeder Tages- und Nachtzeit nehmen wir mittlerweile genauso wenig wahr wie die Motorengeräusche der Autos, deren Fahrer unten in unserer Seitenstraße verzweifelt nach einem freien Parkplatz suchen. Oder das regelmäßige tiefe Rumpeln, wenn die Tram alle vier Minuten auf der Bernauer Straße vorbeifährt.
Vielleicht waren die Geräusche eben lauter oder besonders schrill oder drängend gewesen, ohne dass ich mich bewusst daran erinnern könnte. Jedenfalls müssen sie auf irgendeine Weise unsere Aufmerksamkeit geweckt haben, sonst hätten wir sicher nicht auf die Vögel geachtet, den kurzen Kampf in der Luft nicht beobachtet und die Taube wohl erst bemerkt, als sie mit einem schrecklichen Klatschen unmittelbar vor uns auf den Balkon stürzte.
Lydia ist schon aufgestanden und steht zögernd an der Balkontür. Ich folge ihr. Einige fluffige weiße Daunen kleben auf dem Holzboden. Die Spitze eines Flügels ragt ein Stück unter der Sitzfläche des zusammengeklappten Stuhls hervor. Kniend sehen wir uns die reglose Taube aus der Nähe an. Auf der Brust klafft ein Riss in dem tiefroten Fleisch, er fällt sofort ins Auge. Dort hat der kräftige Schnabel sie getroffen. Das graue Gefieder des Vogels glänzt und schimmert aus der Nähe in Blau- und Grüntönen wie poliertes Metall. Obwohl die Vögel jeden Tag um uns sind, habe ich noch nie eine Taube so genau betrachtet und bin überrascht, wie schön sie ist – von wegen »Ratten der Lüfte«. Am Bauch benetzt Blut ihre Federn. Warum die Krähe sie wohl angegriffen hat? Normalerweise leben beide Arten hier friedlich nebeneinander, einen Kampf habe ich noch nie beobachtet.
Plötzlich teilen sich die Lider und geben das rote Auge wieder frei. Die Taube lebt noch, trotz der Verletzung.
Instinktiv zucken wir beide zurück. Auch der Vogel erschrickt. Langsam zieht er die schuppigen roten Beine an den Körper. Harte Krallen kratzen ungelenk über das Holz, die Flügel schlagen einige Male, der Kopf verdreht sich. Dann wieder Ruhe. Schräg von unten starrt das rote Auge uns an. Wir versuchen uns so leise und unbemerkt wie möglich in die Wohnung zurückzuziehen, aber der Taube entgehen unsere Bewegungen nicht. Sie flattert noch einmal, bis die Federn der Flügel sich nach einigen Schlägen gegen die Wand und den Stuhl biegen.
Hilflos sehen wir zu, wie die Taube zurück gegen die Mauer kippt und wieder zusammensackt. Der kleine Körper liegt auf dem Rücken, die Flügel sind in einem grotesken Winkel ausgebreitet, und die Brust ist in den Himmel gereckt. Unter dem Hals beginnt die Wunde, sie zieht sich bis zum Brustbein. Wie tief sie ist! Einer der Flügel zeigt jetzt einen deutlichen Knick. Ist er beim Sturz gebrochen, oder war das auch die Krähe? Die Federn sind zerzaust. Der Vogel muss furchtbare Schmerzen haben. Der Anblick ist unerträglich. Erneut schlägt die Taube kraftlos mit den Flügeln.
Unwillkürlich flüstern wir nur noch. Was sollen wir jetzt mit der Taube machen? Ich wüsste nicht, wen wir um Hilfe bitten könnten. Wer kennt sich mit Tauben aus? Kann man eine Taube zum Tierarzt bringen? Wo gibt es überhaupt in Berlin einen Tierarzt – und wie schafft man einen panischen Vogel dorthin?
Die Taube überfordert uns. Im Netz sehe ich nach, was wir tun können, während Lydia die Taube im Blick behält. Es gibt tatsächlich eine Tierklinik, die auch Wildtiere behandelt und die am Wochenende geöffnet hat – allerdings ist sie in Zehlendorf, ganz am anderen Ende der Stadt. Auf der Website wird empfohlen, verletzte Vögel »in einem blickdichten Behälter, wie z. B. einem Schuhkarton« zu transportieren. Die Taube ist aber nicht an Menschen gewöhnt, schon unsere bloße Anwesenheit versetzt sie in Panik. Sie in eine Schachtel zu setzen – würde das alles nicht nur noch schlimmer machen? Und: Könnte ein Tierarzt mehr tun, als sie einzuschläfern? Die Wunde ist wirklich tief, dazu der gebrochene Flügel. Ich kann mir das nicht vorstellen. Bis nach Zehlendorf brauchen wir mit der Bahn mindestens eine Stunde und müssen mehrfach umsteigen. Ob sie das überhaupt überleben würde? Menschen, Lärm, Durchsagen, Bewegung, das alles eingesperrt in einer Schachtel – aber was sollen wir sonst tun?
Langsam komme ich zur Ruhe. Ich ertappe mich, wie ich mir unbewusst mehr Zeit lasse als nötig. Es gelingt mir, mich selbst einigermaßen zu überzeugen: Das Beste, was wir tun können, ist, die Taube in Frieden sterben zu lassen, so gefühllos das auch klingen mag. Sobald wir uns nähern, leidet sie, hat Todesangst. Lange kann es nicht mehr dauern. Den Kaffee austrinken oder duschen oder Zähne putzen oder kurz durch den Park gehen und erst später wieder nach dem Tier sehen. An etwas anderes denken.
Ist es feige und bequem, die Taube auf diese Art sterben zu lassen, oder wirklich die sinnvollste Lösung? Die Alternative wäre, ihr tatsächlich die Reise quer durch die Stadt zuzumuten. Sollen wir sie in ihren letzten Minuten so quälen, wenn sie dort ohnehin eingeschläfert werden muss?
Ich stehe auf und bewege mich vorsichtig in das Zimmer hinein, sodass ich die Taube auf dem Balkon im Blick habe. Immer noch liegt sie auf dem Rücken.
»Sie hat sich nicht bewegt, aber sie atmet, wenn man ganz genau hinsieht«, flüstert Lydia.
Das arme Tier. Eine dritte Möglichkeit, außer zu warten oder nach Zehlendorf zu fahren, gibt es. Als ich diesen Ausweg behutsam anspreche, ist sofort klar, dass Lydia den gleichen Gedanken hatte: Wir könnten das Leiden des Vogels auch selbst beenden.
An sich hätte eine halbtote Taube in ganz Berlin wohl kaum einen passenderen Frühstückstisch zum Abstürzen finden können. Noch gestern Abend haben wir auf unserem Balkon gesessen und darüber gesprochen, wie es sich anfühlen mag, wenn man einem Tier das Leben nimmt. Freut man sich, weil man sich das ja vorgenommen hat? Oder fühlt man sich schuldig? Tote Tiere sollen in einigen Monaten in unserem Leben eine wichtige Rolle spielen – Lydia und ich wollen einen Kurs zur Vorbereitung auf die Jägerprüfung besuchen. Die Entscheidung hatte eine Weile reifen müssen, ganz sicher bin ich mir dennoch nicht. Nicht in diesem Augenblick. Bislang ist nichts unterschrieben, und naheliegend ist das auch nicht: Auf unserem Frühstückstisch findet sich außer einem hart gekochten Ei und einem Eckchen Käse aus dem Bioladen nichts Tierisches, seit Jahren sind wir Vegetarier.
Trotzdem liegen neben dem Sofa mehrere Lehrbücher zur Vorbereitung für den Jagdschein, erst einmal nur so, zum Durchblättern. In einem dieser Bände steht eine Erklärung, was ein Jäger zu tun hat, falls sein Hund ihm eine noch lebende Ente bringt. Nüchtern und in knappen Worten wird der Ablauf beschrieben. Um ihn zu betäuben, schlägt man dem Vogel mit einem Knüppel gegen den Hinterkopf, danach ist er bewusstlos. Anschließend greift man um den Hals, drückt den breiten Schnabel mit dem Finger gegen die Brust und sticht mit einem schmalen Messer in den gestreckten Nacken. Das Rückgrat wird durchtrennt, die Ente ist tot. Dazu gibt es eine Grafik: Vogel in der einen Hand, Knüppel in der anderen, dazwischen beschreibt ein roter Pfeil einen Halbkreis. Der Text erklärt: Schlägt man mit dem Knüppel kräftig genug zu, ist die Ente gleich nach dem ersten Schritt tot, nach dem Betäuben. Nichtsdestotrotz sollte man das Messer bereithalten. Über die emotionale Seite steht da kein Wort.
Habe ich gegenüber Freunden oder meiner Familie erwähnt, dass ich überlege, den Jagdschein zu machen, kam fast immer als Erstes die Frage: »Und du meinst, du könntest ein Tier töten?« Ungläubige Blicke. Für die Verfasser von Jagdbüchern scheint es hingegen selbstverständlich zu sein, dass man keine Bedenken hat, einem wehrlosen Vogel das Leben zu nehmen. Eine rein technische Beschreibung des Vorgangs für Noch-nicht-Wissende scheint ihrer Ansicht nach völlig auszureichen.
Lydia sieht mich an und schüttelt den Kopf. Sie kann sich genauso wenig vorstellen wie ich, das tatsächlich bei der Taube umzusetzen. Sie leidet, das ist sicher, aber sie einfach zu packen und zu erschlagen? Vielleicht kann ein Vogel ja wie wir Menschen unter Schock stehen, sodass er eine Weile neben sich steht und sich dann doch erholt?
Wir schieben vorsichtig eine Schale mit Wasser auf den Balkon, schließen die Tür und lassen die Taube alleine.
Als wir es nicht mehr aushalten und erneut nach dem Vogel sehen, zieht sich mein Magen zusammen. Die Taube ist nicht tot. Erholt hat sie sich aber auch nicht, und das Wasser wirkt unberührt. Trotz ihrer Verletzungen hat sie es aber geschafft, sich von der Stelle zu bewegen. Sich auf den gebrochenen Flügel stützend, sitzt sie jetzt, halb gekippt, in der Mitte des Balkons. Sie ist dorthin gekrochen, blutige Flecken auf dem Holz zeigen ihren Weg. Als wir uns der Tür nähern, beginnt sie sofort wieder mit den Flügeln zu schlagen und fällt auf den Rücken. Flatternd gelingt es ihr, sich noch einmal aufzurichten. Die ganze Brust ist inzwischen rot verschmiert, und der Schnabel steht weit offen. Die obere Hälfte scheint nicht auf die untere zu passen. Die Spitze zeigt ein wenig zur Seite, als wäre sie verbogen.
»Die erholt sich nicht, nie im Leben.« Leise sage ich das, aber eindringlich, auch um mich selbst zu überzeugen. Die Taube erstarrt und blickt uns direkt an, als hätte sie mich gehört.
Lydia hat noch nie ein Tier getötet, ich schon: Der Garten meiner Eltern endet an einem Bach. Als Kind hatte ich dort stunden- und tagelang geangelt und gelegentlich tatsächlich eine Forelle gefangen. Kleinen Fischen habe ich den Haken vorsichtig aus dem Maul entfernt und sie wieder schwimmen lassen. Waren sie aber groß genug, habe ich die Forellen getötet, um sie zu essen. Mein Onkel hatte mir damals beigebracht, wie das geht.
In den Keller zu gehen, braucht eine Weile. Fünf Stockwerke die Treppen hinunter, die Tür zum Keller öffnen, dann die Kellertreppe hinabsteigen, das Vorhängeschloss zum Abteil öffnen, in unserem Chaos suchen … Zeit, die die Taube nutzen könnte, um doch noch zu sterben. Das ist nicht gerade mutig von mir gedacht. Es wäre richtig, die Taube totzuschlagen. Es wäre das Einzige, was ich für sie tun könnte. Für sie tun kann, nicht nur könnte – weil ich es doch vom Fischen kenne. Das haben Lydia und ich doch so entschieden. Es ist falsch, zu zögern und zu warten. Kein Zweifel, nur die eigene Unsicherheit.
Ursprünglich war die viereckige Stange einmal Teil eines kleinen Regals. Das unlackierte Holz kommt mir sehr leicht und beinahe weich vor, als ich es in die Hand nehme. Reicht das? Ich nehme den Knüppel in die rechte Hand und schlage damit auf die Handfläche der linken. Kurz und trocken, nicht mit voller Kraft. Nur so fest, dass ich noch genau zielen könnte. Zielen kann. Ich will das nicht. Eine Taube ist kein Fisch. Fische sind kalt und glitschig und fremd, und sie können nicht blinzeln. Ich habe es nie gerne gemacht, klar, aber ich hatte bei den Fischen auch keine Angst davor. Es ist genau das Gleiche, genau der gleiche Ablauf. Ein Schlag auf den Nacken und dann ein Stich mit dem Messer. Das Beste für den Vogel. Verantwortung übernehmen, das war doch immer der zentrale Begriff, wenn wir über die Jagd gesprochen haben. Ich weiß, dass Lydia sich oben fragt, wo ich bleibe. »Die Taube hat es dann einfach hinter sich, bitte.«
Mit dem kurzen Kantholz und einem Paar grober Arbeitshandschuhe gehe ich zurück in die Wohnung. Berühren werde ich sie aber auf keinen Fall. Schon an Lydias Haltung sehe ich, dass die Taube noch lebt.
Vorsichtig und leise öffne ich die Balkontür. Wir hatten sie angelehnt, als ich in den Keller ging. Die Taube bewegt sich nicht, aber ihre Augen sind geöffnet, und sie sitzt jetzt ein bisschen aufrechter. Den Knüppel halte ich in der Hand. Lydia will ein scharfes Küchenmesser holen, das sie mir geben wird, falls ich es brauche. Ich hatte keine Ahnung, dass Tauben eine Zunge haben. Wie ein Stachel sieht sie aus, spitz und hart ragt sie aus dem aufgerissenen Rachen. Auch am Schnabel erkenne ich nun Blut. Wahrscheinlich innere Verletzungen. Eine Wahl habe ich nicht mehr. Unser Balkon, unsere Verantwortung. Die Taube leidet, und sie zu erlösen ist alles, was ich für sie tun kann.
Während ich die Handschuhe nochmals zurechtziehe, passiert es: Die Taube hält meine Nähe nicht aus. Erneut Panik, auf beiden Seiten. Sie schlägt mit dem gesunden Flügel, fällt vornüber, windet sich. Plötzlich fassen ihre Beine Halt im Spalt zwischen zwei Bohlen. Sie drückt sich ab, will fliegen, flattert und bleibt an der Schwelle der offenen Balkontür hängen. Sie stürzt auf das Parkett im Wohnzimmer, und bevor wir reagieren können, rutscht die Taube mehrere Meter über den glatten Boden, ziellos und völlig unkontrolliert. Bloß weg.
Zweimal gelingt es mir fast, die Taube zu fangen, doch dann verschwindet sie in einem Spalt hinter dem Sofa und kriecht kratzend an der Wand entlang. Auf dem hellen Stoff hat sie einen schwarz-roten Fleck hinterlassen, sonst ist nichts von ihr zu sehen. Ich ärgere mich über mich selbst. Die Flucht hat mich völlig überrumpelt. Berührt habe ich sie, nur nicht richtig zugegriffen. Buchstäblich zwischen den Fingern ist sie mir durchgerutscht. Habe ich sie durchrutschen lassen. Ich hatte Angst, sie zu fest zu packen oder ihr mit den groben Handschuhen Schmerzen zuzufügen.
So wird das aber nichts. Ich kann die Taube nicht sanft behandeln, wenn ich ihre Qualen endlich beenden möchte. Kurz und schmerzlos. Ich habe lange genug gezögert, getrödelt und mich gedrückt. Sie durch die Wohnung zu jagen, macht alles nur noch schlimmer. Immerhin ist das nicht in der S-Bahn auf dem Weg zur Tierklinik passiert.
Ganz hinten in die Ecke quetscht sich der Vogel, nur ein dunkler Schatten ist zu erkennen. Ich drücke das Kantholz vorsichtig in den Spalt zwischen Polster und Wand. Die Taube rührt sich nicht, selbst als der Knüppel näher kommt. Sie hat sich auf ihrer Flucht derart verausgabt, dass sie nicht mehr weiterkann. Oder beruhigt sie die Dunkelheit in ihrem neuen Versteck? Vielleicht ist sie bewusstlos? Tot?
In diesem Augenblick streckt sie sich, zappelt und hebt einen Flügel, so gut es ihr in der Enge möglich ist. Sofort sackt sie wieder ins sich zusammen. Vorsichtig berühre ich sie mit dem Kantholz, sie lässt es geschehen. Ich schiebe sie über den glatten Boden unter dem Sofa hervor. Die Krallen scharren nicht mehr panisch, sondern schaben gleichmäßig und kraftlos über das Holz.
Nochmals darf ich nicht zögern. Ich weiß, was ich tun muss: Kaum dass ich den Vogel erblicke, greife ich zu und drücke ihn mit der Hand fest auf das Parkett. Geschafft. Er wehrt sich, stemmt sich gegen meine Hand und versucht, die Flügel zu spreizen. Zu spät. Ich habe die Taube.
Raus auf den Balkon. In der einen Hand der Vogel, in der anderen der Knüppel, wie im Jagdbuch gezeigt. Wenn ich kräftig genug auf den Hinterkopf schlage, ist die Taube sofort tot. Genau zielen! Die Füße strampeln hilflos in der Luft, die Flügel pressen gegen meine Finger. Das rote Auge starrt mich an. Ich schlage zu. Mit Kraft.
Lydia und ich haben beide seit Jahren kein Fleisch mehr gegessen. Als wir uns noch in der Schulzeit kennenlernten, hatten wir uns bereits unabhängig voneinander so entschieden und waren seither konsequent: kein Fleisch, keine Wurst und keine Ausnahmen – kein Braten auf Familienfeiern, keine Grillwurst bei Einladungen im Sommer und kein Döner im Suff auf dem Heimweg von irgendeiner Party. Milchprodukte und Eier schon, aber selten, und wenn, dann aus einem der Bioläden, die es in Berlin zum Glück an jeder Ecke gibt.
Als Studenten haben wir beide nicht viel Geld, aber der bewusste Einkauf ist Ausdruck einer Haltung, auf die wir ein bisschen stolz sein dürfen: Es ist nicht richtig, ein fühlendes, intelligentes Wesen, egal ob es ein Ferkel, ein Kalb oder ein Küken ist, auf engstem Raum einzusperren, es mit Futter vom anderen Ende der Welt zu mästen, bis es dick und schwerfällig wird, um es schließlich mit möglichst vielen Artgenossen in einen stickigen Laster zu quetschen und zum Schlachthof zu karren. Trotzdem kaufen viele Leute billigstes Fleisch in rauen Mengen und nehmen es hin, dass dafür Tiere leiden müssen.
Es ist fast genauso falsch, ein Tier einzusperren, um seine Milch zu trinken oder seine Eier zu essen – ohne dass es auch nur die Sonne gesehen oder Wind und Regen auf seiner Haut gespürt hat. Jede Kreatur hat wenigstens ein artgerechtes Leben verdient, mit Weidegang, mit ordentlichem Futter und mit Kontakt zu Artgenossen. Es macht einen Unterschied, ob man einem glücklichen Huhn in einem unbeobachteten Moment sein Ei aus dem Nest stibitzt oder ob es sein ganzes Leben in einem engen Käfig verbringt und die Eier gleich nach dem Legen durch Gitterstäbe auf ein Fließband rollen.
Gefehlt hatte mir Fleisch in den Jahren als Vegetarier nie – unangenehm war es höchstens, in Situationen, in denen es für andere ganz selbstverständlich dazugehört, nach Alternativen suchen zu müssen. Im deutschsprachigen Raum wird traditionell viel Fleisch gegessen, und bei der Zubereitung typischer Gerichte darauf zu verzichten bedeutete, die zentrale Zutat ersetzen zu müssen. Gut erinnere ich mich an Familienfeiern in Gasthäusern, bei denen ich wegen der »vegetarischen Alternative« die abgrundtiefe Verachtung der Küche für diesen Sonderwunsch deutlich anmerkte: Alle Gemüsebeilagen, die die Speisekarte hergab, waren lieblos und ohne Rücksicht auf Verluste, was Geschmack und Ästhetik betraf, auf einem Teller zusammengeklatscht. Das entstandene Monster aus zerkochtem Gemüse, Klößen und Kroketten wurde gern noch mit der Frage garniert: »Und Sie wollen wirklich nicht ein bisschen Soße dazuhaben?« Nein, wollte ich nicht.
Lässt man außer dem Schwein auch die fleischhaltige braune Pampe weg, bleibt vom klassischen Sonntagsbraten nur ein trockener Kloß mit etwas Rotkohl. Und ohne das Wiener Schnitzel liegen auf dem Teller nur Pommes mit einem Zitronenschnitz und vielleicht einem Löffel Preiselbeeren. Rustikale Wirtshäuser betrete ich grundsätzlich nur noch ausreichend gestärkt. Auch beim Grillen mit Freunden war die Auswahl zunächst sehr begrenzt – trockene Brötchen, wahlweise vielleicht mit Senf oder Ketchup bestrichen. Erst mit der Zeit spielte sich das besser ein: Auf dem Grill liegt inzwischen ein Päckchen mit Schafskäse, liegt Gemüse in Olivenöl, und auf dem Tisch steht eine Schüssel Nudelsalat, den ich mitgebracht habe. Und zu Weihnachten werden inzwischen Fischplatte und Braten dem Familienfrieden zuliebe durch eine Gemüselasagne oder ein Raclette ersetzt.
Als ich nach der Schulzeit bei meinen Eltern auszog, begann ich, selbst zu kochen und mich in die Feinheiten der vegetarischen Küche einzuarbeiten. Auf Tiere zu verzichten, ist kein Mangel mehr, sondern der willkommene Anstoß, auf eigene Faust ganz neue Geschmackswelten zu erobern, fremde Zutaten kennenzulernen und Lebensmittel und ihre Herstellung bewusst zu hinterfragen. In unserer Küche stapeln sich indonesische und indische Kochbücher, im Kühlschrank warten Seidentofu und Tempe, und die Auswahl im Gewürzregal nimmt irgendwie auch immer mehr zu. Eine Weile hatten wir sogar eine eigene Zucchinipflanze und einige Tomaten in einer Kiste auf dem Balkon.
Vegetarier zu werden, war für mich eine nüchterne Entscheidung gewesen. Niemand hat mein Kaninchen gegessen, und ich habe auch keine Führung durch den Schlachthof erlebt. Es gab keinen unmittelbaren Anlass, kein einschneidendes Erlebnis und auch keine feierlich verspeiste letzte Bratwurst. Ich kann mich nicht einmal an einen richtigen Anfang erinnern, wohl auch, weil es kein plötzlich feststehender Entschluss, sondern eher ein vorsichtiger Übergang war. Ich hatte immer gerne Fleisch gegessen, aber irgendwann hatte ich mich entschlossen, es den Tieren zuliebe nicht mehr zu tun. In den ersten Monaten hatte ich immer wieder Ausnahmen gemacht, etwa wenn Verwandte einluden, die von meiner Entscheidung nichts wussten, oder auch, weil ich selbst Lust darauf hatte. Erst nach einer gewissen Umstellungszeit wurde ich konsequent. Vergessen, dass Schweine, Rinder und Hühnchen durchaus gut schmecken können, hatte ich in den inzwischen gut sieben Jahren ohne Fleisch nie – nur gegessen habe ich es trotzdem nicht.
Vor dem Erlebnis mit der Taube war ich mir fast sicher, das wieder ändern zu wollen.
Nach wie vor bin ich davon überzeugt, bei ihr die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Auch bin ich immer noch darüber erleichtert, dass die Taube nach dem ersten Hieb sofort tot war. Gleichzeitig ist mir bewusst, dass dem Vogel durch ein schnelleres, konsequenteres Handeln eine Menge Leid erspart geblieben wäre. Er hätte sich nicht auf unserem Balkon quälen müssen und wäre nicht durch die Wohnung gekrochen, wenn ich mir sofort ein Herz und einen Knüppel gefasst hätte. Eine furchtbare Erfahrung war es trotzdem. An den entscheidenden Moment habe ich nicht mal eine Erinnerung: Ich habe die Taube und das Kantholz in der Hand, hole aus – und der Vogel liegt neben mir auf dem Boden. Dazwischen fehlen einige Augenblicke. Klarer sind mir die Minuten zuvor im Kopf, in denen es darum ging, zu entscheiden, ob ich das Tier töten kann.
Auf die Idee mit der Jagd hat mich Lydia gebracht. Jeden Tag fährt sie mit dem Regionalexpress eine halbe Stunde raus nach Brandenburg, um den Wald in all seinen Einzelheiten zu erforschen, während ich mich in der Stadt mit der Stadt beschäftige. Sie lernt, die verschiedenen Baumarten anhand ihrer Knospen zu erkennen und Bodenprofile zu erstellen, und sie weiß, mit welchem Bagger man am besten einen Waldweg baut. Nach dem Forstwirtschaftsstudium möchte sie Revierförsterin werden, dazu hat sie sich nach einigen Praktika bei Naturschutz- und Forstbehörden entschlossen: draußen sein, im Freien arbeiten und Verantwortung für ein Revier übernehmen, indem sie selbst bestimmt, wie der Wald bewirtschaftet werden soll. Sie hat sich bewusst für die Arbeit in der Forstwirtschaft und nicht im Naturschutz entschieden, weil sie mitgestalten will, wie unsere Wälder genutzt werden.
Irgendwann bringt sie ein Buch aus der Bibliothek mit nach Hause, das auf unserem Esstisch zwischen Hummus, Mandelmus und Hafermilch eigentlich nichts verloren hatte: auf dem Cover ein Foto von einem Mann im grün karierten Hemd, der sichtlich stolz ein totes Reh auf der einen und ein großes Gewehr auf der anderen Schulter trägt, darunter der Titel: Der Weg zur Jägerprüfung. Nicht umsonst fällt den meisten Menschen beim Begriff »Förster« zuerst ein rauschebärtiger Mann mit einem Dackel an der Leine und einer Flinte auf dem Buckel ein – der Jagdschein ist nach dem Studium für manche Jobs sogar eine Einstellungsvoraussetzung.
Dem einen Buch sind weitere gefolgt. Mit genügend Abstand lasen sich Lydias nüchterne Lehrbücher ein bisschen wie Jack London oder wenigstens wie Karl May. Oft nahm ich sie einfach in die Hand, schlug zufällig eine Seite auf und ließ mich von einer fremden Welt überraschen: Rehe haben Milchzähne, die sie wie Menschen nach und nach verlieren und ersetzen, wenn sie erwachsen werden. Der kleine Leberegel ist ein Parasit, der im Laufe seines Lebens mal im Körper von Ameisen, mal in Schnecken und mal im Darm von Wiederkäuern lebt – und nur wenn er all diese Entwicklungsstadien durchläuft, kann er sich fortpflanzen. Die »Hähersaat« ist ein forstliches Verfahren, bei dem für frei lebende Eichelhäher Eicheln ausgelegt werden. Die Vögel finden sie, tragen sie im Schnabel davon und verstecken sie im Wald. Alle Früchte, die sie vergessen und nicht im Winter fressen, keimen. So müssen Eichen nicht von Menschen gepflanzt werden. Seite für Seite spannende Themen: Land- und Forstwirtschaft, Wildbiologie, Wildkrankheiten, Naturschutz, Jagdrecht, Waffenkunde und Jagdpraxis – von den meisten habe ich noch nie gehört.
Bodenständig und grundehrlich erschien mir die Jagd: viel Zeit im Wald verbringen, das ganze Jahr über, bei jedem Wetter und zu jeder Tageszeit. Kreuz und quer durch ein »Revier« laufen, nach Spuren und Fährten suchen, das Wild und seinen Lebensraum verstehen lernen. Pflanzen bestimmen, Tiere beobachten und Pilze sammeln. Mit der Kettensäge Bäume fällen, um aus den rohen Stämmen Hochsitze zu bauen. Aber auch: Wild erlegen.
Lydia hat kaum eine andere Wahl, als wenigstens die Jagdprüfung zu machen, um später den Schein vorweisen zu können, sogar an ihrer Hochschule könnte sie den Kurs besuchen. Oder wir gehen das zusammen an: Je mehr ich in den Büchern las, desto mehr begann ich mit dem Gedanken zu spielen, ebenfalls Jäger zu werden. Viel Neues lernen, viel Zeit mit ihr verbringen und irgendwie an das Angeln von früher anknüpfen. Vielleicht sogar Wild essen? Wenn, dann wie das Klischeebild eines Indianers: Nur das nehmen, was ich brauche, um mich zu ernähren.
Seit ich aber die Taube töten musste, bin ich mir nicht mehr sicher, ob es wirklich eine gute Idee wäre, den Jagdschein zu machen. Am meisten verunsichert mich die Tatsache, dass eine detaillierte Anleitung, wie man einen Vogel mit einem Knüppel tötet, in dem Jagdbuch enthalten ist. Bedeutet dies, dass Jäger oft verletzte Enten erschlagen müssen? Enten, die sie vorher selbst verwundet haben? Hatte der Zufall für einen ersten bitteren Vorgeschmack auf das echte Jägerdasein gesorgt? Aus dem Buch lässt sich beim besten Willen nicht herauslesen, ob die Anleitung für den seltenen Notfall gedacht ist oder ob das Töten von Enten den Alltag darstellt. Lydia zuckt nur die Schultern, will aber ihre Kommilitonen mal darauf ansprechen. Ich selbst wüsste nicht, wen ich so etwas fragen könnte – nach Jägerinnen und Jägern muss ich in meinem Umfeld nicht suchen.
Durch den Umzug nach Berlin habe ich mit Wäldern, Feldern und wilden Tieren im Alltag kaum Berührungspunkte, abgesehen vielleicht von Zufallsbegegnungen mit Füchsen, die im Sommer frühmorgens die Grillabfälle im Mauerpark fressen. Vor zwei Jahren habe ich mich für den Studiengang Visuelle Kommunikation an einer der beiden Berliner Kunsthochschulen eingeschrieben. Das Fach ist alles und nichts: ein bisschen Fotografie, ein bisschen Grafikdesign und Typografie, dazu Film, Kulturwissenschaft und Illustration. Auf der Website der Hochschule heißt es, der Studiengang solle mich »dazu befähigen, in sich ständig verändernden Arbeitsfeldern eigenständige gestalterische Positionen zu entwickeln«. »Irgendwas mit Medien« trifft es wohl auch ganz gut. So etwas in Berlin zu studieren, ist natürlich ein Privileg. Keine andere deutsche Stadt hat eine international auch nur annähernd so bedeutende Kulturlandschaft. Um diese Vielfalt zu erleben, hat es mich aus der fränkischen Provinz in die Hauptstadt gezogen, und entsprechend Mühe gebe ich mir, diese Erfahrung angemessen auszukosten.
Menschen. So viele Menschen! Alle mit ihrer eigenen Vergangenheit, ihren eigenen Gedanken, ihren Wünschen, Hoffnungen und Sorgen, mit den unterschiedlichsten Hintergründen, Geschichten und Zielen. Wie kann man diese Vielfalt, die Energie und die Hektik der Massen darstellen, festhalten, analysieren, beeinflussen, anschieben, verbessern oder stören und bremsen?
Für mein erstes Fotoprojekt in Berlin ziehe ich durch die Straßen und halte Ausschau nach herrenlosen Tüten, Taschen und Gefäßen. Ich fotografiere sie zunächst so, wie ich sie auffinde, bevor ich sie dann öffne, auspacke und den Inhalt für ein zweites Bild arrangiere. Häufig kommt es nicht zu einem zweiten Foto, weil die meisten Behältnisse leider nur belanglosen Abfall enthalten, doch mit etwas Glück entfalten sich kleine, poetische Geschichten. Manche scheinen leicht verständlich und traurig zu sein, wie die vollgestopfte Plastiktüte vom Spielplatz, die außer vielen Mahnbescheiden und zahllosen Ausdrucken hoffnungslos überzogener Kontoauszüge nur eine ausgeleierte Baumwollunterhose, ein paar Tennissocken und eine leere Wodkaflasche enthält. Andere Funde lassen reichlich Raum für die eigene Fantasie: Wer hat einen ganzen Müllsack hellgrüner, unreifer Birnen gepflückt, ihn auf einen S-Bahnhof in Berlin-Mitte getragen, und warum lässt er oder sie ihn dann genau dort stehen? Die Großstadt funktioniert als eigener Kosmos und ist gleichermaßen Inspiration, Labor und Spielfeld – und sie schläft bekanntlich nie. Warum sollte ich es dann tun? Mit der S-Bahn fahre ich stundenlang im Kreis, um verstohlen die Passagiere zu zeichnen, mit den anderen Studierenden organisiere ich Partys, Veranstaltungen und Vorträge in der Hochschule, dazu jeden Abend die Auswahl aus mehr Aus- und Vorstellungen, als ich mir in einem ganzen Jahr ansehen könnte. Konzerte, Premieren, Lesungen und Clubs … Fantastisch!
Durch den enormen Konkurrenzdruck in der Stadt laufen auch die Gestalterinnen und Gestalter zur Höchstform auf. Für die großen Modemarken, Theaterhäuser und Ausstellungen arbeiten selbstverständlich nur angesehene Agenturen, und selbst die Plakate und Flyer für kleine Veranstaltungen sind frisch und klug gestaltet. Gutes Design wartet an jeder Ecke darauf, dass ich es analysiere, verstehe und im Hinterkopf behalte. Ich habe das Gefühl, Tag für Tag quasi im Vorbeigehen dazuzulernen. Jeder Weg durch die Straßen und jede Fahrt mit der U-Bahn hinterlässt neue Eindrücke, die es kreativ zu verarbeiten gilt.
Zu Hause stöbere ich auch nach der Taube auf dem Balkon noch viel in den Jagdbüchern, aber zu der anfänglichen Faszination haben sich Zweifel gesellt. Auf einmal fallen mir Seiten ins Auge, die ich vorher überblättert haben muss: Wieso gibt es »Schweißhunde«, die nur dafür ausgebildet werden, die Fährten angeschossener oder verletzter Tiere zu finden? Wie fair kann Jagd sein, wenn die Projektile mit Überschallgeschwindigkeit abgefeuert werden, wenn die Zielfernrohre das Bild um mehr als das Zehnfache vergrößern und wenn schon von Anfängern in der Ausbildung auf Scheiben geschossen wird, die bis zu einhundert Meter entfernt stehen? Warum geht es in den Büchern ständig um Geweihe, Keilerzähne und andere »Trophäen«, aber nur am Rand darum, wie man seine Beute verarbeitet? Vielleicht war meine Vorstellung von der Jagd einfach nur eine Fantasie, entstanden aus einer gewissen Neugier, einer guten Portion Lagerfeuerromantik und dem in Schottland gewachsenen Wunsch, mehr Verantwortung für die eigene Ernährung zu übernehmen?