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Buch
Ein Dreiecksverhältnis, das tödlich endet: Agnes und Henny sind alte Schulfreundinnen, die sich Jahrzehnte nicht mehr gesehen haben. Auf der Beerdigung von Agnes’ Mann treffen sie sich wieder. Zögerlich beginnen sie sich erneut anzunähern, schreiben sich zunächst Briefe, vertrauen sich alte Geheimnisse an. Schritt für Schritt nähern sie sich dabei einem gefährlichen Komplott, detailversessen planen sie einen heimtückischen Mord! Doch eine von beiden spielt falsch...

Autor
Håkan Nesser, geboren 1950, ist einer der interessantesten und aufregendsten Krimiautoren Schwedens. In seiner Heimat gilt er als der unbestrittene Star in seinem Genre. Für seine Kriminalromane um Kommissar Van Veeteren erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, sie sind in mehrere Sprachen übersetzt, wurden erfolgreich verfilmt und werden demnächst auch im deutschen Fernsehen zu sehen sein.

Im Großen und Ganzen verlief die Beerdigung sehr gut.
Der Vormittag war grau, unfreundlich und windstill gewesen, aber als wir dann am Grab standen, brach die Sonne durch die Wolkendecke und warf schräge Lichtbündel durch die bereits gelb werdenden Blätterkronen der Ulmen.
Erich hätte es gefallen. Herbst. Der Himmel, der sich plötzlich zu heben schien und der Luft eine gewisse Schärfe verlieh. Klar, aber nicht kalt. Die Felder, die sich in Richtung Molnar hinunterzogen, abgeerntet, aber noch nicht untergepflügt. Ein Bauer, der in der Ferne ein Feld abflämmte.
Der Geistliche hieß Sildermack, ein großer, magerer, blonder Mann, wir hatten uns vorher natürlich getroffen und alles besprochen, er ist neu im Amt und leidet unter irgendeiner Verformung des Rückgrats, weshalb er irgendwie unbeholfen geht, mit rollenden Bewegungen sozusagen. Es lässt ihn auch älter wirken. Aber sein Gesicht scheint zu leuchten, und bei der Beisetzung hat er seine Aufgabe tadellos erledigt.
Wir waren vielleicht zwei Dutzend Trauergäste. Die Kinder natürlich. Erichs Mutter mit Begleitung, ihrer Freundin und der übellaunigen Pflegerin.
Beatrice und Rudolf.
Justin.
Hendermaags, die den schlechten Geschmack hatten, ihre Kinder mitzuschleifen. Die sind erst zehn oder zwölf, ein schüchterner Knabe und ein Mädchen mit vorstehenden Zähnen und nervösem Blick, wozu soll es denn gut sein, ihnen so etwas zuzumuten? Und keins von ihnen hatte irgendeine Beziehung zu Erich, sie sind ihm sicher nicht häufiger als zwei- oder dreimal begegnet, wenn ich das richtig in Erinnerung habe.
Ebert Kenner natürlich und einige neuere Kollegen, die ich noch nie gesehen hatte. Ein Quartett, genau gesagt, zwei Frauen, zwei Männer. Dazu Oberarzt Monsen, der es sich in der Kirche nicht verkneifen konnte, ein paar Worte zu sagen, die er dann am Grab noch einmal wiederholte.
Über die Klarheit der Herbsttage und die uns zubemessene Zeit auf Erden. Über die analytische Schärfe, die Erichs hervorstechendste Eigenschaft war und Zeugnis von seiner Meisterschaft ablegte.
Worte.
Ich fühlte mich ein wenig müde. Dort draußen, in dem schwarz gekleideten Kreis aus Trauernden und weniger Trauernden und solchen, die aus ganz allgemeinen Gründen gekommen waren, überkam mich eine Woge der Erschöpfung. Vielleicht lag es an der Trauer, die mich doch noch erfasste, nicht in erster Linie der Trauer um Erich, sondern der Trauer über das Leben an sich.
Über dessen Ungerechtigkeiten und blinden Flecke. Über Verfehlungen, die wir unter den Teppich kehren und verdrängen, aber die uns doch einholen, wenn wir ihnen lange genug den Rücken zudrehen. Wenn wir nicht genug aufgepasst haben.
Ich weinte nicht. Nicht eine Träne quoll während der gesamten Feierlichkeit aus meinen Augen: Es ist mir egal, wie das auf andere wirken mochte, und es gibt heutzutage doch zahllose Medikamente, die uns abstumpfen und unsere Seele betäuben, also gehe ich davon aus, dass mein Auftreten niemanden wirklich überrascht hat. Ich habe mit keinem Menschen ein Wort gewechselt. Habe mich auf bestätigende Blicke beschränkt. Auf Händeschütteln. Leichte Umarmungen und illusorisches Nicken.
Die Jugendfreunde vom Ruderklub trugen den Sarg. Vier Männer, drei erkannte ich, wusste jedoch von keinem den Namen, sie alle wohnen in Gobsheim, und dem Pastor zufolge hatten sie sich selbst für diesen Freundesdienst angeboten.
Und dann noch Henny.
Ich wollte wirklich nicht alle Anwesenden aufzählen, aber jetzt habe ich es wohl doch getan.
Henny Delgado.
Sie trug in der Kirche etwas langärmliges Schwarzes, doch als wir dann auf den Friedhof gingen, hatte sie einen dunkelroten Poncho übergestreift. Mir fiel ein, dass sie immer schon Rot getragen hat, nicht unbedingt am ganzen Leib, aber etwas Rotes war doch immer dabei gewesen. Ein roter Blickfang. Eine karminrote Bluse oder ein Schal. Ich selbst bin blau und kalt. Schon als Gymnasiastin hielt jede von uns sich an ihre Farben: Hennys Töne waren Rot, Gelb, Ocker. Meine Blau und Türkis, kalte Farben. Nur bei Grün konnten wir einander begegnen, kamen dabei aber aus entgegengesetzten Richtungen. Später, das muss während des ersten Wintersemesters an der Universität gewesen sein, suchten wir zusammen einen Farbanalytiker auf, der unsere intuitive Wahl sofort guthieß. Er hielt Stofflappen neben unsere verdutzten Gesichter und verbreitete sich über unsere unterschiedlichen Hauttypen. Über Pigmentierungspersönlichkeiten, als handele es sich dabei fast um etwas Seelisches.
Henny sah erstaunlich jung aus. Auf irgendeine Weise frisch und geschmeidig; ich weiß eigentlich nicht, warum es mich überrascht hat, aber so war es tatsächlich. Sie war natürlich allein gekommen, Mann und Kinder hatte sie in Grothenburg gelassen, ja, ich bin keiner ihrer Töchter je begegnet, aber ihre Taufbilder liegen in der passenden Reihenfolge in irgendeinem Album.
Ich finde es gar nicht gut, dass wir nicht miteinander sprechen konnten, wo wir uns nach so vielen Jahren endlich wiedergesehen haben. Aber ich habe doch das Gefühl, dass ich von ihr hören werde. Woher diese vage Ahnung stammt, weiß ich nicht, aber ich glaube nicht, dass ich mich irre. Trotz allem haben wir einander so nahe gestanden wie zwei Menschen vom selben Geschlecht das überhaupt nur können, ohne miteinander verwandt oder lesbisch zu sein. Lange Zeit ist vergangen, aber es gibt Zeichen und kleine Fingerzeige, die uns auf einer tieferen Ebene treffen als der kognitiven und sprachlichen. Natürlich gibt es sie.
Justin bot an, über Nacht zu bleiben, aber ich lehnte dankend ab. Justin ist ein guter, verständnisvoller Mensch, ich habe ihn immer sehr geschätzt, trotz seines ein wenig unkultivierten Stils, aber ich will allein sein. Allein mit den Hunden, mit einem Feuer im offenen Kamin, den Sessel ans Fenster gezogen. Ein Glas Portwein oder zwei, die Dämmerung, die sich über den Garten senkt, die knorrigen, zu sehr beschnittenen Apfelbäume, die Buchsbaumhecke und die Felder, die sich nach Molnar hinunterziehen: einige Stunden in absoluter Stille, mit dem Fotoalbum und den Erinnerungen. Vielleicht werde ich auch eine Zigarette rauchen, obwohl ich das Rauchen eigentlich schon vor Jahren aufgegeben habe, aber es ist schließlich ein besonderer Tag, und ich habe noch zwei Packungen in der Schublade.
Ich bin auch nächste Woche noch krankgeschrieben. Die Hälfte der Stunden werde ich nachholen, die andere Hälfte ist Bruun zugefallen. Wie üblich. Es tut mir Leid, Keats und Byron seinen schlaffen, feuchten Händen überlassen zu müssen, aber mir blieb nichts anderes übrig. Schon in drei Wochen sind Prüfungen, und bis zum fünfzehnten muss alles erledigt sein.
Es ist ein gutes Gefühl, dass es jetzt endlich vorbei ist. Ich wusste ja, dass ich irgendwann allein sein würde. Erich war achtzehn Jahre älter als ich, und es waren nicht Feuer oder Leidenschaft, die ich suchte, als ich mich für ihn entschieden habe, sondern es geschah aus einer Laune heraus. Er ist siebenundfünfzig geworden, es gab wohl niemals Hinweise darauf, dass er so jung sterben würde, und Monsen hat in seiner Erinnerungsrede ja auch betont, dass nun vieles ungetan bleibt. Forscher gehören nicht zu der Sorte Mensch, die von den Jahren angefressen wird, behauptete er – nicht, was ihre tägliche Arbeit angeht. Mir war klar, dass er hierbei auch sich selbst meinte – sein siebzigster Geburtstag kann nicht mehr in weiter Ferne liegen – und dass er auch an den einen und anderen anwesenden Kollegen dachte.
Aber Erich musste seinen Abschied nehmen, wie wir das zu Hause in Saarbrücken genannt haben. Er hat das Ziel erreicht.
Ich sitze im Sessel und schaue mit einem Auge hinaus auf die Dämmerung und den Garten, mit dem anderen sehe ich ins Zimmer und auf Feuer und Bücher. Im Laufe der Jahre haben sich so viele Bände angesammelt, in den nächsten Tagen werde ich allerlei verändern, glaube ich. Ich werde die schweren medizinischen Nachschlagewerke auf den Dachboden bringen und der Belletristik einen deutlicheren Platz einräumen.
Und das ist nur eins der vielen kleinen Vorhaben, denen ich mich jetzt widmen will. Aber das alles hat Zeit bis morgen. Jetzt will ich nur hier sitzen und mich ausruhen.
Mich erinnern und in den Alben blättern. Einige Zeilen von Barin fallen mir ein:
Ich sehne mich nach dem milden Schweißgeruch meiner Mutter – und nach dieser kurzen Hose, die ich am ersten Schultag tragen musste.
Ich sehne mich nach Ursula Lipinskaja, und danach, ausgeschlafen zu noch unbeschriebenen Sommertagen zu erwachen.
Aber vor allem sehne ich mich nach dem unerreichbaren Rauch der vielen Zigaretten, die ich im Kaffeehaus niemals geraucht habe.
Jetzt zünde ich mir eine an. Ein Gefühl unterdrückter Befriedigung überkommt mich.
Als ob etwas längst Vorhergesehenes sich nun endlich einstellt.
Die Hunde schlafen vor dem Kamin und scheinen ihn ebenfalls nicht zu vermissen.

An Frau

Agnes R.

Villa Guarda

Gobsheim
 

Grothenburg, 26. September
 

Liebe Agnes,
 

bitte entschuldige, dass ich schon jetzt schreibe, wo du gerade erst Witwe geworden bist, ich hoffe, dass dein schwerer Verlust dich nicht allzu sehr zu Boden drückt. Ich fand es so wunderschön, dich wiederzusehen, auch wenn ich mir natürlich wünschte, die Umstände wären andere gewesen. Und ich hätte natürlich einige Worte mit dir wechseln müssen, wo ich schon einmal da war, aber aus irgendeinem Grund habe ich das nicht über mich gebracht. Ich weiß nicht, was es war, aber ab und zu werden wir ja von Kräften gesteuert, für die wir keinen Namen haben. Oder, Agnes?
Aber es war eine schöne und würdevolle Feier, ich habe deinen Mann ja nicht gekannt, deshalb kann ich natürlich nichts dazu sagen, wie weit es außerdem »becoming« war, wie es auf Englisch heißt.
Auf jeden Fall würde ich gern wieder Kontakt zu dir aufnehmen, so viele Jahre sind vergangen, und ich merke, dass man Verbindungsfäden nicht einfach leichtfertig zertrennen kann. Wir haben einander doch so nahe gestanden, liebe Agnes.
Darf ich dir also schreiben? Ein wenig über mich und meine Familie erzählen? Und hast du Lust zu antworten?
Wir können doch anfangen, uns zu schreiben, dann werden wir sehen. Ich mag e-mail nicht so sehr, solche Post kommt mir leichtgewichtig und oberflächlich vor.
Wenn du keine Lust hast, die alte Beziehung wieder aufzunehmen, kannst du natürlich nein sagen.
 

Aber erst einmal warte ich hoffnungsvoll auf deine Antwort.
 

Deine Henny

An Frau

Henny Delgado

Pelikanallee 24

Grothenburg
 

Gobsheim, 30. September
 

Liebe Henny,
 

Himmel, bei dir hört es sich ja an, als wären wir achtzig!
Natürlich kannst du mir schreiben, und ich antworte dann gern. Bestimmt haben wir uns allerlei zu sagen, aber da du die Initiative ergriffen hast, lasse ich dich als Erste berichten.
Also zögere nicht! Bitte schreib bald, wir müssen eine Lücke von neunzehn Jahren füllen!
 

Deine Agnes
 

 

 

 

 

Wenn man nur lieb und brav ist, wird man früher oder später dafür belohnt werden.
Es ist der zweite Tag in Grothenburg, und obwohl ich nur eine magere Elfjährige bin, weiß ich, dass sie lügt.
Oder dass sie vielleicht nicht lügt. Diese Rothaarige, die Henny heißt und die uns gestern schon zusammen mit ihrer Mutter besucht hat, noch ehe wir einen einzigen Karton ausgepackt hatten, hat nur einfach alles falsch verstanden.
Sie hat keine Ahnung, wie das Leben ist und wie alles vor sich geht.
Aber ich habe nicht widersprochen. Ich habe, so jung, wie ich bin, keine Worte für diese Dinge, und außerdem ist es ja auch nicht wichtig. Es ist Abend, wir stehen auf der Brücke über den Fluss und schauen hinab in das braune Wasser; unsere Mütter haben uns auf einen kleinen Spaziergang geschickt, damit Henny mir das Viertel und die Umgebung zeigen kann. Meine Mutter hat offenbar sofort Vertrauen zu Henny gefasst, trotz ihres angeborenen und sorgfältig gepflegten Misstrauens.
Und Henny war ja nun wirklich wohlerzogen und bezaubernd, das will ich gar nicht leugnen.
Außerdem gab es Pflaumenmarmelade als Willkommensgruß unter guten Nachbarinnen.
Viel sagendes Lachen und freimütige Blicke.
Wenn man nur lieb und brav ist, wie gesagt.
Ich weiß nicht, was ich geantwortet habe, vielleicht gar nichts. Wir gingen in Kreisen und mit vielen Umwegen durch unser Viertel. Waren beim Sportplatz. An der Straße, die zur Eisenbahn führt. Sind an den Läden im Klingerweg vorbeigekommen. Haben bei Fleischer Schmitter hereingeschaut, der ist nämlich ihr Onkel, jede von uns bekam eine blasse Wurst und einen Groschen von ihm, wir haben uns im Tabakladen bei der Zwille Kaugummi dafür gekauft. Und die Kirche und der Friedhof, da sind wir herumspaziert und haben uns die Gräber angesehen; Hennys Großeltern liegen dort, und irgendwann wird auch sie hier landen; es ist ein solides, geräumiges Familiengrab mit ausreichend Platz für mehrere Generationen.
Stumpstraße, Gassenstraße, Jacobsstieg und wie sie alle heißen. Und die Wallmanschule, auf die Henny schon seit fünf Jahren geht und wo ich im September anfangen werde. Es ist eine alte Steinburg mit einem lateinischen Zitat über dem riesigen Eichenportal. Non scholae, sed vitae discimus!, verkündet Henny, und danach sagen wir es einige Male gemeinsam, damit ich wenigstens weiß, was es heißt, ehe ich mich auf die Schulbank setze und Studienrat Pompius und Frau Mathisen und einer buckligen kleinen Werklehrerin zuhöre, die den unbeschreiblichen Namen Keckelhähnchen trägt.
Non scholae, sed vitae discimus.
Nicht für die Schule, sondern für das Leben.
Aber jetzt beugen wir uns über das Geländer der Brücke, sie heißt Karl-Egger-Brücke. Henny weiß nicht, wieso sie so benannt ist oder wer dieser Karl Egger war, aber der Fluss heißt jedenfalls Neckar, und er umfließt unser Viertel, zumindest im Osten und im Norden, und er bildet die Grenze zu Gerringstadt, einem ganz anderen Stadtteil, von dem Henny nicht mehr weiß, als dass ihr Vetter Mauritz dort gewohnt hat, aber dann ist er nach Marseille gezogen, was am Mittelmeer liegt, und zwar wegen seiner schwachen Gesundheit, aber dann ist er trotzdem gestorben, obwohl er nur achtdreiviertel Jahre alt war, also wird das Mittelmeer doch arg überschätzt, wenn man sich die Sache genauer ansieht.
Er war vielleicht nicht lieb und brav genug, überlege ich mir, aber das sage ich nicht. Ich spucke stattdessen mein Kaugummi in das strömende Wasser. Man darf kein Kaugummi ins Wasser spucken, sagt Henny. Die Fische könnten es verschlucken und daran ersticken.
Ein Fisch kann ja wohl nicht ersticken, denke ich, der braucht doch überhaupt nicht zu atmen.
Aber auch das sage ich nicht.
 

Meine Mutter und ich sind nach Grothenburg gezogen. Mein Vater und mein Bruder wohnen noch immer in der Slingergasse in Saarbrücken, und obwohl Claus drei Jahre älter ist als ich und wir uns gestritten haben, solange ich mich erinnern kann, habe ich an den ersten Tagen eine solche Sehnsucht nach ihm, dass es richtig wehtut.
Am 1. Juli erfuhr ich, dass meine Eltern sich scheiden lassen wollten, und genau einen Monat später sind wir dann umgezogen. Sie hatten alles bis ins Detail geplant, ehe sie die Bombe hochgehen ließen; wir saßen im Restaurant Kraus, ich weiß nicht, ob es normal oder außergewöhnlich ist, dass Eltern mit ihren Kindern ins Restaurant gehen, wenn sie ihre Trennung ankündigen wollen. Aber sie waren sehr nett zueinander und zu Claus und mir, das muss ich zugeben. Sie blieben die besten Freunde auf der Welt, aber es sei nun einmal so, wie es sei, und es sei so gekommen, wie es gekommen sei. Im Leben kann das passieren, und die Welt ist ein Jammertal, und wir bestimmen das alles nicht selbst, heißa, hussa, ich bestellte das Teuerste, was ich auf der ganzen Speisekarte finden konnte, Seezunge in Weißweinsoße, und sie haben alles widerspruchslos hingenommen.
Papa und Claus würden in Saarbrücken bleiben, erklärten sie beim Dessert, Zitronensorbet auf Wildhimbeergelee mit kandierten Haselnüssen und Puderzucker, das sei besser so, im Hinblick auf Arbeit und Schule. Mama habe in Grothenburg schon eine Stelle, bei einem Zahnarzt namens Martens. Und eine Wohnung in der Wollmarstraße. Vier Zimmer und Küche, ich würde ein eigenes Zimmer mit Kachelofen und Ausblick auf einen Park bekommen.
Dass mein Vater seit drei Jahren so ganz nebenbei eine Freundin gehabt hatte, erwähnte meine Mutter erst zwei Wochen später beim Packen, so ganz nebenbei.
Ich weinte zehn Tage lang. Auf jeden Fall weinte ich mich an den ersten zehn Abenden in den Schlaf. Danach hörte ich damit auf. Stattdessen kamen diese Schmerzen in der Brust, wie jetzt, wenn ich an Claus denke.
Und irgendwas stimmt auch mit meinem Bauch nicht. Darin tanzen Schmetterlinge, jeden zweiten Tag habe ich Verstopfung und an den Tagen dazwischen Durchfall.
In meinem Zimmer steht wirklich ein Kachelofen, aber ich darf darin kein Feuer machen. Der Schornstein ist schon in den fünfziger Jahren zugemauert worden, hat uns der Hausmeister Herr Winter erzählt. Es gibt Risse, und die ganze Wohnung könnte im Nu ausbrennen, wenn ein wenig Glut herausspränge.
Ich glaube, mir wäre es schnurzegal, wenn ganz Grothenburg zu Schutt und Asche würde. Ich will nicht hier wohnen, ich hasse diese Stadt; und wenn wir verbrennen, Mama und ich, dann wird mir das nur als wunderbare Befreiung vorkommen. Ich müsste dann nicht in diese neue Schule gehen, und niemals würde ich dieses blöde Nachbarsmädchen mit den albernen Zöpfen und dem viel sagenden Lächeln wiedersehen müssen.
Aber hier weine ich abends nicht. Ich habe nur diesen Schmerz in der Brust und die Schmetterlinge im Bauch.
Sie heißt übrigens Else, die neue Freundin meines Vaters. Sie ist schon in die Slingergasse eingezogen. Und ihre Tochter wohnt in meinem alten Zimmer.
Das Schlimmste von allem ist, dass auch sie Agnes heißt.

An Frau

Agnes R.

Villa Guarda

Gobsheim
 

Grothenburg, 4. Oktober
 

Liebe Agnes,