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Buch

Umgeben von einem Elektrozaun und 24 Stunden am Tag im Blick eines Scharfschützen: So idyllisch die Kleinstadt Wayward Pines nach außen hin sein mag, für ihre 461 Bewohner ist sie ein Gefängnis. Alle sind sie nach einem schweren Unfall hier aufgewacht, und alle führen sie ein streng reguliertes, ständig überwachtes Leben. Sheriff Ethan Burke ist einer der wenigen, die wissen, was Wayward Pines wirklich ist – und welch unfassbare Wahrheit sich auf der anderen Seite des Zauns verbirgt. Als Ethan nicht mehr schweigen will, kommt es zur Katastrophe …

Autor

Blake Crouch ist der Autor einiger höchst erfolgreicher Romane, darunter der internationale Bestseller »Dark Matter. Der Zeitenläufer« und die Wayward-Pines-Trilogie, die als TV-Serie verfilmt wurde. Blake Crouch lebt mit seiner Familie in Colorado.

Blake Crouch

Wayward

Ein Wayward-Pines-Thriller

Band 2

Aus dem amerikanischen Englisch
von Kerstin Fricke

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel »Wayward« bei Thomas & Mercer, Las Vegas.



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Textnachweis: Zitat aus Das verlorene Paradies von John Milton. Übersetzt von Adolf Böttiger. Verlag Philipp Reclam jun., Leipzig.





Taschenbuchausgabe November 2019

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2019 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Deutsche Erstveröffentlichung bei AmazonCrossing, Luxembourg, August 2014

Copyright © 2013 der Originalausgabe by Blake Crouch

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: Tim Robinson / Trevillion Images; FinePic®, München

An · Herstellung: kw

Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München

ISBN: 978-3-641-25323-3
V001

www.goldmann-verlag.de

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Für Chad Hodge

Es ist der Geist sein eigner Raum,
er kann in sich selbst einen Himmel aus der Hölle
und aus dem Himmel eine Hölle schaffen.

John Milton, Das verlorene Paradies


Sieht man sich die Natur an,
dann glaubt man ebenso den Scheintod zu erkennen
wie die Unsterblichkeit.

Dr. Mark Roth, Zellbiologe

GESTERN IST GESCHICHTE.
MORGEN IST EIN MYSTERIUM.
HEUTE IST EIN GESCHENK.
DARUM MACHEN SIE DAS BESTE
DARAUS.
ARBEITEN SIE HART,
SEIEN SIE GLÜCKLICH
UND GENIESSEN SIE IHR LEBEN
IN WAYWARD PINES!

Nachricht an alle Einwohner von
Wayward Pines (gut sichtbar in jedem Wohnhaus
und jedem Geschäft anzubringen)

I

Kapitel 1

Mustin hatte die Kreatur schon seit fast einer Stunde durch das Zielfernrohr beobachtet. Sie war bei Tagesanbruch in der Schlucht erschienen und hatte innegehalten, als die ersten Sonnenstrahlen auf ihre durchschimmernde Haut fielen. Danach war sie langsam und vorsichtig zwischen den herumliegenden Felsen durchgehuscht, um gelegentlich an den Überresten ihrer toten Artgenossen zu schnüffeln, die Mustin zum Opfer gefallen waren.

Der Scharfschütze justierte sein Zielfernrohr neu und visierte das Wesen dann an. Die Umstände waren ideal: gute Sicht, milde Temperaturen, kein Wind. Als er das Fadenkreuz auf fünfundzwanzigfachen Zoom gestellt hatte, hob sich die geisterhafte Silhouette der Kreatur vor den grauen Felsen deutlich ab. Auf eine Entfernung von zweieinhalb Kilometern war ihr Kopf nicht größer als ein Sandkorn.

Wenn er jetzt nicht schoss, musste er sein Ziel neu anvisieren. Außerdem bestand die Möglichkeit, dass die Kreatur aus seinem Sichtfeld verschwunden war, bevor er sie erneut erfassen konnte. Das wäre noch kein Weltuntergang. Eine halbe Meile weiter die Schlucht entlang stand ein Elektrozaun. Falls es der Kreatur jedoch gelang, den Stacheldraht mithilfe der Felsen zu überwinden, hätte er ein Problem. Dann musste er das Ganze per Funk melden, und das bedeutete ein Team rufen, mehr Arbeit, größerer Zeitaufwand. Man würde alles versuchen, um zu verhindern, dass die Kreatur die Stadt erreichte. Und Pilcher würde ihm ordentlich den Arsch aufreißen.

Mustin holte tief Luft.

Er atmete ein.

Stieß die Luft wieder aus.

Sein Brustkorb fiel zusammen.

Seine Lunge war leer.

Sein Zwerchfell entspannte sich.

Er zählte bis drei und drückte den Abzug.

Das AWM prallte fest gegen seine Schulter, und der Knall wurde durch den Schalldämpfer gemindert. Nachdem sich Mustin von dem Rückstoß erholt hatte, entdeckte er sein Ziel mithilfe des Zielfernrohrs, und es kauerte noch immer auf einem flachen Felsen am Boden der Schlucht.

Verdammt.

Er hatte es verfehlt.

Die Entfernung war größer als bei vielen anderen Schüssen, und selbst unter perfekten Bedingungen gab es zahlreiche Faktoren zu beachten. Den Luftdruck. Die Luftfeuchtigkeit. Die Luftdichte. Die Temperatur des Laufs. Selbst die durch die Erdrotation hervorgerufene Corioliskraft musste er miteinbeziehen. Er hatte geglaubt, alles miteinberechnet zu haben, aber …

Der Kopf der Kreatur verschwand in einem rötlichen Nebel.

Mustin grinste.

Es hatte etwas über vier Sekunden gedauert, bis das .338er-Lapua-Magnum-Geschoss das Ziel erreicht hatte.

Was für ein Schuss.

Mustin setzte sich auf und erhob sich.

Er streckte sich.

Es war mitten am Vormittag. Der Himmel war stahlblau, und es war keine Wolke zu sehen. Von seiner Position auf dem zehn Meter hohen Wachturm, der auf dem felsigen Berggipfel errichtet worden war, konnte er über die Baumwipfel sehen. Er hatte von der offenen Plattform aus einen Panoramablick auf die Gipfel in der Umgebung, die Schlucht, den Wald und die Stadt Wayward Pines, die aus der Entfernung von fast tausenddreihundert Metern kaum mehr als ein Gitter aus miteinander verwobenen Straßen war, das geschützt in einem Tal lag.

Sein Funkgerät piepte.

»Mustin, over«, meldete er sich.

»Es gab gerade einen Angriff auf den Zaun in Zone vier, over.«

»Augenblick.«

Zone vier bestand aus dem Teil des Pinienwaldes, der an den Südrand der Stadt grenzte. Mustin hob sein Gewehr und nahm den Zaun unter den Baumwipfeln in diesem Bereich in Augenschein. Zuerst sah er den Rauch, kleine Wölkchen, die von der versengten Haut eines Tieres aufstiegen.

»Ich habe Sichtkontakt«, meldete er. »Es ist nur ein Hirsch, over.«

»Verstanden.«

Mustin schwenkte das Gewehr nördlich in Richtung Stadt.

Nun sah er Gebäude, farbenfrohe viktorianische Häuserfronten mit perfekten Rechtecken aus leuchtend grünem Gras davor. Weiße Lattenzäune. Er visierte den Park an, in dem eine Frau zwei Kinder auf Schaukeln anstieß. Ein kleines Mädchen glitt eine Rutsche herunter, die im Sonnenschein schimmerte.

Er schwenkte zum Schulhof.

Zum Krankenhaus.

Den Gemeindegärten.

Der Main Street.

Dabei musste er den vertrauten Anflug von Neid herunterschlucken.

Stadtbewohner.

Sie waren so ahnungslos. Sie alle. So wunderbar unwissend.

Nein, er hasste sie nicht. Er wollte auch nicht ihr Leben haben. Er hatte schon vor langer Zeit seine Rolle als Beschützer akzeptiert. Er war ein Wächter. Er wohnte in einem sterilen, fensterlosen Raum in einem Berg und hatte mit dieser Tatsache so weit Frieden geschlossen, wie es ihm möglich war. Aber das bedeutete noch lange nicht, dass er keinen Hauch von Nostalgie verspürte, wenn er an einem schönen Morgen auf das herabsah, was im wahrsten Sinne des Wortes das letzte Paradies auf Erden war. Vielleicht hatte er auch Heimweh nach dem, was einst gewesen war.

Denn es war unwiederbringlich verloren.

Ein Stück die Straße entlang sah Mustin durch das Zielfernrohr einen Mann, der schnell den Gehweg entlangging. Er trug ein tannengrünes Hemd, eine braune Hose und einen schwarzen Stetson-Cowboyhut.

In dem Messingstern an seinem Revers spiegelte sich das Sonnenlicht.

Der Mann ging um eine Ecke, und das Fadenkreuz war nun auf seinen Rücken gerichtet.

»Guten Morgen, Sheriff Burke«, sagte Mustin. »Kribbelt es gerade zwischen Ihren Schulterblättern?«