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Zum Buch

Eine Dekade nach seinem Bestseller Altern wie ein Gentleman lässt uns Sven Kuntze an seinen Erfahrungen als fortgeschrittener Rentner teilhaben. Das erste Jahrzehnt des (Un)ruhestands hat er ziemlich spurlos, aber stets heiter und unter Umgehung verbindlicher Verantwortung abgelebt. Doch wird es so einfach weitergehen im achten Jahrzehnt? Wohin geht die Reise? Ist neues unerhörtes Terrain zu erkunden? Ist es dort einsam oder herrscht Gedrängel? Was muss mit ins Gepäck? Mit seiner charmanten, lebensklugen und gelassenen Art umkreist und durchdringt Sven Kuntze das, was wir das Alter nennen, und zeitigt Einsichten, die uns zum Schmunzeln bringen, zum Nachdenken anregen und im besten Fall für den Alltag nützlich sein können.

Zum Autor

SVEN KUNTZE studierte Soziologie, Psychologie und Geschichte an der Universität Tübingen. Er berichtete als TV-Reporter für den WDR aus Bonn, New York und Washington, moderierte ab 1993 das ARD Morgenmagazin und ging mit dem Regierungsumzug nach Berlin, wo er als Hauptstadtkorrespondent arbeitete. Seit 2007 ist Sven Kuntze im Ruhestand, aber seither immer noch als freier Journalist und Autor tätig.

SVEN KUNTZE

Alt sein wie ein
Gentleman

Über Würde im Alter
und andere
überschätzte Tugenden

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1. Auflage

© 2019 beim C. Bertelsmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Jorge Schmidt

Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-641-23057-9
V001

www.cbertelsmann.de

INHALT

Vorbemerkung: Abschied vom Gestern

Die Gesellschaft vom Dachboden

Damals ist das neue Jetzt

Tante Barbara und der Mann am Nebentisch

Ingrid van Bergen und andere Mitstreiter-innen

The Blue Diamond

Cheap thrills

Plaudertasche und Prahlhans

Sorgenbrecher

Heiners Heimkehr in die Fremde

Gelassenheit

Leib und Leid

Personenschaden am Alex

Wer gehen will, soll gehen dürfen!

Wer bin ich eigentlich?

Schlussendlich

VORBEMERKUNG: ABSCHIED VOM GESTERN

»Wo gehen wir denn hin?«
»Immer nach Hause.«
NOVALIS

Es sind einige Jahre ins Land gegangen, seit mein Buch »Altern wie ein Gentleman« auf den Markt kam. Damals dachte ich vor allem darüber nach, was geschieht, wenn man mit Erreichen der Renten- oder Pensionsberechtigung von einem Moment auf den anderen ohne rechtes Ziel, aber mit viel Zeit im Leben stehen gelassen wird. Es war ein Buch für diejenigen, die auf die Frage nach dem Älterwerden antworten konnten: »Keine Ahnung, ist mir bislang noch nicht zugestoßen.«

Das Buch schrieb sich leicht, denn neben einer Reihe unerfreulicher Einsichten und Tendenzen gab es überraschend viel Vergnügliches und Verheißungsvolles zu entdecken. Alles in allem schienen die Aussichten überwiegend vielversprechend.

Seither ist eine Dekade vergangen. Ich habe die »geschenkten Jahre«, wie die meisten meiner Alterskohorte, leichtfüßig, schnell und ziemlich spurlos, aber stets heiter und epikureisch, meist unter Umgehung verbindlicher Verantwortung, abgelebt. Wie die Mehrzahl meiner Generation, war ich ein gut gelaunter, angenehmer Nutznießer des Daseins.

Der »Gentleman« setzte biografisch beim Eintritt ins Rentenalter ein, das die meisten von uns bei guter Gesundheit und viele mit auskömmlichen Einkünften in Angriff nehmen durften. Vor uns schien, erlöst vom Gelderwerb, eine irdische Form des Gelobten Landes zu liegen, das nicht wenige in der Hoffnung betraten, noch einmal von vorne zu beginnen oder unerschrocken Unerhörtes zu tun, die Weichen neu zu stellen oder all diejenigen Dinge in die Tat umzusetzen, die ein arbeitsames Berufsleben bislang nicht zugelassen hatte. Unter den Jahrgängen, die damals in Rente gingen, herrschte gelegentlich eine Stimmung wie bei Abiturienten, die das Elternhaus verlassen, um sich der Welt zu stellen. Pläne, Hoffnungen und Fernweh, wohin man blickte. Plötzlich schien das »Unmögliche für alle« in Reichweite.

Das meiste ist Traum und Sehnsucht geblieben. Gelegentlich war der Aufbruch peinlich oder mitleiderregend. In der Regel verlief er in den engen Bahnen geordneter Existenzen. Rechten Schaden haben die grauköpfigen Abenteurer selten angerichtet.

Eine Dekade ist seither vergangen. Diejenigen, die es damals hinausgezogen hatte, sind bis auf wenige Ausnahmen aus der Fremde zurückgekehrt. Niemand träumt mehr von Aufbruch oder neuen Ufern. Wer noch Fernweh hat, kommt dem im Schoß sicherer Gruppenreisen nach.

Das Leben ist bis auf einen Rest gelebt.

Nichts ist rückgängig zu machen.

Die Entscheidungen sind getroffen, ihre Auswirkungen kaum mehr zu korrigieren.

Das Leben als selbstbestimmte Zeit liegt hinter uns. Ein neuer Lebensabschnitt hat, vorerst nur undeutlich erkennbar, begonnen, hinter dem sich – ja, was? – verbirgt. Für ihn gibt es in unserer definitionssüchtigen Zeit noch keinen eindeutigen Begriff, geschweige denn eine verlässliche Anschauung. Ursache dieses Mangels mag ein diffuses Erschrecken sein oder der fehlende Mut, dem ins Auge zu blicken, was unentrinnbar auf der Tagesordnung eines jeden Einzelnen stehen wird. Vorsicht kann die Ursache nicht sein, denn Vorsicht hat die Vermeidung des Abänderlichen zum Zweck. Unsere Zukunft jedoch ist unabänderlich. Wir werden noch sehen.

»Du hast es ja weit gebracht. Jetzt wirst du doch noch Ratgeberautor«, schrieb mir ein Kollege, mit dem ich vor Jahren vergeblich literarische Ambitionen verfolgt hatte, säuerlich, als er von meinem neuen Buchprojekt erfuhr. Damals galt der Ratgeber als niedere Textform, die mit unseren nur das Medium, Buchstaben nämlich, gemein hatte.

Ich kann ihn beruhigen, ich habe keinen Rat parat. Woher auch? Denn dem Rat ist stets die Hoffnung auf Veränderung zum Besseren eigen, und die vermag ich nicht zu entdecken. Ich schaue allerdings gelegentlich in meiner Buchhandlung durch die Regale, in denen die Ratgeber stehen. Es werden ständig mehr. Die klassischen Themen – Beziehung, Liebe, Erfolg, Körpermaße – sind bis ins letzte Detail ausdifferenziert oder um ungezählte neue Fragestellungen ergänzt worden.

Vor den Regalen versammeln sich inzwischen verunsicherte, weltverlorene Leser, denen es offensichtlich an Kraft und sozialen Kontakten mangelt, um ihre Probleme ohne den broschierten Rat einer ihnen fremden Person in den Griff zu bekommen.

»Weil du es dir wert bist«, steht etwas ungelenk in einem Paperback, das auf hundertachtzig Seiten in zahllosen Einzelratschlägen zu »Sicherheit und Stärke« anleitet. »Finden Sie sich schön«, heißt es dort. »Strahlen, nicht betteln«, wird geraten, oder: »Fühlen Sie sich reich!« Und schließlich: »Je älter, desto wertvoller!«

»Es dauert nicht mehr lange, und Sie sind dran, meine Liebe«, liest man in bedrohlicher Tonlage. »Es wird allerdings kein Zuckerschlecken, man muss gegen den Strom schwimmen und aus der Rolle fallen.«

Mit Einzelratschlag ist gegen die ungezählten Mitanbieter schwer reüssieren, deswegen bietet ein anderer Autor gleich zweiundfünfzig »Wege zum Glück« an. Manch einer wäre froh, auch nur von einem zu wissen.

»Wer kauft das schon?«, möchte man meinen und abwinken, »schad’ ums Papier«. Aber im Gegenteil: Ratgeber sind sichere Selbstläufer. Auf der Bestsellerliste einer deutschen Zeitung tummeln sich zu einem beliebigen Zeitpunkt in der Rubrik »Sachbuch«, dort, wo einst Veröffentlichungen zu Geschichte, aktueller Politik oder wissenschaftlichem Fortschritt zu finden waren, acht von zehn Titeln mit gutem Rat zu den Themen: »Ernährung« (mehrfach), »Erfolg«, »erfülltes Leben«, »Alterspubertät«, »Abnehmen«, »Ehekrisen«, die »wirklichen Werte«, »Gedächtnistraining« und »Glück«, nicht zu vergessen.

In diesen Ratgebern wird der Leser in ungezählte Einzelteile zerlegt und jedes einzelne Teil zur schadhaften Problemzone erklärt, die dringend instand gesetzt werden muss. Wer eine kurze Mittagspause lang in den Broschüren stöbert, wird im Handumdrehen zum Ratsuchenden zu Schwierigkeiten, von denen er meist nicht wusste, dass er sie überhaupt hatte.

Ratgeberliteratur macht süchtig. Man betritt den Buchladen als gesundes, selbstbewusstes Individuum, verlässt ihn als demütiges, verzagtes Wrack und reiht sich fortan in das Heer der Ratsuchenden ein, die größte Massenbewegung in der Geschichte der Menschheit, und überdies ein lohnendes Geschäftsfeld für all diejenigen, denen es sonst an Begabungen mangelt. Coaching und Ratschlag kann jeder!

Was sagt diese Flut über unsere sozialpsychologische Befindlichkeit aus? Offensichtlich ist aus dem Lot geraten, was ehedem selbstverständlich war. Verhaltensweisen, die einst im Schoß der Traditionen sicher verankert waren, haben sich gelöst und sind zur persönlichen Entscheidung freigestellt. Nachdem die beiden großen Themen der Moderne – »Freiheit« und »Mündigkeit« – von der Theorie zur Praxis fortgeschritten waren, entstand eine unübersichtliche Gemengelage und der ideale Nährboden für die heutige Ratgeberkultur. Zudem herrscht offensichtlich ein Mangel an Personen, denen man sein Vertrauen schenken kann. An ihre Stelle tritt der broschierte Ratgeber.

Wir sind zu Ratsüchtigen geworden.

Beeindruckend ist die Selbstsicherheit, mit der Rat durchgängig dargeboten wird. Dabei haben wir es, besonders im Fall der Alten, mit einem mächtigen Gegner zu tun, dem häufig selbst mit bestem Rat nicht beizukommen ist: der Natur, nebst ihren unerbittlichen Gesetzen. Trotzdem bleibt selten Raum für Zweifel, ob die vorgeschlagenen Maßnahmen auch ihr Ziel erreichen, was indes verständlich ist, denn wenn der Ratgeber angesichts der Realität auch nur zuckt, hat er seine Überzeugungskraft und einen Kunden verloren.

Ich trau mich an Rat nicht ran. Es wird auf den folgenden Seiten, bis auf wenige Ausnahmen, keinen geben. Es gibt ohnehin keinen Rat für alle, nicht einmal für viele und kaum einen für wenige. Und selbst die beschränken sich notwendig auf Empfehlungen, die selten über die Grenzen des gesunden Menschenverstandes hinausgehen. Die »Big Five« für ein langes, beschwerdefreies Leben kennen Sie ohnehin: Sport, schlanke Linie, soziale Kontakte, viel Gemüse und abends ein Glas Rotwein.

Im Detail ändert sich die Liste ständig. Fortwährend werden neue Schurken entdeckt, die uns an die Gesundheitswäsche wollen und nach dem Leben trachten. Relativ neu unter Verdacht sind – neben den alten Bekannten Zigaretten, Schnaps und Leibesfülle – weißes Mehl, Zucker und rotes Fleisch, während Hühnerei und Butter, die über viele Jahrzehnte ganz oben auf der Schädlingsliste standen, in der Zwischenzeit wieder freigesprochen wurden.

Das Leben eingangs der achten Dekade wird entgegen dem äußeren Anschein nicht einfacher, sondern im Gegenteil: Es wird vielfältiger und unvorhersehbarer. Der Alte, der friedlich im Schaukelstuhl die Zeit verstreichen lässt, ist ein Trugbild. Tatsächlich wird jeder von uns zu einem unentwirrbaren Geflecht ungezählter, unterschiedlicher Einflüsse und Erfahrungen. Wir sehen zwar alt aus, aber die meisten Erfahrungen, die wir jetzt machen müssen, sind neu und unbenutzt, und sie sind von einer Intensität, wie wir sie in den zurückliegenden Jahrzehnten nur in seltener Ausnahme erlebt haben. Nicht zu vergessen die Natur, mit der wir uns von nun an in heftigem Handgemenge befinden und die gebieterisch ihr Recht auf unsere Vergänglichkeit mit ihren unzähligen Begleiterscheinungen einfordert.

Die zentrale Herausforderung, das Alter selbst, verweigert sich jeder Problemlösung. Details können lebenswerter gestaltet werden, doch das Alter lässt sich nicht abschaffen. Wir werden ihm nicht entrinnen. Seine Gesetzmäßigkeiten sind unseren Bemühungen nur in Einzelheiten zugänglich, und jedes Leben endet ohne Ausnahme mit dem Sieg der Natur über diese Bemühungen. Uns bleibt letztlich nur die unsentimentale, melancholische Einsicht, dass mit der Geburt das Ende bereits unumgänglich eingezeichnet war. Wobei die unwichtigsten Veränderungen, die der äußeren Erscheinung, in unseren Zeiten in unerhörtem Maß an Bedeutung gewonnen haben. Auch davon später.

Während »Altern wie ein Gentleman« bemüht war, das Leben nach dem Ende der Berufsjahre zu schildern, sind wir jetzt, eine Dekade später, »alt« geworden. Das ist ein Unterschied ums Ganze. Aber wie bekommt man das Thema in seiner unendlichen Mannigfaltigkeit am besten in den Griff? Man hat’s ja gerne kompakt und eindeutig.

Zu meiner Zeit als Assistent an der sozialwissenschaftlichen Fakultät einer süddeutschen Universität, als die Hoffnung auf eine allumfassende Gesellschaftstheorie bereits verloren gegangen war, entstand der Brauch, über Themen in Form von Bausteinen zu schreiben und zu publizieren. Bausteine zu einer »Theorie devianten Verhaltens«, zu »schichtenspezifischen Motivationsdifferenzen« oder zur »Phänomenologie des Außenseiters«. Trotz der Vielfalt war allen Themen die unscheinbare Präposition »zur« gemeinsam, die stets auf das Provisorische, Unfertige und schließlich Episodenhafte der Bemühungen hinwies. Diese bequeme Form der Wissenschaftlichkeit, der häufig etwas Spielerisches, Unernstes eigen war, wurde zwar mit dem Verlust der »Großen Theorie« begründet, war aber ebenso intellektueller Bequemlichkeit geschuldet. Es waren ja nur Bausteine aus dem großen Kasten Wirklichkeit. Was fehlte, konnte gerne aus fremder Feder nachgeliefert werden.

Als geübter Bausteinproduzent plante ich folglich, mit dem vorliegenden Buch eine weitere Sammlung anzulegen. Doch trotz einigem Bemühen ist mir selbst dieses anspruchslose Vorhaben nur in Ansätzen gelungen. Auch Bausteine brauchen Kontur und Abgrenzungen. Aber es wollte sich nicht trennen lassen, was untrennbar, vielschichtig und tief miteinander verwoben ist. Nichts, was ich in Angriff nahm, ließ sich sinnvoll vereinzeln. Zur Zukunft des Alterns gehört unweigerlich der Leib als Schicksal, dem sich sofort das Leid zugesellt und die Hoffnung, dass es glimpflich ausgehen möge. Der Hoffnung beigemischt ist der Trost, und wo dieser ausbleibt, treffen wir auf alte Bekannte: Vergessen, Verdrängen, Ablenkung und, wenn es sich bewahrt hat, Gottvertrauen, das umgehend die »Sorge« – eine der Grundbefindlichkeiten des menschlichen Daseins überhaupt – um das Seelenheil nach sich zieht. Die Zeit steht quer zu allem, wobei unwillkürlich das Ende zum Thema wird, dort, wo die Zukunft angesiedelt ist, die ihrerseits ohne Vergangenheit und Augenblick nicht auskommt.

Kurz: Wo immer ich versuchte, Halt zu finden oder Schneisen zu schlagen, waren diese wenig später wieder zugewachsen, sodass ich meine Bemühungen schließlich aufgegeben und mich entschlossen habe, wie einst Laurence Sterne im »Tristram Shandy« den Gegebenheiten querfeldein zu folgen, um unterwegs aufzusammeln, was mir in die Quere kommen würde. Ich bewegte mich nun wie das Federvieh im Hühnerhof durch die Wirklichkeit. Pickte auf, was ich an Körnern fand, und scharrte dort, wo ich Würmer vermutete.

Die Suche dauert an: Ich bin zwar ohne Plan und Karte unterwegs, jage aber nicht dahin wie ein umherstreifender Spaniel, der jeden Vogel anbellt. Ich gehe vorsichtig, mit flachem Schritt über den wüsten Untergrund. Alles werde ich nicht in Augenschein nehmen können, das meiste bleibt unerforscht und wird nicht einmal flüchtig wahrgenommen. Dabei ist die Abschweifung, die in organisierten Texten zur Ausnahme gehören sollte, notwendig die Regel. Es wird nicht immer sorgfältig und sauber zu Ende gedacht.

Bis zum Ende kann ohnehin nicht gedacht werden, denn jenseits unserer Vergänglichkeit ist keine Plattform, von der aus das Ende zu betrachten wäre. Das Christentum hatte über lange Zeit eine solche angeboten. Auf die wagen sich jedoch nur wenige noch hinaus. Sie ist brüchig geworden.

Auf den folgenden Seiten geht es im doppelten Sinn unwissenschaftlich zu. Zum einen verwende ich Begriffe, die Stützpfeiler der Wissenschaftlichkeit, ganz so wie in der Alltagssprache und nehme deren Ungenauigkeit in Kauf. Was fehlt, wird spontan hinzugedacht, wobei recht sein soll, was einleuchtet. Zum zweiten verzichte ich auf Anmerkungen und jeden Hinweis auf das, was klügere Köpfe vor mir gedacht haben. Kurz, ich nehme mit ruhigem Gewissen an mich, was mir taugt, und bedanke mich bei all denjenigen, die mir unerkannt behilflich gewesen sind. Wer bei mir was finden sollte, darf sich gerne, wie einst Bert Brecht, »hab mir selbst was rausgenommen«, bedienen.

Das einzige verbindende Element zwischen all dem Unverbundenen bin ich selbst. Es ist also der unaufmerksame Leser, der den Gegenstand aus den Augen verliert, nicht ich! Ganz ohne Kompass sollte man sich freilich nicht auf die Suche machen, denn eine solche ist es geworden, gelegentlich unterbrochen von der Frage, ob es lohnt, sich an einer Sache abzuarbeiten, die mit der Geburt bereits entschieden war.

Wir suchen nach den Bedingungen eines »guten Lebens« unter den Voraussetzungen, die jene letzte Zeit mit sich bringt. Es wird nicht leicht, seine Elemente herauszuarbeiten, die hinlänglich allgemein sind und nicht nur auf ein einzelnes, besonderes Leben zugeschnitten bleiben. Wir haben es mit angehäuften Existenzen zu tun, die durch zahlreiche, in ihrer Zusammenstellung einmalige »Formen geschritten« sind. Die Sozialwissenschaften behelfen sich mit Durchschnitt und Statistik. Daraus jedoch wird kein fühlbares Leben, in dem wir alle bis zum Hals stecken. Das aber soll im Folgenden zu Wort kommen.

Das »gute Leben« ist von Anbeginn an beherrschendes Thema allen Nachdenkens über den Menschen gewesen. Platon empfahl das »richtige Maß« als dessen Grundlage, sein Nachfolger Aristoteles schlug den »Gebrauch von Vernunft« vor. Um die Zeitenwende übernahm das Christentum für zweitausend Jahre die Hoheit über das Leben, als Vorspiel für das Jenseits. In der Neuzeit wird »Autonomie« zur Voraussetzung für ein gelungenes Leben, denn ohne sie »keine Würde, keine Freiheit, keine Moral«. Schopenhauer, dem die Menschen ohnehin verdächtige Erscheinungen waren, wäre es schon zufrieden, wenn ihm Gesundheit, Heiterkeit und Gemütsruhe gelängen. Zur Gestaltung der leeren Stunden, die im Alter unweigerlich entstehen, schlägt er die Kunst in allen ihren Formen vor. Wer einen flüchtigen Blick in die Foyers deutscher Theater und Museen wirft, wird unschwer bemerken, dass wir uns seinen Rat zu Herzen genommen haben. So viel Grau war nie im Kunstverein.

Jede Generation hat die Frage nach dem »guten Leben«, abhängig von wirtschaftlicher Entwicklung und geistigen Vorgaben, aufs Neue und auf ihre Weise zu beantworten versucht. Ein »gutes Leben« führte ehedem, wem es gelang, Not, Krankheiten und Gewalt zu entgehen und angesichts des Getümmels vor seiner Haustür ein behagliches Dasein zwischen seinen vier Wänden und im Kreis der Familie zu führen. Damit war er gut bedient.

Erst nachdem Eigentum, Leben und Glück zu Grundrechten und halbwegs erfolgreich zum Gegenstand staatlicher Politik geworden waren, wird die Sache kompliziert. Die Vermeidung von Unheil ist leichter bestimmt als die eigenverantwortliche Suche nach einem gelungenen Leben. Das galt erst recht, als die Menschheit kollektiv aus der »selbst verschuldeten Unmündigkeit« aufbrach und sich ihr der sonderbarste unter den neuzeitlichen Begleitern, die »Freiheit« anschloss. Die überführte umgehend die bislang leidlich geordneten Verhältnisse in ein heilloses, wenngleich überaus produktives und vielfach vergnügliches Durcheinander. Befreit von christlicher Ethik und Moral, machte sich jeder auf eigene Faust auf die Suche nach seinem Glück. Entlassen aus der Obhut des Schöpfers, standen die Menschen unversehens in der kalten Zugluft der Eigenverantwortung: Gebete, Beichte, Sakramente – die christlichen Werkzeuge der Alltagsbewältigung – waren unbrauchbar geworden. Man suchte nicht mehr Trost beim Priester, sondern guten Rat beim Nachbarn.

Die Zahl der Möglichkeiten für das gute Leben ist endlos und verwirrend und führt schnell zur Orientierungslosigkeit. Wahrscheinlich ist indes das »gute Leben« als Maßstab unserer Suche ohnehin zu anspruchsvoll. Denn vom Leben selbst bleiben vielen Alten nur noch Reste übrig, deren Qualität häufig nicht mehr beeinflusst werden kann. Nehmen wir also »erfüllte Augenblicke« oder eine »gelassene Melancholie« als Leitfaden unserer Bemühungen.

Warum aber sollten Sie dieses Buch lesen und ihm Ihre Zeit schenken, die zudem begrenzt ist? Im besten Fall werden Sie die eine oder andere Einsicht in den Lauf der Dinge, die sich jedoch nur in Ausnahme unmittelbar in konkrete Handlung umsetzen lässt, für sich entdecken. Es geht außerdem nicht um Beweise und Kausalitäten, sondern um Durchblick und Einsicht. Sie sind häufig die letzten Mittel, um durch die, meist raue, See des Alterns zu navigieren. So kann sich das Buch, gleichsam durch die Hintertür, doch im Sinne einer Lebenspraxis, die nach dem Gelingen Ausschau hält, verlohnen. Und schließlich vermag es vielleicht jene seltsame Form von Trost zu bieten, die in der Entdeckung besteht: Anderen ergeht es ebenso, wenn nicht gar schlimmer.

Solchen Trost spenden nicht nur lautere Quellen. Er ist nicht unverwandt der Schadenfreude und der Scheinheiligkeit. Denn man wird nicht zögern, das Schicksal der anderen zu bedauern, während es doch nur Anlass ist, das eigene erträglicher zu gestalten. »Bei so vielen«, ist die Überlegung, »wachsen meine Chancen, ungeschoren davonzukommen.«

Das sind keine edlen Motive. Aber wer im Alter leben muss und nicht der Verzweiflung anheimfallen will, darf bei der Wahl seiner Mittel moralische Vorgaben, die ihm als Kind einst vermittelt wurden, jetzt gelegentlich außer Acht lassen. Die Schwäche des Leibes sorgt zudem dafür, dass sich die Konsequenzen für die Betroffenen im Rahmen halten.

Ich schreibe aus männlicher Perspektive. Anders kann ich nicht. Zudem werden die Geschlechterdifferenzen mit dem Fortschreiten der Jahre geringer. Beim gemeinsamen Kampf ums Weiterleben spielt die Gleichberechtigung eine Nebenrolle, wenn man einmal davon absieht, dass Witwen häufig eine schandbar niedrige Rente zusteht. Aber der Vergleich mit dem Gatten spielt bei ihnen ohnedies keine Rolle mehr.

Recht besehen, ist es somit ein Buch für Frauen, damit sie begreifen, was den eigentümlichen Kerl an ihrer Seite antreibt, im Keller eine Märklin-Eisenbahn aufzubauen; was es mit dem Typen auf sich hat, der seit Neuestem im ehemaligen Gästezimmer eine stattliche Sammlung von Glasfläschchen, geordnet nach Form und Größe, einrichtet; oder jenem, der plötzlich das Interesse an all den Dingen, die ihn ein Leben lang getragen haben, verloren hat; bei einem anderen ist der einst akkurate Scheitel einem dünnen weißen Gewölle im Nacken gewichen, während der graue Anzug, der ihn ein Leben lang wie eine zweite Haut begleitet hatte, von einer roten Jogginghose mit kessem Aufdruck verdrängt wurde.

Von dieser bunten, rätselhaften Truppe, mit der Frauen notgedrungen durch die letzte Phase ihres Lebens gehen, handelt dieses Buch. Seine Protagonisten werden, häufig aus stilistischen Gründen, unterschiedlich mit »wir«, »meine Generation« oder »uns« angesprochen. Stets aber ist von jenen die Rede, die im Durchschnitt wie ich selbst in der achten Dekade ihres Lebens stehen.

Ohne dass ich leibhaftig auftreten würde, wird mittelbar viel von mir die Rede sein. Ich bin, wie die Mehrheit, Mittelmaß in jeder Hinsicht. Mein Leben ist in den Bahnen einer normalen Existenz unserer Zeit verlaufen. Deshalb darf ich davon ausgehen, dass meine Erfahrungen und Eindrücke gelegentlich mit denen mutmaßlicher Leser übereinstimmen.

Bevor es ans eigentliche Schreiben ging, habe ich eine Reihe von Fragen zum Thema niedergeschrieben, deren Beantwortung jeder vernünftige Leser zu Recht von mir erwartet, denn nur wer die richtigen Fragen stellt, hat die Chance auf richtige Antworten.

Wer sind »wir«? Und lässt sich mit diesem »Wir« überhaupt sinnvoll arbeiten?

Dazu gleich Folgendes: Sonderlich trennscharf ist der Begriff in der Tat nicht. Kaum hat man begonnen, genauer über ihn nachzudenken, verflüchtigt er sich auch schon. Zudem tut er vielen, die ihm zugeordnet werden, unrecht. Aber er ist praktisch und mit allerlei verlässlicher Bedeutung versehen. Deswegen benutze ich ihn umstandslos, wohl wissend, dass er seine Schwächen hat.

Was ergibt ein Leben?

Welche seiner Herausforderungen sind unerlässlich?

Welche Rolle spielen Hoffnung, Glaube, Wissen?

Was hat es mit der Altersradikalität auf sich? Braucht’s die?

»Dringend!«

Was bewirken die Fortschritte in der Medizin?

Gibt es Frieden mit dem Altern?

»Niemals! Höchstens vorübergehenden Waffenstillstand!«

Wohin geht die Reise?

Auf- oder Schiffbruch?

Kann sich die Gesellschaft unser Altern noch leisten?

Wo liegt das Jenseits?

Das Lebensende ist unvermeidbar, was aber hat es mit dem Sterben auf sich?

Wohin mit der Restlibido?

Es gibt offensichtlich einiges zu bedenken!

Werde ich diese Fragen und die unzähligen anderen, die sich stellen, beantworten können? Ich denke nicht!

Beim Nachdenken über das Leben in seiner letzten Phase habe ich nebenbei die Kostbarkeiten, mit denen die Evolution das »Geschöpf Mensch« einst ausgestattet hatte, wiederentdeckt. Die meisten sind uns zwar bekannt, wir haben sie jedoch häufig achtlos zur Kenntnis genommen, ohne zu begreifen, welch ungeheuren Schatz jeder von uns in seinen Händen hielt und wie leichtfertig wir ihn oft vergeudet hatten.

Die Rede ist von den »Begabungen« des Menschen, etwa zur Liebe und zum Mitleid, zum Lachen und zum Weinen, nebst den damit verbundenen Emotionen. Ebenso wie seine Befähigung zur Musik, Schrift, Kunst und zum Genuss, desgleichen seine Fähigkeiten zur Erinnerung wie zum Vergessen, sein Talent zu Entscheidungen und Kausalitäten, schließlich sein Verlangen nach Freiheit und Selbstbestimmung und an erster Stelle die Gegenwart von »Ich« und »Du«.

Einige dieser Eigenschaften waren sicherlich dienlich im Überlebenskampf gewesen. Sie können mit dem darwinschen Funktionsparadigma erklärt werden. Wenngleich, recht besehen, damit noch nichts erklärt ist, aber das Unerklärbare wird mit den begrenzten Mitteln unserer Vorstellungen zur Deckung gebracht, deswegen akzeptieren wir Darwins Fundstück: besser als nichts!

Viele der Begabungen sind unnötiges, wenngleich wundervolles Beiwerk, das im Hochbetrieb ums Fortbestehen keine oder nur eine untergeordnete Rolle gespielt haben dürfte. Es ist nach den Regeln der Evolution ohne jeden Sinn, es sei denn, seine tiefe Bedeutung bestünde darin, unserem Leben einen Sinn zu geben, den das bare Überleben nicht zu stiften vermag.

Aber woher kommt die Idee des »Sinnhaften«, das sich durch Begabungen herzustellen weiß? Woher kommt der Zufall als Gebieter über unser Leben? Wer hat die Mechanik der Mutation eingerichtet? Sie selbst kann es nicht gewesen sein.

Wir wissen es nicht.

Ich gebe zu, ich habe mich durchweg schwergetan mit diesem Text und war des Öfteren versucht, ihn endgültig zur Seite zu legen, denn die Beschäftigung mit dem sperrigen Thema bedrohte eine der brauchbarsten Ressourcen zur Bewältigung des Alterns: die Verdrängung. Die hatte zwar zu meiner Studentenzeit schlechte Presse und galt als Ursache allerlei persönlicher Missstände wie Beziehungsprobleme, Bindungsängste, Neurosen oder Psychosen. In dieser Funktion ist die Verdrängung ein wichtiger Baustein der Psychoanalyse. Ohne ihre Verortung in der komplexen Psychomechanik Freuds jedoch recht verstanden zu haben, wurde sie zu einem gebräuchlichen Kampfbegriff im Beziehungstumult jener Zeit.

Der Vorwurf »Du verdrängst!« setzte den Beschuldigten augenblicklich ins Unrecht. Denn damals stand die Verdrängung moralisch auf einer Ebene mit Lug und Trug und Hochstapelei. Wer verdrängte, versuchte, sein wahres Ich vor den anderen zu verbergen, was dem Tatbestand der arglistigen Täuschung schon recht nahekam.

Heute indes wissen wir, dass die Verdrängung ein kostbares Geschenk der Evolution an uns ist. Wer sie im Alter beherrscht, verfügt über ein solides Fundament, um Gegenwart und Zukunft zu bewältigen. Mittels der Verdrängung legen wir, um ihre negativen Energien zu neutralisieren, unerfreuliche Gedanken, Erinnerungen und Erfahrungen, an denen im Alter nie Mangel sein wird, zur Seite. Diese Form der Entsorgung wirkt selten auf Dauer, aber zumindest für den Augenblick, und in dem haben wir uns ohnehin eingerichtet.

Gelegentlich kam mir die Idee, ob es nicht untersagt sein sollte, über das Alter überhaupt nachzudenken. Ob Unwissenheit nicht besser wäre als die eine oder andere Einsicht im Meer der Einzelheiten, an denen ohnehin nichts zu ändern ist. Dann wieder wollte ich vor der unvorstellbaren Menge der Themen und Details kapitulieren. Das Zeitintervall, um das es mir geht, die »achte Dekade«, ist zwar leicht benannt, aber dahinter verbirgt sich eine Vielfalt, die sich jeder eindeutigen Beschreibung entzieht. Jeder Versuch eines sprachlichen Zugriffs drohte mir augenblicklich zwischen den Fingern zu zerrinnen. Es gibt keine Summe, sondern nur das Gewimmel von Bienen im Bienenstock.

Kurz, wer sich mit dem Alter beschäftigt, dem fliegt bald das ganze Leben um die Ohren. Die Jungen versuchen es vom Anfang, die Alten vom Ende her zu begreifen. Viel Erfolg werden beide nicht haben können, denn jedes Nachdenken bricht an der Unvorstellbarkeit des Endes ab.

Eines fernen Tages werden wir vielleicht in der Lage sein zu begreifen, was es mit dem Universum auf sich hat. Uns selbst indes werden wir nie recht erkennen können. Unser Leben ist zu vielschichtig und kurz, und mit jedem Ende gehen seine Informationen, von einigen kärglichen Notizen abgesehen, für immer verloren.

Warum ich trotz alledem weitergemacht habe? Pflichtbewusstsein – »man führt sein Sach’ zu Ende«? Das Drängen der Lektoren? Freude am Schreiben und Nachdenken? Sinnsuche eines Betagten? Haben mich die gut gemeinten Ermunterungen und Warnungen von Freunden und Bekannten oder die abgründig verstörende Anziehungskraft des Themas bei der Stange gehalten? Ich weiß es nicht recht und vermute, von allem ein wenig.

Dabei geht es nicht um Zusammenhänge. Die braucht’s im Alter nicht mehr. Die brauchte man für Karrieren, Erfolge und Zukunft. Mit denen sind wir fertig. Wir haben es stattdessen im Folgenden auf Einzelheiten, Augenblicke und Fragmente abgesehen.

»Es sind die Details, Dummkopf«, gab mir eine Freundin, die wie ich im Alter ist, mit auf den Weg. Denen versuche ich auf der Spur zu sein und auf die Schliche zu kommen. Querfeldein wird losgedacht, und wenn das Ergebnis zuweilen mit der Realität übereinstimmen sollte, umso besser.

DIE GESELLSCHAFT VOM DACHBODEN

»Wir sind Schweine
aus der Herde Epikurs.«

Wir haben Wegbegleiter gesucht und uns zusammengefunden. Zum Zweck, gemeinsam jener Zeit in unserem Leben entgegenzugehen, von der wir aus eigener und fremder Erfahrung nur zu gut wissen, dass sie »gefährlich«, »erbärmlich«, »hoffnungslos entwürdigend«, »unbarmherzig« oder »elend« sein kann, wie Befragungen ergaben, bei denen alte Menschen gebeten wurden, drei Adjektive zum Altern zu benennen. Attribute wie »erfüllt«, »sorgenlos« oder auch nur »zufrieden« wurden, nebenbei, seltener genannt. Dem setzten wir eines schönen Tages und ohne erkennbaren Anlass im poetischen Verfahren als Trutzbündnis einen sozialen Gesellungsraum entgegen.

Doch, einen Anlass, besser einen Anstoß, gab es schon. Ein Zitat von – ausgerechnet – Anthony Hopkins: »Keiner von uns kommt lebend hier raus. Also hört auf, euch wie ein Andenken zu behandeln. Esst leckeres Essen. Spaziert in der Sonne. Springt ins Meer. Sagt die Wahrheit und tragt euer Herz auf der Zunge. Seid albern. Seid freundlich. Seid komisch. Für nichts anderes ist Zeit.«

Wir sind indes keine »Kommune« im Sinne der Verschwörer vom Kochelsee, wo einst die K1 aus der Taufe gehoben wurde, wenngleich zwei von uns vor langen Zeiten ähnliche Vorstellungen vertreten hatten, ohne sie jedoch entschlossen in die Tat umzusetzen. Unser Trutzbündnis ist keine Gemeinschaft als »Keimzelle für eine neue Gesellschaft«. Dazu sind wir zu alt und illusionslos. Ein wenig »Lebenskunst« ist das einzige Fernziel, das uns als eine sehr private Angelegenheit geblieben ist. Wir streben kein »richtiges Leben im falschen an«, sondern Unterstützung für die Bewältigung des Augenblicks im Alltag. Wir versuchen nicht, uns ein weiteres Mal zu »entwurzeln«. Im Gegenteil: Wir wären froh, wenn wir noch einmal ein paar Wurzeln schlagen dürften. Deswegen sind wir zusammengekommen.

Zwei indes, mit denen ich fest gerechnet hatte, sind bereits gegangen. Ich habe das als Verrat empfunden, denn ich hatte sie als treue Begleiter zur allgemeinen Verwendung fest in meinen zukünftigen Lebensentwurf eingeplant. Sie waren von der Sorte gewesen, bei der es kaum Worte zur Übereinstimmung bedarf. Die war vorausgesetzt, ebenso wie die Entschlossenheit, keinen Streit aufkommen zu lassen. Dem Außenstehenden mag solches Gleichmaß eintönig erscheinen. Uns war es eine feste Burg, die Deckung und Geborgenheit in unsicheren Zeiten – denen des Alterns – versprach. Nun sind die beiden fort und mit ihnen über lange Dauer sturmsichere Beziehungen. Sie werden nicht ersetzt werden können, denn im Alter entwickeln sich neue Beziehungen sehr selten vom Kennenlernen über die gute Bekanntschaft hin zum Freund.

Durchschnittlich sind wir gut über siebzig. Unsere Biografien, meine eingeschlossen, wirken, im Vergleich zu denen unserer Vorfahren, ein wenig unbehaust und unstet. In turbulenten Zeiten hätten wir leicht in Schwierigkeiten geraten können, aber die Umstände waren gnädig und erlaubten ein Maß an Beliebigkeit und Lässigkeit, das unter anderen Bedingungen frivol oder riskant gewesen wäre.

Wir reagierten mit unserem Plan einer Lebenskooperative auch auf Diagnosen zur Zeit, wonach die heutige Gesellschaft vielen Menschen als ein »gefährlicher und prekärer Ort erscheint«, in dem es keinerlei Gewissheiten mehr gibt und wo selbst die festen und auf lange Dauer angelegten Gemeinschaften erodieren. Von einem »Narrativ des Verlustes« und »neuer Unübersichtlichkeit« ist in besorgniserregendem Ton die Rede. Zudem führt der moderne Mensch im Rahmen dieser Randbedingungen ein »nomadisches Dasein«, in dem soziale Kontakte zwar zahlreich sind, aber flüchtig und kurzfristig bleiben.

Wahlweise ist auch von »Singularität« oder einer »Ich-Gesellschaft« die Rede, in der jeder für sich der Befriedigung seiner Vorstellungen vom erfüllten Leben nachgeht, während ihm der andere im besten Fall Mittel zum Zweck ist. Das klingt bedrohlich, vor allem in den Ohren von alternden Menschen, die immer stärker auf Familie, Freundschaft und Hilfsbereitschaft angewiesen sein werden.

Wir werden der Gesellschaft mit zunehmendem Alter einiges abverlangen müssen, denn mit unserer eigenen sozialen Altersvorsorge sind wir in den zurückliegenden Jahrzehnten unbekümmert schlampig umgegangen. Wir haben uns so verhalten, als ob die Natur bei uns eine Ausnahme machen und uns ein ewiges Leben schenken würde. Unsere private kleine Alterspyramide schaut zerfleddert aus, wie eine Weihnachtstanne, die lange Wochen nach dem Fest auf dem Bürgersteig vor der Haustür liegen geblieben ist.