Buch
Königin Daleina und Königin Naelin herrschen gemeinsam über Aratay und beschützen ihre Untertanen vor den Elementargeistern. Da werden Naelins Kinder von fremden Geistern entführt. Für sie ist klar, dass die Herrscherin des Nachbarreichs Semo dahintersteckt. Außer sich vor Zorn und bereit, das ganze Land zu zerreißen, folgt Naelin ihren Kindern. Doch in der Hauptstadt von Semo stellt ihr die feindliche Königin ihre Bedingungen: Wenn Königin Naelin ihre Kinder lebend wiedersehen will, muss sie abdanken – und ihr Volk im Stich lassen.
Autorin
Sarah Beth Durst hat an der Princeton University Anglistik studiert. Sie verbrachte dort vier Jahre damit, über Drachen zu schreiben und sich zu fragen, was die Campus-Gargoyle wohl sagen würden, wenn sie sprechen könnten. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren Kindern in Stony Brook, New York.
Die Königinnen von Renthia von Sarah Beth Durst bei Penhaligon:
1. Die Blutkönigin
2. Die Todeskönigin
3. Die Geisterkönigin
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SARAH BETH DURST
DIE
GEISTERKÖNIGIN
ROMAN
Deutsch von Michaela Link
Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel
»The Queen of Sorrow (The Queens of Renthia 3)«
bei HarperVoyager, New York.
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Copyright der Originalausgabe © 2018 by Sarah Beth Durst
Published by arrangement with HarperVoyager, an imprint of HarperCollins Publishers, LLC.
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2019 by Penhaligon in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkterstr. 28, 81673 München
Redaktion: Waltraud Horbas
Umschlaggestaltung und -illustration: © Isabelle Hirtz, Inkcraft
Karte: © Andreas Hancock
HK · Herstellung: sam
Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München
978-3-641-21464-7
www.penhaligon.de
Karte
Für Lynne und David
Kapitel 1
Schon bald wird alles wieder besser, dachte Daleina.
Sie war hoch hinauf in die Wipfel geklettert und balancierte jetzt auf zwei dünnen Ästen. Unter ihr breiteten sich die Wälder Aratays in all ihrer Herrlichkeit aus. Bunte Blätter in Rot, Orange und Gelb leuchteten wie Kerzenflammen im Licht des späten Nachmittags.
Von hier oben konnte sie den gesamten Westen Aratays überblicken, bis hin zu den ungebändigten Landen jenseits der Grenze. Die ungebändigten Lande waren in dichten Nebel gehüllt und erweckten den Eindruck, als würden sie kochen. Während Daleina hinübersah, stieß ein Berg aus dem dichten Dunst hervor, um sogleich wieder zu zerfallen. Jenseits der Grenzen der Welt war alles so kurzlebig und vergänglich wie eine Sandburg, die von den Wellen davongespült wurde.
Solange Aratay eine Königin hatte, würde es hier niemals so sein.
Und jetzt haben wir sogar zwei!
Es war ein erhebender Gedanke, denn mit zwei Königinnen … Wir können alles wieder heil machen, was zerstört worden ist.
Unter sich hörte sie Naelin – die zweite Königin Aratays – keuchend den Baum heraufklettern. Daleina hätte ihr am liebsten geraten, sich doch von einem Geist in die Baumwipfel hinauffliegen zu lassen, aber sie sparte sich die Mühe. Sie wusste, wie Naelin darüber dachte. Die andere Königin mochte es nicht, Geister »unnötig« einzusetzen. In Wahrheit hat sie Angst vor ihnen, dachte Daleina.
Und, ganz ehrlich, es war vernünftig, so zu empfinden.
Doch heute wollte Daleina nicht vernünftig sein. Sie schloss die Augen und atmete tief die süße, frische Luft ein. Heute fangen wir an!
Die Zweige gerieten in Bewegung, und Naelins Kopf tauchte zwischen den Blättern auf. »Und warum können wir das alles …«, sie schnappte keuchend nach Luft, »… nicht weiter unten, auf halber Höhe des Waldes, erledigen?«
Daleina legte den Kopf in den Nacken, um die Strahlen der Sonne auf dem Gesicht zu spüren. Sie waren so warm wie Hamons Liebkosungen. Doch sie schob diesen angenehmen Gedanken beiseite, für später, wenn sie nicht mehr mit Naelin zusammen war. »Weil es hier oben wunderschön ist.«
»Schönheit.« Naelin stieß einen abfälligen Laut aus und zog sich nun ganz nach oben. »Sicher, es ist schön. Aber es ist auch leichtsinnig, und wir verfügen über keine Thronanwärterinnen, die uns gegebenenfalls ersetzen könnten.«
Daleina zuckte zusammen – sie war die Letzte, die an diese Tatsache erinnert werden musste – , doch sie würde sich davon nicht die gute Laune verderben lassen. Sie öffnete die Augen und zeigte auf ein kahles Loch im dichten Grün der Bäume. Ganz wie sie gehofft hatte, war es von so hoch oben aus leicht, die versehrten Bereiche auszumachen. »Wir fangen mit dieser Stelle dort an.«
Früher einmal hatte ein Baum dieses Loch ausgefüllt, wahrscheinlich ein sehr großer mit weit ausladenden Ästen und dichtem Blattwerk, aber jetzt … Die verödete Stelle sah aus wie eine schwarze Insel in einem Meer aus Grün. Merecot hatte im Zuge ihres feindlichen Einfalls in das Land zahllose Todeszonen hinterlassen. Noch etwas, was ich ihr nicht verzeihen kann. Sie hatte mit ihrem Angriff Daleinas geliebtes Aratay tief verwundet – das Töten seiner Geister tötete das Land selbst. Mit vereinten Kräften hatten sie die Königin von Semo wieder zurückgetrieben, aber ihr zerstörerisches Wirken war immer noch überall im Land sichtbar.
Die Zeit des Kämpfens war vorüber. Jetzt war die Zeit des Heilens.
»Kommt mit.« Daleina ließ sich herabgleiten und huschte über den Ast, bis sie einen Drahtpfad fand. Sie klinkte einen Karabinerhaken in den Draht ein. »Je näher wir dran sind, umso leichter ist es.«
»Können wir nicht einfach …«
Daleina stieß sich ab und segelte durch die Blätter hindurch. Sie stieß einen Freudenschrei aus, und was immer die andere Königin noch sagte, verlor sich im Rauschen des Windes. Im Dahinsausen riss sie gelbe Blätter von den Zweigen, und sie erfüllten die Luft, so dass es ihr vorkam, als flöge sie durch einen Wirbelsturm aus Gold.
Schnell hatte sie den nächsten Baum erreicht und landete dort auf einem terrassenartigen Aufbau. Sie hakte sich vom Draht los und wartete auf Naelins Eintreffen.
»Ihr quält mich mit Absicht«, klagte Naelin, als sie nun neben ihr landete. Sie schwitzte, und ihr braungraues Rehhaar klebte ihr an der Stirn. Ihre Wangen waren gerötet.
»Nein, nicht mit Absicht.« Daleina ging in die Hocke und spähte durch die Bäume hindurch. »Es ist einfach ein glücklicher Zufall.« Sie warf Naelin ein Lächeln zu, zum Zeichen, dass sie nur scherzte. Allerdings war sie sich nicht so ganz sicher, ob Naelin überhaupt Sinn für Humor hatte. Sie hatten bisher nicht viel Zeit miteinander verbracht, zumindest nicht, ohne dass entweder Naelins Kinder oder Ven dabei waren.
Egal. Ich fand es jedenfalls witzig.
Eine Seilbrücke führte von dem Aufbau hin zu der verödeten Stelle im Wald – sehr praktisch. Sie fragte sich, warum wohl … Ah. Hier muss einmal ein Dorf gewesen sein. Ihr wurde schwer ums Herz. Mit dem Absterben des Baumes waren auch die Häuser der Dorfbewohner zerstört worden. Vielleicht waren auch Tote zu beklagen gewesen. Daleina verlangsamte ihr Tempo und ging voran, vom Baum auf die Brücke. Sie gab sich alle Mühe, nicht daran zu denken, wie viele Menschen hier gelebt haben mochten.
Ich habe mein Bestes getan, rief sie sich nicht zum ersten Mal ins Gedächtnis.
Wie gewöhnlich fühlte sie sich dadurch nicht besser.
Ihre Nation war nicht das Einzige, was der Heilung bedurfte.
Die Seile waren moosbewachsen und zerfasert, und die Brücke schwankte und schaukelte, als Daleina und Naelin sie überquerten. Von der nächsten Terrasse aus konnten sie die verödete Stelle sehen: ungefähr kreisförmig, mit dem Umfang einer der gewaltigen Eichen, deren Zweige für gewöhnlich Wohnhäuser beherbergten. Unter ihnen, ganz weit unten, war der Boden trocken und grau, ohne Leben. Der leblose Kreis war umgeben von dichtem Unterholz, das jedoch keinen Zentimeter weit in die Todeszone vordrang … Nicht, bis wir alles wieder in Ordnung gebracht haben.
Daleina griff in das Bündel, das sie bei sich trug, und zog eine Seilrolle heraus. Sie wählte einen stabilen Ast und knotete das Seil fest. Dann schwang sie sich auf das Seil und ließ sich daran am Stamm des Baumes herab.
»Muss das sein?«, kam es von Naelin.
»Wir könnten auch einen Geist beschwören und fliegen.«
Mit einem Seufzen seilte sich die andere Königin nun ebenfalls ab.
Auch wenn es sie schmerzlich an all die Verluste erinnerte, die ihr Land erlitten hatte, war es doch schön, einmal aus dem Palast herauszukommen, weg von den Höflingen und Beratern, weg von all den täglichen Kleinigkeiten der Verwaltung Aratays. Nur mit einem einzigen Problem hatte sie es heute zu tun: das Land wieder heil zu machen. Und das kann ich auch.
Sie hätte es aus der Ferne tun können – als Königin besaß sie die Macht dazu. Und Naelin verfügte ohne Zweifel über mehr als genug Macht. Die andere Frau verströmte förmlich Kraft und Energie. Aber bei diesem ersten verödeten Gebiet wollte Daleina die Sache persönlich erledigen, um Naelin zu zeigen, wie so etwas gemacht wurde. »Es ist eine notwendige Übung zu ihrer weiteren Ausbildung«, hatte sie Ven erklärt. Als Meister konnte er keine Einwände gegen eine zusätzliche Ausbildung der neuen Königin erheben, vor allem, da Naelin nahezu ohne jegliche Unterweisung von einer einfachen Waldbewohnerin zur Königin geworden war.
Er hatte Daleina natürlich sofort durchschaut. »Ihr wollt doch nur eine Erholungspause nehmen, weit weg vom Thron.«
»Es ist ein unbequemer Stuhl«, hatte sie ihm recht gegeben.
»Während Ihr fort seid, werde ich mich auf die Suche nach ein paar zusätzlichen Kissen machen.« Und um es zu demonstrieren, hatte er einen Pfeil in seinen Bogen eingelegt und ihn in das nächste Sofa geschossen. Daunenfedern waren durch die Luft gestoben.
Auf halbem Weg den Baum hinunter wechselten Daleina und Naelin vom Seil auf eine Leiter, die in den Stamm hineingebaut worden war, wahrscheinlich für die Dorfbewohner, damit sie zum Waldboden hinabsteigen konnten, um dort nach Beeren zu suchen oder Rotwild zu jagen. Es war einfacher, die Leiter hinunterzuklettern, und schon bald erreichten sie den Boden und bahnten sich durch die Büsche einen Weg zu der verödeten Stelle.
Sie war so leblos, wie Daleina vermutet hatte. Oder eigentlich sogar noch lebloser. Sie hatte erfahren, was Dürre anrichten konnte, aber selbst dann war da doch immer noch irgendetwas im Boden spürbar. Jetzt jedoch fühlte sie nichts als den Staub, der im Weitergehen um ihre Füße wirbelte. Sie kniete sich hin, schöpfte eine Handvoll trockener Erde und ließ die toten Körnchen durch ihre Finger rinnen. Naelin setzte sich auf einen Stein und trank aus ihrer Feldflasche. Einige Tropfen fielen auf den Boden und wurden schnell von der Erde aufgesogen.
»Als der Geist oder die Geister, die zu diesem Baum gehörten, gestorben sind, ist auch das Land gestorben«, erklärte Daleina. »Wenn wir es ins Leben zurückholen wollen, müssen wir mehr tun, als nur einem Wassergeist aufzutragen, Regen zu bringen, oder einem Baumgeist, ein paar Saatkörner zu pflanzen. Wir müssen Geister mit unserer Macht an das Land binden – anderenfalls bleibt es entweder eine tote Zone, oder, was noch schlimmer wäre, die Geister toben wild darauf herum wie in den ungebändigten Landen. Das Problem ist nur, dass alle nahen Geister bereits an ihre eigenen Bäume oder Bäche oder Erdflecken gebunden sind, daher müssen wir sie dazu ermuntern, neue Gefilde für sich zu beanspruchen.« Aus dem Augenwinkel bemerkte sie Naelins Gesichtsausdruck. Die Lippen der anderen Königin zuckten amüsiert. »Was ist?«
Sie lachte, ohne jede Frage. »Nichts.«
»Das ist eine ernste Angelegenheit. Hier könnte es Häuser gegeben haben. Vielleicht sind sogar Menschen gestorben.«
»Ich weiß. Es ist nur … Für einen Moment habt Ihr Euch angehört wie Direktorin Hanna.«
Daleina seufzte. »Obwohl ich noch so jung bin, dass ich Eure Tochter sein könnte?« Sie war halb so alt wie Naelin und nur ein Jahr länger Königin gewesen als ihre Mitregentin, aber sie war trotzdem erfahrener. Sie hatte die Nordost-Akademie besucht, hatte monatelang mit Meister Ven trainiert und beim Krönungsmassaker gegen die Geister gekämpft. Es war schwer, gegenüber der älteren Königin nicht mit diesen Beweisen ihrer Qualifikation anzugeben.
Naelin fuhr zusammen. »Ich wollte es nicht gar so unverblümt ausdrücken, aber – ja.« Sie legte ihre Feldflasche zurück in ihr Bündel und stand auf. »Es tut mir leid, Euer Majestät. Bringt mir bei, wie ich das Land heilen kann.«
»Beschwört die Geister, die sich in der Nähe aufhalten. Lasst sie hierherkommen. Und übergebt ihnen dann das Land. Sie sehnen sich danach, mit Renthia verbunden zu sein. Aber dafür brauchen sie eine Königin.«
»Wisst Ihr, das klingt ja ganz nett, aber es ergibt irgendwie keinen richtigen Sinn.«
»Als Ihr Königin geworden seid und die Geister Euch erwählt haben, was habt Ihr da gefühlt?«
»Von Bedauern einmal abgesehen?«
Daleina widerstand dem Drang, entnervt die Augen zu verdrehen. »Ja.«
»Macht. Jede Menge Macht. Als hätte ich mein Leben lang nur geflüstert und könnte nun plötzlich schreien.«
Gut. Ja. »Und …?«
»Und ich habe die Geister gefühlt, jeden Einzelnen, in ganz Aratay. Ich konnte ihre Gedanken sehen und ihre Gefühle spüren. Als wären sie auf einmal … ein Teil von mir.« Naelin schauderte.
»Genau. Ihr seid mit ihnen verbunden. Mit ihnen vernetzt. Das sind wir beide. Das ist der Unterschied zwischen den Königinnen und, nun ja, allen anderen. Also müsst Ihr sie jetzt auf die gleiche Weise mit dem Land verbinden, wie sie mit uns verbunden sind.« Wenn Daleina sich sehr konzentrierte, konnte sie spinnwebartige Fäden spüren, die sie mit den Geistern verbanden. Um die verödete Stelle wieder heil zu machen, brauchte eine Königin diese Fäden nur zwischen einigen der Geister und dem öden Land zu spannen. Das einzige Problem war, dass sie es nicht besser erklären konnte. Entweder Naelin spürte es ebenfalls, oder sie spürte es eben nicht. Daleina vertraute jedoch auf die Fähigkeiten der älteren Frau – sie war sich der gewaltigen Macht der anderen Königin bewusst. Naelin war von Anfang an viel stärker gewesen als Daleina. Und als sie Königin geworden war, hatten sich ihre beeindruckenden Fähigkeiten noch um ein Hundertfaches verstärkt. »Versucht es einfach. Tut, was ich tue.«
»Aber …«
»Habt keine Angst. Hier gibt es nichts, was durch Euch Schaden nehmen könnte.« Alles, was hier sterben konnte, ist bereits tot, ging es ihr durch den Kopf. »Kommt. Wir machen es zusammen.«
Auf den Knien liegend, tauchte Daleina ihre Hände in die trockene Erde. Sie konzentrierte sich und tastete mit ihren Sinnen nach den Geistern in ihrer Nähe. Sie fühlte sie direkt hinter dem Rand des verödeten Kreises: Da war ein winziger Erdgeist, der sich mit den Würmern durch den Untergrund grub, da war ein Baumgeist, der sich in der Nähe zwischen zwei Wurzeln versteckte, und da war ein Wassergeist, der durch einen Bach huschte. Behutsam rief sie nach ihnen. Wollt ihr spielen kommen? Hier spielen?
Und dann fühlte sie ein gewaltiges Brausen.
Auweia.
»Daleina?«
»Ihr habt zu viele gerufen«, erklärte Daleina brüsk. Es war nicht das erste Mal, dass so etwas geschah. Ven hatte mit Naelin hart an der Kontrolle ihrer Kräfte gearbeitet. Doch offensichtlich bestand das Problem noch immer.
»Ja. Sieht ganz so aus.«
»Zu viele« war noch eine ziemliche Untertreibung. Die Geister überschwemmten die verödete Stelle förmlich: Winzige Luftgeister, flauschig wie Pusteblumen, erfüllten die Luft, andere Luftgeister, riesengroß und mit Adlerschwingen, verdunkelten den Himmel, schlammbedeckte Erdgeister wühlten sich aus dem Boden, und allerlei Baumgeister – manche klein wie Eicheln, andere von der Größe eines Menschen oder eines Wildschweins – liefen über die Äste auf sie zu. Daleina spürte, wie ihr die Regentropfen der Luftgeister ins Gesicht schlugen, und ein kalter Wind ließ sie frösteln, als ein einzelner Eisgeist an ihr vorbeizischte.
»Beschwichtigt sie!«, rief Daleina.
»Aber sie verbinden sich mit dem Land! Ist es nicht genau das, was wir wollen?«
Sie hatte recht – Daleina spürte, wie Dutzende von Geistern die Luft und den Erdboden durchdrangen … Nein! Halt! Es waren zu viele, die da versuchten, einen viel zu kleinen Raum für sich zu beanspruchen! Sie würden nur …
Die Geister griffen sich gegenseitig an.
Ein Luftgeist zerfetzte mit seinen Klauen einen gefiederten Geist. Knurrend sprangen die Erdgeister einander an. Ein Geist in Bärengestalt, der aus Felsen bestand, drosch mit seinen Steinfäusten auf einen mit Rinde bedeckten Baumgeist ein.
Sie spürte, wie der geballte Zorn der Geister durch sie hindurchfloss, und für einen Moment war sie wieder dort, in dem Hain, während ihre Freundinnen um sie herum starben, und Daleina merkte, dass sie laut schrie, und sie konnte nicht damit aufhören.
Töten. Verletzen. Zerstören.
Die Geister schrien in ihrem Kopf und wandten sich gegen sie. Sie spürte, wie ihr weißglühender Hass sie versengte, und sie spürte den Schmerz, als sie sich in ihre Haut gruben. In ihren Erinnerungen gefangen, konnte sie keinen klaren Gedanken formen, um …
AUFHÖREN!
Von außen, von Naelin kam das Wort, das nun durch sie hindurchdrang – Daleina spürte, wie es in all den Geistern widerhallte, genauso wie in ihr, und gleichzeitig hielten alle Geister in ihrem Tun inne, als wären sie eingefroren. Sie spürte, wie sich Arme um ihre Schultern legten, als Naelin sie nun an sich drückte und sie an der Brust wiegte, als wäre sie ein kleines Kind. Sie wehrte sich nicht. Für einen Moment ließ sie sich trösten.
Aber nur für einen Moment. Sie war immer noch Königin, und sie hatte eine Pflicht zu erfüllen. Daleina zwang sich, die Augen zu öffnen. Tief und langsam atmete sie durch, während sie die Erinnerung von sich wegschob, sie wieder in der versteckten Schublade ihres Geistes verstaute, wo sie sie aufbewahrte – die Erinnerung an den Tag, an dem sie ihre Welt gerettet, aber ihre Freundinnen nicht zu retten vermocht hatte. »Wählt einige wenige von ihnen aus«, krächzte sie, »und den Rest schickt Ihr wieder fort.«
»Und wie mache ich das?«
»Ergreift das Band, das Euch mit ihnen verbindet. Fühlt es, als wäre es ein Seil, das Euch an sie kettet, und stellt Euch dann vor, Ihr würdet dieses Seil an die Erde und an die Luft binden. Was die übrigen Geister betrifft, schwärmt ihnen von ihrem Zuhause vor. Erweckt das Verlangen in ihnen, zurückkehren zu wollen. Denkt an den Wald, die Flüsse, die Felsen, den Himmel und weckt in ihnen den Wunsch, dort zu sein.« Während sie sprach, spürte sie, wie sich ihr Herzschlag wieder auf seine normale Geschwindigkeit verlangsamte.
Daleina fühlte, dass die Geister Naelin gehorchten, und versuchte währenddessen, ihr eigenes Bewusstsein so klar und ruhig wie möglich zu halten. Sie ließ Naelin das alles tun – und hielt Abstand. Die Geister wehrten sich erst und gaben dann klein bei. Naelin pflegte einen anderen Stil im Umgang mit den Geistern: Sie befahl mehr, als dass sie sie lockte. Aber es funktionierte.
»Ich bekomme es hin!«, rief Naelin.
»Wunderbar. Jetzt ruft Euch ein Bild des Waldes vor Augen und sagt den Geistern, sie sollen ihn an dieser Stelle auf genau diese Weise wachsen lassen.«
Sie spürte Regentropfen auf den Wangen. Immer stärker und dichter wurde der Regen, der auf die trockene Erde und die beiden Königinnen herabströmte. Die Erde unter ihr wurde weicher, und sie spürte, wie sich Erdgeister hindurchschlängelten und neues Leben ins Erdreich hineinzogen.
Ein Luftgeist huschte über ihren Kopf hinweg, ließ Samenkörner in die feuchte Erde fallen, und drei Baumgeister eilten zu den Körnern hin. Grün spross überall aus dem verödeten Gelände. Moos breitete sich aus, und Farne gediehen zwischen den Felsen. Ranken krochen mit rasender Geschwindigkeit über den Waldboden auf die Königinnen zu. Daleina fühlte, wie sie sich um ihre Handgelenke und ihre Knöchel wanden. »Ähm, Naelin?«
Aber Naelins Augen waren geschlossen, ihr Gesichtsausdruck selig.
Daleina beschloss, nichts zu sagen.
Sie sah zu, wie sich die Ranken Naelins Beine hinaufwanden. Ganz langsam, um keinen Lärm zu machen, schüttelte sich Daleina eine Ranke vom Arm. Eine weitere Ranke wickelte sich um ihren Bauch, und Blumen erblühten um ihre Hüfte. Sie unternahm nichts dagegen.
Schon bald war der Hain von Farben überzogen: violette Blumen, Ranken voller gelber und weißer Blüten und ein tanzender Bach, der über grüne, moosbewachsene Steine hüpfte. Der üppige Duft von Geißblatt erfüllte die Luft.
Daleina sah Naelin die Augen öffnen und sich mit einem Lächeln umschauen.
Und dann sah sie, wie Naelin die Ranken bemerkte, die sie beide fesselten.
Daleinas Lippen zuckten. Nicht lachen. Sie tastete die Umgebung mit ihren Sinnen ab und machte einen winzigen Luftgeist mit Zweigarmen und einem vogelähnlichen Schnabelgesicht auf sich aufmerksam. Er hüpfte zu ihr herüber und pickte mit dem Schnabel an den Ranken, während er sie ihr zugleich mit seinen langen Stockfingern vom Leib löste.
Naelins Blick traf sich mit ihrem.
Und sie brachen beide in Gelächter aus.
Ich glaube … wir können das schaffen, dachte Daleina. Mit der Kraft zweier Königinnen würden sie heilen, was zerstört worden war, die Ernte wieder sichern und ihren Untertanen eine Zeit des Friedens und des Wohlstands bringen.
Sofern Naelin es irgendwie schafft, nicht alles kaputt zu machen.
Kapitel 2
»Ich bin wieder zu Hause!«, rief Naelin und blieb dann gedankenverloren unter einem der wunderschönen Bogen aus geschnitzten hölzernen Blättern stehen, in die geschliffene blaue Flusssteine eingelegt waren. Wann genau habe ich eigentlich angefangen, den Palast als »zu Hause« zu betrachten? Offenbar, wurde ihr bewusst, kam er einem Zuhause mittlerweile schon sehr nahe.
»Zu Hause« war, wo ihre Kinder waren.
Und seit einiger Zeit lebten sie alle im Weißbaumpalast im Herzen der Waldstadt Mittriel, der Hauptstadt Aratays – weit weg von ihrem im äußeren Wald versteckten kleinen Häuschen. Das Leben nimmt mitunter schon sehr seltsame Wendungen, dachte Naelin. »Erian? Llor? Ich bin zu Hause!«
»Sie sind bei ihrem Vater«, sagte Ven, der gerade aus dem Schlafzimmer kam. Er hatte sich ein Handtuch um die Hüfte geschlungen, und Tröpfchen von Wasser hingen an den Narben auf seiner Haut, um dann auf seine Muskeln zu tropfen. Mit einem zweiten Handtuch trocknete er sich das Haar. Einzelne, vom Wasser zusammengeklebte Strähnen standen ihm kreuz und quer vom Kopf ab. »Ich wollte eigentlich unten beim Tor auf dich warten, aber ich wusste nicht, wann ihr zurückkehren würdet – tut mir leid.«
Naelin ging zu ihm hin, nahm ihm das zweite Handtuch aus der Hand, trocknete ihm damit den Hals ab und bändigte sein Haar. »Wir sind durch den Turm hereingekommen, also hättest du uns so oder so verpasst.« Sie atmete den Duft seiner Seife ein, als er ihr nun den Arm um die Hüfte legte und sie an sich zog. Er war immer noch nass, aber das störte sie nicht. Sie lächelte – er schien irgendwie immer ein Lächeln auf ihre Lippen zu zaubern, auch wenn er nichts Besonderes sagte oder tat, was eines Lächelns würdig gewesen wäre.
Doch jetzt im Moment, wo sie ihm so nahe war, hatte sie reichlich Gründe zu lächeln.
»Alles in Ordnung?« Zärtlich liebkoste er ihre Wange.
Mehr als nur in Ordnung, dachte sie. Sie küsste seinen Hals unterhalb seines Bartes. »Ja.« Ihre Finger glitten zu dem Knoten im Handtuch hinunter. »Daleina und ich haben zwölf verödete Landstriche wieder heil gemacht. Bei den letzten ist es mir sogar gelungen, keinerlei Gewalttaten auszulösen.«
»Großartig. Gewaltvermeidung ist immer gut.« Ven strich ihr mit den Fingern durchs Haar und küsste sie. Er schmeckte nach Kieferntee und Pfefferminze, und sein Bart war so weich wie Moos. Sie löste das um seine Hüfte gebundene Handtuch – und hörte dann den Wachposten an der Tür rufen:
»Eure Hoheiten.« Die Kinder waren zurück! »Herr Renet.« Und ihr Exmann. »Königin Naelin ist vor Kurzem zurückgekehrt«, informierte der Wachposten die Ankommenden. »Sie wird sich freuen, Euch zu sehen.«
Naelin drückte Ven das Handtuch in die Hand und scheuchte ihn zurück ins Badezimmer. »Schnell! Komm wieder heraus, wenn du dich sehen lassen kannst.« Er grinste sie an und lachte lautlos, als sie die Tür hinter ihm schloss. Sie wusste, dass sie selbst das gleiche alberne Lächeln im Gesicht hatte. Rasch strich sie sich das Haar und die Bluse glatt, dann drehte sie sich zur Tür um.
Die Tür schwang auf, und Erian und Llor, ihre beiden Kinder, kamen hereingestürmt. Sie rannten auf sie zu – Erians Beine waren länger, aber Llor war schnell wie ein Pfeil. Er warf sich an ihre Hüfte und schlang die Arme mit so viel Wucht um sie, dass sie ein lautes »Uff!« ausstieß. Erian, im Alter von zehn Jahren in ihrem Betragen nur geringfügig würdevoller, beugte sich über Llor hinweg, um die Mutter zu umarmen.
Llors Worte sprudelten aus ihm heraus wie Wasser aus einem Hahn. »Mama, Mama, Mama! Vater hat versucht, uns aus der Stadt rauszubringen, aber die Wachen wollten es ihm nicht gestatten, nicht ohne deine Erlaubnis, deshalb sind wir stattdessen zum Schatzpavillon gegangen, aber dort war es langweilig, also sind wir in die Waffenkammer gegangen, aber die Wachen haben mich nicht mit den Schwertern spielen lassen, obwohl ich versprochen habe, vorsichtig zu sein, und dann sind wir weiter in die Küche und haben Kuchen gegessen. Ich mag keinen Kirschkuchen, der ist schleimig. Wie Nacktschnecken. Kirschkuchen ist roter Schneckenkuchen.«
»Das ist eklig, Llor«, schimpfte Erian. »Außerdem, woher weißt du denn, wie Nacktschnecken schmecken? Hast du je eine gegessen?«
»Ich mache das, wenn du meinst, dass ich mich nicht trauen würde.«
»Dann trau dich doch. Mach schon.«
»Wetten, dass ich es mache? Dann musst du aber auch eine essen«, sagte er und brach in ein vergnügtes Kichern aus. »Du musst eine Schnecke essen! Du musst eine Schnecke essen!«
»Muss ich gar nicht.«
Renet war mit einem sehnsüchtigen Ausdruck im Gesicht in der Tür stehen geblieben. Naelin wusste, dass er sich wünschte, von ihr hereingebeten zu werden, aber sie wollte mit Erian und Llor allein sein. Der Terminplan, den der Palasttruchsess für sie festlegte, sowie Daleinas Wünsche an sie ließen ihr herzlich wenig Zeit für ihre Kinder. »Danke, Renet«, sagte sie und hoffte, dass er verstand.
Er machte einen vorsichtigen Schritt in den Raum hinein.
»Ich werde dir die Kinder morgen wieder vorbeibringen. Du kannst jetzt gehen.« Innerlich verkrampfte sie sich. Es war eine schreckliche Art, mit dem Mann zu reden, der ihre Kinder gezeugt hatte. Später, wenn sie mehr Zeit hatte, würde sie es ihm erklären … Nur, dass es keine gute Art und Weise gibt, jemandem zu sagen: »Danke, aber ich will dich nicht mehr in meinem Leben haben.« Dass sie ihn verlassen hatte, hätte eigentlich genügen sollen, um ihm das verständlich zu machen. Sie sollte es nicht immer wieder von Neuem aussprechen müssen. Vielleicht wird es eines Tages einfacher werden.
Ja … vielleicht.
Es wäre schön, wenn sie … wenn schon nicht Freunde, dann doch zumindest zwei Menschen sein könnten, die, wenn sie einander begegneten, nicht immer dieses Gewirr aus Kummer, Schuldgefühlen und Reue über das heraufbeschworen, was hätte sein können, nun aber eben nicht so war. Das war jedoch leichter gesagt als getan. So viel gemeinsame Lebensgeschichte konnte nicht ohne Weiteres umgeschrieben werden. Sie ging davon aus, dass das Ganze seine Zeit brauchen würde.
Sie ließ die Worte ungesagt, als die Palastwache ihn nun hinausgeleitete und er einen letzten verzweifelten Blick auf sie, Erian und Llor warf. Naelin schob das Thema Renet vorläufig erst einmal beiseite und zog ihre Kinder noch fester an sich. »Ich habe euch heute vermisst!«, verkündete sie ihnen.
»Es gefällt uns gar nicht, wenn du fortgehst«, erwiderte Erian ernsthaft.
»Ihr seid hier in Sicherheit. Alle Wachen wissen, dass sie auf euch aufpassen sollen, und sollten sich einmal irgendwelche Geister … danebenbenehmen, würden Königin Daleina und ich es spüren und sofort zurückeilen. Ihr braucht euch keine Sorgen mehr zu machen. Euch passiert schon nichts.«
Llor verdrehte die Augen – er beherrschte diesen Gesichtsausdruck noch nicht ganz, und seine Augen huschten hin und her, bevor sie sich dann auf eine übertriebene Weise nach oben rollten. Naelin setzte einen Ausdruck nichtssagender Ernsthaftigkeit auf, damit er nicht auf den Gedanken kam, dass sie sich womöglich über ihn lustig machte. »Wir haben keine Angst«, betonte Llor. »Wir vermissen dich!«
»Dann habe ich gute Neuigkeiten für euch: Wie würde es euch gefallen, mich auf einen kleinen Ausflug zu begleiten?«
Erians Gesicht leuchtete auf wie eine Feuermooslaterne. »Du willst uns mitnehmen?« Sie umarmte Naelin noch einmal. »Ja bitte!«
Naelin lachte. »Ihr habt gar nicht gefragt, wohin es gehen soll.«
Hinter ihr öffnete sich die Badezimmertür. Sie drehte sich um und sah Ven herauskommen, voll bekleidet, sein Haar immer noch feucht, aber schlampig zur Seite gebürstet. Ven und Llor hatten ungefähr die gleiche Aufmerksamkeit für ihr Haar übrig. »Dann mache ich das«, meldete Ven sich zu Wort. »Wohin soll es denn gehen?«
Llor stürzte sich quer durch den Raum in Vens Arme.
Ven fing ihn geschickt auf und wirbelte ihn im Kreis herum. »Hallo, Tiger.«
»Brüll, brüll!«, knurrte Llor.
»Zu den Dörfern in den äußeren Wäldern«, erklärte Naelin. »Es ist Königin Daleinas Idee gewesen. Sie glaubt, dass die Menschen sich besser fühlen werden, wenn sie mich kennenlernen. Ich kann ihnen versichern, dass der feindliche Einfall vorüber ist, dass wir Frieden haben und wir ihnen helfen werden, damit die Ernte gut ausfällt und sie ihre Häuser vor dem Winter wieder aufbauen können. Außerdem kann ich sämtliche verödeten Landstriche fruchtbar machen, auf die ich unterwegs stoße.« Insgeheim war sie überzeugt, beim Heilen der Todeszonen von größerem Nutzen zu sein, als wenn sie sich vor dem Volk zur Schau stellte, aber sie hatte nicht widersprochen. Zumindest nicht allzu sehr. Doch immerhin hatte sie darauf bestanden, kein Gefolge mitzunehmen. Nur sie, Ven, die Kinder und Renet (der keine ideale Wahl war, aber sie brauchte jemanden, der auf die Kinder aufpasste, wenn sie und Ven arbeiteten). Außerdem sollte sie noch der Wolf Bayn begleiten (der nun wieder durchaus eine ideale Wahl war – die Kinder waren ganz vernarrt in ihn, und Naelin fühlte sich sicherer, wenn der Wolf in der Nähe war).
Llor zupfte an Vens Ärmel. »Ven, Ven, Ven! Wenn man mit jemandem wettet und dieser Jemand die Wette nicht einlösen will, was macht man dann?«
»Ihn zum Duell fordern.« Ven packte Llor, drehte ihn der Länge nach um und stürmte mit ihm auf Erian zu. Dabei hielt er Llor, als wäre er ein Rammbock. Llor kreischte vor Vergnügen, brüllte wie ein Löwe, bog die Finger zu Krallen und schlug damit durch die Luft, während Erian über einen Tisch mit herrlichen Blumenschnitzereien kletterte und dann über ein Sofa mit goldbestickten Kanten, bis sie den Kamin erreichte. Sie schnappte sich ein Schüreisen und schwang es wie ein Schwert.
Naelin machte einen Satz dazwischen und fing das Schüreisen ab. »Auf gar keinen Fall.« Sie ersetzte das Schüreisen durch ein Kissen. »So ist es besser.« Dann schnappte sie sich ein eigenes Kissen, und beide zusammen griffen sie Ven und Llor mit ihren Kissen an.
»Rückzug!«, rief Ven und rannte mit Llor in den Armen ins Badezimmer.
Naelin und Erian ließen sich lachend auf das Sofa fallen. »Gut gemacht«, lobte Naelin ihre Tochter.
»Du willst uns wirklich mitnehmen?«, fragte Erian. »Uns nicht wieder zurücklassen, so wie heute?« Naelin sah in den Augen ihrer Tochter einen Hauch von Angst – sie hatte seit Merecots Invasion dort gelauert und schien nie ganz zu verschwinden.
Naelin umfasste Erians Gesicht mit beiden Händen. »Es mag Tage geben, an denen ich Sachen zu erledigen habe und die Menschen meine Hilfe brauchen. Aber ich werde euch niemals verlassen«, versicherte sie und wollte, dass Erian es ihr auch glaubte, wollte diesen Hauch von Angst für immer verjagen. »Niemals.«
Ven kniete neben dem Wolf und zerzauste ihm das Fell im Nacken. »Bereit für eine neue Reise, alter Freund?« Er musste über Bayns Gesichtsausdruck lachen, der so deutlich wie laut ausgesprochene Worte ausdrückte: Viel bereiter als du, alter Mann.
Er stand auf, und Bayn trabte die Brücke hinunter, die vom Palast wegführte. Ven sah ihm nach und machte sich nicht die Mühe, ihn zur Vorsicht zu mahnen – der Wolf kannte den Wald genauso gut wie er selbst. Er würde seinen eigenen Weg nach Nordosten finden und sie höchstwahrscheinlich beim ersten Dorf auf ihrer Liste bereits erwarten und voll Ungeduld über diese langsamen Menschen mit dem Schwanz auf den Boden klopfen.
Hinter sich hörte Ven seine Reisegefährten – Erian und Llor neckten einander, Naelin sorgte sich darum, ob sie auch genug Socken eingepackt hatten, und Renet prahlte mit seinen Fähigkeiten als erfahrener Mann des Waldes.
Vielleicht hätte ich Bayn sagen sollen, er soll uns einen Vorsprung geben.
Naelin gesellte sich zu ihm. »Ich glaube, wir haben alles.«
Er begutachtete ihr Gepäck. Ihre Bündel quollen aus allen Nähten. »Bist du sicher?«, fragte er milde. »Vielleicht können wir noch eine Matratze hineinquetschen. Oder ein Dutzend Gewänder?«
Sie starrte ihn mit finsterem Blick an. »Das ist nicht meine Schuld. Die Palastdiener haben darauf bestanden.«
Ven liebte diesen finster funkelnden Blick. Er weckte in ihm den Wunsch, sie in die Arme zu schließen und zu küssen, bis sie wieder lächelte. Den finsteren Blick in ein Lächeln zu verwandeln war sein neuer Lieblingszeitvertreib. Später. »Also schön. Gehen wir. Wir sollten den Nordwesten Aratays in vier Tagen erreicht haben.«
Sie brauchten acht Tage.
Naelin genoss jede Sekunde des Weges, selbst mit ihren übervollen Rucksäcken, selbst in Begleitung von Renet mit seinen traurigen Welpenaugen und selbst wenn Erian und Llor sich gegenseitig zu immer neuen lächerlichen Kletterabenteuern anstachelten und Ven sie immer wieder retten musste.
Acht Tage lang war sie einfach Naelin, eine ganz gewöhnliche Waldbewohnerin, die mit ihrer Familie durch den Wald wanderte.
Und dann erreichten sie das erste Dorf im Nordwesten Aratays. Bayn erwartete sie direkt vor dem Dorf. Er sah besonders wohlgenährt aus – nach den Hühnerfedern zu schließen, die in seinem Fell klebten, hatte er sich weidlich an der Gastfreundlichkeit des Dorfes gütlich getan. Sie nahm sich vor, die Bewohner für alles zu entschädigen, was immer er gefressen hatte.
»Setz deine Krone auf«, wies Renet sie an.
»Ich bin nicht im Palast«, erwiderte Naelin. Sie wusste, dass er im Grunde recht hatte: Sie sollte sich den Menschen schließlich als deren neue Königin vorstellen, was entsprechende Gewänder und die Krone mit einschloss. Aber sie konnte es nicht ausstehen, wie sie ihr in die Kopfhaut stach.
Gib es ruhig zu, sagte sie sich. Du kannst nicht ausstehen, wofür sie steht.
Sie tat mit einer Handbewegung ab, was immer er sagen wollte, um ihr zu widersprechen, holte die Krone aus ihrem Bündel und setzte sie sich auf den Kopf. Erian brachte ihr das Haar unter der Krone in Ordnung, und Llor reichte ihr mit feierlichem Ernst eine Blume. Sie steckte sie mitten in die silbernen Filigranarbeiten auf ihrer Krone.
»Du kriegst das hin«, murmelte Ven.
Mit leiser Stimme, so dass nur er sie hören konnte, fragte sie: »Was ist, wenn sie mir nicht glauben, dass ich die Königin bin?« Auch wenn sie im Palast lebte, alle Geister in Aratay spüren konnte und obwohl sie von dem Moment an, in dem die Geister sie als ihre Königin akzeptiert hatten, ein unglaubliches (und ziemlich beängstigendes) Anwachsen ihrer Macht verspürte, fühlte sie sie sich immer noch nicht königlich. Sie war einfach eine Waldbewohnerin, mit zwei Kindern, ergrauendem Haar, knochigen Ellbogen und Schwielen an den Handflächen, die vom jahrelangen Ausbessern der Schindeln auf ihrem eigenen Dach und dem Schrubben ihrer eigenen Fußböden herrührten. Was ist, wenn diese Leute das spüren? Ihre Aufgabe war es, sie zu beruhigen, ihnen zu versichern, dass alles gut war in Aratay, aber wie konnte sie das tun, wenn sie selbst nicht beruhigt war? Tatsächlich kam sie sich jetzt, wo sie hier war, in der Nähe eines Dorfes, das sich nicht allzu sehr von jenem Dorf Ost-Immertal unterschied, in dem sie früher gelebt hatten, mehr denn je wie eine Hochstaplerin vor.
Jahrzehntelang hatte sie genau gewusst, wer sie war – und es hatte ihr auch gefallen, dieser Mensch zu sein – , und jetzt sollte sie jemand Neues sein. Sie fühlte sich wieder wie ein halbwüchsiges Mädchen, doch hatte sie keinerlei Interesse, diese Lebensphase noch einmal zu durchleben. Es ist schon schlimm genug, dass ich Kindheit und Jugend in Gestalt meiner Kinder Erian und Llor noch einmal durchleben muss.
Ven zuckte die Achseln. »Befiehl den Geistern doch einfach, ein paar von ihnen aufzufressen. Dann werden sie nicht mehr an dir zweifeln.«
Sie warf ihm einen vernichtenden Blick zu.
Er grinste sie nur an.
»Du bist unmöglich«, ließ sie ihn wissen.
»Ich glaube, das Wort, nach dem du suchst, ist ›urkomisch‹. Du könntest dich aber auch für ›eine große Hilfe‹ entscheiden. Oder für ›von schroffer Schönheit‹? ›Ein wahres Kraftpaket‹?«
Llor kicherte. »›Ein großer Quatschkopf‹?«
Ven nickte ernst. »Außerdem auch ›kitzlig‹.«
»Wirklich? Du bist kitzlig?« Llor klappte die Kinnlade herunter.
Ven stupste ihm den Ellbogen in die Rippen. »Genau da.«
Sowohl Llor als auch Erian fielen über ihn her. Er brach übertrieben dramatisch zusammen, krümmte sich auf dem Boden und heulte vor Lachen.
Naelin sah den dreien eine Weile lang zu. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie, dass Bayn sie ebenfalls beobachtete, einen leidgeprüften Ausdruck auf dem wölfischen Gesicht. Alberne Menschen, schien dieser Ausdruck zu besagen. Spielen wie Welpen, wo doch Arbeit zu erledigen ist. Naelins Lippen zuckten amüsiert, und sie und Bayn wechselten Blicke.
Naelin, Königin von Aratay und der großen Wälder Renthias, ließ Ven mit den Kindern und Renet zurück und betrat, nur mit einem Wolf an ihrer Seite, das Dorf.
Niemand zog in Zweifel, wer sie war.
Sie wanderten weiter, und in jedem Dorf, in das sie kamen, beeilte sich das Volk von Aratay, sie willkommen zu heißen. Die Dorfbewohner bestanden darauf, sie und ihre Begleiter in ihrem schönsten Haus zu beherbergen, sie mit wahren Festmählern zu bewirten und sie mit Geschichten und Liedern zu unterhalten. Immer weiter eilte ihnen die Kunde ihrer Ankunft voraus, so dass die Dorfbewohner ihre Königin überall bereits voller Ungeduld erwarteten, um dann sogleich um sie herumzuscharwenzeln – und ihr in unendlich langen Versammlungen mit den Dorfoberhäuptern all ihre Wünsche zu präsentieren.
Als sie das achte Mal Einkehr hielten, in einem winzigen Dorf namens Rotblatt, hatte sie jeden Tag kaum noch einige Sekunden mit Erian und Llor allein, bevor sie von ihnen fortgezerrt wurde, um alle im Dorf zu begrüßen und sich ihre Litanei von Klagen anzuhören. »Lass mich mit den Kindern ein Picknick machen«, bettelte Renet. »Sie brauchen eine Pause. Du kannst nicht von ihnen verlangen, noch eine weitere lange Sitzung durchzustehen, während der sie nicht in der Nähe ihrer Mutter sein können und sich zu Tode langweilen.«
Naelin verbot es ihm. Sie wollte die Kinder nicht aus den Augen lassen.
Aber es stimmte, dass Erian und Llor sich langweilten. Nachdem Llor die Vorstellung der Hälfte der Bevölkerung des Ortes über sich hatte ergehen lassen, begann er zu betteln und zu flehen, zu schmeicheln und zu drohen, um sich mit allem, was er konnte, für den Vorschlag seines Vaters einzusetzen. »Wenn du uns nicht gehen lässt, werde ich das Abc-Lied singen. Laut. Und immer wieder. Damit kein Erwachsener mehr reden kann.«
Sie fühlte sich versucht, ihn genau das machen zu lassen, unterdrückte ein Lächeln und schaute zu Ven hinüber. Wenn er die Kinder begleitete, würde sie sich keine Sorgen machen …
Er schüttelte den Kopf. »Ich bleibe bei dir. Es ist meine Aufgabe, dich zu beschützen.« Er brauchte nicht laut auszusprechen, wie wichtig Naelin für Aratay war, vor allem, solange es keine tauglichen Thronanwärterinnen gab.
»Ich werde sie unter Einsatz meines Lebens bewachen«, gelobte Renet.
»Gib ihnen Bayn mit«, schlug Ven vor, ohne Renet Beachtung zu schenken. »Er kann sie vor allen normalen Bedrohungen schützen, und da du in der Nähe bist, wird kein Geist es wagen, sie anzugreifen.«
»Du kannst die Geister über uns wachen lassen!«, warf Llor ein.
»Auf keinen Fall. Das lenkt nur ihre Aufmerksamkeit auf euch.« Doch während sie sprach, beschäftigte Naelin die Bitte der Kinder, einen Ausflug machen zu dürfen, unvermindert weiter. Sie musterte Llors große Augen und verschränkte Hände. Sah die Hoffnung in Erians Blick. Selbst Renets Gesichtsausdruck ging ihr zu Herzen. Es ist nicht gerecht, sie alle darunter leiden zu lassen, dass ich die Königin bin. »Na schön. Nehmt Bayn mit, und wagt euch nicht zu dicht an die Grenze heran. Wir sind nahe an Semo im Norden und an den ungebändigten Landen im Westen. Achtet auf eure Umgebung. Tut nichts, was die Geister aufregen könnte, und passt auf, dass ihr nicht auf irgendwelche allzu dünnen Äste tretet.«
Erian küsste sie auf die Wange. »Du machst dir zu viele Sorgen, Mama. Wir können auf uns selbst aufpassen. Und wir werden auch nicht zulassen, dass Vater etwas zustößt.«
Sie zwang sich zu einem Lächeln, obwohl sie am liebsten geantwortet hätte: Mir gefällt die ganze Sache nicht.
Nein, es ist nicht das Picknick, das mir gegen den Strich geht. Es ist die Tatsache, dass ich nicht bei ihnen sein kann. Ich weiß nicht, wie ich gleichzeitig eine gute Königin und eine gute Mutter sein soll.
Irgendetwas musste sie ändern, wenn sie alle ihre Aufgaben mit Erfolg bewältigen wollte. Aber im Augenblick erst einmal …
»Ihr dürft gehen.«