Cover

STEPHEN KING

MR. MERCEDES

ROMAN

Aus dem Amerikanischen
von Bernhard Kleinschmidt

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Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

MR. MERCEDES

bei Scribner, New York





»Kisses on the Midway«
(Stephen King/Shooter Jennings),

mit freundlicher Genehmigung von Bad Nineteen Music © 2012

Copyright © 2014 by Stephen King

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe by

Wilhelm Heyne Verlag, München

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München.  

Redaktion: Lothar Strüh

Covergestaltung: Hauptmann und Kompanie Werbeagentur, Zürich

Herstellung: Helga Schörnig

Artwork: Copyright © by Sam Weber

Satz: Schaber Datentechnik, Wels

ISBN 978-3-641-14293-3
V012

In Erinnerung an James M. Cain

»Gegen Mittag warfen sie mich vom Heuwagen …«

Ein grauer Mercedes

9 . –10. April 2009

Augie Odenkirk besaß einen Datsun Baujahr 1997, der noch ziemlich gut lief, obwohl er allerhand Meilen auf dem Buckel hatte, aber Benzin war teuer, vor allem wenn man keinen Job hatte, und das City Center stand am anderen Ende der Stadt, weshalb er beschloss, den letzten Bus des Abends zu nehmen. Um zwanzig nach elf stieg er aus, seinen Rucksack auf dem Rücken und den zusammengerollten Schlafsack unter dem Arm. Wenn es auf drei Uhr morgens zuging, würde er für das mit Daunen gefüllte Teil sicher dankbar sein. Die Nacht war neblig und kühl.

»Viel Glück, Mann«, sagte der Fahrer, als Augie auf die Straße trat. »Eigentlich solltest du schon dafür was kriegen, dass du als Erster kommst.«

Bloß war das gar nicht der Fall. Als er am oberen Ende der breiten, steilen Rampe angelangt war, die zu dem großen Veranstaltungssaal führte, sah er vor der Türreihe bereits eine Schar von Leuten warten, mindestens zwei Dutzend. Manche standen da, die meisten hockten auf dem Boden. Man hatte Ständer aufgestellt und so mit gelbem Absperrband verbunden, dass sie einen Korridor mit labyrinthartigen Kehrtwendungen bildeten. Augie kannte so etwas aus Kinos und aus der Bank, bei der er derzeit sein Konto überzogen hatte, und begriff den Zweck: möglichst viele Leute auf möglichst kleinem Raum unterzubringen.

Als er sich dem Ende dessen näherte, was sich bald zu einer langen Schlange von Jobsuchenden entwickeln sollte, stellte er ebenso erstaunt wie verärgert fest, dass die Frau vor ihm eine Bauchtrage mit einem schlafenden Baby umgeschnallt hatte. Die Wangen des Babys waren von der Kälte gerötet; ein leises Rasseln begleitete jedes Ausatmen.

Die Frau hörte, wie Augie sich ein wenig außer Puste von hinten näherte, und drehte sich um. Sie war jung und ziemlich hübsch, obwohl sie dunkle Ringe unter den Augen hatte. Vor ihren Füßen stand eine Henkeltasche mit Steppbezug. Wahrscheinlich enthielt sie Sachen für das Baby.

»Hi«, sagte sie. » Willkommen im Club der frühen Vögel.«

»Hoffentlich fangen wir einen Wurm.« Er rang mit sich, dachte Was soll’s und streckte ihr die Hand hin. »August Odenkirk. Augie. Man hat mich neulich downgesizt. So heißt das im 21. Jahrhundert, wenn man gefeuert wird.«

Sie schüttelte ihm die Hand. Ihr Händedruck war gut, fest und kein bisschen schüchtern. »Ich bin Janice Cray, und die kleine Süße da heißt Patti. Mich hat man wohl auch downgesizt. Ich war Haushälterin bei einer netten Familie in Sugar Heights. Der Mann … äh … ist Autohausbesitzer.«

Augie zuckte zusammen.

Janice nickte. » Tja. Er hat gesagt, es tut ihm leid, dass sie mich gehen lassen müssen, aber sie müssten den Gürtel enger schnallen.«

»Das hört man jetzt oft«, sagte Augie und dachte: Hast du tatsächlich niemand zum Babysitten gefunden? Absolut niemand?

»Ich musste sie mitnehmen.« Wahrscheinlich musste Janice Cray nicht mal besonders gut Gedanken lesen können, um zu wissen, was er dachte. »Ich hab sonst niemand. Buchstäblich niemand. Da gibt’s zwar ein Mädchen aus der Nachbarschaft, aber die dürfte nicht die ganze Nacht bleiben, selbst wenn ich sie bezahlen könnte, und das kann ich sowieso nicht. Wenn ich keinen Job bekomme, weiß ich auch nicht, was wir tun.«

»Können Ihre Eltern nicht auf die Kleine aufpassen?«, fragte Augie.

»Die wohnen in Vermont. Wenn ich ein bisschen Grips hätte, würde ich mit Patti hinfahren. Es ist hübsch dort, bloß haben die beiden ihre eigenen Probleme. Dad sagt, ihr Haus wär Land unter. Aber nicht wirklich, sie sind nämlich nicht vom Fluss oder so überschwemmt worden, es hat eher mit den Finanzen zu tun.«

Augie nickte. Auch das hörte man jetzt oft.

Einige Autos kamen die steile Rampe hochgefahren, die von der Marlborough Street, wo Augie aus dem Bus gestiegen war, heraufführte. Sie bogen nach links auf die riesige, leere Fläche des Parkplatzes ab, der bei Tagesanbruch zweifellos voll sein würde … Stunden bevor die erste jährliche Jobbörse der Stadt ihre Tore öffnete. Keiner der Wagen sah neu aus. Sie parkten, und aus den meisten stiegen drei oder vier Arbeitsuchende und marschierten auf die Türen des Saals zu. Nun stand Augie nicht mehr am Ende der Schlange. Sie hatte schon fast die erste Biegung erreicht.

» Wenn ich einen Job bekomme, kann ich einen Babysitter bezahlen«, fuhr Janice fort. »Aber heute Nacht müssen ich und Patti einfach durchhalten.«

Das Baby gab ein bellendes Husten von sich, das Augie gar nicht passte. Es regte sich in seiner Trage und beruhigte sich dann wieder. Wenigstens war es gut eingepackt; es hatte sogar winzige Fäustlinge an den Händen.

Kinder überstehen noch viel Schlimmeres, sagte Augie sich mit einem unbehaglichen Gefühl. Er dachte an die Staubstürme im Mittleren Westen zur Zeit der Weltwirtschaftskrise. Na, die jetzige Krise reichte ihm völlig. Vor zwei Jahren war alles in bester Ordnung gewesen. Er hatte zwar nicht gerade auf großem Fuß gelebt, aber er war gut über die Runden gekommen und hatte am Monatsende meistens noch etwas übrig gehabt. Inzwischen war alles den Bach runtergegangen. Irgendwas war mit dem Geld passiert. Was, kapierte er nicht; er hatte einen Schreibtischjob in der Versandabteilung von Great Lakes Transport gehabt, und womit er sich auskannte, waren Rechnungen und das Computerprogramm, mit dem man Waren per Schiff, Eisenbahn und Flugzeug durch die Gegend schickte.

» Wenn man mich mit dem Baby sieht, hält man mich bestimmt für unverantwortlich«, sagte Janice Cray bedrückt. »Das weiß ich, hab ich schließlich schon auf den Gesichtern hier gesehen. Auf Ihrem auch. Aber was soll ich sonst tun? Selbst wenn das Mädchen aus der Nachbarschaft die ganze Nacht aufbleiben dürfte, hätte das vierundachtzig Dollar gekostet. Vierundachtzig! Ich hab die Miete für nächsten Monat beiseitegelegt, und abgesehen davon bin ich pleite.« Sie lächelte, und im Licht der hohen Natriumdampflampen des Parkplatzes sah Augie Tränen auf ihren Wimpern. » Was plappere ich da bloß vor mich hin!«

»Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen, falls Sie das tun wollten.« Inzwischen war die Schlange um die erste Ecke gebogen und dort angekommen, wo Augie stand. Die Frau hatte recht. Er sah allerhand Leute auf das schlafende Kind in der Trage starren.

»Ach, ist schon in Ordnung. Ich bin eine alleinstehende Mutter ohne Job. Da will ich mich bei jedem und für alles entschuldigen.« Sie drehte sich um und warf einen Blick auf das über der Türreihe angebrachte Transparent. GARANTIRT 1000 JOBS! stand dort. Und darunter: » Wir halten zu den Bürgern unserer Stadt!« BÜRGERMEISTER RALPH KINSLER.

»Manchmal will ich mich für das Massaker in Columbine entschuldigen, für Nine-Eleven und dafür, dass Barry Bonds gedopt hat.« Sie stieß ein leicht hysterisches Kichern aus. »Sogar dafür, dass mal ein Spaceshuttle explodiert ist, will ich mich manchmal entschuldigen, und als das passiert ist, hab ich gerade laufen gelernt.«

»Machen Sie sich keine Sorgen«, sagte Augie zu ihr. »Es wird schon werden.« Das war einer der Sprüche, die man so von sich gab.

» Wenn es bloß nicht so feucht wäre! Ich hab sie gut eingepackt, falls es richtig kalt wird, aber diese Feuchtigkeit …« Sie schüttelte den Kopf. »Aber wir schaffen es, oder, Patti?« Sie schenkte Augie ein kleines Lächeln, aus dem wenig Zuversicht sprach. »Hoffentlich regnet es wenigstens nicht.«

Das tat es tatsächlich nicht, aber die Feuchtigkeit nahm zu, bis im Licht der Natriumdampflampen feine Tröpfchen sichtbar wurden. Irgendwann wurde Augie klar, dass Janice Cray im Stehen schlief. Ihre Hüften standen schief, die Schultern waren eingefallen, die Haare hingen ihr in feuchten Strähnen ins Gesicht, und ihr Kinn war fast bis aufs Brustbein gesunken. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr und sah, dass es Viertel vor drei war.

Zehn Minuten später wachte die kleine Patti Cray auf und fing zu weinen an. Ihre Mutter – unwillkürlich kam Augie der Ausdruck mit Kind sitzengelassen in den Sinn – zuckte zusammen, gab ein pferdeähnliches Schnauben von sich, hob den Kopf und versuchte, den Säugling aus der Trage zu ziehen. Zuerst klappte das nicht; die Beine der Kleinen hingen fest. Augie half, indem er die Seiten der Trage festhielt. Als Patti, inzwischen heulend, herausglitt, sah er auf ihrer winzigen, rosa Jacke und dem farblich passenden Mützchen überall Wassertropfen glitzern.

»Sie hat Hunger«, sagte Janice. »Ich kann ihr die Brust geben, aber sie hat auch eine nasse Windel. Das spür ich durch das Höschen. Du lieber Himmel, hier kann ich sie doch nicht wickeln – sehen Sie mal, wie neblig es geworden ist!«

Augie fragte sich, welche komisch veranlagte Gottheit wohl dafür gesorgt hatte, dass er in der Schlange hinter ihr stand. Außerdem fragte er sich, wie zum Teufel diese Frau wohl ihr restliches Leben überstehen würde – das ganze Leben, nicht nur die nächsten achtzehn Jahre, in denen sie für ihr Kind verantwortlich war. In einer Nacht wie dieser hierherzukommen mit nichts als einer Tasche voller Windeln! Wie konnte man nur derart verzweifelt sein!

Er hatte seinen Schlafsack neben Pattis Windeltasche gelegt. Nun hockte er sich hin, löste die Bänder, rollte den Schlafsack auseinander und zog den Reißverschluss auf. »Leg dich da rein«, sagte er unter Verzicht auf weitere Höflichkeitsfloskeln. » Wärm dich und sie erst mal auf. Dann gebe ich dir alles aus der Tasche, was du brauchst.«

Sie blickte ihn an, das zappelnde, weinende Baby in den Händen. »Bist du verheiratet, Augie?«

»Geschieden.«

»Kinder?«

Er schüttelte den Kopf.

» Wieso bist du so nett zu uns?«

» Weil wir gemeinsam hier sind«, sagte er und zuckte die Achseln.

Sie betrachtete ihn noch einen Moment, fasste offenbar einen Entschluss und reichte ihm das Baby. Fasziniert von dem roten, wütenden Gesicht, dem Rotzbröckchen auf dem winzigen Stupsnäschen und den zappelnden Beinchen im Flanellstrampler, hielt Augie die Kleine auf Armeslänge in der Luft. Janice kroch in den Schlafsack und streckte ihm die Hände entgegen. »Gib sie mir, bitte.«

Augie gehorchte, und die Frau vergrub sich tiefer in den Schlafsack. Neben ihnen, wo die Schlange die erste Schlaufe in Gegenrichtung bildete, standen zwei junge Männer und starrten herüber.

»Kümmert euch um euren eigenen Kram, Leute«, sagte Augie, worauf die beiden den Blick abwandten.

»Gibst du mir bitte eine Windel?«, sagte Janice. »Ich muss sie wickeln, bevor ich ihr die Brust gebe.«

Er ließ sich auf dem nassen Pflaster auf ein Knie nieder und zog den Reißverschluss der Stepptasche auf. Im ersten Augenblick war er überrascht, Stoffwindeln statt Pampers vorzufinden, dann begriff er. Solche Windeln konnte man längerfristig verwenden. Vielleicht war die Frau doch nicht ganz ohne Zuversicht auf die Zukunft.

» Was ist mit der Flasche Babylotion da drin?«, fragte er. »Brauchst du die auch?«

Aus dem Innern des Schlafsacks, in dem nur noch ein brauner Haarschopf sichtbar war, hörte er: »Ja, bitte.«

Er reichte eine Windel und die Lotion hinein. Der Schlafsack begann sich zu wölben und zu bewegen. Zuerst wurde das Weinen lauter. Irgendwo in der Schlange, ein Stück weit entfernt, sagte jemand im immer dichter werdenden Nebel: »Könnt ihr dem Balg nicht das Maul stopfen?« Eine zweite Stimme fügte hinzu: »Eigentlich sollte man das Jugendamt informieren.«

Augie stand da und beobachtete den Schlafsack. Endlich hörte der auf sich zu bewegen, und eine Hand kam zum Vorschein. Sie hielt eine Windel. »Steckst du die bitte in die Tasche? Da ist ein Plastikbeutel für die schmutzigen drin.« Wie ein Maulwurf in seinem Loch spähte sie zu ihm hoch. »Keine Angst, die ist bloß nass, da ist kein Kacka drin.«

Er nahm die Windel, steckte sie in den Plastikbeutel, auf dessen Seite COSTCO stand, und zog dann den Reißverschluss der Windeltasche zu. Das Weinen im Innern des Schlafsacks ging noch etwa eine Minute weiter, bis es abrupt verstummte, weil Patti auf dem Parkplatz des City Centers zu nuckeln begann. Über der Reihe von Türen, die sich erst in sechs Stunden öffnen würden, gab das Banner ein einzelnes, lustloses Flattern von sich. GARANTIERT 1000 JOBS!

Klar, dachte Augie. Schließlich kriegt man auch kein Aids, wenn man ordentlich Vitamin C schluckt.

Zwanzig Minuten vergingen. Weitere Autos kamen die Rampe von der Marlborough Street heraufgefahren. Die Schlange wuchs beständig an. Augie schätzte, dass jetzt bereits vierhundert Leute warteten. In diesem Tempo würden es um neun, wenn die Türen aufgingen, zweitausend sein, und das war eine vorsichtige Schätzung.

Wenn mir jemand eine Stelle als Grillkoch bei McDonald’s anbietet, nehme ich die dann an?

Wahrscheinlich.

Und einen Job als Grüßaugust bei Walmart?

Aber selbstverständlich! Ein strahlendes Lächeln und ein Wie geht es Ihnen heute. Augie war überzeugt, so einen Job mit links erledigen zu können.

Schließlich kann ich gut mit Menschen, dachte er. Und lachte.

Aus dem Schlafsack: » Was ist so lustig?«

»Nichts«, sagte er. »Kuschel schön mit der Kleinen.«

»Mach ich.« In ihrer Stimme war ein Lächeln.

Um halb vier kniete er sich hin, hob die Klappe des Schlafsacks an und spähte hinein. Da lag Janice Cray zusammengerollt und schlief tief und fest, das Baby an der Brust. Der Anblick erinnerte ihn an Die Früchte des Zorns . Wie hieß noch mal das Mädchen in dem Buch, das dem Mann die Brust gegeben hatte? Ein Blumenname, dachte er. Lily? Nein. Pansy? Bestimmt nicht. Am liebsten hätte er die Hände trichterförmig um den Mund gelegt und den Leuten ringsum die Frage zugebrüllt: HAT EINER VON EUCH VIELLEICHT DIE FRÜCHTE DES ZORNS GELESEN?

Während er sich wieder aufrichtete (und über seinen absurden Einfall grinste), fiel ihm der Name ein. Rose. So hieß das Mädchen in den Früchten des Zorns . Aber nicht einfach nur Rose, sondern Rose von Sharon . Das hörte sich biblisch an, auch wenn er sich da nicht ganz sicher war; er war nie ein großer Bibelleser gewesen.

Er blickte auf den Schlafsack hinab, in dem er die frühen Morgenstunden hatte verbringen wollen, und dachte an Janice Crays Bemerkung, dass sie sich für Columbine, Nine-Eleven und Barry Bonds entschuldigen wollte. Wahrscheinlich würde sie sich auch die Schuld an der Erderwärmung geben. Wenn das hier vorbei war und sie beide einen Job ergattert hatten – oder nicht, was wohl genauso wahrscheinlich war –, dann würde er sie vielleicht zum Frühstück einladen. Nicht wie bei einem Date, absolut nicht, bloß Rührei und Schinken. Anschließend würden sie sich nie wiedersehen.

Es trafen weiter Leute ein. Die Schlange näherte sich bereits dem Ende des Labyrinths aus Pfosten und dem wichtigtuerischen gelben Band. Als sie es erreicht hatte, erstreckte sie sich weiter auf den Parkplatz. Was Augie überraschte – und ihn beunruhigte –, war, wie still alle waren. Als wüssten sie, dass diese Unternehmung ein Fehlschlag war, und als ob sie nur auf die offizielle Bestätigung warteten.

Das Banner gab wieder ein träges Flattern von sich.

Der Nebel wurde immer dichter.

Kurz vor fünf Uhr morgens erwachte Augie aus seinem halben Dämmerschlaf, trampelte mit den Füßen, um sie in Gang zu bringen, und merkte, dass ein unangenehm eisernes Licht in die Luft gekrochen war. Von der rosenfingrigen Morgenröte der Poesie und alter Technicolor-Filme war es so weit entfernt wie irgend möglich; dies war eine Anti-Dämmerung, feucht und so bleich wie die Wange einer einen Tag alten Leiche.

Er sah, wie der Veranstaltungssaal des City Centers langsam in all seinem schäbigen Siebzigerjahreprotz zum Vorschein kam. Außerdem sah er die Schlange der Wartenden, die etwa zwei Dutzend Windungen machte, um dann im Nebel zu verschwinden. Inzwischen waren einige Gespräche im Gange, und als ein Hausmeister in grauer Arbeitsuniform durch die Eingangshalle auf der anderen Seite der Türen ging, erhob sich ein leiser, ironischer Jubel.

»Leben auf fernen Planeten entdeckt!«, rief einer der jungen Männer, die Janice Cray angestarrt hatten – es war Keith Frias, dem bald der linke Arm vom Körper gerissen werden würde.

Der Spruch wurde mit leichtem Gelächter quittiert, und man wechselte ein paar Worte. Die Nacht war vorüber. Das trübe Licht war zwar nicht besonders ermutigend, aber doch minimal besser als die langen, dunklen Stunden, die gerade vergangen waren.

Augie kniete sich wieder neben seinen Schlafsack und spitzte die Ohren. Das leise, regelmäßige Schnarchen, das er hörte, brachte ihn zum Lächeln. Vielleicht waren seine Sorgen grundlos gewesen. Es gab wohl Leute, die auf die Güte von Fremden angewiesen waren, während sie durchs Leben gingen. Eventuell ging es ihnen sogar ganz gut dabei. Die junge Frau, die gerade mit ihrem Baby in seinem Schlafsack döste, mochte dazugehören.

Er kam auf die Idee, dass er und Janice Cray sich an den verschiedenen Bewerbungstischen als Paar ausgeben könnten. So würde die Anwesenheit des Babys vielleicht nicht als Verantwortungslosigkeit ausgelegt, sondern als gemeinsames Engagement. Sicher war er sich da zwar nicht, weil die menschliche Natur ihm ziemlich geheimnisvoll vorkam, aber für möglich hielt er es durchaus. Er beschloss, Janice von der Idee zu erzählen, wenn sie aufwachte. Mal sehen, was sie darüber dachte. Als Ehepaar konnten sie zwar nicht auftreten – Janice trug keinen Ehering, und er hatte seinen vor drei Jahren endgültig abgelegt –, aber sie konnten behaupten, sie seien … wie sagte man heutzutage? Partner.

In Abständen, die so regelmäßig waren wie das Ticken einer Uhr, kamen weitere Autos die steile Rampe von der Marlborough Street hochgefahren. Bald würden auch Fußgänger kommen, die den ersten Morgenbus genommen hatten. Augie war sich ziemlich sicher, dass die ab sechs wieder fuhren. Weil der Nebel so dicht war, bestanden die ankommenden Fahrzeuge nur aus Scheinwerfern und Windschutzscheiben, hinter denen undeutliche Schatten lauerten. Manche der Fahrer drehten beim Anblick der riesigen Menge gleich wieder entmutigt ab, aber die meisten fuhren weiter zu den wenigen verbliebenen Parkplätzen. Ihre Rücklichter verschwanden im Nebel.

Da bemerkte Augie den Umriss eines Wagens, der weder umdrehte noch zum Ende des Parkplatzes weiterfuhr. Seine ungewöhnlich hellen Scheinwerfer wurden von gelben Nebelleuchten flankiert. HID -Lampen, dachte Augie. Das ist ein Mercedes-Benz. Was macht ein Benz bei einer Jobbörse?

Wahrscheinlich war es Bürgermeister Kinsler, der vor dem Club der frühen Vögel eine Rede halten wollte. Um allen zu ihrer Entschlossenheit zu gratulieren, zu ihrer guten alten amerikanischen Haltung, in die Hände zu spucken und sich ans Werk zu machen. Dass er in seinem Mercedes kam – selbst wenn es nicht das neueste Modell war –, fand Augie ziemlich geschmacklos.

Ein älterer Kerl, der vor Augie in der Schlange stand (Wayne Welland, nun in den letzten Momenten seiner irdischen Existenz), sagte: »Ist das ein Benz? Sieht ganz wie einer aus.«

Augie wollte schon sagen, klar, natürlich, die Scheinwerfer eines Mercedes seien unverwechselbar, aber da drückte der Fahrer des Wagens direkt hinter dem Schatten auf die Hupe – ein langes, ungeduldiges Tröten. Die Scheinwerfer bohrten grelle, weiße Kegel durch die in der Luft schwebenden Nebeltröpfchen, während der Mercedes vorwärtsschoss, als hätte ihm das Hupen ins Heck getreten.

»He!«, sagte Wayne Welland überrascht. Es war sein letztes Wort.

Mit immer größerer Beschleunigung raste der Wagen direkt auf die Stelle zu, an der die Arbeitsuchenden am dichtesten gedrängt standen, zusammengepfercht von dem gelben Kunststoffband. Einige versuchten wegzurennen, aber nur die am hinteren Ende der Menge kamen davon. Alle, die näher an den Türen standen – die wahren frühen Vögel –, hatten keine Chance. Sie taumelten an die Pfosten und stießen sie um, sie verfingen sich in dem gelben Band, sie prallten gegeneinander. Die Menge schwankte wellenförmig hin und her. Wer älter und kleiner war, stürzte zu Boden und wurde niedergetrampelt.

Augie wurde brutal nach links gestoßen, stolperte, fing sich und wurde nach vorn gedrückt. Ein fliegender Ellbogen traf seinen Wangenknochen direkt unter dem rechten Auge, das sich im Nu mit glitzernden Funken füllte. Mit dem anderen Auge sah er, dass der Mercedes nicht einfach aus dem Nebel auftauchte – er schien sich daraus zu erschaffen . Eine große, graue Limousine, vielleicht ein S 600 mit zwölf Zylindern, und jetzt jaulten alle zwölf auf Hochtouren.

Direkt neben dem Schlafsack wurde Augie auf die Knie gedrückt, und während er versuchte, wieder auf die Beine zu kommen, steckte er mehrere Tritte ein: am Arm, an der Schulter, am Hals. Die Leute schrien. Er hörte eine Frau kreischen: »Passt auf, passt auf, er hält nicht an!«

Er sah, wie Janice Cray den Kopf aus dem Schlafsack steckte und vor Verwirrung blinzelte. Wieder erinnerte sie ihn an einen Maulwurf, der scheu aus seinem Loch lugte. Eine Maulwurfsdame mit vom Schlaf verstrubbeltem Kopf.

Auf Händen und Knien kroch Augie vorwärts und legte sich auf den Schlafsack mit der Frau und dem Baby, als hätte er sie dadurch erfolgreich vor einem zwei Tonnen schweren Stück deutscher Ingenieurskunst beschützen können. Er hörte Menschen schreien, deren Stimmen fast von dem immer näher kommenden Motorengebrüll der großen, grauen Limousine übertönt wurden. Jemand verpasste ihm einen furchtbaren Schlag auf den Hinterkopf, was er jedoch kaum spürte.

Er hatte Zeit zu denken: Ich wollte Rose von Sharon zum Frühstück einladen.

Er hatte Zeit zu denken: Vielleicht lenkt er zur Seite.

Das schien die beste Chance der drei zu sein, wahrscheinlich ihre einzige Chance. Er hob den Kopf, um zu sehen, ob das tatsächlich geschah, und da verschlang ein riesiger, schwarzer Reifen seine Sicht. Augie spürte, wie eine Frauenhand sich in seinen Unterarm krallte. Er hatte genügend Zeit zu hoffen, dass das Baby noch schlief. Dann lief die Zeit ab.

Im Ruhestand

1

Hodges kommt mit einer Dose Bier aus der Küche, pflanzt sich auf den Fernsehsessel und stellt die Dose auf das Tischchen zu seiner Linken neben die Waffe. Es ist ein .38er Revolver Marke Smith & Wesson, Ausführung M&P. Letzteres steht für Militär und Polizei. Gedankenverloren tätschelt er ihn wie einen alten Hund, dann greift er nach der Fernbedienung und schaltet Channel Seven ein. Er ist ein wenig spät dran, und das Studiopublikum applaudiert bereits.

Er denkt an eine Mode, die während der späten Achtziger in der Stadt geherrscht hat, kurz und beklagenswert. Man könnte auch sagen, die Stadt war davon infiziert, denn es war wie ein flüchtiger Fieberschub. Einen Sommer lang haben die drei Lokalzeitungen Leitartikel darüber geschrieben. Jetzt sind zwei dieser Zeitungen hinüber, und die dritte hängt am seidenen Faden.

In einem schicken Anzug schreitet der Moderator auf die Bühne und winkt dem Publikum zu. Seit Hodges den Polizeidienst quittiert hat, sieht er sich diese Show fast an jedem Werktag an, und er denkt, der Mann da ist eigentlich zu helle für diesen Job, der ein wenig so ist, wie ohne Neoprenanzug in einer Kloake auf Tauchgang zu gehen. Er hält den Moderator für den Typ Mann, der manchmal Selbstmord begeht, und nachher behaupten alle seine Freunde und Verwandten, sie hätten nie die leiseste Ahnung gehabt, dass etwas nicht stimme; sie reden davon, wie vergnügt er gewesen sei, als sie ihn das letzte Mal gesehen hätten.

Bei diesem Gedanken klopft Hodges wieder unwillkürlich auf den Revolver. Es ist das Modell Victory, alt, aber gut. Als er noch im Dienst war, trug er eine Glock .40. Die hatte er von seinem eigenen Geld gekauft – von den Polizeibeamten dieser Stadt wird erwartet, dass sie ihre Dienstwaffe selbst kaufen –, und jetzt liegt sie in dem Safe in seinem Schlafzimmer. Sicher ist sicher. Nach der Abschiedsfeier hat er sie entladen und dort reingelegt, und seither hat er keinen Blick mehr darauf geworfen. Kein Interesse. Den .38er mag er allerdings. Er ist ihm sentimental verbunden, aber es ist mehr als das. Ein Revolver hat nie Ladehemmung.

Da kommt der erste Gast, eine junge Frau in einem kurzen, blauen Kleid. Ihr Gesicht ist relativ nichtssagend, aber sie ist fantastisch gebaut. Irgendwo unter diesem Kleid, da ist sich Hodges sicher, ist eins von diesen Tattoos verborgen, die man heutzutage als Arschgeweih oder Schlampenstempel bezeichnet. Vielleicht auch zwei oder drei. Die Männer im Publikum pfeifen und trampeln mit den Füßen. Die Frauen im Publikum applaudieren dezenter. Manche verdrehen die Augen. Bei dieser Art von Frau erwischt man seinen Gatten nicht gern dabei, wie er sie anstarrt.

Die Frau ist von Anfang an stinksauer. Sie berichtet dem Moderator, dass ihr Freund ein Baby mit einer anderen Frau hat und die beiden jetzt ständig besucht. Sie liebt ihn immer noch, sagt sie, aber sie hasst diese …

Die nächsten zwei Wörter werden ausgepiept, aber von den Lippen liest Hodges verfickte Schlampe ab. Das Publikum klatscht wie besessen. Hodges nimmt einen Schluck Bier. Er weiß, was als Nächstes passiert. Diese Show ist so voraussagbar wie eine Soap am Freitagnachmittag.

Der Moderator lässt die Frau eine Weile weiterplappern, und dann präsentiert er … DIE ANDERE FRAU! Auch die ist fantastisch gebaut und hat meterlanges dichtes, blondes Haar. An einem Bein trägt sie einen Schlampenstempel über dem Knöchel. Sie geht auf die erste Frau zu und sagt: »Ich weiß, wie du dich fühlst, aber ich liebe ihn eben auch.«

Sie will noch mehr von sich geben, aber weiter kommt sie nicht, bevor Nummer eins in Aktion tritt. Irgendjemand, der nicht zu sehen ist, läutet eine Glocke, als wäre das die erste Runde eines Boxkampfes, bei dem es um eine anständige Gage geht. Wahrscheinlich tut es das auch, denkt Hodges, schließlich müssen alle Gäste dieser Show für ihr Erscheinen entschädigt werden; wieso würden sie sonst kommen? Die beiden Frauen fahren die Krallen aus und kloppen sich kurz, bevor die zwei Muskelprotze mit dem SECURITY-Aufdruck auf ihrem T-Shirt dazwischengehen.

Anschließend brüllen die Frauen sich eine Weile an – es ist ein ehrlicher Gedankenaustausch (größtenteils ausgepiept), den der Moderator mit mildem Blick betrachtet –, und diesmal ist es Nummer zwei, die den Kampf beginnt. Sie landet einen anständigen Schwinger, bei dem der Kopf von Nummer eins in den Nacken schnalzt. Wieder ertönt die Glocke. Die beiden gehen zu Boden, ihre Kleider rutschen hoch, sie kratzen und boxen und ohrfeigen sich. Das Publikum flippt aus. Die Muskelmänner trennen sie wieder, und dann tritt der Moderator dazwischen. Seine Stimme klingt oberflächlich besänftigend, unterschwellig stachelt sie an. Die beiden Frauen verkünden die Tiefe ihrer Liebe, speien es sich förmlich gegenseitig ins Gesicht. Der Moderator sagt, man solle bitte dranbleiben, und dann preist eine drittklassige Schauspielerin eine Diätpille an.

Hodges nimmt noch einen Schluck Bier und weiß, dass er nicht mal die halbe Dose trinken wird. Irgendwie komisch, denn als er im Dienst war, war er verflucht nahe dran, zum Alkoholiker zu werden. Als das Saufen schließlich seine Ehe zerstört hatte, glaubte er, tatsächlich einer zu sein. Also nahm er seine ganze Willenskraft zusammen, um die Trinkerei einzudämmen, und gab sich selbst das Versprechen, so viel zu saufen, wie er verdammt noch mal wollte, sobald er seine vierzig Dienstjahre auf dem Buckel hatte – ein ziemlich erstaunliches Vorhaben, da fünfzig Prozent aller städtischen Polizeibeamten nach fünfundzwanzig Jahren in Pension gehen. Nach dreißig Jahren sind nur noch dreißig Prozent im Dienst. Nur dass ihn der Alkohol jetzt, da er seine vierzig Jahre hinter sich hat, nicht mehr besonders interessiert. Er hat sich ein paarmal gezwungen, sich zu besaufen, bloß um zu sehen, ob er das immer noch schafft, und das tut er auch, aber besoffen zu sein ist auch nicht besser, als nüchtern zu sein. Eigentlich ist es sogar ein wenig schlechter. Merkwürdig.

Die Show kommt wieder auf den Bildschirm. Der Moderator sagt, er habe noch einen Gast in petto, und Hodges weiß, wer das sein wird. Das Publikum weiß es auch. Es jault vor freudiger Erwartung. Hodges greift nach dem Revolver seines Vaters, blickt in den Lauf und legt die Waffe wieder auf die Fernsehzeitschrift.

Der Mann, der der Grund dafür ist, dass Nummer eins und Nummer zwei in einen derart strapaziösen Konflikt geraten sind, kommt von rechts auf die Bühne. Schon bevor er daherstolziert, weiß man, wie er aussehen wird, und klar, so ein Typ ist er auch: ein Tankwart oder ein Regaleinräumer im Kaufhaus oder vielleicht auch der Bursche, der für die (schlechte) professionelle Reinigung deines Wagens zuständig war. Er ist mager und bleich, ein Büschel schwarzer Haare hängt ihm in die Stirn. Er trägt Chinos und eine aberwitzige grün-gelbe Krawatte, die seinen Hals direkt unter dem hervorstehenden Adamsapfel im Würgegriff hält. Unter seinen Hosenbeinen ragen die Spitzen von Wildlederstiefeln hervor. Es war klar, dass die Frauen Tattoos hatten, und jetzt ist klar, dass dieser Mann ein Ding wie ein Hengst hat und dass sein Sperma kraftvoller als eine Lokomotive und schneller als eine Revolverkugel durch die Gegend schießt; wenn eine jungfräuliche Maid sich auf eine Toilette hockt, nachdem der Typ dort gewichst hat, wird sie schwanger werden. Wahrscheinlich mit Zwillingen. Über sein Gesicht breitet sich das überschlaue Grinsen eines coolen Typen aus, der voll locker drauf ist. Traumjob: lebenslange Berufsunfähigkeit. Bald wird die Glocke läuten, und die Frauen werden abermals übereinander herfallen. Später, wenn sie genug von den blöden Kommentaren des Typen haben, werden sie sich ansehen, kurz nicken und ihn gemeinsam attackieren. Diesmal wird das Sicherheitspersonal ein bisschen länger warten, denn diese letzte Schlacht ist das, was das Publikum im Studio und zu Hause wirklich sehen will: wie die Hennen dem Hahn ans Gefieder gehen.

Jene kurze, beklagenswerte Mode in den späten Achtzigern – die Infektion – trug den Namen »Bum Fighting« – Pennerkampf. Irgendein Gossen-Genie hatte die Idee dafür gehabt, und als sich herausstellte, dass man damit Geld verdienen konnte, sprangen drei oder vier weitere Unternehmer auf den fahrenden Zug auf und verfeinerten die Regeln. Man bezahlte zwei Pennern jeweils dreißig Dollar dafür, dass sie sich zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort verprügelten. Der Ort, an den Hodges sich am besten erinnert, war der Hinterhof eines schmierigen, von Filzläusen wimmelnden Stripclubs namens Bam Ba Lam drüben im Osten der Stadt. Sobald das Programm feststand, machte man Werbung (da die allgemeine Internetnutzung damals noch jenseits des Horizonts war, durch Mundpropaganda) und kassierte von den Zuschauern zwanzig Dollar pro Kopf. Bei dem Kampf, den Hodges zusammen mit Pete Huntley gesprengt hat, waren mehr als zweihundert Leute zugegen. Die meisten hatten Wetten miteinander abgeschlossen wie die Irren. Auch Frauen waren dabei, manche im Abendkleid und üppig mit Schmuck behängt, um zuzusehen, wie die beiden hirnlosen Penner übereinander herfielen, wie sie sich verdroschen, sich traten, wie sie auf den Boden stürzten, sich wieder aufrappelten und irgendwelchen Blödsinn brüllten. Die Menge hat gelacht und geklatscht und die Kontrahenten lautstark angefeuert.

So ist diese Fernsehshow auch, nur wird das Ganze von Diätpillen und Versicherungsgesellschaften finanziert, weshalb die Wettkampfteilnehmer (denn das sind sie, auch wenn der Moderator sie ständig als Gäste bezeichnet hat) wahrscheinlich etwas mehr als dreißig Dollar und eine Flasche billigen Fusel bekommen. Außerdem sind keine Cops da, die einschreiten könnten, denn es ist alles so legal wie Lottoscheine.

Wenn der Kampf vorüber ist, wird die Richterin auftreten, eine erbarmungslose Gestalt, umflossen von der ungeduldigen Selbstgerechtigkeit, die ihr Markenzeichen ist. Sie wird die erbärmlichen Bittsteller, die vor sie an den Richtertisch treten, anhören und dabei kaum ihren Zorn über deren Dummheit und Kleinkariertheit unterdrücken können. Als Nächstes kommt der fette Familienpsychologe, der seine Klienten immer zum Weinen bringt (das nennt er »die Mauer des Leugnens durchbrechen«) und sie auffordert zu verschwinden, wenn sie es wagen sollten, seine Methoden zu hinterfragen. Hodges kann sich gut vorstellen, dass der fette Familienpsychologe sich die Methoden durch alte KGB-Ausbildungsvideos angeeignet hat.

Diese Diät aus TV-Scheiße genehmigt Hodges sich an jedem Werktagnachmittag in seinem Fernsehsessel, die Waffe seines Vaters – die dieser als Streifenpolizist getragen hat – auf dem kleinen Tisch neben ihm. Er nimmt sie dabei immer ein paarmal in die Hand und blickt in den Lauf. Inspiziert diese runde Dunkelheit. Bei mehreren Gelegenheiten hat er sie sich zwischen die Lippen geschoben, nur um festzustellen, wie es sich anfühlt, wenn einem ein geladener Revolver auf der Zunge liegt und auf den Gaumen gerichtet ist. Wie er annimmt, um sich daran zu gewöhnen.

Wenn ich mich erfolgreich besaufen könnte, dann könnte ich es aufschieben, denkt er. Ich könnte es mindestens ein Jahr lang aufschieben. Und wenn mir das zwei Jahre gelänge, dann würde dieser Drang womöglich vorübergehen. Vielleicht interessiere ich mich dann für Gärtnerei, Vogelbeobachtung oder womöglich gar fürs Malen. Tim Quigley hat mit Malen angefangen, unten in Florida. In einer Seniorensiedlung mit massenhaft alten Cops. Allem Anschein nach hat es Quigley richtig Spaß gemacht; einige seiner Werke ist er sogar beim Kunstflohmarkt von Venice losgeworden. Bis zu seinem Schlaganfall jedenfalls. Danach verbrachte er acht oder neun Monate im Bett, rechtsseitig vollständig gelähmt. Keine Malerei mehr für Tim Quigley. Und dann ist er gestorben. Klasse.

Die Glocke läutet, und natürlich stürzen die beiden Frauen sich auf den dürren Kerl mit der aberwitzigen Krawatte. Ihre lackierten Fingernägel blitzen, ihre langen Haare fliegen durch die Luft. Hodges greift wieder nach der Waffe, aber er hat sie gerade erst berührt, als er den Deckel des Briefschlitzes an seiner Haustür klappern hört. Mit einem dumpfen Ton landet die Post auf dem Flurboden.

In dieser Zeit, da E-Mail und Facebook regieren, fällt nichts Wichtiges mehr durch den Briefschlitz, aber er steht trotzdem auf. Er wird die Sachen durchsehen und den .38er M&P seines Vaters für einen anderen Tag aufheben.

2

Als Hodges mit dem kleinen Stapel Post zu seinem Sessel zurückkommt, verabschiedet sich der Kampfshowmoderator gerade und verspricht seinem Publikum im Fernsehland, morgen würden Zwerge auftreten. Ob es sich um die körperliche oder geistige Sorte handelt, erklärt er nicht.

Neben dem Fernsehsessel stehen zwei kleine Plastikbehälter, einer für Pfandflaschen und Dosen, der andere für Abfall. In Letzteren kommt ein Prospekt von Walmart, der eine PREISSCHLACHT verspricht, ein an UNSEREN LIEBEN NACHBARN adressiertes Angebot für eine Bestattungsversicherung, die Ankündigung, nur bei Discount Electronix gebe es eine Woche lang fünfzig Prozent Rabatt auf alle DVDs, und eine postkartengroße Bitte um »Ihre wichtige Stimme« von einem Kerl, der sich um einen Sitz im Stadtrat bewirbt. Von ihm ist ein Foto abgebildet, das Hodges an Dr. Oberlin erinnert, den Zahnarzt, der ihm als Kind immer einen Heidenschrecken eingejagt hat. Außerdem ist ein Prospekt vom Supermarkt Albertsons dabei. Den legt Hodges beiseite (wodurch die Waffe seines Vaters vorübergehend bedeckt ist), weil er allerhand Coupons enthält.

Das Letzte scheint ein richtiger Brief zu sein. Er fühlt sich ziemlich dick an und steckt in einem länglichen Umschlag. Adressiert ist er an Det. K. William Hodges (i. R.), Harper Road 63. Die Absenderangabe fehlt. In der oberen linken Ecke, wo sie normalerweise hingehört, ist das zweite Grinsgesicht der heutigen Post. Nur ist es nicht das zwinkernde Rabatt-Smiley von Walmart, sondern ein E-Mail-Emoticon mit Sonnenbrille und gebleckten Zähnen.

Das weckt eine Erinnerung, und zwar keine gute.

Nein, denkt er. Nein.

Dennoch öffnet er den Brief so rasch und heftig, dass der Umschlag zerreißt und vier Blätter herausfallen – nicht mit einer echten Schreibmaschine geschrieben, sondern mit einer Computerschrift, die diesen Anschein vermittelt.

Lieber Detective Hodges steht ganz oben.

Ohne hinzusehen, streckt er die Hand aus, stößt den Supermarktprospekt vom Tisch, lässt die Finger über den Revolver wandern, ohne ihn zu spüren, und ergreift die Fernbedienung. Er drückt auf die Austaste, womit er die gnadenlose Richterin mitten im Zetern zum Schweigen bringt, und wendet seine Aufmerksamkeit dem Brief zu.