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Inhaltsverzeichnis
 
 
 

Vorwort
Der amerikanische Schriftsteller und Globetrotter Mark Twain pries im ausgehenden 19. Jahrhundert Indien als »das Land, das alle Menschen zu sehen wünschen«. Da unterschied er sich kaum von den Dichtern und Denkern der deutschen Romantik, die den asiatischen Subkontinent zum Fluchtpunkt ihrer unerfüllten Sehnsüchte machten. Dort, im fernen Orient, lag für sie die bessere Welt mit ihrer anderen Einstellung zu Zeit und Tod, einer besonderen Seelenhaltung und Geistigkeit, dem Esoterischen, aber auch einer vom Hinduismus vorgegebenen Gesellschaftsstruktur mit gleichsam göttlich abgesegneten Standesunterschieden und Zuordnungen. Anders als Mark Twain hat übrigens keiner dieser Schwärmer, ob Herder, Hegel oder Schlegel, den mit Tausenden von Göttern und Götzen bestirnten Himmel über Indien je gesehen.
Der Himmel, der sich meiner Familie und mir im Herbst 1978 bei unserem Umzug nach Delhi präsentierte, war ein grauweißes Gebirge aus Giftwolken. Flugzeuge suchten mit dem Versprühen des Insektenvernichtungsmittels DDT die in den Tümpeln und Gewässern brütenden Anopheles-Stechmücken zu beseitigen. Denn die waren nicht nur Überträger von Malaria, sondern auch Verbreiter der gerade neu aufgetretenen Enzephalitis-Epidemie. Der Times of India konnte die zunächst im Ashoka-Hotel einquartierte Familie bei der Morgenlektüre entnehmen, dass an dieser Gehirnhautentzündung vor den Toren der Hauptstadt täglich wenigstens siebzig Menschen starben. Von alteingesessenen Kennern des Subkontinents war hierzu der sarkastische Kommentar zu hören, ein Vielfaches dieser Zahl dürfte der Wirklichkeit wohl eher entsprechen. Verheerende Überschwemmungen hatten in den Monaten zuvor in der Tiefebene um den Ganges dreißig Millionen Menschen obdachlos gemacht und Tausende von Toten gefordert. Willkommen in Indien, dem Land der Seuchen und Katastrophen!
In Delhi regierte damals ein Koalitionskabinett unter dem Brahmanen Morarji Desai, einem Monument von abstoßender Selbstgerechtigkeit. Die gestrauchelte Notstandsherrscherin Indira Gandhi wartete noch auf ihr Comeback. Kaum jemand aus der politischen Elite interessierte sich wirklich für die Seuchenplage im Lande draußen. Japans Impfstoffangebot anzunehmen, widersprach einem verqueren Nationalstolz. Lieber ließ man die Infizierten krepieren.
Das Indien der späten siebziger Jahre war politisch wie wirtschaftlich eine Hochburg der Dritten Welt, ein vom Staatsdirigismus gefesselter Riese. Ein Telefonat nach München benötigte vierundzwanzig Stunden Wartezeit. Mit dem Staatssender Doordarshan gab es nur einen einzigen schwarz-weißen Fernsehkanal, und dessen Sendungen waren ungenießbar. Zwei Autotypen wurden produziert, beides Nachahmungen europäischer Modelle: Die Ambassador Limousine nach dem Design von Morris Minor und der kleine Premium nach dem Fiat Padimi. Die beiden Fluglinien Air-India und Indian Airlines standen unter Staatsaufsicht. Gut 70 Prozent der Inder lebten auf dem Lande, viele in schwärender Armut. Delhi hatte knapp sechs Millionen Einwohner. In den einstigen Residenzvierteln aus der britischen Kolonialzeit lebte es sich beschaulich, so die Wasser- und Stromzufuhr nicht unterbrochen wurde, was indes häufig geschah.
Indien heute, das ist ein anderes Land. In Delhi drängeln sich jetzt vierzehn Millionen Einwohner, ein Albtraum mit verstopften Straßen und verpesteter Luft. Statt einem gibt es nun 300 Fernsehkanäle. Es werden mittlerweile vierzig Automarken montiert, und der Tata-Konzern geht mit dem billigsten Auto der Welt auf den internationalen Markt. Die zu Beginn der neunziger Jahre eingeleiteten Reformen und ein radikaler Schwenk zur Marktwirtschaft sorgten für einen Boom mit Wachstumsquoten von zuletzt über acht Prozent, der das amerikanische Nachrichtenmagazin Time in einer Titelgeschichte zu der Prognose trieb, Indien werde »die nächste ökonomische Supermacht«. Vor allem die urbanen Ballungszentren mit einem Mittelstand von etwa 300 Millionen, also der Bevölkerungszahl Europas, schwelgen im Konsumrausch. Indien hat, nach Japan, die meisten Milliardäre Asiens, aber nach wie vor auch die meisten seiner Armen. Und das sind nicht die einzigen grellen Kontraste in einem Land, dessen ethnische, religiöse und kulturelle Vielfalt ohne Beispiel ist auf diesem Planeten. Da stehen Hangars für Weltraumraketen neben leeren Wasserleitungen, wird direkt neben dem Atommeiler der Boden immer noch mit dem Holzpflug bearbeitet, gibt es das drittgrößte Reservoir der Welt an Technikern, Ingenieuren und Informatikern, aber mehr als ein Drittel der indischen Bevölkerung kann weder lesen noch schreiben. Indien mit seiner eigenständigen Kultur und der sozialen Hierarchie des Kastensystems ist bunt, schrill, chaotisch und abstoßend, aber niemals langweilig.
Weltspitze sind die Inder schon längst in der Informationstechnologie, vor allem mit den Hightech-Labors in Bangalore, und angestrebt wird der Status einer Supermacht des Wissens. Noch vor den Olympischen Spielen in Peking 2008 soll ein indischer Roboter auf dem Mond landen. Bald wird die zweitgrößte Nation der Erde ihre größte sein, wenn Indien mit 1,46 Milliarden Menschen an China vorbeizieht und bis zur Jahrhundertmitte auf 1,6 Milliarden anschwillt. Viele Menschen können international mehr Macht bedeuten, intern aber sozialer Sprengstoff sein, findet sich für sie keine Beschäftigung. Dafür zu sorgen, ist das brennendste Problem jeder Regierung in Delhi, gleich welcher politischen Couleur.
Teilweise irritiert muss die Welt derzeit zur Kenntnis nehmen, dass auf dem Subkontinent ein Koloss herangewachsen ist, der künftig das Weltgeschehen mitbestimmen wird. Ökonomisch wie politisch und als Atom- und Raketenmacht notfalls auch militärisch. Und der in der Welt von morgen Konkurrent ist beim Kampf um Jobs, Märkte und Ressourcen. Internationale Wirtschaftsexperten erwarten, dass Indien in etwa fünfzehn Jahren an Japan und Deutschland vorbeiprescht und zur drittgrößten Volkswirtschaft nach den USA und China aufrückt. Vielen Europäern, selbstverliebt hingegeben einer Spaß- und Eventkultur, ist offenbar gar nicht bewusst, was da auf sie zurast und dass der eigentliche Exodus von Arbeitsplätzen erst noch bevorsteht. Die Inder kommen, sie sind langfristig der eigentliche Herausforderer des Westens. Denn sie können sich auf eine stabile demokratische Gesellschaft stützen, während Asiens anderer Gigant, das kommunistische China, bei einer Öffnung, die irgendwann erfolgen muss, womöglich in gefährliche Turbulenzen gerät.
Natürlich kann es auch in Indien Rückschläge geben. Durch Katastrophen, eine Pandemie, neuerliche Pogrome in der Dauerfehde zwischen Hindus und Muslimen. Oder auch durch einen Anschlag von der Dimension des 11. September, mit dem islamistische Terroristen versuchen könnten, die verfeindeten Brüder Indien und Pakistan in einen Atomkrieg zu treiben. Im Ansatz haben sie das schon einmal probiert. Doch solche Einbrüche dürften die Entwicklung nicht umkehren können, die aus dem einstigen Armenhaus der Welt eines der Kraftzentren der globalisierten Ökonomie machen wird.
Dieses Buch ist eine Betrachtung, die sich auf persönliche Erfahrungen und Erlebnisse in nahezu dreißig Jahren gründet. Dazu gehörten Begegnungen mit den wichtigsten Akteuren der indischen Politik, darunter acht Premierministern, sowie mit dem Führungspersonal von Indiens Nachbarländern. Zu bestaunen ist heute auf dem Subkontinent eine Weltmacht im Werden, aus Sicht der Financial Times »das bessere China«. Eine Macht, so fürchtet das US-Wirtschaftsmagazin Business Week, welche die internationalen Arbeitsmärkte, Industriebranchen und Unternehmen »in einem Ausmaß durcheinander wirbeln wird, das wir uns kaum vorzustellen vermögen«. Die bevorstehende Umwälzung werde das Selbstbewusstsein des Westens erschüttern und die Dauerhaftigkeit sämtlicher Bekenntnisse zum Freihandelssystem testen.
Die Vereinigten Staaten spüren, dass ihr Großmacht-Monopol gefährdet ist und sie in Asien ein Gegengewicht zu China brauchen. Deswegen erschien Präsident George W. Bush in Delhi, erhob Indien zur »Weltmacht« und verkündete mit Blick auf das heraufziehende Zeitalter drohender Energiekonflikte die strategische Partnerschaft zwischen »der ältesten und der größten Demokratie der Welt«. Das politische Establishment in Delhi ist wohl zu klug, sich gegen Peking instrumentalisieren zu lassen, bei aller Rivalität und dem historisch begründeten Misstrauen. Der erwachte Riese auf dem Subkontinent braucht Ruhe für ein dynamisches Wirtschaftswachstum, keine Abenteuer und äußeren Konflikte. Nur dann kann sich womöglich jene Vision erfüllen, die der jetzige Regierungschef Manmohan Singh, gewiss kein nationalistischer Schwadroneur, gerne zum Besten gibt: Dass das 21. Jahrhundert »das indische Jahrhundert sein wird«.

1
Vom Spinnrad zur Hightech-Spitze
Er zählt zu den reichsten Männern Indiens, doch er macht nicht viel von sich her. Azim Premji hasst die Aura aufdringlichen Gehabes, die manchen Star seiner Branche umflirrt im Boom der Software-Dienstleister. Ohne große Ankündigung und ohne herumwedelnde Hofschranzen betritt der Multimilliardär das holzgetäfelte Büro. Ein kräftiger Händedruck, ein flüchtiges Lächeln, höfliche Gesten. Melancholische Augen mustern den Besucher aus einem fleischigen Gesicht mit markantem Nasenzinken, buschigen Brauen und grauem Schnurrbart. Den Kopf schmückt eine schlohweiße Mähne.
Es ist Mittag im südindischen Bangalore, und Premji hat bereits ein siebenstündiges Arbeitspensum hinter sich. Wie meist ist der Chef des Software-Giganten Wipro Corporation um vier Uhr frühmorgens aufgestanden. Bei ein paar Tassen Kaffee hat er dann Serien von E-Mails abgefeuert an Manager seines Konzerns auf vier Kontinenten. Gegen sieben ist er zu Fuß die 250 Meter von seinem Bungalow zur Zentrale hinübergegangen, die auf einem Campus liegt mit hellen, luftigen Gebäuden in einer gepflegten Parklandschaft. Zum Frühstück mit Geschäftspartnern in der Kantine gab es Rühreier mit Toast und Hühnerfleisch. Dann folgte eine lange Vorstandssitzung, die sich mit den Außenposten in Europa befasste. Die Nearshore-Centers in Großbritannien, Finnland, Schweden und Deutschland arbeiten erfolgreich, das in Kiel hat vor allem Elektronik und Luftfahrt im Visier. Als weiterer Standort mit Blick nach Osten soll Rumänien folgen.
Wenigstens viermal pro Jahr kommt der IT-Tycoon nach Deutschland. Er liebt München besonders und war in Berlin bei Kanzler Schröder ein gern gesehener Gast. »Wir wollen Wipro zu einem globalen Unternehmen mit Beschäftigten aus vielen Ländern und Kulturen machen«, referiert Premji leise seine Firmenstrategie. Dazu gehört ein Statement, das nicht mit drohendem Unterton daherkommt, gleichwohl wie eine Kampfansage wirkt. Der Westen sei gut beraten, doziert der Wipro-Chairman, sich damit abzufinden, dass Indien die Vormachtrolle in der Informationstechnologie übernommen habe: »In fünf Jahren arbeiten für uns über hunderttausend Europäer und Amerikaner.« Premjis Augen leuchten nun recht feurig.
Bangalore, in günstigem Klima gut tausend Meter über dem Meer gelegen, gilt als Asiens Silicon Valley. Hier wurzelt der Anspruch des neuen Indien, zum innovativen Hightech-Labor der Erde aufzusteigen und damit dem eigenen Land enorme Wachstumsschübe zu verschaffen. Angepeilt wird der Status einer Supermacht des Wissens. Das wäre ein Quantensprung vom Spinnrad, dem »charkha«, mit dem Mahatma Gandhi, der Vater des indischen Unabhängigkeitskampfes, einst aus Protest gegen britischen Kolonialhochmut das Herstellen handgewebter Tücher propagierte. Sie waren das Symbol isolierter Selbstversorgung.
Noch vor zwei Jahrzehnten wurde Bangalore als »idyllische Stadtlandschaft« gepriesen. Dabei war die Metropole des Bundesstaates Karnataka schon damals Zentrum strategisch bedeutsamer Industriezweige wie Elektronik, Werkzeugmaschinen, Telefon- und Flugzeugbau. Heute ist diese Cyber-City von Trabantenstädten mit Industrieparks umschnürt, in denen zwischen üppigem Grün die Glas- und Marmorpaläste der internationalen Dienstleister wuchern, in Electronic City, Whitefield, Doddakannelli, Medical City. Sie sind alle da, die großen Namen der Technikkonzerne mit ihren ausgelagerten Bastionen – Microsoft, IBM, Cisco, SAP und General Electric, Motorola, Dell, Texas Instruments, Intel und Hewlett-Packard. Dazu natürlich das Top-Trio der indischen Software-Häuser: Tata Consulting Services (TCS), Infosys und Premjis Wipro. Sie machen ein riesiges Geschäft mit der Übernahme von Serviceleistungen jeglicher Art, die in der Dienstleistungswelt sich auch aus der Ferne erledigen lassen – Kundenbetreuung, Abrechnungen, Qualitätsprüfung, Buchhaltung, Bearbeitung von Steuerbescheiden, Suche nach verlorenem Fluggepäck, Beantwortung von Hilferufen, Analyse von Röntgenaufnahmen.
Nirgendwo auf diesem Planeten haben die globalen Computergiganten so viele Entwicklungslabors gegründet wie in Indiens Technopolis Bangalore. Nirgendwo, nicht einmal im kalifornischen Silicon Valley, arbeiten mehr Informatiker und Ingenieure. Gut 200 000 dürften es unterdessen in über 1500 Firmen sein, und weitere 200 Bauanträge stehen noch an. Mit dem Software- und Internetboom hat Bangalore seine Einwohnerzahl auf sieben Millionen verdoppelt, die meisten der Erwerbstätigen sind mit dem IT-Geschäft und der Outsourcing-Industrie verbunden.
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Symbol der Selbstversorgung: Mahatma Gandhi beim Spinnen
Längst hat die Stadt das Limit für ein vertretbares Wachstum überschritten. Die Hightech-Hochburg kann mit ihrer Dritte-Welt-Infrastruktur die Folgen des durch die Globalisierung ausgelösten Booms kaum noch bewältigen. Es droht der Kollaps. Der Airport hat die Ausstattung eines Provinzflughafens, die Hotels sind überbucht. Stundenlang stehen die Busse im Stau, mit denen die »Techies« zu den Callcentern und Softwareschmieden gebracht werden. Auch der Weg zur Wipro-Zentrale hinaus dauert eineinhalb Stunden und ist eine Tortur. Unentwegt hupend quält sich das Taxi durch Smogschwaden über eine Schlaglochpiste an Ochsenkarren, Motorrikschas, vorsintflutlichen Kraftwagen, klapprigen Bussen und Horden von Bettlern vorbei.
Da wirkt die Ruhe, die nach dem Passieren der Sicherheitsschleusen auf dem adretten Wipro-Campus herrscht, geradezu paradiesisch. Schautafeln verkünden unter dem Firmenemblem – einer Sonnenblume in Regenbogenfarben – die »Grundwerte« des Unternehmens. Auch alle Broschüren und die Visitenkarten der Mitarbeiter ziert dieser Schwur: »In tiefstem Respekt vor den menschlichen Werten versprechen wir Dienst an unseren Kunden mit Redlichkeit, innovativen wie preiswerten Lösungen, durch die Anwendung von Denken, Tag für Tag.« Prägnanter könnten das auch die Werte-Fundis von US-Firmen wie Procter & Gamble oder IBM kaum formulieren.
Bei mehr als 2,2 Milliarden Dollar lag der Gesamtumsatz von Wipro zuletzt, der Gewinn bei 775 Millionen Dollar. Über 55 000 Beschäftigte arbeiten für das Unternehmen in Indien, davon 18 000 in Bangalore. Auf dem globalen Markt des IT-Dienstleistungsgeschäfts hat sich Wipro, das selber keine Software herstellt, mit einem immensen Kostenvorteil fest verankert. Gemeinhin zahlen Unternehmen heute bei der Einführung eines Softwareprojekts 20 Prozent für die Software und 80 Prozent für die Berater, welche die Standardprodukte beim jeweiligen Kunden anpassen. In Europa liegen die Tagessätze der Berater bei 600 bis 700 Euro. Die gleiche Arbeit leisten Experten von Wipro oder Infosys, schnell und zuverlässig, von Indien aus für 150 bis 200 Euro. Und sie kassieren dafür an Gehältern nur ein Viertel der europäischen Konkurrenz. So schlicht ist im Grunde das Geheimnis der Erfolgsstory von Premji und all der anderen IT-Gurus in Indien.
An der Börse wurde Wipro Anfang 2006 mit 14 Milliarden Dollar gehandelt. Als Hauptaktionär gehören dem Chairman Premji davon 83 Prozent. »Indiens Antwort auf Bill Gates«, wie die Medien ihn gerne umschmeicheln, zählt für das US-Magazin Forbes zu den zehn einflussreichsten Wirtschaftsführern der Welt. Das hat den Inder indes nicht davor bewahrt, bei einer Reise in die Vereinigten Staaten gleich mehrmals auf den Flughäfen Leibesvisitationen hinnehmen zu müssen. Premji, der die Amerikaner bewundert, war empört und verletzt. Die Religionsbezeichnung »Muslim« in seinem indischen Pass hatte in Zeiten terroristischer Hysterie offenbar genügt für eine entwürdigende Sonderbehandlung.
»Dass ich von Hause aus Muslim bin, war in Indien kein Handicap für meinen Erfolg«, sagt der Wipro-Chef und lässt wenig Zweifel daran, wie sehr er die säkulare Staatsidee seines Landes schätzt. Nominell ist Premji Mitglied der Ismailiten, einer liberalen schiitischen Glaubensgemeinschaft mit dem Aga Khan als Oberhaupt. Premjis Familie war nach der staatlichen Teilung des Subkontinents bei Abzug der Briten nicht in die neue Muslim-Heimat Pakistan ausgewandert, sondern in Bombay geblieben. Dort unterhielt sie mit den Western India Vegetable Products eine bessere Klitsche, die vornehmlich Speiseöl vertrieb. Das Geschäft warf immerhin so viel ab, dass Sohn Azim, jüngstes von vier Kindern, zur Weiterbildung nach Kalifornien geschickt wurde. An der Universität von Stanford studierte er Ingenieurwissenschaften. Azim wäre gerne länger in den USA geblieben, doch beim Tod des Vaters 1966 rief die Familie den Einundzwanzigjährigen zur Übernahme der Firma zurück.
Der Jungunternehmer erweiterte die Angebotspalette und suchte nach neuen Geschäftsfeldern. Seine Stunde schlug, als die sozialistisch angehauchte Regierung in Delhi 1977 den Multi IBM, der Indien mit elektronischer Massenware eingedeckt hatte, in einem »antiimperialistischen Akt« aus dem Lande warf. Premji sah die Marktlücke. Er beschaffte sich Mikroprozessoren aus dem Westen, ließ indische Ingenieure eigene Computer basteln. Die waren besser, als vielfach geglaubt. Und als Premji dann in den neunziger Jahren erkannte, dass die Internet-Revolution »alle Grenzen durchbrochen und die Welt durchdrungen hatte wie keine andere Macht zuvor«, schaltete er um auf Software-Know-how. Im Parforcestil wurde Wipro zu einem Weltunternehmen gepuscht. Der Wert seiner Aktien kletterte im Börsenrausch Anfang 2000 zeitweilig auf 47 Milliarden Dollar. Für seinen Anteil hätte Premji dafür 70 Prozent von Ford Motor kaufen können.
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Indiens Antwort auf Bill Gates: Wipro-Chef Azim Premji
Aber der Höhenflug brachte den bescheiden auftretenden Unternehmer ebenso wenig aus dem Gleichgewicht wie später der Einbruch beim Platzen der dot.com-Blase. Denn die große Pleite eröffnete den Indern bald neue Chancen. Die überlebenden IT-Firmen Amerikas und Europas mussten nun gehörig an Kosten sparen und sich nach billigen Software-Ingenieuren umsehen. Bangalore stand bereit, ließ sich im verschärften globalen Wettbewerb von niemandem unterbieten. Unentwegt bläute der Antreiber Premji seinen Leuten bei Wipro ein: »Vorzüglich zu sein reicht nicht, man muss der Beste der Welt sein.« Dass sie in ihrer Liga ganz vorne mitspielen, hatten die Inder bereits zum Millenniumswechsel demonstriert, als ihre Spezialisten mit der Software Y2K weltweit die Datumsprobleme der Computer zu bewältigen halfen.
Dieser Aufbruch musste verwundern, denn noch unlängst galt Indien als das Armenhaus der Welt mit der größten Zahl von Analphabeten. Die hat es nach wie vor. Gut ein Drittel der erwachsenen Bevölkerung und mehr als die Hälfte der Frauen können nicht lesen und schreiben. Aber zugleich hat Indien auch das zweitgrößte Reservoir an Ingenieuren und Wissenschaftlern, die meisten Computerspezialisten nach den USA. Kein Land auf diesem Globus ist dermaßen gesegnet wie geplagt von einer solchen Vielfalt an Kulturen, Ethnien, Religionen, Sprachen, Kasten und sozialen Unterschieden.
Die Helden des neuen Zeitalters sind die Gurus der Hochtechnologie. Unternehmer wie Premji, die dem Land Glanzlichter aufsetzen und internationales Prestige verschaffen, die nicht korrupt sind und sogar ordentlich Steuern bezahlen. Einer, der sich wie der Wipro-Mann gleichsam aus dem Nichts in die Weltspitze seiner Branche gebeamt hat, ist Narayana Murthy. »Big Byte Guru« nennt die Branche den knuddeligen Chef des IT-Dienstleisters Infosys Technologies. Der zweitgrößte indische Software-Konzern, der zuletzt einen Umsatz von 2,15 Milliarden Dollar und 545 Millionen Gewinn auswies, hat sich draußen in Electronic City auf Outsourcing-Lösungen für Finanz- und Telecomfirmen spezialisiert. Infosys beschäftigt 53 000 Angestellte aus achtundfünfzig Nationen in weltweit dreißig Niederlassungen, gilt in Indien wegen seiner vergleichsweise hohen Sozialstandards als beliebtester Arbeitgeber. In Europa ist Deutschland nach Großbritannien für Infosys der wichtigste Markt.
Murthy, der auch heute noch in demonstrativer Bescheidenheit einen deutschen Mittelklassewagen kutschiert, stammt aus Karnataka. Bei seinem Aufstieg in der Computerbranche, basierend auf einem Grundkapital von gerade mal 250 Dollar, musste er sich als Hindu über seine niedere Kastenherkunft hinwegsetzen. Dieses Stigma verblasste in einer Umgebung, in der Wettbewerb und Erfolg, Individualität und Selbstbewusstsein sowie eine neue Ethik zählen. Die Multikulti-Metropole Bangalore, durch die Zuwanderung der IT-Fachkräfte säkular aufgepumpt, bot Murthy auf seinem Weg nach oben auch die gesellschaftliche Anerkennung.
Fast jeder dritte Software-Ingenieur weltweit ist heute Inder, und er beherrscht Englisch, das in seinem Land Verkehrssprache der Gebildeten ist. Damit ging die Saat auf, die unter dem ersten Premier Jawaharlal Nehru in der Hoffnung auf einen großen Sprung nach vorn 1951 gelegt worden war: mit der Gründung Hunderter Colleges sowie des ersten von später sieben Indian Institutes of Technology im bengalischen Kharagpur, kurz IIT genannt. Diese technisch-mathematischen Elitehochschulen, kräftig gefördert inzwischen auch von der Privatwirtschaft, sind Inseln der Leistung bei der Hightech-Ausbildung, ihr Motto lautet: »Arbeit ist Ehre.« Sie liegen in internationalen Ranking-Listen der besten Ingenieursuniversitäten gleich nach dem amerikanischen Spitzentrio (Berkeley, MIT, Stanford) auf Platz vier. Die Technische Hochschule Aachen, Deutschlands Vorreiter, schafft da gerade mal Rang achtunddreißig. Über 300 000 indische Schulabgänger kämpfen jeweils in horrend schwierigen Aufnahmeprüfungen um einen der 3500 Plätze in den IITs, deren Absolventen um einen guten Job nicht bangen müssen. Bis Mitte der Neunziger, bevor Reformen die verkrustete Staatswirtschaft aufbrachen, waren vorwiegend Arbeitsplätze in Übersee gesucht. Allein 25 000 Ingenieure gingen in die USA. Es gab in Silicon Valley 750 Firmen, die von Indern geleitet wurden. Auch heute noch versuchen amerikanische Firmen, sich die besten IIT-Kräfte zu greifen, Vorverträge werden schon während des Studiums abgeschlossen.
Dominante Kraft in den Führungscrews der IT-Zentralen, unter ihren Fachkräften wie in anderen Schlüsselpositionen der indischen Wissensgesellschaft, sind die Brahmanen. Als Angehörige der obersten Kaste in der Religion des Hinduismus waren sie von jeher auf geistige Betätigung geeicht. Durch Auswendiglernen endloser Hymnen aus den heiligen Texten der Veden gaben Brahmanen-Priester die Grundwerte indischer Kultur über ein Jahrtausend lang weiter, ehe sie niedergeschrieben wurden. Diese brahmanischen Ideale der Rishis, der Weisen, haben sich besonders im Süden des Subkontinents erhalten und dort auch für eine große mathematische Tradition gesorgt, die das analytische Denken fördert. »Wir Inder haben das im Blut«, meint Nandan Nilekani, Mitbegründer des IT-Konzerns Infosys Technologies. Der Vater der modernen indischen Mathematik, Ramanujan, stammte aus Madras, dem heutigen Chennai. Das alles mag erklären, warum gerade Bangalore und seine Cyber-Schwester Hyderabad im benachbarten Bundesstaat Andhra Pradesh auf einen beinahe unerschöpflichen Pool naturwissenschaftlich-technischer Begabungen zurückgreifen können.
Der Kreativvorsprung des Westens wird zunehmend kleiner. Sind indische Software-Ingenieure besser als ihre europäischen Kollegen? »Nicht besser, aber generell jünger und flexibler, und sie wollen erfolgreich sein«, sagen Georg Kniese und Martin Prinz, die gemeinsamen Geschäftsführer von SAP Labs India, der am schnellsten wachsenden Außenstelle des Walldorfer Software-Anbieters. Das deutsche Vorzeigeunternehmen, mit 35 000 Mitarbeitern die drittgrößte unabhängige Software-Firma der Welt, eröffnete im Industriepark von Whitefield Ende 1998 ein Entwicklungszentrum. Annähernd 3000 Inder, Durchschnittsalter siebenundzwanzig Jahre, arbeiten unterdessen in dem Glas- und Granitgebäude mit dem futuristischen Design und den offenen, lichten Innenhöfen. Gleich nebenan entsteht ein weiterer SAP-Bau für nochmals 2000 Mitarbeiter. Bei der Ausschreibung der letzten tausend Jobs gab es 125 000 Bewerbungen. Genommen wurden mit sechsmonatiger Probezeit überwiegend Profis, die bereits bei kleineren Softwarefirmen gearbeitet hatten.
Die SAP-Inder tun nicht viel anderes als die SAP-Deutschen im Headquarter von Walldorf. Sie entwickeln betriebswirtschaftliche Software, bei der ihr Arbeitgeber Weltmarktführer ist. Und sie betreuen Kunden, in Indien bereits über tausend Unternehmen. Aber sie tun das alles eben weit kostengünstiger. Georg Kniese zahlt einem Software-Ingenieur in Bangalore etwa 12 000 Euro Bruttogehalt im Jahr. In Walldorf wird das Vier- bis Fünffache verlangt. Also kann sich SAP für einen deutschen Programmierer an die fünf indische Tüftler leisten. Bislang jedenfalls, denn trotz eines riesigen Pools an Hochschulabsolventen gibt es schon spürbare Engpässe bei qualifiziertem Nachwuchs und eine hohe Fluktuation. Die Gehälter für indische IT-Experten steigen derzeit um bis zu 15 Prozent pro Jahr, das ist als Zuwachs die absolute Spitze in Asien.
Mögen die Software-Ingenieure als Adel der indischen Internet-Gesellschaft gelten, so sind die Mitarbeiter der unzähligen Callcenter Kandidaten für das Proletariat. Sie schuften in menschlichen Legebatterien unter zermürbendem Stress. Sie können jederzeit abserviert werden und wissen, dass ihre kurze Konjunktur verknüpft ist mit der Dynamik ihrer Jugend. Hat die sich verbraucht, werden sie weggeworfen wie Abfall.
Gurgaon heißt das moderne Goldgräber-Dorado vor den Toren der Hauptstadt Delhi. Gleich hinter der südwestlichen Stadtgrenze zum Bundesstaat Haryana sind auf dem Buschland Dutzende Glastürme in den Himmel gewachsen. Dazu Wohnblocks und eine Mall mit glitzernden Einkaufszeilen, mit Galerien, Pubs, Pizzerien. Eine achtspurige Autobahnschneise durchschneidet die vormalige Wildnis. Flotten von Bussen und Sammeltaxis transportieren jeden Tag Zehntausende zu ihren Arbeitsplätzen in den Callcentern und dann wieder zurück in die Vierzehn-Millionen-Metropole auf Straßen im Dauerstau. Oft dauert die Fahrt zwei Stunden.
Die Kids, gerade mal dem Teenager-Alter entwachsen, sitzen bei American Express und Ranbaxy, bei IBM oder Alstom in Großraumbüros. Die sind wabenförmig aufgeteilt in Kabinen, jeweils mit Drehstuhl vor einem schmalen Schreibtisch, auf dem ein flimmernder Computer steht neben einer Telefonanlage mit Kopfhörer. Die Gespräche laufen über Satellitenverbindungen oder unterseeische Glasfaserkabel. Einige Abteilungen sind abgeschirmt wie Hochsicherheitstrakte, weil es bei den betreuten Unternehmen um börsenrelevante Informationen geht. Die Mitarbeiter dort dürfen keinerlei Schreibutensilien, kein Handy mit sich tragen. Sie werden von uniformierten Wächtern beim Betreten und Verlassen des Raumes gründlich durchsucht.
Derzeit haben die 250 000 Inder in den Callcentern wegen des Zeitunterschieds vor allem nachmittags und nachts zu tun, denn die meisten ihrer Ansprechpartner wohnen in den Vereinigten Staaten. Deshalb meldet sich Sandeep auch zur Begrüßung mit angelerntem amerikanischen Akzent meist als »Mark« oder »Peter«, und Rani kommt als »Nancy« oder »Pamela« daher. Der Kunde soll glauben, er werde von irgendeinem Kumpel in einem der nächsten Blocks betreut. Die Inder kennen die letzten Wettermeldungen aus der Stadt ihrer Gesprächspartner, die Schlagzeilen der Ortspresse und Ergebnisse der Football League. Das hilft, um dem Angerufenen vielleicht noch eine Reisegepäckversicherung anzudrehen und dafür beim Arbeitgeber einen Bonus zu ergattern. Bewohner von Seniorenheimen in New York haben mit einer Erinnerungsfunktion ausgestattete Pager. Die piepen, wenn das verschriebene Medikament eingenommen werden soll, und eine Stimme aus Bangalore flötet: »Mrs. Goodman, es ist Zeit für ihr Lipitor.«
Im Westen ist die Arbeit in Callcentern meist ein Aushilfsjob für Unterqualifizierte, in Indien ein vergleichsweise gut bezahlter Prestigejob für Jungakademiker. Umgerechnet 250 bis 400 Euro, mehr als ein Lehrer nach Hause bringt oder die Eltern als Rente beziehen, lassen sich damit im Monat verdienen. Dies im Prinzip mit vier Wochen Kündigungsfrist, doch bei wiederholtem Versagen droht auch der Rausschmiss am gleichen Tag. Die Arbeit in einer der drei Schichten ist aufreibend, insbesondere bei den eingehenden Anrufen, den Inbound calls, sehr hektisch. Sie verlangt ein hohes Maß an Selbstverleugnung und Geduld für ein anderes Kulturverständnis. Viele halten das nur ein paar Monate durch. »Sie geraten im Hinblick auf die eigene Identität an Grenzen«, hat der deutsche Sozialwissenschaftler Holger Siemons in Gurgaon beobachtet.
Da ist der Kunde aus Amerika. Er berichtet dem zwanzigjährigen Sandeep beim Überprüfen seines Kontoauszugs stolz vom Kauf des neuen Home-Entertainment-Centers für 2000 Dollar. Es geht um einige Restaurantbesuche für 400 und die Leasingrate des Autos von 900 Dollar. Für Sandeep sind das unerreichbare Welten, all das wird er sich nie erlauben können. In seiner eigenen Welt aber nehmen nach einem zehnstündigen Arbeitstag die Irritationen zu. Mit den Eltern, bei denen er wohnt und die mehr Geld fordern; mit den Freunden, für die er kaum Zeit findet. Außerdem hat er ständig zu wenig Schlaf und wegen des schlechten Lichts am Arbeitsplatz Probleme mit den Augen. Hinzu kommen die Motivationsexerzitien des Unternehmens: »Employee of the day, the week, the month.« (»Mitarbeiter des Tages, der Woche, des Monats.«) Also Stress ohne Ende. Auf keinen Fall, das wurde Sandeep im Callcenter eingeschärft, dürfe er den Hörer auflegen. Nur keine Reaktion zeigen, wenn der Kunde einen beleidigt, das müsse man schlucken. »Doch wie viel kann man denn schlucken, irgendwann wird es eng«, räsoniert Holger Siemons. Unter den Mitarbeitern von Callcentern, so berichten Delhis Zeitungen, gibt es wie bei verarmten Kleinbauern die höchsten Selbstmordraten.
Selbst Thomas L. Friedman, Apologet der Globalisierung mit bisweilen einfältig anmutendem Fortschrittsglauben, räumt in seinem Bestseller Die Welt ist flach ein, dass es bei den indischen Callcentern auch Sweatshops geben dürfte. Also schwer erträgliche Arbeitsbedingungen in den so genannten Backoffice-Firmen, wie sie der globale Turbokapitalismus in Freihandelszonen Südostasiens oder Mittelamerikas vielen Textilarbeitern zumutet. Fremde erhalten hierzu natürlich keinerlei Zutritt. Und der Trend zur Auslagerung von Callcentern nach Indien verstärkt sich weiter rapide, er ist inzwischen zu einem mitreißenden Sog geworden. Als Erstes verschlang er Arbeitsstellen in den USA und Großbritannien. Kein Wunder, ein entsprechender Callcenter-Platz in Amerikas Mittlerem Westen kostet 4500 Dollar im Monat, in Indien nicht einmal 1000. Als Nächstes sind die Europäer dran, denn die Inder haben damit begonnen, über das Englische hinaus die Palette ihrer Sprachangebote zu erweitern. Die Deutsche Bank ist schon dabei, die Hälfte ihres Verwaltungspersonals nach Indien auszulagern.
Eine Studie des internationalen Marktforschungsinstituts Evalueserve sagt voraus, dass bis zum Jahr 2010 Indiens Offshoring-Industrie über 160 000 Ausländer benötigen werde. Sie sollen den nicht Englisch sprechenden Kundenbereich abdecken. Gesucht würden vor allem Deutsche, Franzosen, Spanier, Russen und Japaner. Die Vorhut der Europäer ist längst in Gurgaon tätig, darunter arbeitslose Akademiker, die einmal 130 000 Euro im Jahr verdienten. Viele sind Praktikanten, die für ihr Studium einige Monate Auslandserfahrung brauchen. Sie erstellen Marktanalysen für 30 Prozent der in Deutschland üblichen Kosten, wie etwa Clemens Klein bei Unitech-Cyberpark. Sie telefonieren wie der Stuttgarter Betriebswirtschaftsstudent Jeremias Ebert mit ausgesuchten deutschen Firmen über deren Kreditkartenakzeptanz. Oder sie erforschen Präferenzen für Mietwagen, wie das schon mal der angehende Bauingenieur Osman Albayrak aus Koblenz tut. Das geht so neun Stunden lang an fünf Tagen, mit Unterkunft in einer nahe gelegenen Wohngemeinschaft. Um die 600 Euro erhalten die europäischen Gastarbeiter für ihre Dienste. Es reicht für Trips am Wochenende zum Parasailing in die Vorberge des Himalajas oder in die Wüste von Rajasthan.
Auch Azim Premji, der seinen IT-Dienstleister Wipro zu einem Global Player machen und Europas Märkte »von innen heraus bedienen« will, sucht Gastarbeiter. Vorzugsweise deutsche und französische Studenten. Denen verspricht er ein durchschnittliches indisches Gehalt sowie kostenfreie Unterbringung. »Die können hier ein angenehmes Leben führen«, meint der Chairman, »und in ihrer Freizeit können sie das Land kennen lernen, das sollte nicht schaden.«
Helle Köpfe, Web-Designer und Programmierer werden immer mehr gefragt sein im Aufbruchsland Indien, einheimische wie importierte. Der Boom in der Informationstechnologie ist schon lange nicht mehr beschränkt auf urbane Zentren wie Bangalore, Hyderabad, Delhi oder Bombay, das sich nun Mumbai nennt. Er ist zum Schwungrad geworden auch für andere Sektoren, greift wie ein Krake mit seinen Fangarmen weit ins Land. Davon wurden selbst die Kommunisten in Kalkutta gepackt, die Westbengalen seit Generationen beherrschen. »Einen Haufen Scheiße, wie Gott ihn fallen ließ«, nannte Günter Grass die Elendsmetropole mit ihren fünfzehn Millionen Einwohnern am Hugli-Fluss, und sein Nobelpreis-Kollege V.S. Naipaul verdammte sie als die »deprimierendste aller Städte«. Dazu passte das versteinerte Regime einer Partei, die unbeirrt in den Werken von Marx und Lenin Leitlinien für die neue Zeit suchte.
Das ist vorbei. Auch die Genossen haben erkannt, dass die Globalisierung nicht zu stoppen ist. Unter dem roten Chefminister Buddhadeb Bhattacharjee, einem Schöngeist, wurden Industrieparks angelegt für über zweihundert Software- und Outsourcing-Firmen. Wipro und die anderen Top-Namen der indischen Branche sind mit von der Partie im Softwarepark Salt Lake, aber auch IBM, Alstom, Skytech oder Siemens. Damit sie nicht bestreikt werden können, wie Ende der Siebziger die Banken bei der Einführung von Computern, wurden die neuen Unternehmen wie Wasser- oder Stromversorger zu »überlebenswichtigen Industrien« erklärt. Im Wettbewerb mit anderen indischen Städten locken die Bengalen mit billigerem Land und billigeren Arbeitskräften. Da haben sie sich von ihren chinesischen Glaubensbrüdern einiges abgeguckt. Der marxistische Pragmatiker Bhattacharjee suchte bei einer Pilgerreise durch die südostasiatischen Tigerstaaten Investoren für den neuen Airport Kalkuttas, und er protzte mit IT-Zuwachsraten »von jährlich über 70 Prozent«. Mittlerweile gibt es auch am Hugli Zehntausende, die in Callcentern arbeiten.
Indien ist zum größten Back-Office der Welt aufgestiegen und dominiert als wichtigster Offshoring-Standort den weltweiten Handel mit IT-Dienstleistungen. Allerdings: Die gesamten Informationsindustrien bieten bislang in einem Land mit über 1,1 Milliarden Einwohnern gerade mal einer Million Menschen Beschäftigung. Erwirtschaftet wurden damit 19 Milliarden Dollar. Das sind lediglich 3,5 Prozent des Bruttosozialprodukts, doch mehr als die Hälfte aller Dienstleistungsexporte. Kein anderer Wirtschaftszweig kann dermaßen imposante Wachstumsquoten vorweisen. Nach einer Prognose des Unternehmensberaters McKinsey wird der IT-Sektor bis 2008 auf vier Millionen Beschäftigte anschwellen, es damit auf 60 Milliarden Dollar und sieben Prozent des Bruttosozialprodukts bringen. »Die nächsten zehn Jahre werden irre hier«, prophezeit Bill Gates und räumt ein, dass sein Unternehmen Microsoft inzwischen »abhängig ist von indischen Fachkräften«. Gates investiert 1,7 Milliarden Dollar in Indien für den Ausbau von vier Entwicklungszentren, sein größtes Labor außerhalb der Vereinigten Staaten ist in Hyderabad.
Als nächste Stufen der Hightech-Offensive für eine wissensgestützte Wirtschaft sollen neue Forschungsstätten in der Bio- und Gentechnologie entstehen, in der Globalisierung von Innovation und Kreativität will Indien dem Westen ebenfalls als ernsthafter Konkurrent entgegentreten. Noch ist das Land etwa im Bereich wissenschaftlicher und technischer Erfindungen, gar bei der Zahl der jährlich angemeldeten Patente, meilenweit entfernt vom höchsten Niveau, auf dem noch immer Deutschland agiert. Das kann sich indes relativ schnell ändern. So dürfte Indien schon bald auch in der Pharmazie vorne mitmischen, wo es bereits mit Firmen wie Ranbaxy, Wockhardt oder Dr. Reddy’s zum weltweit größten Hersteller von Generika geworden ist, darunter eines Medikaments gegen Aids. Oder in der Medizin, wo Operationen am offenen Herzen und Implantationen künstlicher Hüftgelenke von hervorragenden Chirurgen für ein Fünftel der europäischen Kostensätze vollzogen werden. Die Briten sind da als erste Patienten schon eingestiegen. Schließlich Rüstung und Weltraumforschung: Die Welt hat sich daran gewöhnt, dass die Atommacht Indien Raketen und Satelliten ins All befördert. Demnächst soll ein Roboter auf dem Mond landen.
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Durchaus verständlich demnach, wenn Azim Premji den Absolventen der Technischen Hochschule von Chennai, die einst mit Entwicklungsgeldern und Ingenieuren aus Deutschland aufgebaut wurde, bei der Examensfeier in patriotischem Überschwang zuruft: »Indien hat mit den Besten der Welt in Hightech gleichgezogen, ihr müsst nicht mehr ins Ausland gehen.« Das ist wohl wahr. Der Brain Drain in den Jahrzehnten zuvor war ein fataler Aderlass gewesen. Allein in der Dekade vor dem Millenniumswechsel hatte sich die Zahl der indischstämmigen Residenten in den Vereinigten Staaten auf über eine Million verdoppelt. Inzwischen setzte eine Gegenbewegung ein. Seit Anfang 2005 kehrten über 30 000 indische Technologie-Profis aus dem Ausland zurück. Die mit den neuen Spitzenpositionen residieren nunmehr in noblen Ghettos wie dem von Palm Meadows in Bangalore, wo es von Heimkehrern wimmelt.
Ajay Kela gehört zum Beispiel dazu, den es vor fünfundzwanzig Jahren mit dem Treck der Glückssucher nach Amerika gezogen hatte. Der Ingenieur machte seinen Doktor in New York und arbeitete danach für mehrere Firmen, darunter für General Electric. Vor kurzem kam Kela, jetzt achtundvierzig Jahre alt, mit seiner Frau und den beiden Kindern aus Kalifornien wieder nach Bangalore, um die Niederlassung von Symphony Services zu leiten. Die Lebensbedingungen sind komfortabler als in der amerikanischen Diaspora: ein großzügiges Haus mit vier Schlafzimmern in einer bewachten Wohnanlage draußen in Whitefield, mit Fahrer und zwei Bediensteten. Dazu ein für indischen Standard üppiges Salär. »Alle Inder drüben«, glaubt Ajay Kela, »würden gerne das nächste Flugzeug nehmen, um nach Hause zu fliegen.«