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Leif GW Persson

Der sterbende Detektiv

Roman

Aus dem Schwedischen
von Lotta Rüegger und Holger Wolandt

1

Montagabend des 5. Juli 2010

Am Karlbergsvägen 66 in Stockholm liegt Günters, Schwedens beste Wurstbude. Umgeben von soliden Wohnhäusern aus Stein, die Anfang des vorigen Jahrhunderts erbaut wurden. Mauerwerk aus Ziegel, sorgfältig aufgebaut, Stein auf Stein, verputzte Fassaden, Erker und altmodische Sprossenfenster. Große Vorgärten und – zu dieser Jahreszeit — grüne Laubbäume, die die Straße flankieren. Betritt man die Häuser, finden sich Marmor, Wandgemälde, Stuckdecken und gelegentlich sogar Wandtäfelung in den Entrees und in den Treppenhäusern. Fußleisten und Türen sind aus Eiche. Das Viertel macht einen gediegenen und gepflegten Eindruck.

Außerdem liegt Günters in der Innenstadt der schönsten Hauptstadt der Welt, nur einige hundert Meter südlich des Schlosses Karlberg und der Karolinska-Universitätsklinik und in unmittelbarer Nähe der zwei großen Ausfallstraßen, die im Norden aus der Stadt führen.

Der ehemalige Chef des Reichskriminalamts Lars Martin Johansson hätte an diesem Tag eigentlich in seinem Sommerhaus in Roslagen sein sollen, aber am Morgen war er gezwungen gewesen, in die Stadt zu fahren, um mit seiner Bank den Kauf eines Waldgrundstückes zu besprechen, den er mit seinem ältesten Bruder zusammen getätigt hatte.

Nachdem dies nun einmal entschieden war, hatten sich wie sonst auch immer noch andere Erledigungen und Besorgungen privater und anderer Natur ergeben, die er praktischerweise genausogut sofort hinter sich bringen konnte. Die Liste der Besorgungen war rasch lang geworden, und als er endlich so weit war, zu seiner Frau und zum Sommerfrieden auf der Rådmansö zurückzukehren, war es fast acht Uhr abends gewesen und Johansson hungrig wie ein Wolf.

 

Nur wenige hundert Meter bevor er den Roslagstull erreicht hatte, um seine Fahrt nach Norden fortzusetzen, hatte ihn ein Mordshunger übermannt. Nie im Leben würde er es überleben, eine Stunde lang mit laut knurrendem Magen zu fahren. Daher machte er einen raschen Umweg zur besten Wurstbude Schwedens, um sich eine stark gewürzte jugoslawische Bratwurst mit åländischen Salzgurken, Sauerkraut und scharfem französischem Senf zu genehmigen. Vielleicht aber auch eine Zigeunerwurst, die nach frischgemahlenem Pfeffer, Paprika und Zwiebeln duftete? Oder sollte er seine norrländische Abstammung bejahen und eine leicht geräucherte Elchwurst mit Günters hausgemachtem Kartoffelbrei aus Mandelkartoffeln verspeisen?

In diese angenehmen Überlegungen vertieft, parkte er nur wenige Meter von der Bude entfernt direkt hinter einem Mannschaftswagen der Stockholmer Bereitschaftspolizei; genau wie dieser stand er halb auf dem Bürgersteig, als er ausstieg. Gewiss, er war seit drei Jahren im Ruhestand, trotzdem nahm er sich die Freiheit heraus, praktisch und gut zu parken, nicht zuletzt für den übrigen Verkehr. Gewisse Gewohnheiten, die er sich in den fast fünfzig Jahren als Polizist zugelegt hatte, steckten ihm einfach in den Knochen.

Ein warmer, sonniger Tag Anfang Juli, ein Abend, der ebenso warm war, wie der Tag es gewesen war, alles andere als ein typisches Wurstwetter, und wahrscheinlich war das die Erklärung, warum die ganze Schlange vor der Bude aus nur vier jüngeren Kollegen der Stockholmer Bereitschaftspolizei bestand. Ehemalige Kollegen, wenn man genau sein wollte, aber wiedererkannt wurde er trotzdem. Nicken, Lächeln, und der Rangoberste mit Bürstenschnitt salutierte mit der Rechten, obwohl seine Uniformmütze im Gürtel steckte.

»Alles in Ordnung, Jungs?«, fragte Johansson, der seine Wahl getroffen hatte, als ihm die himmlischen Düfte entgegenströmten. Mit der Elchwurst hatte es bis zum Herbst Zeit. Die rauchigen, harmonischen Geschmacksnuancen und norrländisches Phlegma in allen Ehren, doch ein Abend wie dieser verlangte nach etwas Stärkerem, aber nicht zu starkem, nicht vom südlichen Balkan. Paprika, Zwiebeln, Pfeffer und leicht gepökeltes, grobes Schweinehack waren perfekt, und im Hinblick auf das Wetter und seine Gemütsverfassung konnte es gar nicht besser werden.

»Alles ruhig, wir wollten noch mal ordentlich futtern, bevor das Chaos ausbricht«, meinte der Rangoberste. »Sie können vorgehen, Chef, wenn Sie wollen. Wir haben es nicht eilig.«

»Ich bin im Ruhestand«, antwortete Johansson aus irgendeinem Grund. »Ihr müsst ja noch arbeiten. Wer will sich schon mit leerem Magen mit dem Gesindel rumschlagen?«

»Wir überlegen noch.« Der Rangoberste nickte lächelnd. »No problem.«

»Na dann«, erwiderte Johansson und wandte sich an die Person am Schalter. »Eine Zigeunerwurst mit Sauerkraut und französischem Senf. Dann will ich noch was Kaltes zu trinken. Geben Sie mir eine Flasche Mineralwasser, das ganz normale, Sie wissen schon.«

Er nickte dem letzten in der Reihe von Günters Gehilfen auffordernd zu. Ein jüngeres Talent namens Rudy, auch aus Österreich, und obwohl Günter seit fast zehn Jahren tot war, kam das Personal noch immer überwiegend aus seiner alten Heimat. Günters bester Freund Sebastian, der die Bude schon vor dessen Tod übernommen hatte, Udo, der seit vielen Jahren dort arbeitete, Katja, die nur hin und wieder da war. Dann noch jemand, dessen Namen er vergessen hatte, und jetzt neuerdings eben Rudy. Johansson kannte sie alle, und sie kannten ihn schon seit hunderten von Wurstbestellungen. Während Rudy seine Bestellung ausführte, plauderte er auf angenehme Weise mit seinen jüngeren Kollegen. Oder ehemaligen Kollegen, wenn man genau sein wollte.

»Dieses Jahr sind es sechsundvierzig Jahre her, seit ich bei der Ordnungspolizei angefangen habe«, sagte Johansson. Oder sind es siebenundvierzig?, dachte er. Auch egal.

»War das damals, als noch alle einen Säbel trugen?« Ein breites Grinsen von dem, der der Jüngste der Besatzung zu sein schien.

»Aufgepasst, Freundchen«, erwiderte Johansson. Netter Bursche, dachte er.

»Aber dann kam die Kripo«, sagte der Chef des jüngeren Genies, der offenbar mit Johanssons Werdegang vertraut war.

»Das wissen Sie also. Fünfzehn Jahre«, pflichtete er bei.

»Zusammen mit Jarnebring«, warf ein anderer ein.

»Allerdings. Sie kennen sich mit der alten Garde gut aus.«

»Ich habe auch mal da gearbeitet. Jarnis Bosse war mein Chef. Der beste Chef, den ich je gehabt habe«, meinte er noch aus irgendeinem Grund.

»Wollen Sie die Wurst in einem Baguette oder auf einem Pappteller?«, unterbrach Rudy und hielt die frischgegrillte Wurst in die Höhe.

»Wie immer«, sagte Johansson. Ausgehöhltes Baguette. Die Wurst mit Sauerkraut und Senf. Kann doch nicht so schwer sein, sich das zu merken, dachte er.

»Wo waren wir stehengeblieben?«, fragte er und nickte dem Kollegen zu, der seinen besten Freund als Chef gehabt hatte.

»Jarnebring. Bo Jarnebring.«

»Genau«, sagte Johansson mit der übertriebenen Nachdrücklichkeit eines Mannes, der fast den Faden verloren hätte. »Jarnebring, richtig. Der ist in Rente wie ich, hat vor einem Jahr mit fünfundsechzig aufgehört. Im Übrigen noch topfit. Wir treffen uns regelmäßig und schwelgen in Erinnerungen, von denen die Hälfte nicht wahr sind.«

»Grüßen Sie ihn von mir, grüßen Sie ihn von Patrik Åkesson, von Pezwei, es gab zwei Leute namens Patrik in der Gruppe, und ich kam als Letzter dazu. Jarnis hat mich also umgetauft, um unnötige Missverständnisse bei den Einsätzen zu vermeiden.«

»Klingt ganz nach Jarnebring«, sagte Johansson, nickte und nahm das Wechselgeld, die Wurst und das Mineralwasser, das er bestellt hatte, in Empfang. Dann nickte er ein weiteres Mal, hauptsächlich, weil er nichts mehr zu sagen hatte.

»Passt auf euch auf, Jungs«, meinte er noch. »Ich habe mir sagen lassen, dass nichts mehr so ist wie zu meiner Zeit.«

Alle erwiderten sein Kopfnicken, plötzlich ernst, und ihr Chef salutierte ein weiteres Mal, eine Hand an seinem Kopf mit den kurzgeschnittenen Haaren.

 

Zu meiner Zeit hätte man ihn gefeuert, wenn er ohne Mütze salutiert hätte, dachte Johansson, als er mit gewisser Mühe wieder in sein Auto stieg, die Flasche in die Getränkehalterung der Mittelkonsole steckte und die Wurst von der linken in die rechte Hand nahm.

In genau diesem Augenblick musste ihm jemand einen Eispickel in den Nacken gestoßen haben. Keine schleichende Vorahnung wie bei gewöhnlichen Kopfschmerzen, sondern ein scharfer, alles durchdringender Schmerz, der plötzlich seinen gesamten Hinterkopf erfasste. Die Geräusche von der Straße wurden undeutlich, dann verschwanden sie, Dunkelheit senkte sich vor seine Augen, erst vor das rechte, dann vor das linke, als hätte man vor ihm ein Rollo schräg herabgelassen. Der Arm war wie eingeschlafen, die Finger waren gefühllos und starr. Die Wurst war ihm zwischen die Sitze gefallen.

Dann nur Dunkelheit, nur Stille.

2

Montagabend des 5. Juli 2010 bis Mittwochnachmittag des 7. Juli 2010

Lars Martin Johansson war bewusstlos. Kurz nach Mitternacht, gleich nachdem sich sein Zustand stabilisiert hatte, hatte man ihn von der Intensivstation auf die Neurochirurgie verlegt. Von dort war es nicht weit, falls es Komplikationen geben und eine Operation notwendig werden sollte.

Hypnos ist der Gott des Schlafes in der griechischen Mythologie, der Zwillingsbruder von Thanatos, dem Tod. Sie sind Söhne der Nyx, der Göttin der Nacht, aber keiner von ihnen, nicht einmal Nyx, ist Johanssons Gottheit, denn Johansson ist bewusstlos. Zwar reagierte er rein physiologisch auf Licht, wenn einer der Weißbekittelten an sein Bett kam, sein Augenlid hochzog und in sein Auge leuchtete, aber da ihm das nicht bewusst wurde, spielte es keine Rolle.

Hypnos ist nicht sein Gott, denn er schlief nicht, und es gab definitiv keine Träume, die ihn quälen oder vielleicht seine Qualen hätten mildern können. Träume erfordern das Vorhandensein von Personen und Ereignissen, und sind solche nicht vorhanden, kann man zur Not mit nicht vernunftbegabten Tieren oder toten Dingen wie einer grünen Reuse, sogar einer, die die falsche Farbe hat, oder vielleicht einem Schlitten, mit dem man als Kind gefahren ist, vorliebnehmen, aber vor allen Dingen erfordern Träume ein Bewusstsein, zu dem sie sich verhalten können, und das fehlt Johansson.

Auch Thanatos hatte nichts zu melden, denn Johansson lebte, er atmete und sein Herz schlug aus eigener Kraft, wenn man einmal davon absah, dass Hilfsmittel nötig waren, um seinen Herzrhythmus zu stabilisieren, um seinen Blutdruck zu senken und um sein Blut zu verdünnen. Mittel, die seine Schmerzen linderten, ihn einschläferten und ihn beruhigten. Alle diese Nadeln, Drähte, Schläuche und Rohre, die man in und an seinem Körper befestigt hatte. Aber er lebte, und ob er sich bei Nyx in Nacht und Dunkelheit aufhielt, spielte keine Rolle, da er sich dessen nicht bewusst war. Das war auch gut so, da Nyx keine angenehme Frau ist, nicht einmal in mythologischer Hinsicht. Sie ist unter anderem auch die Göttin der Rache, aber welcher anständige Mensch könnte schon einen Groll gegen Lars Martin Johansson hegen?

Möglicherweise war es dann doch Hypnos, der ihm am nächsten stand. Auf Abbildungen aus der Antike ist er als junger Mann mit Mohnkapseln in der Hand zu sehen, und das zeigt zumindest, dass die alten Griechen ein Wissen besaßen, zu dessen Erlangung die Medizin und die internationale Drogenkriminalität noch weitere zweitausend Jahre brauchte. Und wäre Johansson bewusst gewesen, was tropfenweise in seine Venen infundiert wurde, dann hätte er sicher zustimmend genickt. Aber egal. Johansson war bewusstlos. Er war nicht tot, er schlief nicht, er träumte auch keinesfalls, an Nicken war nicht zu denken, und das mit Dunkelheit oder Licht spielte auch keine Rolle.

3

Mittwochnachmittag des 7. Juli 2010

Es begann wie ein ziehender Schmerz im Hinterkopf und eine Wahrnehmung von Licht, unklar wann oder warum, aber plötzlich erwachte er. Entdeckte, dass er in einem Bett lag und dass er auf seinem rechten Arm gelegen haben musste, denn dieser war eingeschlafen. Die Finger fühlten sich taub an, es fiel ihm schwer, seine Rechte zur Faust zu ballen. Neben seinem Bett saß eine Frau in weißem Kittel mit kurzgeschnittenem, blondem Haar. In ihrer großen Brusttasche steckte ein Stethoskop als weiteres Indiz dafür, wer sie war.

Was zum Teufel ist nur los?, dachte Johansson.

»Was ist los?«, sagte er zu der Frau in dem weißen Kittel.

»Ich heiße Ulrika Stenholm«, erwiderte die Frau und sah ihn mit zur Seite geneigtem Kopf an. »Ich bin die stellvertretende Oberärztin hier in der Karolinska-Universitätsklinik, und Sie liegen auf meiner Station. Als Allererstes möchte ich Sie fragen, ob Sie sich daran erinnern, wie Sie heißen?«

Sie lächelte und nickte ernst, dann hielt sie den Kopf gerade, als wolle sie ihre Frage abschwächen.

»Wie ich heiße?«, fragte Johansson. Was zum Teufel geht hier vor?, dachte er.

»Wie Sie heißen, ja. Erinnern Sie sich daran?«

»Johansson«, antwortete Johansson. »Ich heiße Johansson.«

»Und weiter?« Erneutes Nicken, noch ein freundliches Lächeln, der Kopf wurde zur anderen Seite geneigt, aber sie ließ ihn nicht in Ruhe.

»Johansson. Lars Martin Johansson«, antwortete Johansson. »Falls Sie auch noch meine Personenkennziffer wissen wollen, so habe ich einen Führerschein in meiner Brieftasche, und die trage ich immer in der linken Hosentasche. Was ist eigentlich passiert?«

Jetzt ein bedeutend breiteres Lächeln von der Frau neben seinem Bett.

»Sie liegen auf der Neurologie der Karolinska-Universitätsklinik«, antwortete sie. »Montagabend haben Sie einen Schlaganfall erlitten, deswegen sind Sie hier.« Ihr Kopf veränderte erneut seine Stellung, kurzes, blondes Haar, langer, schmaler Hals ohne Spuren von Falten.

»Welcher Tag ist heute?«, fragte Johansson. Sie kann keinen Tag älter als vierzig sein, dachte er aus irgendeinem Grund.

»Heute ist Mittwoch. Es ist fünf Uhr am Nachmittag, und Sie sind vor knapp achtundvierzig Stunden auf meine Station gekommen.«

»Wo ist Pia?«, fragte Johansson, »meine Frau.« Plötzlich erinnerte er sich, dass er in seinem Auto gesessen hatte, und empfand eine große Unruhe, die er sich nicht erklären konnte.

»Pia ist unterwegs. Es geht ihr gut. Ich habe vor einer Viertelstunde mit ihr telefoniert und ihr erzählt, dass Sie gerade dabei sind, zu sich zu kommen. Sie ist hierher unterwegs. « Nun begnügte sich Frau Dr. Stenholm damit, einfach zu nicken, zweimal hintereinander, als wolle sie das eben Gesagte zusätzlich bestätigen.

»Es geht ihr also gut? Ich erinnere mich, dass ich Auto gefahren bin«, fügte er noch hinzu. Die starke Unruhe, von der er sich nicht erklären konnte, woher sie kam, nahm wieder ab.

»Sie waren allein im Auto. Ihre Frau war auf dem Land. Wir haben sie angerufen, als Sie auf der Notaufnahme eingeliefert wurden. Seitdem war sie die meiste Zeit ständig bei Ihnen. Wie gesagt, es geht ihr gut.«

»Erzählen Sie«, bat Johansson. »Was ist hier eigentlich los? Ich meine, was ist passiert?«

»Meinen Sie, Sie haben bereits genug Kraft dafür?« Erneutes Nicken, ernste und fragende Miene.

»Ja, erzählen Sie. Mir geht’s prima. Mir ist es noch nie besser gegangen. Ich fühle mich wie ein Prinz«, fügte er sicherheitshalber noch hinzu. Was zum Teufel ist eigentlich los?, dachte er, denn auf einen Schlag fühlte er sich unerklärlich ausgelassen.

»Ich muss auf meinem Arm eingeschlafen sein«, sagte er, obwohl er bereits ahnte, warum er ihn nicht von der Bettdecke heben konnte.

»Dazu kommen wir noch«, entgegnete sie. »Darüber sprechen wir später. Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Wenn wir gut zusammenarbeiten, Sie und ich, dann bin ich mir sicher, dass wir das mit Ihrem Arm schon wieder hinkriegen werden.«

4

Montagabend des 5. Juli bis Mittwochnachmittag des 7. Juli 2010

Der Fahrer des Mannschaftswagens entdeckte, was mit Johansson passiert war. Als er aus dem Fahrzeug stieg, um sich die Beine zu vertreten, sah er Johanssons reglosen Kopf auf dem Lenkrad liegen. Nachdem er die Fahrertür geöffnet hatte, um nachzuschauen, was passiert war, fiel der bewusstlose Johansson aus dem Auto und hätte sich fast den Kopf aufgeschlagen, hätte ihn sein Kollege nicht aufgefangen.

Dann ging alles sehr schnell. Über Funk hieß es, dass der Krankenwagen mindestens fünf Minuten brauchen würde, was erfahrungsgemäß das Doppelte bedeutete, und da der Chef des Mannschaftswagens nicht die Absicht hatte, einen legendären Polizisten deswegen mehr oder weniger in seinen eigenen Armen sterben zu lassen, hob man Johansson ganz einfach in den Mannschaftswagen, legte ihn dort auf den Boden, ließ den Motor an, schaltete das Blaulicht und die Sirenen ein und fuhr mit Vollgas zur Karolinska-Universitätsklinik. Ein Transport, der nicht ganz dem Reglement entsprach, aber schließlich ging es um einen Kollegen, der in Gefahr geraten war, und da waren ihnen sämtliche Dienstvorschriften und Anweisungen wurst.

Zur Notaufnahme des Karolinska war es knapp ein Kilometer Luftlinie. Dieser waren sie so getreu wie möglich gefolgt und bremsten zwei Minuten später vor der Tür der Klinik. In Anbetracht des Lebens, das er gelebt hatte und das ihn jetzt zu verlassen drohte, hatte Johansson einen sowohl logischen als auch großartigen Auftritt. Bewusstlos auf einer Trage, umgeben von Beamten der Bereitschaft und von Krankenpflegern, wurde er direkt auf die Intensivstation gebracht, vorbei an allen normal Wartenden, die mit ihren diffusen Brustschmerzen, gebrochenen Armen, verstauchten Knien, Ohrenschmerzen, Allergien und normalen Erkältungen herumsaßen oder -lagen.

Danach war alles den Gepflogenheiten gemäß verlaufen, und vier Stunden später, die akute Gefahr abgewehrt und die Diagnose weitgehend gestellt, war er auf die Neurochirurgie verlegt worden.

»Ich habe mit meinem Kollegen gesprochen, der Montagabend Bereitschaft hatte«, sagte seine Ärztin. »Er hatte sich mit einem Ihrer Kollegen unterhalten, die Sie zu uns gefahren haben. Das war wirklich ein ziemlicher Aufstand, das können Sie mir glauben.« Sie nickte. Lächelte, aber ohne den Kopf zur Seite zu legen.

»Aufstand?«

»Irgendjemand, der Sie erkannt hat, war zu der Überzeugung gelangt, man hätte Ihnen in den Bauch geschossen.«

»Auf mich geschossen? In den Bauch?«

»Sie hatten Sauerkraut und Senf auf dem Hemd. Eine Unmenge. Und dann noch all diese Polizisten. Jemand glaubte, die Sauerei auf Ihrem Hemd seien Ihre Därme, die da zum Vorschein kämen.« Jetzt sah sie sichtlich amüsiert aus.

»Guter Gott«, sagte Johansson. Wo sie das nur alles herhat, dachte er.

»Sie sind offenbar vor dieser Wurstbude am Karlbergsvägen zusammengebrochen, ehe Sie dieses ungesunde Zeug in sich reinstopfen konnten, das Sie gekauft hatten. Sauerkraut, Senf, getoastetes Weißbrot, eine fette, gegrillte Wurst und was weiß ich nicht alles.«

Wovon redet diese Person eigentlich?, dachte Johansson. Sie muss Günters Korv meinen. Er hatte bei Günters, bei der besten Wurstbude Schwedens, angehalten. Er hatte sich mit einigen jüngeren Kollegen unterhalten. Jetzt erinnerte er sich. So weit konnte er sich erinnern.

»Ich hatte mal einen Arbeitskollegen, der gestorben ist, als er an dieser Wurstbude anstand. Er erlitt einen Herzinfarkt. Er lebte mehr oder minder von diesem Fraß, obwohl er Arzt war.« Kopf zur Seite geneigt, jetzt wieder ernst.

»Sauerkraut«, sagte Johansson. »Was ist denn an Sauerkraut auszusetzen?« Sauerkraut ist verdammt gesund, dachte er.

»Ich dachte eher an die Wurst.«

»Sie!«, sagte Johansson, plötzlich von einem unbegreiflichen Zorn ergriffen und von üblen Kopfschmerzen gepackt. »Wenn diese Wurst nicht gewesen wäre, mit der Sie mir in den Ohren liegen, dann wäre ich jetzt tot.«

Sie begnügte sich damit, zu nicken und die Haltung ihres Kopfes zu verändern. Doch sie sagte nichts.

»Wenn ich nicht angehalten hätte, um eine Wurst zu kaufen, dann hätte ich auf dem Weg aufs Land im Auto gesessen, und dann hätte alles noch viel böser geendet.« Schlimmstenfalls nicht nur in Bezug auf mich, dachte er.

»Darüber sprechen wir später«, erwiderte sie, beugte sich vor, tätschelte seinen Arm, der nicht eingeschlafen war, sondern einfach nicht funktionierte.

»Haben Sie einen Spiegel?«, fragte Johansson.

Diese Frage hörte sie offenbar nicht zum ersten Mal. Sie nickte, schob die Hand in die Tasche ihres weißen Kittels, zog einen Taschenspiegel heraus und legte ihm diesen in die linke Hand.

Du siehst furchtbar aus, Lars Martin, dachte Johansson. Das ganze Gesicht schien nach unten gerutscht zu sein, der Mund hing schief, und unter den Augen waren mehrere kleine, punktförmige blaue Flecken, blauschwarz, nicht größer als Stecknadelköpfe.

»Punktförmige Hautblutungen«, sagte Johansson.

»Petechien«, pflichtete ihm seine Ärztin bei und nickte. »Sie haben offenbar eine knappe Minute lang zu atmen aufgehört, aber dann hat einer Ihrer Kollegen Sie wieder in Schwung gebracht. Er hatte offenbar als Krankenwagenfahrer gearbeitet, bevor er Polizist wurde. Rettungssanitäter. Ja, ich stimme Ihnen zu«, fuhr sie fort, »es war wohl trotz allem Glück im Unglück, dass es gerade dort passiert ist.«

»Ich sehe furchtbar aus«, sagte Johansson. Aber ich lebe noch, dachte er. Im Unterschied zu allen anderen, die er mit denselben Flecken unter den Augen gesehen hatte.

»Ich glaube, Ihre Frau ist jetzt da«, erwiderte sie. »Ich gehe jetzt, damit Sie sich in Ruhe unterhalten können. Ich schaue vor dem Schlafengehen noch einmal bei Ihnen vorbei.«

»Wissen Sie was?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Sie sehen aus wie ein Eichhörnchen«, sagte Johansson. Warum sage ich das?, dachte er.

»Ein Eichhörnchen?«

»Darüber sprechen wir später«, sagte Johansson.

5

Mittwochnachmittag des 7. Juli 2010

Seine Frau Pia trat ohne Umschweife an sein Bett. Sie lächelte ihn an, aber ihr Mund hatte sich nicht mit dem Ausdruck ihrer Augen verständigt, und als sie sich auf den Stuhl neben seinem Bett setzen wollte, warf sie diesen erst einmal um. Sie schob ihn einfach mit dem Fuß beiseite, beugte sich vor und umarmte ihn. Ganz fest drückte sie seinen Kopf an ihre Brust. Sie wiegte ihn wie ein kleines Kind hin und her.

»Lars, Lars«, flüsterte sie. »Was hast du jetzt wieder angestellt? «

»Das ist nicht weiter schlimm«, antwortete Johansson. »Nur irgendwas mit dem Kopf.«

Im selben Augenblick schnürte es ihm die Kehle zusammen, und er begann zu weinen. Obwohl er nie weinte. Nicht, seit er ein kleines Kind gewesen war. Nicht, seit der Beerdigung seiner Mutter vor einigen Jahren und der seines Vaters, die noch länger zurücklag, aber da hatten schließlich alle geweint. Sogar Johanssons ältester Bruder hatte sich eine Träne aus dem Auge gewischt und sich eine Hand vors Gesicht gelegt. Aber sonst weinte Johansson nie. Erst jetzt und ohne dass er eigentlich begriff, warum. Du lebst doch noch, dachte er. Warum zum Teufel heulst du dann?

Schließlich atmete er tief durch. Strich ihr mit seiner gesunden Hand über den Rücken, legte ihr einen Arm um die Schultern und drückte sie an seine Brust.

»Kannst du mir ein Taschentuch geben?«, fragte Johansson. Was zum Teufel ist hier eigentlich los?, dachte er.

Dann hatte er sich wieder im Griff. Er schnäuzte sich einige Male gründlich, wehrte ihre Versuche ab, seine Tränen wegzuwischen, und strich sich stattdessen selbst mit dem Handrücken über das Gesicht. Dann versuchte er mit seinem schräg hängenden Mund zu lächeln. Seine Kopfschmerzen waren plötzlich verschwunden.

»Pia, meine kleine Pia, meine Kleine«, sagte Johansson. »Jetzt ist alles gut. Ich fühle mich prima, alles paletti, bald werde ich wieder Luftsprünge machen.«

Erst da lächelte sie ihn wieder an. Sowohl mit den Augen, als auch mit dem Mund, vorgebeugt auf dem Stuhl, auf dem sie mittlerweile saß.

»Weißt du was?«, sagte Johansson. »Wenn ich etwas zur Seite rücke, kannst du dich dazulegen.«

Pia schüttelte den Kopf. Sie drückte seine gesunde Hand und strich über jene, die nicht eingeschlafen war, sondern sich nur so anfühlte.

 

Dann verließ sie ihn, und da sein Bedürfnis nach Alleinsein größer war denn je zuvor, musste sie ihm versprechen, nach Hause in ihre Wohnung in der Stadt zu fahren. Sie sollte mit allen sprechen, die sich Sorgen machten. Sie sollte ausschlafen und erst am Nachmittag des folgenden Tages wiederkommen.

»Wenn die ganzen Weißbekittelten mit mir durch sind«, erklärte Johansson. »Damit wir in aller Ruhe miteinander reden können.«

»Versprochen«, sagte Pia. Dann beugte sie sich vor, fasste ihn mit der Hand im Nacken, obwohl er das sonst immer tat, und küsste ihn. Nickte und ging.

Du lebst noch, dachte Lars Martin Johansson, und obwohl seine Kopfschmerzen zurückgekehrt waren, war er auf einmal fröhlich, ohne zu verstehen, warum.

 

Kurze Zeit später schlief er ein. Die Kopfschmerzen hatten nachgelassen, und jemand hatte seinen Arm berührt, eine Frau, die keinen Tag über dreißig sein konnte. Sie hatte mit dem Kinn auf das Tablett mit Essen gedeutet, das sie neben sein Bett gestellt hatte. Eine Frau, die ihn mit ihren dunklen Augen und vollen Lippen anlächelte.

»Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen helfen«, sagte sie.

»Kein Problem«, meinte Johansson. »Ich komme schon zurecht. Wenn Sie mir einfach einen Löffel geben würden.«

Eine halbe Stunde später kam sie zurück. Währenddessen hatte Johansson den Kochfisch probiert, zwei Löffel, die weiße Sauce, ein halber Löffel, das Rhabarberkompott, drei Löffel, und ein ganzes Glas Wasser getrunken.

Als sie wieder vor seinem Bett stand, tat er so, als schliefe er. Offenbar mit Erfolg. Er dachte bereits an Günters Korv, Schwedens beste Wurstbude, und nahm die himmlischen Düfte wahr, die ihm immer schon mehrere Meter davor in die Nase zu steigen pflegten.

 

Dann leerte eine andere junge Frau in weißer Kleidung seine Bettpfanne, und er nahm sich vor, nächstes Mal die Toilette aufzusuchen. Wie jeder normale Mensch, auch wenn er sich an seinem einen gesunden Arm dorthin hangeln müsste.

Später besuchte ihn sein eigenes Eichhörnchen.

»Darf ich Sie etwas fragen?«, sagte Johansson. »Wie alt sind Sie eigentlich?« Die Frage stellte er mehr, um weiteres Lamentieren über seine Essgewohnheiten und seinen generell elenden Zustand abzuwehren.

»Ich bin zweiundvierzig«, antwortete sie.

»Ulrika Stenholm«, meinte Johansson. »Auf Ehre und Gewissen. Niemand würde glauben, dass Sie einen Tag älter als vierzig sind. Über die Sache mit dem Eichhörnchen sprechen wir später.«

Dann schlief er wieder ein.

 

Ein anfänglich unruhiger Schlaf. Sein Kopf begann wieder zu schmerzen, aber dann hatte offenbar Hypnos seine Finger im Spiel – denn er bemerkte dunkel, dass sich jemand neben seinem Bett bewegte und sich an den Schläuchen, die zu den Infusionsflaschen über seinem Kopf führten, zu schaffen machte, denn die Kopfschmerzen verschwanden, und er begann zu träumen.

Lusterfüllte Träume. Träume, die mehr als nur Kopfschmerzen linderten. Träume über Eichhörnchen, die er als kleiner Junge geschossen hatte, als er noch bei seinen Eltern, bei Elina und Evert, auf dem Hof im nördlichen Ångermanland gewohnt hatte. Es hatte damit angefangen, dass sein Großonkel Gustaf bei ihnen in der Küche gesessen und über sein Rheuma geklagt hatte. Das Einzige, was dagegen helfe, sei eine Weste aus Eichhörnchenhäuten mit nach innen gekehrtem Fell.

»Die kann ich dir besorgen, Onkel«, hatte Lars Martin Johansson gesagt, der auf einem Hocker neben der Brennholzkiste gesessen hatte und nur ein Drittel so groß gewesen war wie alle anderen im Raum.

»Das ist aber nett von dir, Lars Martin«, hatte sein Großonkel geantwortet. »Du kannst mein Kleinkalibergewehr ausleihen, dann brauchst du dich nicht mit diesem Luftgewehr herumärgern, das du von deinem Vater zu Weihnachten bekommen hast.«

»Ja«, hatte sein Papa Evert beigepflichtet. »Der Junge schießt so gut, dass es fast schon verboten ist. Dagegen ist also nichts einzuwenden. Gib ihm dein Gewehr, dann besorgt er dir die Weste.«

 

So hatte die Sache mit den Eichhörnchen begonnen, mit dem Angebot seines Großonkels und der Zustimmung von Papa Evert, und es sollten sechzig Jahre vergehen, bis er der Medizinerin und Neurologie-Dozentin Ulrika Stenholm begegnen würde, die diese Kindheitserinnerung wieder zum Leben erweckte. Ganze zweiundvierzig Jahre alt, obwohl sie nicht aussah, als sei sie einen Tag älter als vierzig.

6

Nacht zwischen Mittwoch, 7. Juli und Donnerstag, 8. Juli 2010

Johansson träumte von allen Eichhörnchen, die er erledigt hatte. Von der Weste aus Eichhörnchenpelz, die er in einem knappen Jahr seinem Großonkel Gustaf zusammengeschossen hatte. Zwar hatte er mit Sommer- und Winterfellen etwas schummeln müssen, aber seine Mutter Elina, die sich als Kürschnerin betätigen musste, hatte gemeint, das spiele keine Rolle. Solange die Winterfelle den schmerzenden Rücken bedeckten, sei das kein Problem.

Im ersten Jahr hatte er etwa fünfzig Eichhörnchen geschossen. Genau wie alle anderen Männer in seiner Familie war sein Großonkel um Brust und Rücken recht üppig bemessen, das eigentliche Erlegen hatte zusammengenommen weniger als eine Minute gedauert.

Kleine, schwarz funkelnde Augen, Köpfe, die wippten und sich drehten, während sie zwischen den Föhren herumflitzten und die Stämme hoch- und runtereilten. Plötzlich hielten sie inne, ganz egal, ob der Kopf jetzt nach oben oder unten zeigte, sie beugten und drehten den Hals und betrachteten alles und alle, auch ihn. Neugierige, wache, wachsame Augen, klein und schwarz wie Pfefferkörner, und obwohl er sie bereits auf der Kimme hatte und gerade abdrücken wollte, saßen sie immer ganz still, den Kopf zur Seite geneigt. Dann drückte er ab, hörte kaum das scharfe Knallen des Kleinkalibergewehrs, und ein weiteres Eichhörnchen hatte sein Leben gelassen.

Wiederholte Male passierte es, dass sich seine Beute auf dem Weg nach unten in einem Ast verfing. Als kleiner Junge pflegte er sie dann mit einem Espen- oder Birkenschössling herunterzuholen. Als er älter wurde und fast so dicke Arme bekam wie sein ältester Bruder Evert, kletterte er den Stamm hinauf und holte sie mit der Hand herunter, problemlos. Und wenn die Kiefern im Winter gefroren und glatt waren und Schnee- und Eisflecken hatten, dann behalf er sich mit einem Stück Seil, das er um seine Taille und den Stamm band. Ein Mora-Messer in der Rechten gab zusätzlichen Halt.

Eines Tages hatte er einfach damit aufgehört, sie zu töten. Diese kleinen Köpfe, die sich die ganze Zeit bewegten, die schwarzen Augen, die ihn selbst in dem Moment betrachteten, als er abdrückte. Sie schienen nicht zu begreifen, dass sie dem Tod ins Auge schauten, und musterten ihn mit derselben Neugier wie alles andere.

Viel später im Leben, in einem anderen Leben, begegnete er Ulrika Stenholm, der Neurologin an der Karolinska-Universitätsklinik, mit kurzem, blondem Haar, faltenfreiem Hals und ohne Spuren eines braunen Pelzes oder buschigen Schwanzes. Sie wies nicht die geringste Ähnlichkeit mit einem Eichhörnchen auf, außer dieser Art, den Kopf zu bewegen, wenn sie ihn anschaute.

Ungefähr da erwachte er. Er versuchte, den Arm von der Decke zu heben, aber es gelang ihm nicht. Er schlief immer noch, obwohl er selbst hellwach war. Durstig war er auch, doch als er die Hand nach dem Wasserglas ausstreckte, warf er es um, und als er nach der Nachtschwester klingeln wollte, rutschte ihm die Klingel vom Bett.

»Verdammt noch mal, was ist eigentlich los?«, brüllte er einfach so in die Luft. Da kam die Nachtschwester, gab ihm ein Glas Wasser, tätschelte seinen rechten Arm, obwohl der schlief, und machte sich an einer der Infusionsflaschen zu schaffen. Dann schlief Johansson wieder ein. Dieses Mal ohne zu träumen.

7

Donnerstag, 8. Juli, bis Dienstag, 13. Juli 2010

Am Donnerstag suchte er die Toilette auf. Allerdings mit Hilfe eines Pflegers und eines Stocks mit Gummifuß. Den angebotenen Rollstuhl schlug er mit einem Kopfschütteln aus, den Rollator ebenfalls, und pinkeln wollte er ganz allein – trotz der Infusion, seinem hängenden rechten Arm, seinem wackeligen rechten Bein und den Schmerzen in seinem Kopf. Ein großes Glücksgefühl erfüllte ihn, das so stark war, dass er einen Augenblick lang aufschluchzte. Es liefen ihm aber keine Tränen über die Wangen.

»Hör auf zu jammern«, murmelte er halblaut. »Du befindest dich verdammt noch mal auf dem Wege der Genesung.«

 

Alles andere wäre auch seltsam gewesen, denn sein Zustand stellte inzwischen eine Herausforderung für die allerneuesten Errungenschaften der ärztlichen Heilkunst dar. In den folgenden Tagen wurde das Bett, in dem Johansson lag, auf alle erdenklichen Stationen geschoben, Johansson wurde herumgewuchtet und mit immer neuen Nadeln, Fäden, Kabeln, Schläuchen und Rohren traktiert, weitere Blutproben wurden abgenommen, und er wurde nochmals geröntgt, festgeschnallt auf einer Stahlpritsche, die in einem pfeifenden Rohr hin-und hergeschoben wurde. Er wurde aus allen erdenklichen Perspektiven untersucht. Ihm wurde in die Augen geleuchtet, an ihm wurde herumgedrückt, seine Arme und Beine wurden angewinkelt und verdreht, seine Knie wurden mit einem kleinen Metallhammer beklopft, der Griff des Hammers wurde über seine Fußsohlen gezogen, und er wurde mit kleinen Nadeln gepiekst. An allen erdenklichen Stellen und im Großen und Ganzen ohne Unterlass.

Dann kam die Krankengymnastin und zeigte ihm die ersten, einfachen Übungen. Sie versicherte ihm, dass »wir beide bald« (und es war ihr wichtig, dieses »wir beide« zu betonen) dafür sorgen werden, dass er Gefühl, Beweglichkeit und Kraft in seinem rechten Arm zurückerhielt, dass das schwerfällige rechte Bein so würde wie früher und dass sein Gesicht bereits im Begriff sei, seine ursprüngliche Position wieder einzunehmen. Mehr oder weniger von selbst und wie durch Zauberei. Im Übrigen hatte sie ein paar Broschüren dabei, die er lesen konnte, wenn er wollte, und einen kleinen roten Gummiball, den er ganz fest mit der rechten Hand umklammern sollte. Falls ihm keine Fragen einfielen, spielte das keine Rolle, da sie ihn schon am nächsten Tag wieder aufsuchen würde.

Ulrika Stenholm war in Urlaub gefahren. Aber nur für einige Tage, auch deswegen brauchte er sich keine Sorgen zu machen. Unterdessen würden sich ihre Kollegen um ihn kümmern. Ein jüngerer Assistenzarzt, der ursprünglich aus Pakistan kam, und eine großbusige unechte Blondine mittleren Alters, die vor zwanzig Jahren aus Polen nach Schweden gekommen war und ihr ganzes Leben als Neurochirurgin gearbeitet hatte. Weder Ersterer noch Letztere ähnelten einem Eichhörnchen.

 

Seine Frau Pia besuchte ihn jeden Tag. Hätte sie selbst entscheiden können, wäre sie zu ihm ins Zimmer gezogen, aber Johansson hatte sich das verbeten. Einmal am Tag sei gut, und falls etwas passiere, was eine andere Regelung erforderlich mache, so würde sie das ganz sicher rechtzeitig erfahren. Sorgfältig mied er auch alle Fragen nach seinem Gesundheitszustand. Johansson ging es mit jedem Tag besser. Bald würde er sein wie früher, weiter sei darüber kein Wort zu verlieren.

Wie es ihr im Übrigen selbst gehe? Sie musste ihm versprechen, auf sich aufzupassen. Ob sie ihm sein Handy mitbringen könne, seinen Laptop und das Buch, das er gerade gelesen habe, als es passiert sei? Den Titel habe er vergessen, aber es liege im Sommerhaus auf seinem Nachttisch. Pia brachte ihm alles mit. Das Buch, das er dem Lesezeichen nach zu urteilen, zur Hälfte gelesen hatte, rührte er nicht an. Er stellte fest, dass er keine Ahnung mehr hatte, wovon es handelte. Um noch einmal von vorne anzufangen, fehlte ihm die Kraft. Nicht jetzt, später vielleicht, wenn er wieder der Alte sein würde.

Am Wochenende kamen seine Kinder, erst seine Tochter und sein Schwiegersohn, dann sein Sohn und seine Schwiegertochter. Die Enkel mussten zu Hause bleiben, darum hatte er nicht einmal bitten müssen. Statt dessen schickten sie ihm kleine Briefe und Geschenke mit.

Die Älteste, die siebzehn war und im Frühjahr Abitur machen würde, hatte ihm einen langen Brief geschrieben, in dem sie den »besten Großvater der Welt« aufforderte, sich nicht mehr so zu stressen, alles mit der Ruhe zu nehmen und sich zu entspannen, »mehr zu chillen«. Um ihre Worte zu unterstreichen hatte sie ihm ein Buch über Meditation gekauft und eine widerrechtlich gebrannte CD mit ruhigen Schlagern geschenkt.

Ihre kleine Schwester hatte ein Bild gemalt: Johansson im Bett mit einem großen Verband um den Kopf und umgeben von weißen Kitteln. Er sah fröhlich aus, er winkte auch. Sie wünschte: »Gute Besserung, Großvater.«

Ihr zwei Jahre jüngerer Cousin hatte ihm mit seiner dünnen Knabenstimme am Handy etwas vorgesungen und ihm seine halbe samstägliche Süßigkeitenration überlassen. Mäusespeck und Fruchtgummi, klebrig von Kinderfingern und scheinbar nach gewissem Zögern. Seine zwei Jahre jüngeren Brüder, Zwillinge, hatten ausnahmsweise einmal auf demselben Block gemalt, Kopffüßer und etwas, das wahrscheinlich eine Sonne vorstellen sollte.

Geliebter Ehemann, Vater und Großvater – aber am liebsten hätte er seine Ruhe gehabt, um sich keine Blöße zu geben und ihre Besorgnis nicht ansehen zu müssen.

Sonstige Besuche von Freunden und Verwandten hatte Pia abzuwehren gewusst. Jarnebring rief fast ständig an, sein ältester Bruder jeden Morgen und Abend und wollte außerdem noch mit ihm übers Geschäft reden, alle anderen Verwandten, Freunde, Bekannten und alte Kollegen verlangten auf dem Laufenden gehalten zu werden.

»Das kann nicht leicht sein, Kleines«, sagte Johansson und tätschelte seiner Frau die Hand. »Aber bald ist es vorbei. Ich habe vor, mich am Montag, direkt nach dem Wochenende, entlassen zu lassen.«

»Darüber sprechen wir später«, antwortete Pia und lächelte schwach.

Da er diese Bemerkung bereits kannte, wusste er, dass zumindest aus diesem Montag noch nichts werden würde.

Obwohl es ihm immer besser ging. Die Anzahl der Schläuche, Kabel, Fäden und Kanülen hatte sich halbiert. Die Kopfschmerzen suchten ihn auch immer seltener heim. Er erhielt fast seine gesamte Medizin in Form verschiedenfarbiger Tabletten, die in Plastikbecherchen lagen. Schlucken und sie mit Wasser hinunterspülen tat er selbst. Am Montag erhielt er von der Stationsschwester einen eigenen Tablettenkasten. Es war wichtig, dass er sich selbst um seine Medizin kümmerte, und je früher er damit anfing, desto besser.

Johansson zeigte ihn noch am selben Abend seiner Frau. Ein kleiner roter Plastikkasten mit einem weißen, durchsichtigen Schiebedeckel. Insgesamt achtundzwanzig kleine Fächer für morgens, mittags, abends und nachts sämtlicher Wochentage. Randgefüllte kleine Fächer, insgesamt etwa zehn Tabletten pro Tag.

»Gerne ein Orden und eine schöne Rente, aber erst einmal ein ordentlicher Tablettenkasten«, meinte Johansson mit dem schrägen Lächeln, das mittlerweile ganz natürlich schien.

»Ja«, erwiderte Pia. »Das hast du also auch geschafft.« Dann lächelte sie mit den Augen und mit dem Mund, und sie wirkte ebenso fröhlich wie beim ersten Mal, als sie ihn angelächelt hatte. Danke, dass ich dich zurückbekommen habe, dachte sie.