Steve Jobs nahm seine Kinder von der Privatschule und schickte sie auf die Palo Alto High School, damit sie in Esthers Unterricht gehen konnten. Spider-Man-Star James Franco sagt, dass aus ihm ohne Esthers Unterstützung niemals ein bekannter Schauspieler geworden wäre. Und Esthers eigene Kinder beweisen, dass das Erziehungskonzept aufgeht: Alle drei Töchter haben beeindruckende Karrieren vorzuweisen. Dem Kontrollwahn und der Unsicherheit der Helikopter-Eltern tritt Esther Wojcicki entspannt entgegen. So ließ sie ihre Töchter früh selbstständig reisen, auch wenn es ihr nicht leichtfiel. Ihr Erziehungskonzept setzt auf Vertrauen, Respekt und Unabhängigkeit. Wie eine Pandamutter entlässt sie Kinder früh in die Selbstständigkeit. Denn nur so können sie glückliche Erwachsene werden.
Wie man glückliche und selbstbewusste Kinder großzieht
Aus dem Amerikanischen
von
Christiane Burkhardt und Henriette Zeltner
Ullstein
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Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel
How to Raise Successful People
bei Houghton Mifflin Harcourt, Boston.
© 2019 Esther Wojcicki
© der deutschen Ausgabe
Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2019
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Alle Rechte vorbehalten.
ISBN 978-3-8437-2182-0
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Für meinen Mann Stan,
für meine drei Töchter Susan, Janet und Anne,
für meine zehn Enkel und für alle anderen Mitglieder meiner Familie:
Möge TRICK bei ihnen und überall auf der Welt triumphieren!
Eine »Panda Mama« ist eine warmherzige, liebevolle Mutter, die ihre Kinder umsorgt, sie aber auch ermutigt, die Welt zu erforschen. Eine Mutter, die weiß, dass Scheitern zum Lernen dazugehört und Loslassen über den Erfolg ihrer Kinder entscheidet.
Wir, die drei Töchter von »Woj«, fanden es nur angemessen, das Vorwort zu schreiben – nämlich darüber, wie es tatsächlich ist, nach der Woj-Methode großgezogen zu werden. Woj ist der Kosename, den die Schüler unserer Mutter schon vor Jahrzehnten gegeben haben und den sie nie mehr losgeworden ist. Ihre Methode beruht auf Vertrauen, Respekt, Selbstständigkeit, Zusammenarbeit und Freundlichkeit und Mitgefühl (Englisch: Trust, Respect, Independence, Collaboration und Kindness – TRICK), universelle Werte, die sie auf den folgenden Seiten näher erklärt.
Das Leben hat für uns zahlreiche Überraschungen bereitgehalten, angefangen von unseren Karrieren bei Google, YouTube, 23andMe und dem UCSF Medical Center bis hin zu der Herausforderung, unseren eigenen Kindern gute Eltern zu sein – insgesamt immerhin neun, verteilt auf uns drei. Wie jeder Mensch haben auch wir Höhen erklommen und Täler durchschritten, doch den Großteil unseres Erfolgs haben wir den Erziehungsmethoden unserer Eltern zu verdanken.
Als unsere Mutter verkündete, sie schreibe ein Buch, holten wir die Tagebücher aus unserer Schulzeit hervor. Als Frau der schreibenden Zunft hielt es unsere Mutter nämlich für eine gute Idee, dass wir Tagebuch führten, vor allem als wir 1980 nach Frankreich zogen. Darin finden sich nicht nur viele lustige Anekdoten über Auseinandersetzungen und schlechtes Benehmen, sondern auch einige immer wiederkehrende Themen: Unabhängigkeit, finanzielle Verantwortung, Handlungsfähigkeit, Aufgeschlossenheit gegenüber neuen Dingen, Angstfreiheit und Dankbarkeit dem Leben gegenüber.
Mit unser größtes Glück ist heute das Gefühl von Unabhängigkeit. Unsere Eltern haben uns beigebracht, an uns zu glauben, an unsere Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen. Sie haben uns vertraut, uns schon von klein auf Verantwortung übertragen. Wir durften allein zur Schule gehen, mit dem Rad die Nachbarschaft erkunden und uns mit Freunden verabreden. Wir wurden immer selbstbewusster – eine Entwicklung, die von unseren Eltern unterstützt wurde, indem sie unsere Meinungen und Ideen respektierten. Wir können uns an keinen Tag erinnern, an dem man unsere Vorstellungen nicht ernst genommen hätte, nur weil wir Kinder waren. Unsere Eltern haben uns in jedem Alter zugehört und das Gefühl gegeben, dass wir alle voneinander lernen können. Wir haben gelernt, für unsere Interessen einzutreten, aber auch zuzuhören und Fehler zuzugeben.
In der zehnten Klasse hatte Anne ein höchst aufschlussreiches Gespräch in unserer jüdischen Gemeinde darüber, wie die Beziehung zwischen Eltern und ihren Kindern auszusehen hat. Dort erzählte man ihr, ein Kind habe zu gehorchen. Daraufhin erwiderte sie, dass bei uns in der Familie diskutiert würde. Dass unsere Eltern immer zuhörten und nie einfach nur sagten: »Nein, basta, das wird so gemacht, weil ich es so will.« Später notierte sie in ihrem Tagebuch, wie dankbar sie sei, Eltern zu haben, die sich nicht bloß auf ihre Autorität berufen. Wir haben nur selten gestritten. Wir haben viel diskutiert, aber Streit gab es kaum. Mit dem Ergebnis, dass wir ihnen außergewöhnlich dankbar für die frühe Unabhängigkeit sind, die wir erleben durften.
Mit Unabhängigkeit ist auch finanzielle Freiheit verbunden. Finanzielle Freiheit bedeutet nicht in erster Linie, reich zu sein, sondern vor allem verantwortungsbewusst mit Geld umgehen zu können, bestimmte Anschaffungen oder Unternehmungen sorgfältig zu planen. Unsere Eltern sind hochdiszipliniert, was das Geldausgeben und Sparen angeht. Beide sind Kinder von Einwanderern und haben uns immer wieder klargemacht, was die Leute alles für unnützes Zeug kaufen, nur um dann leider kein Geld mehr für die wirklich wichtigen Dinge übrig zu haben. Wie entscheidend das ist, wurde uns tagtäglich vor Augen geführt. Gingen wir auswärts essen, bestellten wir nie Vorspeisen oder extra Getränke, sondern begnügten uns mit dem Leitungswasser. Und wenn wir einen Trip in den Supermarkt unternahmen, hatten wir immer unsere Rabattcoupons dabei und schon im Vorfeld die Zeitungen nach Sonderangeboten durchforstet. Einmal brachte unsere Mutter ihr unangerührtes Flugzeugmenü mit nach Hause und servierte es Anne zum Abendessen – etwas, das ihre Kindheitsfreundinnen nie vergessen haben!
Als wir noch in die Grundschule gingen, zeigte uns unsere Mutter eine Zinseszinstabelle, und wir nahmen uns vor, jedes Jahr mindestens ein paar Tausend Dollar beiseitezulegen. Wir bekamen Kreditkarten und Scheckbücher, noch bevor wir den Führerschein hatten, weil unsere Mutter uns Finanzdisziplin beibringen wollte. Wir sollten lernen, dass man seine Kreditkartenschulden am Monatsende begleichen muss und nicht ins Minus rutschen darf. Außerdem wurden wir schon als kleine Kinder in unserem Unternehmergeist bestärkt. Jahrelang verkauften wir so viele Zitronen vom üppigen Baum unserer Nachbarin, dass wir im Viertel bald nur noch die »Lemon-Girls« genannt wurden. Susan hatte eine Firma, die aufgefädelte Kräuter, die man sich in die Küche hängen konnte, verkaufte. Schon als Sechstklässlerin verdiente sie damit Hunderte von Dollar. Die Idee war von ihr, aber unsere Mutter besorgte die Zutaten und ermutigte sie, nach draußen zu gehen und mit den Kräutern zu handeln. Und wenn uns doch einmal so richtig langweilig war, misteten wir Spielzeug aus und versuchten, es an unsere Nachbarn zu veräußern – die auch tatsächlich zugriffen (manchmal zumindest).
Für unsere Familie hatten Reisen und Bildung absolute Priorität, für alles andere wurde möglichst wenig Geld ausgegeben. (P. S.: Unser Vater trägt seit sechzig Jahren dasselbe Paar Sandalen.) Auf Reisen stiegen wir stets in den billigsten Hotels ab und nutzten jede Rabattaktion. Geld ausgeben bedeutete, eine bewusste Entscheidung zu treffen. Wir waren nie sehr wohlhabend, aber unser Umgang mit Geld gab uns die finanzielle Freiheit, um die Erfahrungen zu machen, die uns wirklich am Herzen lagen.
Unserer Mutter würde es niemals einfallen, Dinge aufzuschieben oder zu jammern. Wenn etwas heute erledigt werden kann, erledigt sie es heute! Sie hat uns zum Beispiel beigebracht, wie man Wäsche wäscht, putzt, staubsaugt, telefoniert und Sport treibt – und das alles gleichzeitig, in unter einer Stunde. Wir kennen wirklich niemanden, der so effizient ist wie unsere Mutter.
Sie hat uns beigebracht, wie angenehm es ist, etwas sofort zu erledigen, statt es hinauszuschieben. Wie viel schöner das Wochenende ist, wenn man die Hausaufgaben schon am Freitagabend fertig hat, statt sie den ganzen Samstag und Sonntag wie ein Damoklesschwert über dem Kopf hängen zu haben, um sie dann auf den letzten Drücker zu machen.
Obwohl die Philosophie unserer Mutter hauptsächlich darauf zielt, Fähigkeiten zu vermitteln, hat sie hin und wieder auch auf Bestechung zurückgegriffen. Ein Beispiel dafür, an das sich Susan noch Jahre später erinnert, ist ihre schlechte Angewohnheit als Kind, Nägel zu kauen. Unsere Mutter versprach ihr ein Kaninchen, wenn sie damit aufhörte. Nachdem Susan sechs Wochen lang keine Nägel mehr gekaut hatte (laut unserer Mutter der Zeitraum, der vergehen muss, um eine schlechte Angewohnheit abzulegen), kaufte ihr unsere Mutter eine Ratte, da der Ladenbesitzer ihr erklärt hatte, die sei besser als ein Kaninchen. Sie kaufte sogar drei Ratten: Snowball, Midnight und Twinkle.
Unsere Mutter kann gut mit Menschen umgehen: Sie genießt es aufrichtig, mit unterschiedlichsten Charakteren zu tun zu haben, und wirkt unheimlich herzlich und nahbar, ganz einfach, weil sie Neuem stets aufgeschlossen gegenübersteht. Sie ist ein echter Unternehmertyp, immer offen für Veränderungen und Innovationen. Es war weder Zufall noch Glück, dass es ihr gelang, Technik in ihre Lehrpläne und in die Klassenzimmer einzuführen, als das Silicon Valley nur so boomte. Sie liebt es, Neues zu entwickeln. Sie lernt unablässig von ihren Schülern, und deshalb schenken sie ihr auch so viel Vertrauen und Respekt – weil sie an die Veränderungsvisionen der Schüler glaubt (und dabei selbst richtig aufblüht). Erwachsene geben lieb gewordene Gewohnheiten nur höchst ungern auf und haben deshalb Schwierigkeiten im Umgang mit Teenagern. Aber unsere Mutter – inzwischen längst eine Seniorin – ist das genaue Gegenteil, weshalb die Schüler nur so in ihre Kurse strömen. Sie wissen, dass unsere Mutter sie respektiert und in ihren Ideen unterstützt, so verrückt sie auch sein mögen. Manchmal findet sie sogar die allerverrücktesten am besten! Wir sind oft selbst ganz erstaunt, wie viel Energie unsere inzwischen über siebzig Jahre alte Mutter noch hat, nachdem sie einen langen Tag (fast bis Mitternacht) damit verbracht hat, mit Teenagern an deren Schülerzeitung zu arbeiten.
Eine ihrer besten Eigenschaften als Lehrerin und Mutter ist, dass sie sich aufrichtig bemüht, immer den ganzen Menschen zu sehen, die Interessen der Schüler so zu nutzen, dass diese sich selbst motivieren, statt sie zu irgendetwas zu zwingen. Wenn eine von uns nach Hause kam und sagte, sie könne ein bestimmtes Fach nicht leiden, wollte sie immer wissen, warum. Sie versuchte herauszubekommen, was da los war: Brauchten wir Nachhilfe? Hatten wir ein Problem mit Lehrern oder Mitschülern? Dann versuchte sie eine Lösung zu finden, die unseren Bedürfnissen entsprach. Sie bemühte sich auch, herauszufinden, wofür wir uns im Lauf der Jahre begeisterten. Sie förderte Annes Interesse am Schlittschuhlaufen, Janets Vorliebe für Afrikanistik und Susans Kunstprojekte. Sie regte an, dass wir uns mit Büchern, interessanten Artikeln, Vorträgen und Kursen beschäftigten. Es sind stets die Schüler, die die Themen für ihre Zeitung auswählen und ihre Standpunkte darlegen. Wenn wir uns über Erziehungsthemen unterhalten, ruft sie uns immer wieder in Erinnerung, dass man ein Kind zu nichts zwingen kann: Man muss es motivieren, sich freiwillig so oder anders zu verhalten.
Wir möchten auch gern betonen, wie angstfrei unsere Mutter ist, vor allem in Sachen Gerechtigkeit. Sie ist die Erste, die darauf hinweist, dass der Kaiser nackt ist. Sie hat keinerlei Bedenken, ihre Meinung zu sagen, Benachteiligte zu verteidigen oder am Status quo zu rütteln. Eine ideale Eigenschaft für eine Journalistin im Kampf für die Pressefreiheit. Janet weiß noch, wie wir einmal in einem Laden anstanden und der Verkäufer versuchte, uns minderwertige Ware anzudrehen. Natürlich wollten wir den Geschäftsführer sprechen und drohten damit, den Laden bei der Verbraucherschutzzentrale zu melden. Der Glaubenssatz unserer Mutter lautet: »Wenn man den Mund nicht aufmacht, wenn man sich nicht wehrt oder beschwert, wird anderen Leuten das Gleiche passieren.« Noch so eine Erinnerung von Janet: Unsere Mutter legt sich mit dem Kinderarzt an, der Antibiotika verschreiben will. »Braucht sie die wirklich?«, fragte unsere Mutter. »Darf ich ihr auch mal ins Ohr schauen?« Konventionen, Macht und Autorität waren nichts, wovor man sich fürchten musste. Andererseits war es nicht immer lustig, eine Mutter zu haben, die mit ihrer Meinung vor Lehrern, Freunden, Eltern von Freunden usw. nicht hinterm Berg hielt. Nach all den Jahren mit dieser Mutter können wir uns an keine Situation erinnern, in der unsere Mutter es nicht gewagt hätte, offen ihre Meinung zu sagen. Sie schreckt nicht einmal davor zurück, der Kultusministerin knallhart ins Gesicht zu sagen, was sie von unserem Bildungssystem hält. Diese Herangehensweise schafft ein Umfeld, in dem junge Menschen das Selbstbewusstsein und die Ausdauer entwickeln können, die sie brauchen, um ihren Träumen und Neigungen nachzugehen, ohne sich einschüchtern oder davon abbringen zu lassen. Wir sind fest davon überzeugt, dass ein Großteil unserer Motivation und unseres Durchhaltevermögens daher rührt, dass unsere Mutter nicht bereit war, auf- oder nachzugeben.
Vor allem aber – und das ist uns am eindrücklichsten in Erinnerung geblieben – hat unsere Mutter uns beigebracht, das Leben zu lieben. Sie ist albern. Sie macht Witze. Sie ist alles andere als formell und passt in kein Klischee. Sie hat einfach gern Spaß. Unseren Vater hat sie kennengelernt, als sie in ihrem Studentenwohnheim in Berkeley eine Treppe hinunterstürzte und ihm im wahrsten Sinne des Wortes in die Arme fiel. Sie hat es geschafft, dass wir aus Restaurants geworfen wurden – und zwar wegen ihres schlechten Benehmens. Mit fünfundsiebzig hat sie die Modekette Forever 21 entdeckt, die jetzt ihr absoluter Lieblingsladen für Kleidung ist. Vor zehn Jahren hat sie Anne aus New York City angerufen, wo sie gerade mit einem Dutzend Schülern aus ihrem Journalismus-Kurs war, und gesagt: »Anne! Wir haben eine Stretchlimo zum Schnäppchenpreis gefunden und lassen uns gerade mit offenem Sonnendach durch New York kutschieren! In welchen Klub sollen wir gehen? Wir wollen tanzen!« Unsere Mutter liebt Abenteuer, sie genießt es, immer wieder etwas Neues zu entdecken. Ihre Schüler lieben sie, weil sie ihre Tatkraft und Ernsthaftigkeit durch Offenheit und Kreativität ausgleicht. Es ist ihr Ernst mit ihrem Journalismus-Unterricht, trotzdem hat sie kein Problem damit, wenn ihre Schüler beim Zuhören auf dem Fahrradtrainer sitzen. Während wir das hier schreiben, hat unsere Mutter gerade Fotos von sich verschickt, auf denen sie als Hotdog verkleidet ist. Wir kaufen vielleicht nicht unbedingt bei Forever 21 ein, haben aber von ihr gelernt, positiv zu denken und uns an jedem Tag zu erfreuen.
Wir drei Schwestern sind der lebende Beweis für die Philosophie unserer Mutter. Doch nach uns kamen noch Tausende von Schülern, die sie in Journalismus unterrichtet hat. Überall auf der Welt treffen wir Menschen, die uns mit den Worten begrüßen: »Wissen Sie, Ihre Mutter hat wirklich mein Leben verändert. Sie hat an mich geglaubt.« Ihr positiver Einfluss beschränkt sich nicht nur auf die Zeit, die diese Menschen in ihren Kursen sitzen, sondern reicht weit darüber hinaus.
Als stolzen Töchtern bleibt uns jetzt nur noch zu sagen: »Danke, Mom, dass du uns mit der Woj-Methode großgezogen hast!«
Es gibt keinen Nobelpreis für Kindererziehung oder Pädagogik, aber eigentlich sollte es ihn geben, denn das ist mit das Wichtigste, was wir für die Gesellschaft tun. Wie wir unsere Kinder erziehen und ausbilden, wird nicht nur sie als Erwachsene prägen, sondern auch unsere ganze Gesellschaft.
Alle Eltern hegen Hoffnungen und Träume in Bezug auf ihre Kinder. Sie möchten, dass sie gesund, glücklich und erfolgreich sind, und haben alle dieselben Ängste: Ist mein Kind gut aufgehoben? Wird es Erfüllung und seine Bestimmung finden? Wird es ihm gelingen, in einer Welt seinen Weg zu gehen, die immer hektischer, leistungsorientierter, ja bisweilen sogar rauer wird? Ich weiß noch, wie all diese unausgesprochenen, oft unbewussten Sorgen in dem kleinen Entbindungsraum auf mich einstürmten, als ich meine erste Tochter im Arm hielt.
Ich lag im Krankenhausbett, Susan an der Brust. Die Schwester hatte sie in eine rosa Decke gehüllt und ihr ein winziges gelbes Strickmützchen aufgesetzt. Mein Mann Stan saß neben mir. Wir waren beide erschöpft, aber auch entzückt, und in diesem Moment war klar, dass ich meine Tochter bloß anschauen musste, um sie zu lieben. Dass ich instinktiv das Bedürfnis hatte, sie zu beschützen, ihr das Leben so schön zu machen wie nur möglich, ja, dass ich alles tun würde, um ihr den Weg zu ebnen.
Doch schon bald kamen die ersten Fragen und Zweifel. Ich wusste nicht, wie ich Susan halten sollte, hatte keine Ahnung, wie man eine Windel wechselt. Ich hatte erst drei Wochen zuvor aufgehört zu unterrichten, mich also nicht groß vorbereiten können. Außerdem hatte ich nie richtig begriffen, wie ich mich überhaupt auf so etwas vorbereiten sollte. Die Geburtshelferin riet mir, es mindestens sechs Wochen nach der Geburt langsam angehen zu lassen. Meine Freunde und Kollegen gaben mir alle möglichen, sich widersprechenden Ratschläge. Sie behaupteten, die Wehen seien lang und schmerzhaft, Stillen zu kompliziert, eine viel zu große Einschränkung, Fläschchen und Milchpulver seien deutlich besser. Ich las ein paar Bücher über gesunde Ernährung (allerdings für Erwachsene, es gab damals noch keine über gesunde Ernährung für Kinder), und ich kaufte ein Gitterbettchen, ein paar Babysachen und eine kleine Badewanne aus Plastik. Um dann plötzlich Susan mit ihren riesigen blauen Augen und ihrem flaumigen Haar in den Armen zu halten, die zu mir aufsah, als wüsste ich genau, was ich tun muss.
Ich stand kurz vor der Entlassung, als ich begann, mir ernsthaft Sorgen zu machen. Wir schrieben das Jahr 1968. Damals blieb man in Amerika nach der Geburt noch drei Tage im Krankenhaus, heute entlassen einen die meisten Krankenhäuser bereits nach zwei Tagen. Keine Ahnung, wie Mütter das hinkriegen!
»Kann ich nicht noch einen Tag länger bleiben?«, flehte ich die Schwester halb verlegen, halb verzweifelt an. »Ich habe keine Ahnung, wie ich mich um mein Kind kümmern soll.«
Am nächsten Morgen bekam ich einen Crashkurs in Säuglingspflege, der zum Glück auch das Windelwechseln miteinschloss. Damals gab es noch Stoffwindeln und Sicherheitsnadeln. Die Schwester ermahnte mich, die Sicherheitsnadeln ordentlich zu schließen, damit sie das Baby nicht piksten. Immer wenn Susan weinte, kontrollierte ich als Erstes die Sicherheitsnadeln.
Obwohl es damals nicht sehr angesagt war, war ich fest entschlossen zu stillen. Daher zeigte mir die Schwester, wie ich den Kopf des Babys halten und meinen Unterarm als Stütze benutzen sollte. Das Baby sollte richtig »andocken« – nur so könne ich mir sicher sein, dass es auch Milch bekam. Das war längst nicht so einfach wie erhofft, und manchmal wurde die arme Susan vollgespritzt. Der Plan war, dass sie alle vier Stunden gestillt werden sollte, und ich nahm mir vor, das, so gut ich konnte, zu befolgen.
»Achten Sie darauf, Ihr Baby gut festzuhalten«, lautete der letzte Ratschlag der Krankenschwester. Dann waren Stan und ich auf uns allein gestellt.
Wie alle Eltern setzte ich große Hoffnungen auf meine Tochter – die Hoffnung auf ein besseres Leben, auf eine gute Zukunft, die Hoffnung, sie könne die Welt zum Besseren verändern. Wir alle wünschen uns Kinder, die glücklich, selbstbewusst und begeisterungsfähig sind. Wir alle möchten Kinder großziehen, die ein erfolgreiches, erfülltes Leben haben. So ging es mir, als Susan geboren wurde, aber auch später, als wir unsere beiden anderen Töchter, Janet und Anne, bekamen. Dieser Wunsch verbindet Menschen aus aller Herren Länder, aus allen Kulturen. Dank meiner langjährigen und doch recht ungewöhnlichen Lehrerinnenlaufbahn bin ich heute auf Konferenzen überall auf der Welt zu Gast. Egal, ob ich mich mit der argentinischen Bildungsministerin treffe, mit der geistigen Elite Chinas oder besorgten Eltern aus Indien – sie alle wollen wissen, wie unsere Kinder ein gutes Leben führen können. Wie sie sowohl glücklich als auch erfolgreich werden und ihre Talente so nutzen können, dass sie die Welt zu einem besseren Ort machen.
Niemand scheint eine eindeutige Antwort auf diese Fragen zu haben. Experten konzentrieren sich auf wichtige Aspekte der Kindererziehung wie Schlafen, Essen, eine echte Bindung herzustellen oder Disziplin, aber der Rat, den sie geben, ist in der Regel recht eng gefasst und dogmatisch. Was wir wirklich brauchen, ist nicht nur ein Mindestmaß an Informationen zur Pflege und Versorgung von Kindern, so wichtig das auch sein mag. Sondern das Wissen, wie man Kindern die Werte und Fähigkeiten vermittelt, die sie als Erwachsene erfolgreich werden lassen. Wir müssen uns auch mit dem enormen Kulturwandel der letzten Jahre auseinandersetzen – vor allem mit dem technischen Fortschritt und damit, wie sich das alles auf unsere Erziehung auswirkt. Wie können unsere Kinder im Zeitalter von Robotern und Künstlicher Intelligenz erfolgreich sein? Wie können wir dafür sorgen, dass sie sich diese technische Revolution zunutze machen? Lauter Sorgen, die Eltern überall auf der Welt kennen. Wir sind alle überwältigt von diesem rasanten Wandel, von unserem Wunsch, dass unsere Kinder mithalten können. Wir wissen, dass Familien und Schulen diesem Wandel Rechnung tragen müssen, aber nicht unbedingt, wie. Außerdem wissen wir nicht, wie wir die Werte verteidigen sollen, die uns am Herzen liegen. Wie man Kinder großzieht, die später einmal Erfolg haben werden.
Als junge Mutter ging es mir ganz genauso – ein paar Herausforderungen mögen andere gewesen sein, doch sie waren deshalb nicht weniger beängstigend. Ich nahm das bisschen Rat, das ich kriegen konnte, beschloss aber in erster Linie, auf mich selbst zu hören. Vielleicht wegen meiner Ausbildung als Investigativjournalistin oder wegen meines gesunden Misstrauens Autoritäten gegenüber, das aus meiner Kindheit herrührt: Fest steht, dass ich entschlossen war, die Antwort selbst herauszufinden. Ich hatte meine eigenen Vorstellungen davon, was Kinder brauchen, und daran hielt ich mich, egal, was andere dazu sagten. Was daraus folgte, fanden viele bestenfalls typisch für mich oder aber einfach nur schräg. Vom ersten Tag an sprach ich mit meinen Töchtern, als wären sie bereits erwachsen. Die meisten Mütter greifen instinktiv auf Babysprache zurück, verwenden eine höhere Stimmlage und einfachere Worte. Ich tat das nicht. Ich vertraute ihnen und sie mir. Ich habe meine Töchter nie in Gefahr gebracht, mich ihnen aber auch nicht in den Weg gestellt, wenn es darum ging, eigene Erfahrungen zu machen, ein kalkuliertes Risiko einzugehen. Als wir in Genf lebten, schickte ich Susan und Janet zum Brotkaufen in den Laden nebenan, und zwar ganz allein. Sie waren damals fünf und vier. Ich habe ihre jeweilige Persönlichkeit von Anfang an respektiert. Meiner Auffassung nach sind die wichtigsten Lebensjahre die zwischen null und fünf, und ich wollte ihnen von klein auf so viel wie möglich beibringen. Vor allem aber wollte ich sie zu unabhängigen Kindern machen und erst in einem zweiten Schritt zu selbstbewussten, unabhängigen Erwachsenen. Wenn sie eigenständig denken und vernünftige Entscheidungen treffen können, so dachte ich mir, können sie es mit jeder Herausforderung aufnehmen. Damals ahnte ich natürlich noch nicht, dass Forschungsergebnisse meine Entscheidungen eines Tages bestätigen würden. Ich hörte einfach nur auf mein Bauchgefühl, auf meine Werte und orientierte mich daran, was bei mir im Klassenzimmer funktionierte.
Es ist ziemlich seltsam, eine »berühmte« Mutter zu sein, mitzuerleben, wie die eigene Familie Zeitschriftentitel ziert. Ich will natürlich keinesfalls behaupten, ganz allein für ihren Erfolg im Erwachsenenalter verantwortlich zu sein, aber alle drei haben sich zu angesehenen, liebevollen, talentierten Menschen entwickelt. Susan ist CEO von YouTube, Janet Professorin für Pädiatrie an der UCSF (University of California, San Francisco) und Anne Mitbegründerin und CEO von 23andMe. Sie haben es in extrem leistungsorientierten, männerdominierten Berufen bis ganz an die Spitze geschafft, und zwar, indem sie ihren Neigungen gefolgt sind und eigenständig gedacht haben. Miterleben zu dürfen, wie sich meine Töchter mit Hartnäckigkeit und Fairness in der Welt behaupten, ist eine der größten Belohnungen meines Lebens. Besonders beeindruckt mich, wie sie Ehrgeiz beweisen und sich kooperativ zeigen, dass sie sich nicht darauf konzentrieren, die einzige Frau dort zu sein, wo sie sind, sondern darauf, Lösungen für die Probleme zu finden, denen wir uns gegenübersehen.
Als Journalismus-Lehrerin, die seit mehr als sechsunddreißig Jahren an einer Highschool unterrichtet, tue ich etwas ganz Ähnliches. Jedes Schuljahr habe ich einschließlich Anfängern und Fortgeschrittenen, die sich bereits im Abschlussjahr befinden, ungefähr fünfundsechzig Schüler, die ich vom ersten Tag an wie Profis behandle. Sie müssen im Team arbeiten und Deadlines einhalten. Ich gebe ihnen Unterstützung und leite sie wenn nötig an, habe aber festgestellt, dass projektbasiertes, kollaboratives Lernen am besten dazu geeignet ist, sie auf die Herausforderungen vorzubereiten, denen sie sich eines Tages als Journalisten und Erwachsene stellen müssen. Ich habe miterlebt, wie Tausende von Schülern mithilfe meiner Lehrmethoden Höchstleistungen bringen, und Facebook hilft mir, Kontakt zu ihnen zu halten – sogar noch zu Schülern aus den Achtzigerjahren. Sie erzielen erstaunliche Erfolge und haben sich zu außergewöhnlichen Menschen entwickelt. Ich hatte das Privileg, zahlreiche junge Menschen zu unterrichten! Darunter auch den ersten Chefredakteur der Schülerzeitung, Craig Vaughan, der heute als Kinderpsychologe am Stanford Children’s Hospital arbeitet; Gady Epstein, Medienredakteur beim Economist; Jeremy Lin, einen Harvard-Absolventen und Point Guard der Atlanta Hawks; Jennifer Linden, Professorin für Neurowissenschaften am University College London; Marc Berman, einen Abgeordneten des kalifornischen Parlaments, der den Bezirk vertritt, in dem auch Palo Alto liegt; und James Franco, den preisgekrönten Schauspieler, Autor und Regisseur. Ich hatte Hunderte von Schülern, die mir erzählt haben, mein Glaube an sie und die Werte, die ich ihnen in meinem Klassenzimmer vermittelt habe, hätten dazu geführt, dass sie sich mit ganz anderen Augen sehen konnten – und zwar auch die Person, die sie einmal werden würden.
Als sich meine Töchter in der Internet- und Gesundheitsbranche einen Namen machten und mein Journalismus-Programm nationale und internationale Anerkennung bekam, begannen die Leute zu merken, dass ich etwas anders mache. Sie sahen, dass meine Erziehungs- und Lehrmethoden Lösungen für die Probleme haben, denen wir im 21. Jahrhundert gegenüberstehen, und wollten mehr wissen. Ständig fragten mich Eltern um Rat, flehten mich manchmal regelrecht an, ihnen die Strategien zu verraten, die ich bei meinen eigenen Töchtern angewendet habe, damit sie sie in ihre Erziehung einfließen lassen können. Lehrern ging es genauso, sie fragten sich, wie ich es schaffe, weniger auf Disziplin zu pochen, sondern die Schüler stattdessen so anleite, dass sie sich wirklich für das begeistern, was sie tun. Unabsichtlich hatte ich eine Debatte darüber losgetreten, wie wir unsere Kinder großziehen wollen und was eine heute nützliche Pädagogik bewirken soll. Was ich anbiete und was bei so vielen Menschen überall auf der Welt einen Nerv getroffen hat, ist ein Mittel gegen unsere Erziehungs- und Unterrichtsprobleme, eine Methode, mit der sich gegen Angst, mangelnde Disziplin, Machtkämpfe, Gruppendruck und Technikangst ankämpfen lässt. Alle diese Dinge schränken unser Urteilsvermögen ein und schaden unseren Kindern.
Einer der größten Fehler von uns Eltern ist, dass wir meinen, persönlich für die Gefühle unserer Kinder verantwortlich zu sein. Dr. Janesta Noland, eine angesehene Kinderärztin im Silicon Valley, sagt dazu: »Eltern sind derart besessen davon, für das Glück ihrer Kinder zuständig zu sein (…), dass sie glauben, es kontrollieren zu können.« Wir tun alles, um unsere Kinder vor Misserfolgen oder Kummer zu bewahren, was aber auch bedeutet, dass sie nie lernen, mit unangenehmen Erfahrungen oder Rückschlägen umzugehen. Ihnen fehlt es an Selbstständig- und Hartnäckigkeit, sie haben Angst vor der Welt da draußen, statt sich befähigt zu fühlen, Dinge zu ändern, Neues zu erschaffen. Noch so ein großer Fehler ist, dass wir ihnen beibringen, sich hauptsächlich auf sich selbst und die eigenen Leistungen zu konzentrieren – sie sollen schließlich Bestnoten schreiben, von Eliteuniversitäten aufgenommen werden und später einmal wichtige Jobs haben. Die Kinder sind so sehr damit beschäftigt, sich auf sich selbst zu konzentrieren, dass sie kaum noch Zeit haben, darüber nachzudenken, wie sie anderen helfen und sich für sie einsetzen können. Mitgefühl und Dankbarkeit kommen da oft viel zu kurz, obwohl das die Fähigkeiten sind, die uns nachweislich am allerglücklichsten machen.
Es gibt auch so etwas wie dysfunktionale Klassenzimmer. Manche Schulen und Universitäten unterrichten immer noch so wie im 20. Jahrhundert. Sie bereiten die Schüler in erster Linie darauf vor, sich an Anweisungen für eine Welt zu halten, die so längst nicht mehr existiert. Frontalunterricht, bei dem davon ausgegangen wird, dass der Lehrer allwissend ist, und der Schüler die Aufgabe hat, stumm zuzuhören, mitzuschreiben und Prüfungen zu absolvieren, ist nach wie vor weitverbreitet – obwohl die moderne Technik es erlaubt, uns Informationen selbst zu besorgen, und zwar im Handumdrehen, nämlich mithilfe der Bibliothek, die wir alle in der Hosentasche haben, dem Handy. Schüler lernen Dinge über die entsprechenden Themen anstatt durch interessenbasiertes Lernen oder Erfahrung. Lehrpläne orientieren sich an landesweiten Prüfungen statt an projektbasiertem Lernen, das tatsächlich benötigte Fähigkeiten vermittelt und es Schülern erlaubt, zu erkennen, wo ihre wahren Interessen liegen. Tests und Prüfungen sind ausgerechnet das, was Begeisterungsfähigkeit und persönlicher Motivation am wenigsten förderlich ist. Dabei sind das doch die beiden Faktoren, die für eine effektive Pädagogik und ein glückliches Leben nachweislich unverzichtbar sind. Außerdem bringt uns diese überholte Methode bei, zu gehorchen – nicht aber, Dinge neu oder eigenständig zu denken. Wenn dann der Schulabschluss ansteht, wird das Ende allen Lernens gefeiert. Stattdessen sollten wir feiern, dass wir Fähigkeiten beherrschen, die uns in die Lage versetzen, ein Leben lang weiterzulernen.
Ist es da angesichts unserer Erziehungs- und Lehrmethoden ein Wunder, dass Kinder depressiv und ängstlich werden, den ganz normalen Herausforderungen des Lebens völlig unvorbereitet gegenüberstehen? Laut dem National Institute of Mental Health leiden ungefähr 31,9 Prozent aller 13- bis 18-Jährigen in den Vereinigten Staaten an Angststörungen. Als sich Forscher näher mit den psychischen Störungen befassten, die 2016 diagnostiziert worden waren, stellten sie fest, dass rund zwei Millionen Teenager mindestens eine heftige depressive Episode erlebt haben. Eine brasilianische Studie aus dem Jahr 2016 belegt, dass fast 40 Prozent aller heranwachsenden Mädchen und mehr als 20 Prozent aller Jungen im Teenageralter an weitverbreiteten psychischen Problemen wie Angststörungen und Depressionen leiden. In Indien wies eine Studie nach, dass ein Drittel der Schüler an Highschools klinische Angstsymptome zeigt. Und eine Umfrage des norwegischen Gesundheitsministeriums ergab, dass mehr als 50 Prozent der Teilnehmer zwischen 14 und 15 Jahren regelmäßig »traurig oder unglücklich« sind, fast die Hälfte gab an, sich »rastlos« zu fühlen. Diese Epidemie kommt weltweit vor und sollte uns alle dazu bewegen, etwas zu ändern.1
Es gibt eine bessere Methode. Wir haben die Kindererziehung zu einer unglaublich komplizierten, völlig verkopften Sache voller Ängste und Selbstzweifel gemacht. Wir sind gestresst, weil wir zu Sklaven des Glücks unserer Kinder geworden sind. Wir haben Angst davor, sie könnten in unserer heutigen, hauptsächlich leistungsorientierten Welt versagen. Wir werden schon nervös, wenn sie es nicht auf eine angesagte Vorschule schaffen, wenn sie das Alphabet noch nicht beherrschen, wo es doch alle anderen in ihrem Alter längst zu können scheinen. Wir sind diejenigen, die diese hektische Welt mit viel zu viel Leistungsdruck schaffen. In Wahrheit ist Kindererziehung ziemlich einfach – solange wir uns wieder auf die Grundprinzipien besinnen, die unsere Kinder dazu befähigen, in der Schule und im Leben Erfolg zu haben. Meine jahrzehntelange Erfahrung als Mutter, Großmutter und Pädagogin hat mir ermöglicht, fünf Grundwerte zu erkennen, die uns allen dabei helfen, zu fähigen, erfolgreichen Menschen zu werden. Damit man sie sich einfacher merken kann, habe ich sie mit »TRICK« abgekürzt:
VERTRAUEN (TRUST), RESPEKT (RESPECT), SELBSTSTÄNDIGKEIT (INDEPENDENCE), ZUSAMMENARBEIT (COLLABORATION) UND FREUNDLICHKEIT UND MITGEFÜHL (KINDNESS).
VERTRAUEN: Auf der ganzen Welt herrscht eine Vertrauenskrise. Eltern haben Angst, und das weckt auch bei den Kindern Angst – so zu sein, wie sie wirklich sind, Risiken einzugehen, sich gegen Unrecht zur Wehr zu setzen. Vertrauen beginnt bei uns selbst. Wenn wir auf die Entscheidungen vertrauen, die wir als Eltern treffen, können wir auch darauf vertrauen, dass unsere Kinder wichtige und notwendige Schritte hin zu mehr Selbstbewusstsein und Selbstständigkeit unternehmen.
RESPEKT: Der größte Respekt, den wir unseren Kindern erweisen können, ist der vor ihrer Autonomie und Individualität. Jedes Kind hat eine Gabe, ist ein Geschenk an diese Welt, und wir als Eltern haben die Aufgabe, diese Gabe zu fördern – egal welche. Das ist das genaue Gegenteil davon, Kindern zu sagen, wie sie zu sein haben, welche Berufe sie ergreifen und welches Leben sie führen sollen. Stattdessen geht es darum, sie dabei zu unterstützen, eigene Ziele zu entwickeln und zu verfolgen.
SELBSTSTÄNDIGKEIT: Selbstständigkeit erfordert ein starkes Fundament aus Vertrauen und Respekt. Kinder, denen man von klein auf Selbstbeherrschung und Verantwortungsbewusstsein beibringt, sind deutlich besser auf die Herausforderungen des Erwachsenenlebens vorbereitet und besitzen auch die Fähigkeit zu Innovation sowie Kreativität. Wirklich selbstständige Kinder sind in der Lage, mit Missgeschicken, Rückschlägen und Langeweile umzugehen – lauter Dinge, die zum Leben nun mal dazugehören. Sie haben das Gefühl, der jeweiligen Situation gewachsen zu sein, selbst im größten Chaos.
ZUSAMMENARBEIT: Zusammenarbeit bedeutet, miteinander zu arbeiten, als Familie, im Klassenzimmer oder am Arbeitsplatz. Für Eltern heißt das, dass sie ihre Kinder ermutigen sollten, zu Diskussionen, Entscheidungen, ja sogar zu Disziplin beizutragen. Im 20. Jahrhundert, als das Befolgen von Regeln noch eine Schlüsselfähigkeit war, hatten Eltern die absolute Kontrolle. Im 21. Jahrhundert kommt man mit diktatorischen Vorstellungen nicht mehr weit. Wir sollten unseren Kindern nicht vorschreiben, was sie zu tun haben, sondern uns nach ihren Vorstellungen erkundigen, um dann gemeinsam an einer Lösung zu arbeiten.
FREUNDLICHKEIT UND MITGEFÜHL: Es ist seltsam, aber wahr, dass wir dazu neigen, ausgerechnet denjenigen, die uns am nächsten stehen, die Freundlichkeit und Zuneigung vorzuenthalten, mit denen wir Fremde ganz selbstverständlich behandeln. Eltern lieben ihre Kinder, sind aber dermaßen an sie gewöhnt, dass sie nur ein Minimum an Freundlichkeit für normal halten. Außerdem leben sie nicht immer vor, dass man den anderen mit Freundlichkeit begegnen sollte. Echte Freundlichkeit schließt Dankbarkeit und Vergebung mit ein. Freundlichkeit bedeutet, sich in den Dienst anderer zu stellen und die Welt um uns herum wahrzunehmen. Es ist wichtig, unseren Kindern zu zeigen, dass es das Aufregendste und Befriedigendste ist, das Leben eines anderen Menschen zu verbessern.
TRICK ist für funktionierende Familien einfach unverzichtbar und noch dazu die Lösung für Herausforderungen, denen wir im Bildungsbereich begegnen. Der effektivste Unterricht beruht auf Vertrauen und Respekt, er fördert das eigenständige Denken und das projektbasierte, kollaborative Lernen, das sich an der Arbeit im echten Leben orientiert. Führende Pädagogen beginnen endlich zu begreifen, dass stumpfes Auswendiglernen und Frontalunterricht völlig ungeeignet sind, wenn es darum geht, Fähigkeiten für das 21. Jahrhundert zu vermitteln. Ich habe über die Jahrzehnte meine eigene Vorstellung von »integriertem Lernen« entwickelt, bei dem die Kinder ein gewisses Mitspracherecht bei den Bildungsinhalten haben und Wert auf einen verantwortungsbewussten Umgang mit Computern und E-Learning gelegt wird. Inzwischen verwenden Lehrer im ganzen Land meine Methoden, außerdem reise ich regelmäßig durch Europa, Asien und Lateinamerika, um mit Pädagogen zu sprechen und ihnen dabei zu helfen, Reformen einzuführen, die auf den Grundwerten von TRICK beruhen.
Auch Firmen erkennen zunehmend, wie wirksam TRICK ist, und beginnen, diese Werte in ihre Unternehmenskultur zu integrieren. TRICK hilft nicht nur dabei, glückliche, erfolgreiche Kinder großzuziehen, sondern auch das Beste aus Menschen jeden Alters herauszuholen. Firmen suchen Mitarbeiter mit Biss, Kreativität, der Fähigkeit, eigenständig zu denken, im Team zu arbeiten und auf eine in stetiger Veränderung begriffene Welt zu reagieren. Als der Educational Testing Service das Occupational Information Network analysiert hat – eine riesige Datenbank zur Klassifikation von beruflichen Fähigkeiten, die vom amerikanischen Arbeitsministerium geführt wird –, wurde festgestellt, dass heutige Jobs fünf wesentliche Anforderungen stellen, die auf den TRICK-Werten beruhen: Lösungsorientiertheit, geistige Flexibilität, Team-, Innovations- und Kommunikationsfähigkeit. Geistige Flexibilität, Lösungsorientiertheit und Innovationsfähigkeit entstammen alle einer großen Selbstständigkeit, die wiederum auf Vertrauen und Respekt beruht. Team- und Kommunikationsfähigkeit sind ohne Freundlichkeit und Teamgeist, den man braucht, um auch die Meinungen und Vorschläge anderer zu berücksichtigen, einfach undenkbar. Deshalb setzt inzwischen auch eine globale Hotelkette TRICK ein, um ihre Angestellten zu trainieren und zu stärken. Das ist auch der Grund, warum sich die Gründer der weltweit verbreiteten Modekette GAP neulich mit meiner Tochter Anne und mir getroffen haben. Weil sie lernen möchten, mehr erfolgreiche Geschäftsführer auszubilden. Es ist auch der Grund, warum so viele Großkonzerne – darunter die Topberaterfirma Deloitte; Mercado Libre, Lateinamerikas beliebteste Verkaufsplattform im Internet; die Bäckerei- und Kaffee-Kette Panera Bread; ja sogar Walmart und McDonald’s – TRICK-ähnliche Philosophien einführen und die Selbstständigkeit und Team- und Innovationsfähigkeit ihrer Angestellten fördern.
Als ich auf der Conscious Capitalism Conference 2017 vor einem Saal voller Topmanager einen Vortrag hielt, waren die Besucher dermaßen begeistert von TRICK, dass sie mich kaum von der Bühne gehen ließen. Ich sprach mit CEOs wie John Mackey von Whole Foods und Daniel Bane von Trader Joe’s, die beide erfolgreiche Lebensmittelketten leiten und dafür bekannt sind, dass sie ihre Angestellten fördern. Ich unterhielt mich mit Amit Hooda, der CEO von Heavenly Organics, einer Biolebensmittelmarke, und mit Jeffrey Westphal von Vertex, dem Steuer-Software-Unternehmen, und noch viele mehr haben mir versichert, dazu beitragen zu wollen, meine Philosophie weltweit bekannt zu machen. Die Werte von TRICK haben alle Diskussionen auf dieser Konferenz geprägt, weil wir die Menschen fördern müssen, mit denen wir zusammenarbeiten und uns zusammenschließen, um wirklich etwas zu verändern. Die Manager, die ich getroffen habe, wollten ihre Angestellten fürs 21. Jahrhundert fit machen, und zwar durch praxisorientiertes, projektbasiertes Lernen – so wie ich das in meinem Unterricht an der Palo Alto High School mache.
Das eigentliche Ziel von TRICK besteht darin, verantwortungsbewusste Menschen hervorzubringen – in einer Welt, in der jeder für sich selbst Verantwortung tragen muss. Genau das tun wir nämlich als Eltern, Lehrer und Angestellte – nicht nur Kinder großziehen, Unterricht leiten und Vorstände managen, sondern das Fundament für die Zukunft der Menschheit legen. Wir entwickeln das menschliche Bewusstsein weiter, und zwar schneller als je zuvor.
In diesem Buch geht es darum, wie man erfolgreiche Menschen großzieht. Es ist kein weiterer langweiliger Elternratgeber und hat auch keine Standardlösung auf Lager, wie man sein Kind zum Einschlafen bringt. Stattdessen zeigt es Eltern, wie sie sich eine universelle Philosophie menschlichen Verhaltens zunutze machen können, um mit heutigen Problemen umzugehen und unsere Kinder auf die vielen unbekannten Herausforderungen vorzubereiten, die noch vor uns liegen. Es stellt keine neuen Lerninhalte vor, sondern eher eine neue Herangehensweise, diese Inhalte zu vermitteln; eine neue Unterrichtsmethode (für zu Hause und für die Schule), die Kinder selbstbewusst und selbstständig macht – und das alles auf der Grundlage von Vertrauen und Respekt. In den nächsten Kapiteln werde ich die wichtigsten Prinzipien erläutern, die Ihnen dabei helfen sollen, ein Zuhause (oder eine Unterrichtsumgebung) zu schaffen, das Sie und Ihre Kinder dazu befähigt, Erfolg zu haben und zu wachsen.
Was ich als Mutter gemacht habe, ist nichts anderes als das, was Eltern in der gesamten Geschichte der Menschheit gemacht haben, als sie gezwungen waren, auf sich zu vertrauen, die Selbstständigkeit ihrer Kinder zu fördern und Erziehung als Gemeinschaftsaufgabe zu betrachten. Dass diese Methode funktioniert, kann man daran ablesen, dass sie wissenschaftlich untersucht wurde und sich weltweit bewährt hat, aber auch an den vielen positiven Erfahrungen zahlreicher Eltern. Sie wurde in den letzten 36 Jahren in meinem Unterricht angewendet und bei meinen eigenen Kindern schon vor 50 Jahren. TRICK funktioniert wirklich bei jedem – unabhängig von Alter, kulturellem Umfeld oder äußeren Umständen. Und es ist nie zu spät, damit loszulegen. Sie können frühere Erziehungsfehler und Missgriffe korrigieren, sowohl Ihr Leben als auch das Ihres Kindes verbessern. Aber das Tollste ist, dass Sie mithilfe von TRICK zu den Eltern werden können, die Sie schon immer sein wollten, ein Kind großziehen können, mit dem Sie gern zusammen sein wollen – und das auch gern mit Ihnen zusammen ist. Die Sorte Kind, die auch andere sich wünschen, die sie brauchen und respektieren, die Sorte Kind, die sich den Herausforderungen stellt, vor denen wir als Gemeinde, als Land und als Welt stehen.
Es ist mir eine Freude und ich betrachte es als Privileg, die Geschichten und Prinzipien, auf denen TRICK beruht, mit Ihnen teilen zu dürfen. Ich hoffe, sie werden Sie (wieder) in die Lage versetzen, auf sich und Ihr Kind zu vertrauen. Und ich hoffe auch, dass sie sich Ihnen so nachhaltig einprägen, dass Sie sich selbst daran orientieren. Sie sind genau die Eltern, die Ihr Kind braucht, und mithilfe Ihres Vertrauens und Ihres Respekts wird Ihr Kind sich genau zu dem Menschen entwickeln, der einmal aus ihm werden soll.