Der neue Sonnenwinkel
– 38 –

Ein Orakel im Paradies

… verwirrt die schönste Ärztin

Michaela Dornberg

Impressum:

Epub-Version © 2020 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74093-665-5

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Für manches gab es keine Erklärung. Da handelte man aus einem Impuls heraus. Da unterschied sich eine hochintelligente Ärztin mit mehreren Facharztausbildungen nicht von allen Frauen dieser Welt.

Roberta stand mitten im Raum und spürte, wie mehrere Wellen der Enttäuschung sie überfluteten, ihr die Tränen in die Augen trieben.

Was hatte sie erwartet?

Sie wusste es nicht. Hatte ihr Verstand ausgesetzt und ihrem Gefühl die Oberhand überlassen?

Wie sonst war zu erklären, dass sie nicht nach Hause gefahren war, sondern in das kleine Haus am See, das für sie mit so vielen Erinnerungen verbunden war.

Sie konnte sich nicht erklären, was geschehen war, wirklich nicht.

Warum war sie, wie ferngesteuert, in die falsche Richtung abgebogen?

Warum war sie jetzt hier?

Sie ließ nicht ihren Verstand, sondern ihr Gefühl die Antwort geben. Sie hatte gehofft, Lars vorzufinden. Nein, mehr noch, sie hatte es gefühlt.

So also konnte man sich auf seine Gefühle verlassen.

Roberta wankte zum Sofa, setzte sich, entdeckte einen grauen Pullover von Lars, den er hatte liegen lassen, ergriff ihn, presste ihn an sich, schnupperte daran und war enttäuscht. Sie hatte so sehr gehofft, den herben, männlichen Duft einatmen zu können, von dem er immer umgeben war.

Er war zu lange weg, der Duft hatte sich verflüchtigt. Und auch so wirkte der Raum verlassen, leer, unbewohnt. Es gab keine Spur mehr von Lars, von seiner unglaublichen Präsenz, mit der er jeden Raum ausfüllte, mit der er von der allerersten Sekunde an ihr Herz ausgefüllt hatte.

Lars Magnusson mit seinen unglaublich blauen Augen …

Normalerweise gelang es Roberta, diesen unvergleichlichen Zauber zurückzuholen, wenn sie an Lars dachte. Jetzt geschah nichts. Die Enttäuschung ließ sich nicht bannen, und dann kam noch etwas hinzu … sie hatte auf einmal Angst, böse Vorahnungen.

Das durfte nicht sein!

Eine derartige Verhaltensweise gehörte nicht zu ihr. Damit kannte ihre Freundin Nicki sich aus, und die hätte jetzt vermutlich auch direkt eine Erklärung zur Hand, warum sie jetzt hier war.

Warum war sie hier?

Roberta legte enttäuscht den Pullover wieder zur Seite, sie überlegte. Und dann gab es eigentlich nur eine einzige Erklärung, sie hatte sich in etwas hineingesteigert. Sie hatte ein Wunder erleben wollen, wie es zuvor mehr oder weniger in der Hohenborner Klinik geschehen war.

Wunder geschahen, die konnte man sich weder herbeiwünschen noch herbeizaubern.

Ihre Gedanken wanderten zurück zu dem, was geschehen war.

Sie hatte besorgt ihre Patientin Hermine Gruber aufgesucht, eine alte, einsame und nun dazu auch noch kranke alte Dame, die allein in ihrem großen Haus lebte.

Zufällig hatte sie die Dame des Pflegedienstes getroffen, vielleicht war es aber auch kein Zufall gewesen, zufällig hatte die eine junge polnische Pflegekraft erwähnt, Magdalena, und als sei das nicht schon Zufall genug, war Magdalena im Krankenhaus gewesen. Sie und Hermine Gruber hatten sich kennengelernt, es war Liebe auf den ersten Blick gewesen. Das war kein Zufall gewesen, sondern Schicksal, ein Wunder. Und anstatt das neutral zu sehen, hatte Roberta sich voll da hineinfallen lassen. Ihre Sehnsucht nach Lars war übermächtig gewesen, ihr Herz hatte ihr etwas vorgegaukelt, und ihr Verstand hatte dummerweise nicht einfach stopp gerufen.

Und so saß sie hier, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, wehmutsvoll, voller Sehnsucht und den Tränen nahe.

Sie stand auf.

Seit Lars unterwegs war, war sie öfters in dem kleinen Haus am See gewesen, doch noch nie zuvor war es ihr so leer vorgekommen, so ganz ohne Leben, und noch nie zuvor hatte sie sich so verlassen und leer gefühlt.

Roberta hatte kein Licht angemacht, die Schatten der Nacht drangen in den Raum, ließen die Möbel, alle Gegenstände schemenhaft erscheinen.

Sie machte Licht an, sah sich um, um festzustellen, dass ihr alles nur noch trostloser erschien.

Wo war Lars?

Wann würde er zurückkommen? Erst wenn die Trennungszeit um war, die sie sich auferlegt hatten?

Eine Trennung auf Zeit!

Sie hätte nicht einwilligen sollen, zumal all ihre Wünsche, die auch dazu geführt hatten, keine große Bedeutung mehr hatten. Sie waren noch immer da, klar wünschte sie sich, seine Frau zu werden, mit ihm Kinder zu haben. Es war nicht mehr drängend, und wenn es denn so sein sollte, würde sie verzichten. Lars zu verlieren, das war ein für sie unvorstellbarer Gedanke, der ihr Herz verkrampfte. Das, was sie miteinander verband, das war mehr, als manche Menschen in ihrem ganzen gemeinsamen Leben erleben durften. Zwischen ihnen, das war Magie, sie waren ein Herz und eine Seele. Sie blickte auf den Ring an ihrem Finger, berührte ihn. Heute fühlte der Ring sich kalt an, gab ihr keine Kraft.

Sie musste weg, das stille unbewohnte Haus zog sie herunter, machte sie nur noch sehnsuchtsvoller.

Sie sah sich noch einmal um, dann löschte sie das Licht, ging hinaus, schloss sorgsam die Haustür ab, dann lief sie zu ihrem Auto. Sie hätte es noch nicht ganz erreicht, als ihr der Atem stockte. Auf dem Wagendach stand ein recht großer Rabe, schien sie anzusehen. Er flog auch nicht weg, als sie sich in Bewegung setzte.

Es war eine unglaubliche Szenerie. So etwas hatte Roberta noch nie zuvor in ihrem Leben erlebt.

Was hatte das zu bedeuten?

Sie machte eine abwehrende Handbewegung, mit der sie den Vogel verscheuchen wollte. Es half nichts, er stand da und starrte sie an. Zumindest empfand sie das so.

Sie merkte, wie Panik sich in ihr ausbreitete, sie drehte sich um, rannte zum Haus zurück, schloss auf, und drinnen lehnte sie sich gegen das Holz der Tür. Ihr Herz klopfte. Und es dauerte eine ganze Weile, bis sie sich wieder beruhigt hatte.

Das durfte sie niemandem erzählen. Sie hatte sich von einem Vogel ins Bockshorn jagen lassen, war davongelaufen, als sei ein Wildschwein hinter ihr her.

Der Rabe auf dem Autodach!

Das hatte etwas zu bedeuten!

Betrachtete man Raben nicht als Überbringer von Unglücksbotschaften?

Hier stand nicht mehr die toughe Ärztin, hier stand eine aufgeregte, verängstigte Frau, die an ein Wunder geglaubt, darauf gehofft hatte und die nun in ihrer Enttäuschung in alles etwas hineininterpretierte, sogar in einen harmlosen Vogel.

Dennoch griff sie in ihre Tasche, holte ihr Hände hervor, versuchte, Lars zu erreichen. Sie hätte es sich ersparen können, sein Handy war wie immer in letzter Zeit abgestellt.

Sie musste jetzt nicht enttäuscht sein, er hielt sich an die Regeln, gegen die sie andauernd verstieß, weil sie es vor lauter Sehnsucht nicht mehr aushielt. Und hätte sie nach dem Besuch bei Frau Gruber auch nur für einen Augenblick ihren Verstand eingesetzt, dann hätte sie sich von ihren Emotionen nicht treiben lassen, sondern wäre in die richtige Richtung abgebogen. Dann wäre ihr alles erspart geblieben.

Roberta steckte ihr Handy weg, machte entschlossen die Haustür auf. Ihr erster Blick fiel auf ihr Auto. Von dem Raben war nichts mehr zu sehen.

War er wirklich da gewesen?

Oder hatte sie sich das auch nur eingebildet, wie so vieles an diesem Abend?

Sie schloss ein zweites Mal ab, als sie zum Auto ging, schaute sie sich um, nirgendwo gab es eine Spur von dem Raben. Über den Weg huschte ein kleines Tier, das so schnell war, dass sie nicht erkennen konnte, was es war. Es gab viele nachtaktive Tiere. Sie stieg ein, wendete, und ehe sie losfuhr, warf sie einen Blick auf das Haus.

Ein Vogel flog über es hinweg. Roberta zwang sich dazu, jetzt nicht zu glauben, es sei der Rabe gewesen.

Sie versuchte krampfhaft, das abzuschütteln, was sich gerade ereignet hatte. Sie durfte mit niemandem darüber reden, auch nicht mit Nicki oder Alma.

Die würden es nicht verstehen, vielleicht sogar an ihrem klaren Verstand zweifeln. Sie war überarbeitet, ihre Nerven hatten ihr einen Streich gespielt. Wünsche und Sehnsüchte hatten sich für einen Moment mit der Realität vermischt.

Roberta fand wieder zu sich, versuchte, das mit dem Raben zu verdrängen.

Warum aber wurde sie diese unerklärliche Angst nicht los? Warum hatte sie diese Vorahnungen, dass etwas Schlimmes geschehen könnte?

Sie bremste abrupt, stieg aus, ging zum Ufer des Sees, auf dem sich kaum Wellen kräuselten, der wie ausgestorben schien.

Wasser beruhigte sie normalerweise, das war heute allerdings nicht der Fall. Es erschien ihr beinahe bedrohlich, und daran konnte sie erkennen, dass sie nicht mehr ihre Sinne beisammen hatte, sie war übermüdet. Und statt auf das Wasser zu schauen, sollte sie lieber rasch nach Hause fahren und sich ins Bett legen. Morgen war ein neuer Tag, und dann würde die Welt schon wieder ganz anders aussehen.

Ehe Roberta wieder in ihr Auto stieg, blickte sie hinauf zum Himmel, auf dem sich Sterne zeigten. Sie suchte sich den hellsten aus und wünschte sich inbrünstig, Lars möge den jetzt ebenfalls sehen und an sie denken.

Als ihr bewusst wurde, dass sie nicht einmal wusste, wo der umtriebige Lars sich gerade aufhielt und dass es durchaus sein konnte, dass dort, wo er sich aufhielt, gerade Tag sein konnte, gab sie auf.

Manches ließ sich halt nicht erzwingen, auch wenn man es sich voller Inbrunst wünschte.

Lars …

Mit dem Gedanken an ihn fuhr Roberta weiter. Als sie vor dem Doktorhaus ankam, lag es im Dunkel. Auch in der Einliegerwohnung brannte kein Licht. Alma hatte sich entweder hingelegt, oder sie war unterwegs. Sie hatte nicht nur den Gospelchor, sondern sie hatte sich einen großen Freundes- und Bekanntenkreis aufgebaut, weil sie eine freundliche, umgängliche und überall beliebte Frau war.

Roberta überlegte für einen Augenblick, ihr Auto ordentlich in die Garage zu fahren, dann ließ sie es bleiben. Sie parkte vor der Tür, dann ging sie ins Haus.

Während ihrer Abwesenheit hatte sie Anrufe bekommen. Für einen kurzen Moment war sie hoffnungsvoll, wünschte sich, Lars könne einer der Anrufer sein. Dieser Wunsch fiel in sich zusammen wie ein Häufchen Asche im Kamin.

Nicki war eine Anruferin, die sich bitter darüber beklagte, sie nicht erreicht zu haben. Trixi wollte mit ihr reden, sie würde sich erneut melden. Inge Auerbach wies sie darauf hin, dass es in der Zeitung einen großen Artikel über das Zentrum geben würde, an dem eifrig gebaut wurde.

Sie löschte die Anrufer, dann setzte sie sich vor den Fernseher in der Hoffnung, etwas zu finden, womit sie sich ablenken konnte. Es war ihr vollkommen egal, ob es eine Tiersendung sein würde, ein Krimi, ein Liebesfilm oder eine Dokumentation über irgendwas.

Sie wollte das, was sich im Haus am See ereignet hatte, möglichst rasch vergessen und wieder in ihren Alltag zurückfinden.

Sich mit Krankenakten zu beschäftigen, das half. Doch Roberta brachte jetzt nicht die Energie auf, hinüber in die Praxis zu gehen und sich welche zu holen.

Sie knipste wild von einem Sender zum nächsten, weil sie das mit dem Raben unbedingt aus dem Kopf bekommen wollte.

Man sprach doch nicht umsonst von einem Unglücksraben, oder? Das erschreckte sie. Sie versuchte, sich einzureden, dass es ja auch überhaupt kein Rabe gewesen sein musste. Es war dunkel. Vielleicht hatte sie einen Raben mit einer Krähe verwechselt.

Es gelang einem nicht immer, sich selbst zu überlisten.

Im Fernsehen begannen auf einem Sender gerade die Nachrichten. Roberta legte die Fernbedienung aus der Hand und lehnte sich zurück. Nachrichten dienten zwar in der Regel nicht dazu, jemanden aufzumuntern, doch sie waren nötig. Man musste informiert sein, wenngleich vieles von dem, was man hörte, unnötig war. Roberta fragte sich manchmal, warum erwähnt werden musste, dass es in Kolumbien einen Busunfall mit zwei Verletzten gegeben hatte. Es gab im eigenen Land, weiß Gott, genügend Baustellen, um die man sich kümmern musste. Doch davon wurde abgelenkt. Das wurde sie jetzt auch, denn es wurde von einer Königshochzeit berichtet. Und so etwas ließ jedes Frauenherz höherschlagen, auch das einer gestandenen Ärztin. Roberta vergaß alles, konzentrierte sich auf die schönen Bilder einer scheinbaren Welt. Die Braut hatte ein schönes Kleid an. Das könnte ihr ebenfalls gefallen. Und wie verliebt die beiden sich anblickten. Da konnte einem wirklich das Herz aufgehen.

Ja, die Liebe, die war wirklich das Größte, danach kam eine ganze Weile nichts …

*

Rosmarie Rückert hatte ihre feudale Villa nie geliebt, weil von Anfang an ihre törichten Erwartungshaltungen nicht erfüllt worden waren.

Sie hatte geglaubt, größer, schöner und teurer würde sie in ein neues Leben katapultieren. Dabei waren nur die Vorbereitungen, die Bauphase, die Einrichtung interessant gewesen. Kaum drinnen in ihrem Palast, der viel zu groß gewesen war für zwei Leute, war die große Leere eingetreten. Sie war unzufrieden gewesen, und das hatte sie letztlich auch in eine Krise mit Heinz gebracht.

Welch ein Glück, dass sie irgendwann die Kurve bekommen und begriffen hatte, dass es im Leben auf mehr ankam als auf Geld, Geld, Geld, auf alles, was man sich dafür kaufen konnte. Vermutlich hätte es sonst noch ein sehr böses Ende mit ihr genommen.

Die Villa war verkauft. Es gab nicht mehr diesen Klotz am Bein. Auf der einen Seite war sie auch befreit, doch andererseits löste der Umzug merkwürdige Gefühle in ihr aus, dabei stand er noch nicht einmal unmittelbar bevor. Das Haus im Sonnenwinkel musste erst noch nach ihren Wünschen umgebaut werden Sie sortierte aus, weil sie im neuen Leben nur noch einen Bruchteil dessen benötige, weil es nicht mehr diesen Platz gab. Außerdem hatte sich ihr Geschmack vollkommen verändert. Protzig, das war nicht mehr ihr Ding, Heinz hatte es eh nicht interessiert. Er hatte es ihr damals, wie jetzt auch, überlassen, alles einzurichten.

Sie hatte einiges in die Zeitung gesetzt, dafür Abnehmer gefunden, und diese Möbel hatte sie bereits abtransportieren lassen und dennoch nicht das Gefühl, als sei es leerer geworden. Die Villa war einfach zu groß. Welcher Teufel sie da geritten hatte, einen solchen Palast bauen zu lassen.

Sie konnten von Glück reden, dass Piet van Beveren, der neue Eigentümer der Villa, vieles übernehmen würde, vor allem all die prunkvollen und teuren Möbel und sonstigen Einrichtungsgegenstände. Und er zahlte einen sehr guten Preis. Ja, das lief alles gut. Rosmarie wunderte sich deswegen, warum sie dennoch ein eigenartiges Gefühl beschlich. Sie war doch froh, alles loszuwerden.

Sie kochte sich einen Tee, weil Meta unterwegs war, für das neue Haus etwas abzuholen. Sie hing wirklich nicht an der Villa. Die Verunsicherung war da, weil sie nicht wusste, ob es die richtige Entscheidung gewesen war, sich spontan für das Haus im Sonnenwinkel zu entscheiden. Es war vernünftig, daran gab es nichts zu zweifeln. Sie und Heinz würden viel unterwegs sein, ob mit dem Wohnmobil oder bei Cecile in Frankreich, darauf freute Rosmarie sich. Warum also dann jetzt diese Zweifel, dieses mulmige Gefühl in der Magengegend?

Sie blickte sich in dem Salon, in dem noch alles unverändert war, um. Alles war erlesen, teuer. Sie hatte es eingerichtet, alles war nach ihren Wünschen geschehen, und dennoch hatte sie sich in diesem Raum, nicht nur in dem, niemals wohlgefühlt, sondern war sich wie eine Besucherin vorgekommen.

Sie zuckte zusammen, als es klingelte.

Normalerweise wären jetzt Beauty und Missie zur Tür gestürzt, die waren mit Meta unterwegs, die die Hunde über alles liebte und sich schon auf lange Spaziergänge am See freute. Ja, sie freute sich, und sie war froh, in ein neues Leben eintauchen zu können.

Es klingelte erneut, diesmal anhaltender.