Isabell Aue
mit Sabine Eichhorst
Den Hof
mach ich mir selbst
Aus dem Leben einer Jungbäuerin
Wilhelm Heyne Verlag
München
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Originalausgabe 06/2014
Copyright © 2014 by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Redaktion: Andrea Kunstmann
Umschlaggestaltung und Motiv: Hauptmann & Kompanie, Zürich
Satz: EDV-Fotosatz Huber/Verlagsservice G. Pfeifer, Germering
ISBN: 978-3-641-11009-3
V002
www.heyne.de
INHALT
Glück
Es ist ein Mädchen
Lehrjahre
Reifeprüfung
Liebe
Bildteil
GLÜCK
Nachts hatte es geregnet, und in der Morgensonne schien die Erde zu dampfen. Die Luft roch feucht und würzig, und ab und zu fielen ein paar verspätete Tropfen von den Zweigen der Birken auf mein Haar, meine Arme, auf Ondras Mähne. Es war noch früh.
Am Feldrand blühten Klatschmohn und Kornblumen, bunte Tupfen vor hellem Getreide, wie auf dem Bild eines Malers. Auf einem Zaunpfahl saß ein Bussard, reglos und erhaben. Ich ließ die Zügel locker, knöpfte meine Jacke auf und rutschte aus dem Sattel. Ein dumpfes Geräusch, als meine Füße auf den Boden trafen. Ondra schnaubte. Ich löste die Leine am Halfter des Fohlens. Es schüttelte sich. Sein Körper war stämmig, der Hals kräftig, sein Fell glänzte. Seine weichen Nüstern schnupperten an meiner Schulter, es wieherte leise, dann schüttelte es den Kopf und trabte an. Eine Weile hielt es auf den Graben am Ende des Felds zu, und kurz bevor es ihn erreichte, wechselte es in einen geschmeidigen Galopp. Dann setzte es zum Sprung an.
Ich lehnte mich an einen Baumstamm und sah ihm zu. Mit erhobenem Kopf und wehender Mähne galoppierte es über die dahinterliegende Wiese. Eine schmale Reihe Birken zog sich an ihrem Rand entlang, die Kronen neigten sich im Wind. Der Bussard breitete die Schwingen aus. Er erhob sich und glitt durch die Luft, ließ sich von der Thermik tragen, und ein kurzer Schauer fuhr mir über den Rücken, so leicht und vollkommen mühelos sah es aus.
Ondra senkte den Kopf und rupfte an einem Büschel Löwenzahn. Auf einigen Feldern blühte Raps, auf anderen standen Getreide und kniehohe Maisstauden. Ein Blatt flatterte durch die Luft, ein rosa Blütenblatt – Ackerwinde? Wilde Malve? Langsam, in einer immer enger werdenden Spirale sank es zu Boden und landete dicht neben meinem Fuß auf einer Kleeblume. Vögel zwitscherten, und in den Brombeerbüschen glitzerten Spinnweben.
Für einen Moment schloss ich die Augen.
Als ich sie wieder öffnete, sah ich den blassen Mond, der am Himmel stand. Bald würde ihn die Sonne vertreiben. Bald würde der Himmel die Farbe der Kornblumen annehmen, bald würde die Wärme des Tages die Feuchtigkeit trocknen und die schillernden Spinnweben, bald würde es nach Staub riechen, nach jungem Gras.
Irgendwo quakte ein Frosch. Ich griff nach dem Blütenblatt, legte es in meine offene Handfläche. Ondra sah auf, Grashalme an den Lippen. Das Fohlen stob immer noch über die Weide, und sein dichter Schweif schlug durch die Luft. Über meinem Kopf raschelte es, ein Eichhörnchen ließ sich von einem Ast fallen, landete auf einem anderen, sprang behände weiter und hinauf bis in den Wipfel. Dann war es wieder still. Eine Schnecke kroch durchs Gras, fuhr tastend ihre Fühler aus, und die weiße Borke der Birken leuchtete rötlich in der Morgensonne. Am Horizont färbte sich der Himmel gelb und rosé.
Die Stille, die mich umgab, war so weich und voll, dass es beinahe schmerzte.
ES IST EIN MÄDCHEN …
1.
Kurz bevor es losging, marschierte mein Vater in die Kneipe. Den ganzen Tag hatte er das neue Rübenfeld beackert, nun war er hungrig.
»Wer ordentlich arbeitet, muss ordentlich essen!« Er ist ein großer und kräftiger Mann, hat störrisches Haar und riesige Hände, die, selbst wenn er sie schrubbt, nie ganz sauber werden, und wenn er über die Felder läuft, die seine Familie seit über zweihundert Jahren bestellt, stapft er breitbeinig und mit festem Schritt über den schweren Lehmboden.
Auf dem Weg fütterte er noch die Wildschweine. Dann fuhr er nach Hildesheim. Er schaute kurz in der Klinik vorbei und marschierte weiter in die nahe Innenstadt. Die Brathähnchen bei Leinemann waren vorzüglich, und er bestellte zwei halbe, dazu ein Bier. Er war sicher: Das wird schon. Schließlich hatte er einen Kurs gemacht, er wusste Bescheid, und als man meine Mutter in den Kreißsaal gebracht hatte, hatte er mit einem Blick gesehen, dass diese spezielle Sache noch eine Weile dauern würde.
Er biss in die Hähnchenschenkel, nagte das Fleisch von den Flügelknochen, ab und zu spülte er mit einem Schluck Bier nach. Fett glänzte auf seinen Lippen, und unter seinen Fingernägeln zeichneten sich schwarze Halbmonde ab.
Als er gegen halb acht wieder in die Klinik kam, nahmen die Ärzte meine Mutter gerade vom Wehenschreiber. Auf dem Monitor prangte eine Zahl, die ihm nichts sagte, und aus dem Drucker floss Papier voller wild gezackter Kurven. Meine Mutter war blass und erschöpft, ihr nasses Haar klebte ihr im Gesicht. Ihr Bauch war riesig, und während mein Vater ihn bestaunte, schüttelte eine neue Wehe ihren Körper. Plötzlich entdeckte er zwischen ihren Beinen einen …?
Einen Ballon?
»Was ist das denn?«, rief er und im nächsten Moment: »Atmen, Sylvia, atmen!«
Er war gerade noch rechtzeitig gekommen, doch nun war alles ganz anders als im Geburtsvorbereitungskurs, wo sie Atem- und Entspannungstechniken geübt hatten, wo die Hebamme ihnen Gebärpositionen gezeigt und die Vor- und Nachteile einer Periduralanästhesie gegenüber Massagen oder Akupunktur erklärt hatte. Plötzlich war alles aufwühlend, mitreißend, dramatisch – einfach überwältigend. Ein Gefühl wie damals, als er seinen ersten Sechzehnender geschossen hatte.
Nein, es war noch besser.
Eine Stunde später, um 20.30 Uhr am 16. April 1986, hielt mein Vater sein erstes Kind in den Armen.
Mich.
Ein Mädchen.
Er war überglücklich und enttäuscht.
2.
Seine Enttäuschung legte sich, als mein Vater beschloss, mich wie den Sohn zu behandeln, den er sich gewünscht hatte. Im Oktober, als er Rüben rodete, schlief ich in einem Körbchen neben dem Fahrersitz auf seinem Trecker. Im März, als er pflügte, saß ich auf seinem Schoß und lugte übers Lenkrad. Furche um Furche kurvten wir über den Acker, der Pflug lockerte die harte Krume, und ab und zu am Ende einer Furche hielt Papa, hob die Pflugscharen und sprang aus der Fahrerkabine. Er fütterte mich. Anschließend zog er eine Windel aus seiner Tasche, breitete einen alten Sack auf dem Boden aus und wickelte mich; die vollen Windeln pflügte er in der nächsten Furche mit unter.
Meine Mutter arbeitete als landwirtschaftliche Sachverständige, und wenn sie irgendwo in Niedersachsen einen Bauernhof begutachtete, ging mein Vater mit mir zum Babyschwimmen. Er nahm mich mit zum Forellenfischen und in den Wald, wenn er Brennholz machte. Beim Bauernstammtisch hockte ich zwischen Männern in groben Hosen und derben Schuhen, die Gesichter noch verschwitzt von der Arbeit, sie tranken Bier aus dicken Gläsern und rauchten und redeten und lachten; für mich bestellten sie jedes Mal frische Milch. Ich war zwei Jahre alt, als Papa einen neuen Trecker kaufte, einen hellgrün leuchtenden Mercedes-Benz-Traktor – dasselbe Modell bestellte er in Klein, einen hellgrün leuchtenden MB-Trettraktor, und zu Weihnachten kurvte ich damit um den Tannenbaum. Mit fünf Jahren bekam ich Lederhosen, mit acht ein Jagdmesser, mit zehn ein Tierfährtenbuch, mit zwölf ein Luftgewehr. Ich liebte diese Geschenke – viel mehr als den Puppenwagen, den Mama mir schenkte, oder das Mandala-Malbuch. Mädchengeschenke langweilten mich. Draußen auf dem Hof zu spielen, mit echten Tieren, war viel spannender. Mein liebster Freund in Kindergartentagen war Tobias – gemeinsam nahmen wir unsere Ziegen an die Leine und gingen mit ihnen spazieren. Einmal büxte eine aus, und die Polizei kam, um sie einzufangen. Solchen Unfug konnte man mit anderen Mädchen nicht anstellen.
Unser Hof lag in Groß Düngen, einem Rund-Eintausend-Seelen-Dorf in der Nähe von Hildesheim. Wir lebten in einem Fachwerkhaus umgeben von Obstgärten, Ställen, Maschinenhallen und sechzig Hektar Land. Meine Eltern bauten Getreide an und Rüben, sie hielten Hühner, Pferde und Ziegen und anfangs auch ein paar Wildschweine; eines war die Schwester von Luise, die für die niedersächsische Polizei nach Drogen und Sprengstoff schnüffelte und es als weltweit erstes Schwein im Polizeidienst ins Guinnessbuch der Rekorde schaffte. Eines Tages, ich konnte bereits laufen und stromerte herum, streckte eine borstige Bache ihre Nase durch den Zaun des Geheges. Eine andere Bache hatte Junge, sechs Frischlinge drängelten sich an ihren Zitzen, stießen einander beiseite und kletterten übereinander hinweg – fasziniert hielt ich mich am Zaun fest und sah zu. Die Bache schnupperte an meinen Fingern.
»Geh da weg, Isa!« Mein Vater trat aus dem Stall, ein Gesicht wie Blitz und Donner. Er ließ die Forke fallen und rannte los.
Lachend tatschte ich nach dem Maul der Bache.
Im nächsten Augenblick packten mich zwei kräftige Arme und rissen mich fort. Die Bache stob zurück.
»Wenn die zubeißt, sind deine Finger ab!« Papa griff nach meinen Händen, er betrachtete meine Finger wie zehn kleine Wunder und streichelte jeden einzelnen. Dann verbot er mir, noch einmal allein zum Gehege zu gehen. Ich tat es trotzdem. Bald darauf schaffte er die Wildschweine ab – auch Luises Schwester endete in einer Wurstdose.
Die Jungen und Mädchen, mit denen ich in den Kindergarten ging, spielten nachmittags Würfelspiele – ich fuhr Rüben mit meinem Trecker. Ich badete Seidenhühner im Bollerwagen, spazierte mit Conny, unserer Ziege, an der Leine durchs Dorf und kroch mit Cornelius, unserem Hausschwein, durch den Matsch; abends war ich schmutziger als das Schwein. Ich baute Strohburgen und hielt die Läufe, wenn Papa ein erlegtes Wildschwein aufbrach.
»Willst du auch mal?«, fragte er, als er eines Tages ein Dutzend Hennen schlachtete.
Ich schüttelte den Kopf und sah schaudernd zu, wie er zügig und ohne innezuhalten, einem Huhn nach dem anderen den Kopf abhackte. Der Hackklotz war voller Federn, seine Schürze rot, Blut tropfte vom Beil. Ich spürte, wie mir die Tränen kamen. Am Tag zuvor hatte ich noch die Eier all dieser mir sehr vertrauten Hühner eingesammelt.
»Willst du es nicht mal ausprobieren?« Ohne aufzusehen packte Papa die nächste Henne, sie gackerte schrill, sie schien um Hilfe zu schreien, doch er hielt sie mit seinen mächtigen Händen, und wieder sauste das Beil durch die Luft, Blut spritzte, und die Henne zuckte zuerst und flatterte dann kopflos vom Hackklotz. Ich schloss die Augen. Als ich wieder hinsah, tauchte mein Vater das Huhn in einen Kübel mit heißem Wasser, damit es sich leichter rupfen ließ. Mit seinem blutverschmierten Arm wischte er sich den Schweiß von der Stirn.
»Da musst du wohl noch ein bisschen abhärten.«
Er sollte recht behalten.
Ich ging bereits in die erste Klasse, als er eines Nachmittags mit einem Korb Tauben nach Hause kam. Sein Bruder, mein Onkel Heinrich, züchtete Brieftauben.
»Alles schlechte Flieger.« Er stellte den Korb ab. Dann runzelte er die Stirn. Er sah mich an, maß mich mit einem prüfenden Blick, hob eine Augenbraue. »Wenn du sie schlachtest«, sagte er, »bekommst du für jede Taube fünf Mark.«
Ich nickte.
Doch er bemerkte mein Zögern.
»Gut«, sagte er schließlich und rieb sich die Hände an seinen Arbeitshosen. »Machen wir es so: Ich köpfe sie, und du rupfst sie.«
Bald rupfte ich zwanzig Tauben am Tag, ich war sogar geschickter als Papa, denn ich hatte ja wesentlich kleinere, wendige Finger.
»Das gibt ein leckeres Taubensüppchen«, sagte der Koch, als wir die Tauben in der Gaststätte im Nachbardorf ablieferten, und der Wirt öffnete seine Kasse und nahm einen Hundertmarkschein heraus.
Stolz steckte ich das Geld in die Tasche.
Trotzdem wollte ich, als im Frühjahr Hühnerküken schlüpften, eins behalten. »Ich will es füttern und aufziehen.«
»Aber wenn es groß ist, schlachten wir es.« Papa stapfte durch den Stall und bückte sich nach einer Rolle Maschendraht. »Hühner sind Nutztiere.«
Ich schlüpfte vorbei und fing ein Küken ein, das durchs Stroh stolperte. »Aber ich suche mir ein Hennenküken aus, und wenn das groß ist, legt es Eier und kriegt noch mehr Küken und ist auch nützlich.« Das flaumige Knäuel in meinen Händen zitterte. »Ein Gockel dagegen …« Nebenan, als spürte er, dass wir über ihn sprachen, krähte der Hahn. »Ein Gockel ist ja nicht zu viel nütze …«
Papa richtete sich auf. Erstaunt sah er mich an, wischte sich Haare aus dem Gesicht – und lachte laut los.
»Einverstanden«, sagte er schließlich.
»Ich nenne es Anna.«
»Deine Taube heißt schon Anna.«
»Ja, der Name gefällt mir.«
Bald entpuppte sich Anna als Hahn – behalten durfte ich ihn trotzdem. Anna-Hahn war so zahm, dass er mir auf Schritt und Tritt folgte und auf meiner Schulter hockte, wenn ich zur Schule ging. Eines Tages nahm ich ihn mit in den Unterricht. Doch Anna-Hahn kackte in den Schrank mit den Schreib- und Rechenheften.
Hinterm Haus hatte Papa Volieren gebaut, und mit Anna-Hahn auf der Schulter verbrachte ich Stunden in dem bunten Geflatter und Gezwitscher. Die Wellensittiche waren zutraulich und hüpften mir auf den Arm. Die Kanarienvögel trillerten wie Opernsänger, die Zebrafinken quietschten wie alte Türangeln. Die Diamanttauben mit ihrem unscheinbaren Gefieder fand ich langweilig, doch die Wachteln faszinierten mich, sie hockten die ganze Zeit am Boden und legten winzige gesprenkelte Eier. Ich baute ihnen Nester und wartete ungeduldig, wenn sie brüteten.
»Wachteleier sind eine Delikatesse«, sagte Mama, und als ich eines kostete, schmeckte es fein und würzig – wie ein ganz besonders gut gelungenes Hühnerei.
Mein zweiter Begleiter in diesen Jahren war Bonnie, eine schwarz-weiße Münsterländer-Mischlingshündin. Wir waren unzertrennlich. Sobald ich laufen konnte, folgte sie mir, und wenn ich stiften ging, kläffte sie jeden an, der mich auf der Dorfstraße auflesen und nach Hause bringen wollte. Sie schlief in meinem Zimmer und ich in ihrer Hundehütte. Eines Mittags, als ich aus der Schule kam, war mein Meerschweinchen verschwunden – ich fand es in Bonnies Hütte, wo sie es mit der Schnauze an ihre Zitzen stupste.
»Sie will es säugen«, sagte Papa. »Sie ist scheinträchtig.«
Bald verschleppte Bonnie auch meine Kuscheltiere und bemutterte sie wie Welpen.
3.
An einem Morgen im Frühjahr spürte ich etwas Feuchtes an meinem Arm. Ich öffnete die Augen. Bonnie hockte vor meinem Bett. Unten hörte ich Stimmen – schnell schlug ich die Decke zurück, schlüpfte in meine Hosen, zerrte ein T-Shirt über den Kopf und stürzte die Treppe hinunter in die Küche. Papa hatte versprochen, mich zum Viehmarkt mitzunehmen.
Es dämmerte gerade, als wir losfuhren.
»Wenn man gute Tiere kaufen will, muss man früh dort sein.« Papa trug Cordhosen und ein Polohemd, seine Haare waren ordentlich gekämmt.
»Kaufen wir Hühner?«
»Nein, Gänse.« Das Radio rauschte, und er suchte einen Sender. »Hühner haben wir genug.« Er kurbelte bis zum Ende der Skala, dann zog er eine Kassette aus dem Handschuhfach. Zu den Klängen der Jagdhornbläser, die Aufbruch zur Jagd, Treiber in den Kessel und andere Signale bliesen, fuhren wir über die leere Landstraße.
»Wir könnten auch ein Dalmatinerkaninchen kaufen.« In der Bauernzeitung hatte ich ein schwarz-weiß geflecktes Karnickel gesehen.
»Erst mal kaufen wir Gänse und mästen sie.«
Als wir eine Dreiviertelstunde später in Burgdorf ankamen, ging bereits die Sonne auf. Auf einer Wiese hatte man Maschendrahtverschläge, Pferche und Käfige aufgebaut, Pferde und Ponys standen angepflockt, Ziegen und Lämmer trippelten durchs Stroh. Ein Ziegenbock meckerte und reckte seinen Kopf, sein dürrer Bart wehte im Wind. Ein Schäfer trieb Schafe in eine Koppel, und ein schmalbrüstiges Lamm blökte und suchte seine Mutter. Ein Mann lehnte an einem Hühnerverschlag.
»Was kosten die?«, fragte ein Glatzkopf in blauem Kittel und deutete auf eine Schar ausgewachsener Brahmahennen.
Blitzschnell packte der Händler ein Huhn und hielt es dem Glatzkopf hin. »45 Mark.«
Der Glatzkopf schnalzte. »25.«
Der Händler schüttelte den Kopf. »Sehen Sie sich den breiten Rumpf an! Die volle Brust, das dichte Gefieder an den Läufen …«
»Komm«, sagte Papa und nahm meine Hand.
Wir liefen an Welpengehegen vorbei, an Meerschweinchen, Ferkeln und Fohlen, an wuscheligen Schafen und Katzenbabys, an Hasen, New-Hampshire-Hühnern und Milchkühen, die mit malmenden Kiefern beieinanderstanden, eine hob ihren Schwanz, und ein dampfender Strahl ergoss sich ins Stroh. »Jeder Rammler für ’nen Zwanziger«, rief eine Stimme neben mir.
»Sieh mal, Frettchen.« Papa blieb vor einem Käfig stehen – schlanke Tiere mit hellem Fell, buschigen Schwänzen und spitzen rosa Ohren wieselten durcheinander.
»Sie stammen von Iltissen ab und treiben Kaninchen aus ihrem Bau.« Ein Frettchen beobachtete uns, sein Blick war äußerst wach.
»Werden sie dressiert?«
»Man kann sie abrichten und dann zur Jagd nehmen.«
Bei einem Händler, den Papa aus dem Vorjahr kannte, kauften wir schließlich zehn Gänse.
»Willst du noch eine Bratwurst?«, fragte er, als er die Käfige im Auto verstaut hatte. Neben dem Parkplatz spielte ein Mann Drehorgel. Die Sonne stand jetzt über den Bäumen, und auf einer Koppel ließ eine Frau eine Hannoveranerstute antraben und wieder in den Schritt fallen. Ein baumlanger Kerl schaute einem Haflinger ins Maul. »Wie alt?«, hörte ich ihn fragen. »Vier Jahre und schon zugeritten«, antwortete der Züchter.
»Was ist, Isa? Wollen wir noch ein Würstchen essen?«
Ich schüttelte den Kopf: »Ich möchte noch mal zu den Kaninchen.« Hinter der Pferdewiese hatte ich einen Züchter mit Dalmatinern gesehen und deutete vage in die Richtung.
»Na gut …« Papa winkte einem Mann zu, der einen Sattel und Zaumzeug trug. Er winkte zurück; unter seinen Armen prangten riesige Schweißflecke. Ich schob meine Hand in Papas und zog ihn durch die Menge.
Vor einem Käfig mit drei gefleckten Karnickeln blieb ich stehen. Ich griff durch die Gittermaschen, und ein Kaninchenjunges schnupperte an meinen Fingern.
»Fühl mal, wie weich ihr Fell ist.«
»Die sind reinrassig.« Ein Mann, dünn wie ein Strich und mit karottengelbem Haar, öffnete den Käfigdeckel.
»Ohren hat er aber wie ein Deutscher Riese«, sagte Papa.
»Ich kann Ihnen die Papiere zeigen.« Der Züchter nahm das Tier und setzte es mir auf den Arm.
»Was soll es kosten?«
»Dreißig Mark.«
Mein Vater stieß Luft zwischen den Zähnen aus: »Kommt gar nicht infrage. Für das Geld krieg ich zwei Schlachtkaninchen.«
»Nehmen Sie zwei«, sagte der Züchter, »dann gebe ich Ihnen einen Rammler umsonst dazu.«
»Ja, Papa! Wir nehmen zwei, und ich züchte Dalmatinerkaninchen.«
Er schüttelte den Kopf. »Schlachten werde ich es trotzdem.«
»Aber warum?« Ich schmiegte mein Gesicht in das weiche Fell.
Papa packte das Karnickeljunge. »Weil Tiere nicht zum Spielen da sind, sondern zum Essen. Und das beste Fleisch kommt aus dem eigenen Stall, da weiß man, was man auf dem Teller hat.« Er untersuchte das Fell und guckte dem Kaninchen in die Augen – das Kaninchen guckte erschrocken zurück.
Etwas in mir sträubte sich, gleichzeitig leuchteten mir Papas Worte ein.
»Das Tier ist kerngesund«, sagte der Händler. »Eigentlich gebe ich es Ihnen noch viel zu billig.«
Papa murmelte etwas, das ich nicht verstand, dann reichte er mir das Karnickel und zog sein Portemonnaie aus der Hosentasche.
Ich war sechs Jahre alt, als ich zum ersten Mal selbst ein Huhn schlachtete; an spritzendes Blut und wildes Gegacker hatte ich mich gewöhnt. Anschließend tauchte ich es in den Brühkessel, Papa rupfte es, dann zeigte er mir, wie ich es ausnehmen musste. Mit sieben Jahren packte ich ein Kaninchen an den Hinterläufen.
»Hau ihm auf den Kopf!«, sagte Papa und reichte mir einen Stock.
»Mit dem Besenstiel?«
»Wenn du groß bist, kannst du auch einen gezielten Handkantenschlag setzen.«
»Tut ihm das nicht weh?«
»So tötet man ein Kaninchen. Mit einem sauberen Karnickelfangschlag.« Dann schlug er zu.
Auch das Dalmatinerkaninchen, das wir auf dem Viehmarkt gekauft hatten, wurde geschlachtet, ebenso die Jungen, die ich gezüchtet und aufgezogen hatte.
»Nein, das nicht!«, rief ich, als Papa eines Nachmittags kurz vor Ostern ein halbes Dutzend Kaninchen schlachtete. Er arbeitete zügig und konzentriert und hörte mich nicht – ehe ich michs versah, hatte er auch meinem silbergrauen Lieblingskarnickel einen Schlag versetzt.
»Wir haben genug Tiere«, murmelte er, als er mein Gesicht sah.
Ein einziges Kaninchen bekam bei uns das Gnadenbrot: Schneeflöckchen, ein blauäugiges Hauskaninchen, das dick und dicker wurde, bis es an Herzverfettung starb – an ihm hatte auch Papa einen Narren gefressen.
In dieser Zeit war das Leben ein Abenteuer und jeder Tag voller Entdeckungen. Als Mama 1990 wieder schwanger war, hoffte Papa erneut auf einen Sohn.
»Oma«, seufzte er, als er aus dem Kreißsaal kam und seine Schwiegermutter anrief, »jetzt haben wir den Krieg verloren.«
Meine Schwester Flora sollte immer eine enge Beziehung zu unserer Mutter haben – ich dagegen war die Tochter meines Vaters und sein liebster Sohn.