Honoré de Balzac

Glanz und Elend der Kurtisanen

Honoré de Balzac

Glanz und Elend der Kurtisanen

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019
Übersetzung: Felix Paul Greve
EV: Insel-Verlag zu Leipzig, 1926
2. Auflage, ISBN 978-3-954183-95-1

www.null-papier.de/balzac

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

Zum Buch

I. Teil – Von der Lie­be der Dir­nen

II. Teil – Was alte Her­ren sich die Lie­be kos­ten las­sen

III. Teil – Der Weg des Bö­sen

IV. Teil – Vau­trins letz­te Ver­kör­pe­rung

Dan­ke

Dan­ke, dass Sie sich für ein E-Book aus mei­nem Ver­lag ent­schie­den ha­ben.

Soll­ten Sie Hil­fe be­nö­ti­gen oder eine Fra­ge ha­ben, schrei­ben Sie mir.

 

Ihr
Jür­gen Schul­ze

Newslet­ter abon­nie­ren

Der Newslet­ter in­for­miert Sie über:

htt­ps://null-pa­pier.de/newslet­ter

Zum Buch

Der jun­ge Dich­ter Lu­ci­en von Ru­bem­pré liebt die Kur­ti­sa­ne Esther. Aber auch der rei­che Baron von Nu­cin­gen ist von Esther an­ge­tan und er hat das Geld, Esther al­les zu kau­fen.

Balzac lie­fert eine um­fas­sen­de Stu­die der Pa­ri­ser Un­ter­welt. Nie zu­vor fühl­te man die dunklen Ge­schöp­fe der Nacht, die Kur­ti­sa­nen, die Ta­ge­die­be, die Schie­ber und Heh­ler, die klei­nen und großen Ver­bre­cher, aber auch die Po­li­zei und die Jus­tiz so ver­stan­den wie hier.

In kei­nem an­de­ren Werk hat Balzac sei­ne Zeit­ge­nos­sen so kri­ti­siert und ka­ri­kiert.

I. Teil – Von der Liebe der Dirnen

Beim letz­ten Opern­ball des Jah­res 1824 fiel meh­re­ren Mas­ken die Schön­heit ei­nes jun­gen Man­nes auf, der in den Gän­gen und im Foy­er auf und ab ging; und zwar in der Hal­tung ei­nes Men­schen, der eine durch un­vor­her­ge­se­he­ne Um­stän­de in ih­rem Hau­se zu­rück­ge­hal­te­ne Frau sucht. Das Ge­heim­nis die­ses bald ei­li­gen, bald läs­si­gen Schritts ist nur al­ten Frau­en und ei­ni­gen aus­ge­dien­ten Pflas­ter­tre­tern be­kannt. Bei je­nem un­ge­heu­ren Stell­dich­ein be­ob­ach­tet die Mas­se die Mas­se nur we­nig; die In­ter­es­sen sind lei­den­schaft­lich, selbst der Mü­ßig­gang ist be­schäf­tigt. Der jun­ge Dan­dy wur­de von sei­ner un­ru­hi­gen Su­che so sehr in An­spruch ge­nom­men, dass er sei­nen Er­folg gar nicht be­merk­te: die spöt­tisch be­wun­dern­den Rufe ge­wis­ser Mas­ken, das ernst­haf­te Er­stau­nen, die bei­ßen­den ›laz­zi‹,1 die sü­ßes­ten Wor­te hör­te und sah er nicht. Ob­gleich sei­ne Schön­heit ihn un­ter die Aus­nah­me­per­so­nen ein­reih­te, die den Opern­ball be­su­chen, um dort ein Aben­teu­er zu ver­fol­gen, und die es er­war­te­ten, wie man zu Leb­zei­ten Fras­ca­tis einen Glücks­fall beim Rou­let­te er­war­te­te, so schi­en er doch sei­nes Abends si­cher wie ein Bür­ger; er muss­te der Held ei­nes je­ner Mys­te­ri­en sein, die sich un­ter drei Per­so­nen ab­spie­len, je­ner Mys­te­ri­en, aus de­nen der gan­ze Opern­ball be­steht und die nur de­nen be­kannt sind, die eine Rol­le dar­in ha­ben; denn für jun­ge Frau­en, die hin­ge­hen, um sa­gen zu kön­nen: ›Ich habe es ge­se­hen‹, für Pro­vin­zia­len, für un­er­fah­re­ne jun­ge Leu­te und Frem­de muss die Oper an die­sen Aben­den der Palast der Er­mü­dung und der Lang­wei­le sein. Für sie ist die­se schwar­ze, lang­sa­me und ge­dräng­te Mas­se, die kommt und geht, sich schlän­gelt und wen­det und wie­der wen­det, hin­auf und hin­ab steigt und sich mit nichts ver­glei­chen lässt als mit Amei­sen auf ih­rem Hau­fen, eben­so­we­nig ver­ständ­lich, wie die Bör­se ei­nem bre­to­ni­schen Bau­ern ver­ständ­lich ist, der nichts vom Da­sein der Staats­pa­pie­re weiß. Mit sel­te­nen Aus­nah­men tra­gen die Män­ner in Pa­ris kei­ne Mas­ke; ein Mann im Do­mi­no macht einen lä­cher­li­chen Ein­druck. Da­rin zeigt sich das Ge­nie der Na­ti­on. Leu­te, die ihr Glück ver­ber­gen wol­len, kön­nen auf den Opern­ball ge­hen, ohne er­kannt zu wer­den, und die Mas­ken, die un­be­dingt ge­zwun­gen sind, ein­zu­tre­ten, ver­las­sen ihn als­bald wie­der.2 Eins der amüsan­tes­ten Schau­spie­le bie­tet das Ge­drän­ge, das, so­wie der Ball er­öff­net wird, beim Ein­gang die Flut der Ge­hen­den im Kampf mit de­nen, die kom­men, her­vor­ruft. Mas­kier­te Män­ner sind also ent­we­der ei­fer­süch­ti­ge Gat­ten, die ihre Frau­en be­ob­ach­ten wol­len, oder Gat­ten, die ein ga­lan­tes Aben­teu­er ha­ben und sich von ih­ren Frau­en nicht be­ob­ach­ten las­sen wol­len: bei­de Si­tua­tio­nen for­dern glei­cher­ma­ßen den Spott her­aus. Nun folg­te dem jun­gen Mann, ohne dass er es merk­te, ei­nem Mör­der gleich, eine kur­ze, di­cke Mas­ke, die wie eine Ton­ne in sich selbst zu­rück­zu­lau­fen schi­en. Für je­den Stamm­gast der Oper glich die­ser Do­mi­no ei­nem Ver­wal­tungs­be­am­ten, ei­nem Geld­wechs­ler, ei­nem Ban­kier, ei­nem No­tar, kurz, ir­gend­ei­nem Bür­ger, der sei­ne Un­ge­treue in Ver­dacht hat; denn in der höchs­ten Ge­sell­schaft läuft nie­mand de­mü­ti­gen­den Be­wei­sen nach. Schon hat­ten sich meh­re­re Mas­ken la­chend die­se miss­ge­stal­te­te Per­sön­lich­keit ge­zeigt; an­de­re hat­ten ihn an­ge­spro­chen, ein paar jun­ge Leu­te hat­ten sich über ihn lus­tig ge­macht. Sei­ne Schul­ter­brei­te und sei­ne Hal­tung aber deu­te­ten auf eine aus­ge­spro­che­ne Ver­ach­tung für die­se be­deu­tungs­lo­sen Pfei­le; er folg­te dem jun­gen Man­ne, wo­hin der ihn führ­te, wie ein ver­folg­ter Eber da­hin­läuft und sich we­der um die Ku­geln küm­mert, die sei­ne Ohren um­pfei­fen, noch um die Hun­de, die hin­ter ihm bel­len. Ob­wohl es auf den ers­ten Blick hät­te schei­nen kön­nen, dass die Su­che nach dem Ge­nuss und die Be­sorg­nis das­sel­be Ko­stüm, je­nes be­rühm­te ve­ne­zia­ni­sche schwar­ze Ge­wand, an­ge­legt hät­ten, und ob­wohl auf dem Opern­ball al­les durch­ein­an­der wogt, so fin­den, ken­nen und be­ob­ach­ten sich doch die ver­schie­de­nen Krei­se, aus de­nen die Pa­ri­ser Ge­sell­schaft be­steht. Ein­zel­ne Ein­ge­weih­te ha­ben so schar­fum­ris­se­ne Be­grif­fe, dass ih­nen die­ses wir­re Buch der In­ter­es­sen les­bar wird wie ein amüsan­ter Ro­man. Für die Stamm­gäs­te konn­te die­ser Mann sich also nicht der Gunst ei­ner Frau er­freu­en; er hät­te un­fehl­bar ir­gend­ein ver­ab­re­de­tes Kenn­zei­chen ge­tra­gen, ein ro­tes, wei­ßes oder grü­nes, wie es ein von lan­ger Hand vor­be­rei­te­tes Glück ver­rät. Han­del­te es sich um eine Ra­che? Ein paar Mü­ßig­gän­ger ka­men, als sie die­se Mas­ke ei­nem von Frau­en­gunst be­glück­ten Mann so dicht fol­gen sa­hen, auf das schö­ne Ge­sicht zu­rück, dem der Ge­nuss sei­ne gött­li­che Au­reo­le auf­ge­setzt hat­te. Der jun­ge Mann in­ter­es­sier­te: je län­ger er so hin und her schritt, umso mehr Neu­gier weck­te er. Al­les deu­te­te üb­ri­gens an ihm auf die Ge­wohn­hei­ten ei­nes ele­gan­ten Le­bens. Nach ei­nem Ge­setz, das un­se­rem Zeit­al­ter ver­häng­nis­voll ei­gen ist, be­steht, sei es im Mora­li­schen, sei es im Phy­si­schen, kaum ein Un­ter­schied zwi­schen dem vor­nehms­ten, dem bes­ter­zo­ge­nen Sohn ei­nes Her­zogs und Pairs und ei­nem rei­zen­den Bur­schen, den mit­ten in Pa­ris noch eben das Elend mit sei­nen eher­nen Hän­den dros­sel­te. Ju­gend und Schön­heit kön­nen tie­fe Ab­grün­de ver­ber­gen; bei ihm wie bei vie­len jun­gen Leu­ten, die in Pa­ris eine Rol­le spie­len wol­len, ohne das für ihre An­sprü­che nö­ti­ge Ka­pi­tal zu be­sit­zen, und die mit je­dem Tage al­les für al­les aufs Spiel set­zen, in­dem sie dem Got­te op­fern, dem in die­ser kö­nig­li­chen Stadt am meis­ten ge­schmei­chelt wird: dem Zu­fall. Nichts­de­sto­we­ni­ger wa­ren sei­ne Klei­dung und sei­ne Ma­nie­ren ein­wand­frei; er be­weg­te sich auf dem klas­si­schen Par­kett des Foy­ers wie ein Stamm­gast der Oper. Wer hat noch nicht be­merkt, dass es dort wie in al­len Zo­nen von Pa­ris ein Auf­tre­ten gibt, das of­fen­bart, wer man ist, was man tut, wo­her man kommt und was man will?

»Was für ein hüb­scher jun­ger Mann! Hier kann man sich um­dre­hen und ihn an­se­hen«, sag­te eine Mas­ke, in der die Stamm­gäs­te des Balls eine an­stän­di­ge Frau er­kann­ten. »Sie ent­sin­nen sich sei­ner nicht?« ant­wor­te­te der Herr, der ihr den Arm reich­te. »Und doch hat Frau du Châte­let ihn Ih­nen vor­ge­stellt …« »Wie! das ist der Apo­the­kers­sohn, in den sie sich ver­narrt hat­te und der Jour­na­list wur­de, der Lieb­ha­ber des Fräu­lein Cora­lie?« »Ich glaub­te, er wäre zu tief ge­fal­len, um je wie­der in die Höhe zu kom­men, und ich ver­ste­he nicht, wie er in der Pa­ri­ser Ge­sell­schaft wie­der auf­tre­ten kann?« sag­te der Graf Six­tus du Châte­let. »Er sieht aus wie ein Prinz«, sag­te die Mas­ke; »und nicht die Schau­spie­le­rin, mit der er leb­te, wird ihn so ver­wan­delt ha­ben; mei­ne Cou­si­ne, die ihn ent­deckt hat­te, hat ihn nicht her­aus­zu­put­zen ver­stan­den; ich möch­te wohl die Ge­lieb­te die­ses Sar­gi­no ken­nen. Sa­gen Sie mir et­was aus sei­nem Le­ben, was mich in­stand setzt, ihn zu be­un­ru­hi­gen.«

Die­ses Paar, das dem jun­gen Man­ne flüs­ternd folg­te, wur­de eben jetzt von der breit­schult­ri­gen Mas­ke scharf be­ob­ach­tet.

»Lie­ber Herr Char­don«, sag­te der Prä­fekt der Cha­ren­te, in­dem er den Dan­dy am Arm nahm, »er­lau­ben Sie mir, Ih­nen je­man­den vor­zu­stel­len, der sei­ne Be­kannt­schaft mit Ih­nen wie­der an­knüp­fen möch­te …« »Lie­ber Graf Châte­let«, er­wi­der­te der jun­ge Mann, »eben­die­se Dame hat mich ge­lehrt, wie lä­cher­lich der Name war, den Sie mir ge­ben. Eine Ver­ord­nung des Kö­nigs hat mir den mei­ner Vor­fah­ren müt­ter­li­cher­seits, der Ru­bem­prés, ver­lie­hen. Wenn auch die Zei­tun­gen die­se Tat­sa­che ge­mel­det ha­ben, so geht sie doch nur eine so dürf­ti­ge Per­sön­lich­keit an, dass ich nicht er­rö­te, sie mei­nen Freun­den, mei­nen Fein­den und den Gleich­gül­ti­gen ins Ge­dächt­nis zu­rück­zu­ru­fen: Sie wer­den sich rech­nen, wor­un­ter Sie wol­len; aber ich bin über­zeugt, Sie wer­den nicht eine Maß­re­gel miss­bil­li­gen, die Ihre Frau mir an­riet, als sie nur erst eine Frau von Bar­ge­ton war.«

Die­ser hüb­sche Sta­chel, über den die Mar­qui­se lä­cheln muss­te, ver­ur­sach­te dem Prä­fek­ten ein ner­vö­ses Zit­tern.

»Sie wer­den ihr sa­gen«, füg­te Lu­ci­en hin­zu, »dass ich jetzt den ro­ten Schild mit dem wü­ten­den Sil­bers­tier im grü­nen Fel­de füh­re.« »Dem Sil­bers­tier …« wie­der­hol­te Châte­let. »Die Frau Mar­qui­se wird Ih­nen er­klä­ren, wes­halb die­ses alte Wap­pen­schild et­was Bes­se­res ist als der Kam­mer­herrn­schlüs­sel und die gol­de­nen Bie­nen des Kai­ser­reichs, die sich in dem Ihren be­fin­den, und zwar zur großen Verzweif­lung der Frau Châte­let, ge­bor­nen Nè­gre­pe­lis­se d’Espard …« sag­te Lu­ci­en leb­haft. »Da Sie mich er­kannt ha­ben, kann ich Sie nicht mehr be­un­ru­hi­gen; und ich könn­te Ih­nen nicht er­klä­ren, wie sehr Sie mich be­un­ru­hi­gen«, sag­te die Mar­qui­se d’Espard mit lei­ser Stim­me zu ihm, ganz er­staunt über die Un­ver­schämt­heit und Si­cher­heit, die die­ser einst von ihr ver­ach­te­te Mann sich er­wor­ben hat­te. »Er­lau­ben Sie also, gnä­di­ge Frau, dass ich mich nicht der ein­zi­gen Mög­lich­keit be­rau­be, Ihre Ge­dan­ken zu be­schäf­ti­gen; las­sen Sie mich in die­sem ge­heim­nis­vol­len Halb­schat­ten«, sag­te er mit dem Lä­cheln ei­nes Man­nes, der ein si­che­res Glück nicht ge­fähr­den will. Die Mar­qui­se konn­te eine klei­ne, her­be Be­we­gung nicht un­ter­drücken, als sie sich, nach ei­nem eng­li­schen Aus­druck, von Lu­ciens Schär­fe so ›ge­schnit­ten‹ sah. »Ich ma­che Ih­nen mein Kom­pli­ment zu Ihrem Stan­des­wech­sel«, sag­te der Graf du Châte­let zu Lu­ci­en. »Ich neh­me es an, wie Sie es ge­ben«, er­wi­der­te Lu­ci­en, in­dem er die Mar­qui­se mit un­end­li­cher An­mut grüß­te. »Der Geck!« sag­te der Graf lei­se zu Frau d’Espard, »end­lich hat er sei­ne Vor­fah­ren er­obert!« »Bei jun­gen Leu­ten deu­tet die Ge­cke­rei, wenn sie sich ge­gen uns wen­det, fast im­mer auf ein sehr hoch ste­hen­des Glück; denn un­ter Ih­nen deu­tet sie auf Un­glück. Des­halb möch­te ich die­je­ni­ge un­se­rer Freun­din­nen ken­nen, die die­sen schö­nen Vo­gel in ih­ren Schutz auf­ge­nom­men hat; viel­leicht sähe ich dann eine Mög­lich­keit, mich heu­te Abend zu amü­sie­ren. Mein an­ony­mer Brief ist zwei­fel­los eine von ei­ner Ri­va­lin vor­be­rei­te­te Bos­heit, denn es ist von die­sem jun­gen Mann dar­in die Rede; sei­ne Un­ver­schämt­heit wird ihm dik­tiert wor­den sein: spio­nie­ren Sie ihm nach. Ich will den Arm des Her­zogs von Na­varr­eins neh­men; Sie wer­den mich schon wie­der­fin­den kön­nen.«

In dem Au­gen­blick, als Frau d’Espard ih­ren Ver­wand­ten an­re­den woll­te, trat die ge­heim­nis­vol­le Mas­ke zwi­schen sie und den Her­zog, um ihr ins Ohr zu sa­gen: »Lu­ci­en liebt Sie; er hat den Brief ge­schrie­ben; Ihr Prä­fekt ist sein größ­ter Feind; konn­te er sich vor ihm er­klä­ren?«

Der Un­be­kann­te ging und ließ Frau d’Espard in dop­pel­ter Über­ra­schung zu­rück. Die Mar­qui­se kann­te kei­nen Men­schen auf der Welt, der im­stan­de ge­we­sen wäre, die Rol­le die­ser Mas­ke zu spie­len; sie fürch­te­te eine Fal­le, setz­te und ver­steck­te sich.

Der Graf Six­tus du Châte­let, des­sen ehr­gei­zi­ges ›du‹ Lu­ci­en mit ei­ner Ab­sicht­lich­keit un­ter­drückt hat­te, die nach lan­ge er­träum­ter Ra­che roch, folg­te dem wun­der­ba­ren Dan­dy aus ei­ni­ger Fer­ne; bald traf er auf einen jun­gen Mann, dem er sein Herz aus­schüt­ten zu kön­nen ver­mein­te. »Nun, Ras­ti­gnac, ha­ben Sie Lu­ci­en ge­se­hen? Er hat sich ge­häu­tet.« »Wenn ich ein eben­so hüb­scher Jun­ge wäre wie er, wäre ich noch rei­cher als er«, er­wi­der­te der jun­ge Le­be­mann in leich­tem, aber fei­nem Ton, der eine at­ti­sche Spöt­te­rei ver­riet. »Nein«, sag­te ihm die di­cke Mas­ke ins Ohr, und durch den Ton, mit dem sie das eine Wort aus­sprach, gab sie ihm tau­send Spöt­te­rei­en für sei­ne eine zu­rück. Ras­ti­gnac, der nicht der Mann dazu war, eine Be­lei­di­gung hin­un­ter­zu­schlu­cken, stand da wie vom Blitz ge­trof­fen und ließ sich von ei­ner Ei­sen­hand, die ab­zu­schüt­teln ihm un­mög­lich war, in die Ni­sche ei­nes Fens­ters füh­ren. »Sie jun­ger Hahn aus Mama Vau­quers Hüh­ner­stall, Sie, dem es an Herz fehl­te, die Mil­lio­nen des Papa Tail­le­fer zu pa­cken, als der größ­te Teil der Ar­beit schon ge­tan war, er­fah­ren Sie zu Ih­rer per­sön­li­chen Si­cher­heit dies: wenn Sie sich ge­gen Lu­ci­en nicht wie ge­gen einen Bru­der ver­hal­ten, den Sie lie­ben, so sind Sie in un­se­rer Hand, ohne dass wir in Ih­rer wä­ren. Schwei­gen und Er­ge­ben­heit! Sonst mi­sche ich mich in Ihr Spiel ein und sto­ße Ih­nen die Ke­gel um. Lu­ci­en von Ru­bem­pré steht im Schutz der größ­ten Macht von heu­te, der Kir­che. Wäh­len Sie zwi­schen Le­ben und Tod. Ihre Ant­wort?«

Ras­ti­gnac schwin­del­te es wie einen Men­schen, der im Wal­de ein­ge­schla­fen ist und an der Sei­te ei­ner aus­ge­hun­ger­ten Lö­win er­wacht. Er fürch­te­te sich, und er hat­te kei­ne Zeu­gen: in sol­chen Fäl­len über­las­sen sich die mu­tigs­ten Män­ner der Furcht. »Nur er kann wis­sen … und wa­gen …« sag­te er halb­laut vor sich hin. Die Mas­ke drück­te ihm die Hand, um ihn zu ver­hin­dern, dass er sei­nen Satz aus­sprach. »Han­deln Sie, als wäre er es«, sag­te sie. Ras­ti­gnac tat, was ein Mil­lio­när auf der Land­stra­ße täte, wenn er einen Räu­ber auf sich an­schla­gen sähe: er ka­pi­tu­lier­te.

»Mein lie­ber Graf«, sag­te er zu du Châte­let, als er zu ihm zu­rück­kehr­te, »wenn Ih­nen an Ih­rer Stel­lung liegt, so be­han­deln Sie Lu­ci­en von Ru­bem­pré wie einen Men­schen, den Sie ei­nes Ta­ges viel hö­her ge­stellt se­hen wer­den, als Sie es sind.«

Die Mas­ke ließ sich eine un­merk­li­che Ges­te der Be­frie­di­gung ent­schlüp­fen und nahm die Spur Lu­ciens wie­der auf.

»Mein Lie­ber, Sie ha­ben Ihre Mei­nung über ihn gar schnell ge­än­dert«, er­wi­der­te der mit Recht er­staun­te Prä­fekt. »Genau so schnell wie die, wel­che im Zen­trum sit­zen und mit der Rech­ten ab­stim­men«, ant­wor­te­te Ras­ti­gnac die­sem Prä­fekt-De­pu­tier­ten, des­sen Stim­me seit ei­ni­gen Ta­gen im Mi­nis­te­ri­um fehl­te. »Gibt es heu­te noch Mei­nun­gen? Es gibt nur noch In­ter­es­sen«, fiel Des Lu­peaulx, der sie hör­te, ein; »um was han­delt es sich?« »Um den Herrn von Ru­bem­pré, den Ras­ti­gnac als eine Per­sön­lich­keit aus­ge­ben will«, sag­te der De­pu­tier­te zu dem Ge­ne­ral­se­kre­tär. »Mein lie­ber Graf«, er­wi­der­te Des Lu­peaulx mit ernst­haf­ter Mie­ne, »Herr von Ru­bem­pré ist ein jun­ger Mann von höchs­tem Ver­dienst; und er hat so gute Stüt­zen, dass ich mich glück­lich schät­zen wür­de, wenn ich mei­ne Be­kannt­schaft mit ihm wie­der an­knüp­fen könn­te.« »Da wird er gleich in das We­s­pen­nest der Wüst­lin­ge un­se­rer Zeit hin­ein­ge­ra­ten«, sag­te Ras­ti­gnac.

Die drei Teil­neh­mer des Ge­sprächs wand­ten sich ei­nem Win­kel zu, in dem ein paar Schön­geis­ter, mehr oder min­der be­rühm­te Leu­te, und ei­ni­ge Ele­gants stan­den. Die­se Her­ren teil­ten sich ihre Beo­b­ach­tun­gen, ihre Wit­ze und ihre Bos­hei­ten mit, in­dem sie ver­such­ten, sich zu amü­sie­ren, oder in­dem sie auf ein Ver­gnü­gen war­te­ten. In die­ser so wun­der­lich zu­sam­men­ge­setz­ten Grup­pe be­fan­den sich auch Leu­te, zu de­nen Lu­ci­en Be­zie­hun­gen ge­habt hat­te und un­ter de­ren schein­bar gu­tem Ver­hält­nis zu ihm sich schlim­me Diens­te ver­bar­gen.

»Nun, Lu­ci­en, mein Kind, mein Lieb­chen, da sind Sie ja wie­der aus­ge­stopft und aus­staf­fiert. Wo­her kom­men wir? Sind wir end­lich mit Hil­fe der Ge­schen­ke aus Flo­ri­nes Bou­doir wie­der in den Sat­tel ge­kom­men? Bra­vo, mein Jun­ge!« sag­te Blon­det, in­dem er Fi­nots Arm losließ, um Lu­ci­en ver­trau­lich um die Hüf­ten zu fas­sen und ans Herz zu drücken.

An­do­che Fi­not war der Be­sit­zer ei­ner Zeit­schrift, an der Lu­ci­en fast un­ent­gelt­lich mit­ge­ar­bei­tet hat­te und die Blon­det durch sei­ne Ar­ti­kel, sei­ne klu­gen Ratschlä­ge und die Tie­fe sei­ner Ge­sichts­punk­te reich mach­te. Fi­not und Blon­det per­so­ni­fi­zier­ten Ber­trand und Ra­ton,3 doch mit dem Un­ter­schied, dass La­fon­tai­nes Ka­ter schließ­lich merkt, wie er be­tro­gen wird, wäh­rend Blon­det, ob­wohl er wuss­te, dass er be­tro­gen wur­de, Fi­not wei­ter­dien­te. Die­ser glän­zen­de Kon­dot­tie­re der Fe­der soll­te noch lan­ge Skla­ve blei­ben. Fi­not ver­barg un­ter schwer­fäl­li­gen For­men, un­ter der Schläf­rig­keit ei­ner un­ver­schäm­ten Dumm­heit, die etwa so am Geist ge­rie­ben wor­den war, wie ein Hand­lan­ger sein Brot an Knob­lauch reibt, einen bru­ta­len Wil­len. Er ver­stand das, was er auf den Fel­dern des wüs­ten Le­bens, wie es Li­te­ra­ten und Po­li­ti­ker füh­ren, mäh­te, die Ide­en und die Ta­ler, auch in die Scheu­er zu brin­gen. Blon­det hat­te zu sei­nem Un­glück sei­ne gan­ze Kraft in den Sold sei­ner Las­ter und sei­ner Träg­heit ge­stellt. Da ihn im­mer von Neu­em die Not über­fiel, so ge­hör­te er zu dem ar­men Ge­schlecht der her­vor­ra­gen­den Leu­te, die für das Glück an­de­rer al­les ver­mö­gen, nichts aber für ihr ei­ge­nes Glück: zum Ge­schlecht der Al­add­ins, die sich ihre Lam­pe ab­bor­gen las­sen. Das Ur­teil die­ser wun­der­vol­len Rat­ge­ber ist scharf­sin­nig und tref­fend, wenn es nicht vom per­sön­li­chen In­ter­es­se hin und her ge­zerrt wird. Bei ih­nen han­delt der Kopf und nicht der Arm. Da­her das Lo­cke­re ih­rer Sit­ten, da­her der Ta­del, mit dem min­der­wer­ti­ge Geis­ter sie über­häu­fen. Blon­det teil­te sei­ne Bör­se mit dem Ka­me­ra­den, den er am Abend zu­vor ver­wun­det hat­te; er speis­te, trank und schlief mit dem zu­sam­men, den er am fol­gen­den Tage um­brin­gen woll­te. Sei­ne amüsan­ten Pa­ra­do­xe recht­fer­tig­ten al­les. Wie er die gan­ze Welt als einen Scherz nahm, woll­te er nicht ernst ge­nom­men wer­den. Er war jung, be­liebt, fast be­rühmt und glück­lich, und also dach­te er nicht wie Fi­not dar­an, sich das für den Be­jahr­ten nö­ti­ge Ver­mö­gen zu er­wer­ben.

Es ge­hör­te für Lu­ci­en viel­leicht der schwie­rigs­te Mut dazu, um in die­sem Au­gen­blick Blon­det zu schnei­den, wie er so­eben Frau d’Espard und Châte­let ge­schnit­ten hat­te. Zu sei­nem Un­glück hemm­te bei ihm die Ge­nuss­sucht der Ei­tel­keit die Ent­fal­tung des Ehr­gei­zes, der si­cher­lich der Aus­gangs­punkt vie­ler großen Din­ge ist. Sei­ne Ei­tel­keit hat­te in je­nem ers­ten Waf­fen­gang tri­um­phiert; er hat­te sich vor zwei Leu­ten, die ihn einst in sei­ner Ar­mut und sei­nem Elend ver­ach­tet hat­ten, reich, glück­lich und ge­ring­schät­zig ge­zeigt; aber konn­te ein Dich­ter gleich ei­nem er­grau­ten Di­plo­ma­ten zwei so­ge­nann­ten Freun­den die Spit­ze bie­ten, die ihn in sei­nem Elend auf­ge­nom­men, die wäh­rend der Tage sei­ner Not ihr Bett mit ihm ge­teilt hat­ten? Fi­not, Blon­det und er hat­ten sich ge­mein­sam weg­ge­wor­fen; sie hat­ten sich in Or­gi­en ge­wälzt, die nicht nur das Geld ih­rer Gläu­bi­ger auf­fra­ßen. Gleich je­nen Sol­da­ten, die ih­ren Mut nicht am rech­ten Ort an­zu­brin­gen wis­sen, tat Lu­ci­en jetzt das, was sehr vie­le Leu­te in Pa­ris tun: er kom­pro­mit­tier­te sich von Neu­em, in­dem er Fi­nots Hän­de­druck an­nahm und sich ge­gen Blon­dets Lieb­ko­sung nicht wehr­te. Wer sich je mit dem Jour­na­lis­mus be­fasst hat oder noch be­fasst, sieht sich in der grau­sa­men Not­wen­dig­keit, Leu­te, die er ver­ach­tet, be­grü­ßen, sei­nen bes­ten Fein­den zu­lä­cheln, mit den übel­rie­chends­ten Ge­mein­hei­ten pak­tie­ren und, wenn er sei­ne An­grei­fer mit ih­rer ei­ge­nen Mün­ze be­zah­len will, sich die Fin­ger be­schmut­zen zu müs­sen. Man ge­wöhnt sich dar­an, zu­zu­se­hen; wenn Schlim­mes ge­schieht, es ge­sche­hen zu las­sen; man bil­ligt es erst, man tut es schließ­lich selbst. Auf die Dau­er wird die See­le, die durch schmäh­li­che und dau­ern­de Kom­pro­mis­se un­abläs­sig be­fleckt wird, klei­ner, die Sprung­fe­der ed­ler Ge­dan­ken ver­ros­tet, die An­geln der Bana­li­tät nut­zen sich ab und dre­hen sich von sel­ber. Al­zes­ten wer­den zu Philin­ten; Cha­rak­tere er­schlaf­fen, Ta­len­te wer­den zu Ba­stard­be­ga­bun­gen, der Glau­be an schö­ne Wer­ke ent­fliegt. Wer einst auf die be­schrie­be­nen Blät­ter stolz sein woll­te, ver­schwen­det sei­ne Kraft auf trau­ri­ge Ar­ti­kel, die sein Ge­wis­sen ihm frü­her oder spä­ter als eben­so viel schlim­me Hand­lun­gen vor­wirft. Man war ge­kom­men, wie es bei Lous­teau, bei Ver­nou ging, um ein großer Schrift­stel­ler zu wer­den, und man er­kennt in sich selbst den ohn­mäch­ti­gen Li­bel­lis­ten. Des­halb kann man jene, bei de­nen der Cha­rak­ter auf der Höhe ih­res Tal­ents steht, nie­mals ge­nug lo­ben: die d’Ar­thez, die si­che­ren Fu­ßes durch die Klip­pen des li­te­ra­ri­schen Le­bens zu schrei­ten wis­sen, Lu­ci­en wuss­te auf Blon­dets Schmei­che­lei­en nichts zu er­wi­dern, denn des­sen Geist übte auf ihn eine un­wi­der­steh­li­che Ver­füh­rung aus, er be­wahr­te noch im­mer die Ge­walt des Wüst­lings über sei­nen Schü­ler, und au­ßer­dem nahm er durch sei­ne Liai­son mit der Grä­fin von Mont­cor­net in der Ge­sell­schaft eine gute Stel­lung ein.

»Ha­ben Sie einen On­kel be­erbt?« frag­te Fi­not mit spöt­ti­scher Mie­ne. »Ich habe wie Sie be­gon­nen, die Dum­men sys­te­ma­tisch zu schröp­fen«, er­wi­der­te Lu­ci­en im glei­chen Ton. »Hät­te der Herr eine Zeit­schrift, ir­gend­ein Jour­nal?« frag­te An­do­che Fi­not mit der un­ver­schäm­ten Selbst­zu­frie­den­heit, die der Aus­beu­ten­de dem Aus­ge­beu­te­ten ge­gen­über ent­fal­tet. »Ich habe Bes­se­res«, ver­setz­te Lu­ci­en, des­sen durch die ge­spiel­te Über­le­gen­heit des Che­fre­dak­teurs ver­wun­de­te Ei­tel­keit ihm den Geist sei­ner neu­en Stel­lung zu­rück­gab. »Und was ha­ben Sie, mein Lie­ber? …« »Ich habe eine Par­tei.« »Es gibt eine Par­tei Lu­ci­en?« frag­te Ver­nou lä­chelnd. »Fi­not, da hat dich die­ser Bur­sche in Schat­ten ge­stellt, ich habe es dir vor­her­ge­sagt, Lu­ci­en hat Ta­lent, du hast ihn nicht rich­tig be­han­delt, du hast ihn ge­rä­dert. Be­reue, gro­ber Töl­pel!« rief Blon­det.

Blon­det war schlau wie ein Bi­sam und sah also in Lu­ciens Ges­te, Ton und Mie­ne mehr als ein Ge­heim­nis; in­dem er ihn auf­hei­ter­te, ver­stand er es, ihm mit eben­die­sen Wor­ten die Kinn­ket­te des Zü­gels straf­fer zu fas­sen. Er woll­te wis­sen, wes­halb Lu­ci­en nach Pa­ris zu­rück­ge­kehrt war, woll­te sei­ne Plä­ne und sei­ne Exis­tenz­mit­tel er­for­schen. »Auf die Knie vor ei­ner Über­le­gen­heit, die du nie­mals ha­ben wirst, wenn du auch Fi­not4 bist!« fuhr er fort. »Nimm den Herrn, und zwar auf der Stel­le, in die Zahl der ganz Star­ken auf, de­nen die Zu­kunft ge­hört; er ist ei­ner von uns! Er ist geist­reich und schön: muss er nicht durch dein Qui­bus­cun­que vi­is Er­folg ha­ben? Da steht er in sei­ner gu­ten Mai­län­der Rüs­tung, den ge­wal­ti­gen Dolch halb ge­zückt und sein Pa­nier ge­hisst! Tau­send Wet­ter, Lu­ci­en, wo hast du denn die­se hüb­sche Wes­te ge­stoh­len? Nur die Lie­be kann sol­che Stof­fe aus­fin­dig ma­chen. Ha­ben wir einen Wohn­sitz? Ich muss im Au­gen­blick ge­ra­de die Adres­sen mei­ner Freun­de ken­nen, ich weiß nicht, wo ich schla­fen soll. Fi­not hat mich für heu­te Abend un­ter dem vul­gä­ren Vor­wand ei­nes ga­lan­ten Aben­teu­ers vor die Tür ge­setzt.« »Mein Lie­ber«, er­wi­der­te Lu­ci­en, »ich habe einen Grund­satz in die Pra­xis um­ge­setzt, mit dem man ei­nes ru­hi­gen Le­bens si­cher ist: Fu­ge, late, ta­ce. Ich ver­las­se Sie.« »Aber ich ver­las­se dich nicht, wenn du nicht mir ge­gen­über eine hei­li­ge Schuld tilgst: je­nes klei­ne Sou­per, he?« sag­te Blon­det, der das Wohl­le­ben ein we­nig zu sehr lieb­te und sich be­wir­ten ließ, wenn er ge­ra­de ohne Geld war. »Wel­ches Sou­per?« frag­te Lu­ci­en, wäh­rend ihm eine un­ge­dul­di­ge Ges­te ent­schlüpf­te. »Du ent­sinnst dich nicht? Da­ran er­ken­ne ich, wenn es ei­nem Freund gut geht: er hat kein Ge­dächt­nis mehr.« »Er weiß, was er uns schul­dig ist, ich ver­bür­ge mich für sein Herz«, sag­te Fi­not, in­dem er Blon­dets Scherz auf­griff. »Ras­ti­gnac«, sag­te Blon­det, in­dem er den jun­gen Le­be­mann in dem Au­gen­blick am Arm fass­te, als er das obe­re Ende des Foy­ers er­reich­te und in die Nähe der Säu­le kam, bei der die so­ge­nann­ten Freun­de stan­den, »es han­delt sich um ein Sou­per: Sie wer­den da­bei sein … wenn nicht der Herr«, fuhr er ernst­haft fort, in­dem er auf Lu­ci­en zeig­te, »dar­auf be­steht, eine Ehren­schuld zu leug­nen; er kann es.« »Herr von Ru­bem­pré, da­für bür­ge ich, ist des­sen nicht fä­hig«, sag­te Ras­ti­gnac, der an et­was ganz an­de­res dach­te als eine My­sti­fi­ka­ti­on.5 »Da ist Bi­xiou«, rief Blon­det, »er kommt auch: ohne ihn ist nichts voll­stän­dig. Ohne ihn macht mir der Cham­pa­gner die Zun­ge schwer, und ich fin­de al­les fad, selbst den Pfef­fer der Epi­gram­me.« »Mei­ne Freun­de«, sag­te Bi­xiou, »ich sehe, ihr seid um das Wun­der des Ta­ges ver­sam­melt. Un­ser teu­rer Lu­ci­en er­neu­ert die Me­ta­mor­pho­sen Ovids. Wie die Göt­ter sich, um Frau­en zu ver­füh­ren, in selt­sa­me Ge­mü­se und so wei­ter ver­wan­del­ten, so hat er den Char­don6 ver­wan­delt in einen Edel­mann, um – wen? – zu ver­füh­ren … Karl X.! … Mein klei­ner Lu­ci­en«, sag­te er, in­dem er ihn an ei­nem Knopf sei­nes Rockes fass­te, »ein Jour­na­list, der zum großen Herrn wird, ver­dient eine hüb­sche Kat­zen­mu­sik. An de­ren Stel­le«, sag­te der un­er­bitt­li­che Spöt­ter, in­dem er auf Fi­not und Ver­nou zeig­te, »wür­de ich dich in ih­rem klei­nen Blatt vor­neh­men: du wür­dest ih­nen ei­ni­ge hun­dert Fran­ken ein­brin­gen: zehn Spal­ten gu­ter Wit­ze.« »Bi­xiou«, sag­te Blon­det, »ein Am­phi­tryo ist uns vier­und­zwan­zig Stun­den vor und zwölf Stun­den nach dem Gast­mahl hei­lig: un­ser er­lauch­ter Freund gibt uns ein Sou­per.« »Wie, wie!« fuhr Bi­xiou fort; »aber was ist not­wen­di­ger, als einen großen Mann vor der Ver­ges­sen­heit zu be­wah­ren und die dürf­ti­ge Ari­sto­kra­tie ei­nes ta­lent­vol­len Man­nes mit ei­ner Aus­s­teu­er zu ver­se­hen? Lu­ci­en, du be­sitzt die Ach­tung der Pres­se, de­ren schöns­te Zier­de du ge­we­sen bist, und wir wer­den dich stüt­zen. Fi­not, ein paar Zei­len im Leit­ar­ti­kel! Blon­det, ein ver­fäng­li­ches Ar­ti­kel­chen auf der vier­ten Sei­te dei­nes Blat­tes! Wir wol­len das Er­schei­nen des schöns­ten Bu­ches der Zeit, des ›Bo­gen­schüt­zen Karls IX.‹ mel­den. Wir wol­len Dau­ri­at an­fle­hen, uns bald die ›Mar­gue­ri­ten‹ zu be­sche­ren, jene gött­li­chen So­net­te des fran­zö­si­schen Pe­trar­ka! Er­he­ben wir un­sern Freund auf den Schild des Stem­pel­pa­piers, das einen Ruf schafft oder ver­nich­tet!« »Wenn du ein Sou­per willst«, sag­te Lu­ci­en zu Blon­det, um die­se Trup­pe, die im­mer grö­ßer zu wer­den droh­te, ab­zu­schüt­teln, »so scheint mir, hat­test du es ei­nem al­ten Freund ge­gen­über nicht nö­tig, Hy­per­beln und Pa­ra­beln an­zu­wen­den, als wäre er ein Tropf. Auf mor­gen Abend, bei Loin­tier!« sag­te er leb­haft, als er eine Frau kom­men sah, auf die er zu­eil­te. »Oh! oh! oh!« sag­te Bi­xiou in drei­mal wech­seln­dem Ton und mit spöt­ti­scher Mie­ne, wäh­rend es schi­en, als er­kenn­te er die Mas­ke, der Lu­ci­en ent­ge­gen­ging; »das ver­dient eine Be­stä­ti­gung.« Und er folg­te dem hüb­schen Paar, ging an ihm vor­bei, prüf­te es mit scharf­bli­cken­dem Auge und kehr­te zur großen Be­frie­di­gung all die­ser Nei­der zu­rück, die nur zu gern wis­sen woll­ten, wo­her der Wech­sel in Lu­ciens Ver­mö­gen­sum­stän­den kam. »Mei­ne Freun­de, ihr kennt seit lan­gem das Glück des Herrn von Ru­bem­pré«, sag­te Bi­xiou zu ih­nen: »es ist die alte Rat­te Des Lu­peaulx’.«

Eine der jetzt ver­ges­se­nen Ver­derbt­hei­ten, die je­doch im An­fang die­ses Jahr­hun­derts sehr ver­brei­tet war, be­stand in dem Lu­xus der ›Rat­ten‹. Eine Rat­te – das Wort ist schon ver­al­tet – nann­te man ein Kind von zehn bis elf Jah­ren, eine Sta­tis­tin an ir­gend­ei­nem Thea­ter, vor al­lem an der Oper, die ir­gend­ein Wüst­ling für das Las­ter und die Ge­mein­heit er­zog. Eine Rat­te war eine Art Höl­len­pa­ge, ein weib­li­cher Gas­sen­bu­be, dem man gute Strei­che ver­zieh. Die Rat­te konn­te al­les neh­men, man muss­te ihr miss­trau­en wie ei­nem ge­fähr­li­chen Tier; sie führ­te ein Ele­ment der Lus­tig­keit in das Le­ben ein, wie es in der al­ten Ko­mö­die die Sca­pins, die Sga­na­rel­les und die Fron­tins ta­ten. Die Rat­te war zu teu­er: sie trug we­der Ehre noch Nut­zen noch Ver­gnü­gen ein; die Mode der Rat­ten ver­schwand so voll­stän­dig, dass heu­te nur we­ni­ge Men­schen die­ses in­ti­me De­tail des ele­gan­ten Le­bens vor der Re­stau­ra­ti­on noch kann­ten, bis ein paar Schrift­stel­ler sich der Rat­te als ei­nes neu­en The­mas be­mäch­tig­ten.

»Wie, soll­te uns Lu­ci­en, nach­dem ihm Cora­lie un­ter dem Lei­be ge­tö­tet wur­de, die Tor­pil­le7 ent­füh­ren?« frag­te Blon­det. Als die Mas­ke mit den ath­le­ti­schen For­men die­sen Na­men hör­te, ent­schlüpf­te ihr eine Be­we­gung, die Ras­ti­gnac sah, ob­wohl sie ver­hal­ten war. »Das ist nicht mög­lich!« er­wi­der­te Fi­not; »die Tor­pil­le hat kei­nen Hel­ler zu ge­ben: sie hat sich, wie mir Na­than sag­te, von Flo­ri­ne tau­send Fran­ken ge­borgt.« »O mei­ne Her­ren, mei­ne Her­ren! …« sag­te Ras­ti­gnac, in­dem er Lu­ci­en ge­gen so ge­häs­si­ge Be­schul­di­gun­gen zu ver­tei­di­gen such­te. »Nun«, rief Ver­nou, »ist denn der aus­ge­hal­te­ne Ge­lieb­te Cora­lies so tu­gend­haft ge­wor­den? …« »O, ge­ra­de die­se tau­send Fran­ken«, sag­te Bi­xiou, »be­wei­sen mir, dass un­ser Freund Lu­ci­en mit der Tor­pil­le zu­sam­men­lebt …« »Wel­chen un­er­setz­li­chen Ver­lust er­lebt die Eli­te der Wis­sen­schaft, der Kunst und der Po­li­tik!« rief Blon­det. »Die Tor­pil­le ist das ein­zi­ge Freu­den­mäd­chen, in dem man das Zeug zu ei­ner schö­nen Kur­ti­sa­ne fand; kein Un­ter­richt hat­te sie ver­dor­ben, sie konn­te we­der le­sen noch schrei­ben: sie hät­te uns ver­stan­den. Wir hät­ten un­se­rer Zeit eine je­ner pracht­vol­len Aspa­si­a­fi­gu­ren ge­schenkt, ohne die es kein großes Jahr­hun­dert gibt. Se­hen Sie doch, wie gut die Du­bar­ry dem acht­zehn­ten Jahr­hun­dert steht, Ni­non de Len­clos dem sieb­zehn­ten, Ma­ri­on de Lor­me dem sech­zehn­ten, Im­pe­ria dem fünf­zehn­ten, Flo­ra der rö­mi­schen Re­pu­blik, die sie zu ih­rer Er­bin mach­te und die mit ih­rem Nach­lass ihre Staats­schuld til­gen konn­te! Was wäre Horaz ohne Ly­dia, Ti­bull ohne De­lia, Ka­tull ohne Les­bia, Pro­perz ohne Cyn­thia, De­me­tri­us ohne La­mia, die noch heu­te sei­nen Ruhm aus­macht?« »Wenn Blon­det im Foy­er der Oper von De­me­tri­us re­det, so scheint das doch ein we­nig zu sehr Leit­ar­ti­kel«, sag­te Bi­xiou sei­nem Nach­bar ins Ohr. »Und was wäre ohne all jene Kö­ni­gin­nen das Kai­ser­reich der Cäsa­ren?« fuhr Blon­det im­mer noch fort; »Lais und Rho­do­pe sind Grie­chen­land und Ägyp­ten. Alle üb­ri­gens sind die Poe­sie der Jahr­hun­der­te, in de­nen sie leb­ten. Die­se Poe­sie, die Na­po­le­on fehlt – denn sei­ne Wit­we, die große Ar­mee, ist ein Ka­ser­nen­scherz –, hat auch der Re­vo­lu­ti­on nicht ge­fehlt, denn sie hat Frau Tal­li­en be­ses­sen. Jetzt, wo es sich in Frank­reich dar­um han­delt, wer auf dem Thron sit­zen soll, steht si­cher­lich ein Thron leer. Wir alle, wir kön­nen eine Kö­ni­gin schaf­fen. Ich selbst hät­te der Tor­pil­le eine Tan­te ge­ge­ben, denn ihre Mut­ter ist zu of­fen­kun­dig auf dem Fel­de der Uneh­re ge­fal­len; du Til­let hät­te ihr ein Ho­tel be­zahlt, Lous­teau einen Wa­gen, Ras­ti­gnac ihre La­kai­en, Des Lu­peaulx einen Koch, Fi­not die Hüte (Fi­not konn­te eine Be­we­gung nicht un­ter­drücken, als er aus nächs­ter Nähe die­sen Stich er­hielt); Ver­nou hät­te für sie Re­kla­me ge­macht, Bi­xiou ihr ihre Wit­ze ge­lie­fert! Die Ari­sto­kra­tie wäre zu un­se­rer Ni­non ge­kom­men, um sich bei ihr zu amü­sie­ren, und die Künst­ler hät­ten wir durch An­dro­hung tod­brin­gen­der Ar­ti­kel zu ihr ge­lockt. Ni­non II. wäre wun­der­bar un­ver­schämt, zer­mal­mend lu­xu­ri­ös ge­wor­den. Sie hät­te An­sich­ten ge­habt. Man hät­te bei ihr ir­gend­ein ver­bo­te­nes dra­ma­ti­sches Meis­ter­werk vor­ge­le­sen, das man im Not­fall ei­gens hät­te ma­chen las­sen. Li­be­ral wäre sie nie ge­wor­den, denn eine Kur­ti­sa­ne ist we­sent­lich mon­ar­chisch ge­sinnt. Ach, welch ein Ver­lust! Sie hät­te ihr gan­zes Jahr­hun­dert um­ar­men müs­sen und liebt einen klei­nen jun­gen Mann! Lu­ci­en wird einen Jagd­hund aus ihr ma­chen.« »Kei­ne der weib­li­chen Groß­mäch­te, die du ge­nannt hast, ist durch die Stra­ße ge­wa­tet«, sag­te Fi­not, »und die­se hüb­sche Rat­te hat sich im Kot ge­wälzt.« »Wie das Sa­men­korn ei­ner Li­lie in ih­rer Dün­ger­er­de«, er­wi­der­te Ver­nou, »ist sie da­durch nur schö­ner ge­wor­den; sie hat ge­blüht. Da­her kommt ihre Über­le­gen­heit. Muss man nicht al­les ken­nen ge­lernt ha­ben, um das La­chen und die Freu­de zu schaf­fen, die sich an al­les hef­ten?« »Er hat recht«, sag­te Lous­teau, der bis­her be­ob­ach­tet hat­te, ohne zu re­den, »die Tor­pil­le ver­steht zu la­chen und la­chen zu ma­chen. Die­se Wis­sen­schaft der großen Schrift­stel­ler und der großen Schau­spie­ler ge­hört nur de­nen, die in alle so­zia­len Tie­fen ein­ge­drun­gen sind. Mit acht­zehn Jah­ren hat die­ses Mäd­chen schon den höchs­ten Wohl­stand, das tiefs­te Elend und Men­schen al­ler Stu­fen ge­kannt. Sie hält et­was wie einen Zau­ber­stab in Hän­den, mit dem sie die bru­ta­len Be­gier­den ent­ket­tet, die bei den Män­nern so ge­walt­sam zu­rück­ge­drängt sind, wenn sie noch ein Herz ha­ben, ob­gleich sie sich mit der Po­li­tik, der Wis­sen­schaft, der Li­te­ra­tur oder der Kunst be­schäf­ti­gen. Es gibt in Pa­ris kei­ne zwei­te Frau, die so wie sie zum Tier sa­gen kann: Komm her­vor! Und das Tier ver­lässt sei­nen Stall und wälzt sich in Aus­schwei­fun­gen: bis an das Kinn setzt sie einen zu Tisch, sie hilft ei­nem trin­ken und rau­chen. Kurz, die­se Frau ist das Salz, das Ra­be­lais8 be­singt und das, auf die Ma­te­rie ge­streut, die Din­ge be­lebt und bis in die Wun­der­re­gio­nen der Kunst er­hebt: ihr Kleid ent­fal­tet un­er­hör­te Pracht, ihre Fin­ger las­sen zur rech­ten Zelt ihre Ge­schmei­de fal­len, wie ihr Mund sein Lä­cheln; sie gibt je­dem Ding den Geist des Au­gen­blicks; ihre Rede glit­zert von ste­chen­den Pfei­len; sie kennt das Ge­heim­nis der Ono­ma­to­pöi­en in den schöns­ten Far­ben, die auch am kräf­tigs­ten ma­len …« »Du ver­geu­dest für fünf Fran­ken Feuil­le­ton«, sag­te Bi­xiou, in­dem er Lous­teau un­ter­brach, »die Tor­pil­le ist un­end­lich viel mehr als all das; ihr alle seid mehr oder min­der ihre Lieb­ha­ber ge­we­sen, aber kei­ner von euch kann be­haup­ten, sie sei sei­ne Ge­lieb­te ge­we­sen; sie kann euch im­mer be­sit­zen, ihr wer­det sie nie be­sit­zen. Ihr erbrecht ihre Tür, ihr habt sie um einen Dienst zu bit­ten …« »Oh! sie ist groß­mü­ti­ger als ein Räu­ber­haupt­mann, der sei­ne Sa­che recht macht, und er­ge­be­ner als der bes­te Schul­ka­me­rad«, sag­te Blon­det; »man kann ihr sei­ne Bör­se und sein Ge­heim­nis an­ver­trau­en. Aber das, wes­we­gen ich sie zur Kö­ni­gin wäh­len wür­de, ist ihre bour­bo­ni­sche Gleich­gül­tig­keit ge­gen den ge­fal­le­nen Günst­ling.« »Sie ist wie ihre Mut­ter viel zu teu­er«, sag­te Des Lu­peaulx. »Die schö­ne Hol­län­de­rin hät­te die Ein­künf­te des Erz­bi­schofs von To­le­do ver­schlun­gen, sie hat zwei No­ta­re auf­ge­zehrt …« »Und Ma­xi­me von Trail­les er­nährt, als er Page war«, sag­te Bi­xiou. »Die Tor­pil­le ist zu teu­er, wie Raf­fa­el, wie Carê­me, wie Taglio­ni, wie La­wrence, wie Boul­le, wie alle ge­nia­len Künst­ler zu teu­er wa­ren …« sag­te Blon­det. »Nie hat Esther so sehr nach ei­ner an­stän­di­gen Frau aus­ge­se­hen«, sag­te jetzt Ras­ti­gnac, in­dem er auf die Mas­ke zeig­te, der Lu­ci­en den Arm ge­reicht hat­te. »Ich wet­te auf Frau von Séri­zy.« »Da ist kein Zwei­fel mög­lich«, rief du Châte­let; »der Wohl­stand des Herrn von Ru­bem­pré ist er­klärt.« »Ach, die Kir­che weiß sich ihre Le­vi­ten aus­zu­wäh­len; was für einen hüb­schen Ge­sandt­schafts­se­kre­tär wird er ab­ge­ben!« sag­te Des Lu­peaulx. »Umso mehr«, fuhr Ras­ti­gnac fort, »als Lu­ci­en ein Mann von Ta­lent ist. Die­se Her­ren ha­ben mehr als einen Be­weis da­für er­lebt«, füg­te er hin­zu, in­dem er Blon­det, Fi­not und Lous­teau an­sah. »Ja, der Bur­sche ist dazu ge­schaf­fen, um es weit zu brin­gen«, sag­te Lous­teau, der vor Ei­fer­sucht barst, »umso mehr, als er das hat, was wir ›Un­ab­hän­gig­keit in den Ide­en‹ nen­nen …« »Du hast ihn zu dem ge­macht, was er ist«, sag­te Ver­nou. »Nun«, ver­setz­te Bi­xiou, in­dem er Des Lu­peaulx an­sah, »ich ap­pel­lie­re an die Erin­ne­run­gen des Herrn Ge­ne­ral­se­kre­tärs und Be­richt­er­stat­ters über die Bitt­schrif­ten; die­se Mas­ke ist die Tor­pil­le, ich wet­te ein Sou­per …« »Ich hal­te die Wet­te«, sag­te du Châte­let, der gern die Wahr­heit wis­sen woll­te. »Auf! Des Lu­peaulx«, sag­te Fi­not, »se­hen Sie zu, dass Sie die Ohren Ih­rer al­ten Rat­te wie­der­er­ken­nen.« »Es ist nicht nö­tig, einen Ver­stoß ge­gen die Mas­ken­frei­heit zu be­ge­hen«, er­wi­der­te Bi­xiou, »die Tor­pil­le und Lu­ci­en wer­den bis zu uns her­kom­men, wenn sie das Foy­er wie­der her­auf­gehn; ich ma­che mich an­hei­schig, euch dann zu be­wei­sen, dass sie es ist.« »Er ist also wie­der übers Was­ser ge­kom­men, un­ser Freund Lu­ci­en?« sag­te Na­than, der sich der Grup­pe an­schloss; »ich glaub­te, er wäre für den Rest sei­ner Tage nach An­goulê­me zu­rück­ge­kehrt. Hat er ir­gend­ein Ge­heim­nis wi­der die Ma­ni­chä­er ent­deckt?« »Er hat ge­tan, was du so bald nicht tun wirst«, er­wi­der­te Ras­ti­gnac, »er hat al­les be­zahlt.« Die di­cke Mas­ke nick­te bei­stim­mend mit dem Kopf. »Wenn ein Mann in sei­nem Al­ter ein or­dent­li­cher Mensch wird, ge­rät er auf Ab­we­ge; er hat kei­ne Kühn­heit mehr, er wird Ren­tier«, ver­setz­te Na­than. »Oh, der wird stets ein großer Herr blei­ben, und er wird in­ner­lich stets eine Höhe der Ge­dan­ken be­sit­zen, die ihn über vie­le so­ge­nann­te über­le­ge­ne Men­schen er­hebt«, gab Ras­ti­gnac zu­rück.

In die­sem Au­gen­blick sa­hen die Jour­na­lis­ten, Dan­dys und Mü­ßig­gän­ger, wie sich etwa Pfer­de­händ­ler ein Pferd an­se­hen, das ver­kauft wer­den soll, prü­fend den rei­zen­den Ge­gen­stand ih­rer Wet­te an. Die­se in der Kennt­nis der Pa­ri­ser Ver­kom­men­hei­ten ge­al­ter­ten Rich­ter, lau­ter Leu­te von über­le­ge­nem Geist, und zwar alle auf ver­schie­de­nem Ge­biet, alle gleich ver­derbt und glei­cher­ma­ßen Ver­füh­rer, alle wahn­sin­ni­gem Ehr­geiz ver­fal­len, dar­an ge­wöhnt, al­les an­zu­neh­men und al­les zu er­ra­ten, hef­te­ten die Au­gen auf eine mas­kier­te Frau, eine Frau, die nur von ih­nen ent­zif­fert wer­den konn­te. Nur sie und noch ein paar Stamm­gäs­te des Opern­balls ver­moch­ten un­ter dem lan­gen Lei­chen­tuch des schwar­zen Do­mi­nos, un­ter der Ka­pu­ze und dem her­ab­hän­gen­den Kra­gen, wie sie alle Frau­en un­er­kenn­bar ma­chen, die Run­dung der For­men, die Be­son­der­hei­ten der Hal­tung und des Schritts, die Be­we­gung der Hüf­ten, die Stel­lung des Kop­fes und all jene Din­ge zu er­ken­nen, die ge­wöhn­li­chen Au­gen am we­nigs­ten wahr­nehm­bar, ih­ren Au­gen aber am leich­tes­ten sicht­bar wa­ren. Trotz die­ser form­lo­sen Hül­le konn­ten sie also das rüh­rends­te Schau­spiel se­hen, das ei­ner von ech­ter Lie­be be­leb­ten Frau. Moch­te es nun die Tor­pil­le, die Her­zo­gin von Mauf­rigneu­se oder Frau von Séri­zy sein, die letz­te oder die ers­te Spros­se der so­zia­len Lei­ter, auf je­den Fall war die­ses Ge­schöpf eine wun­der­ba­re Schöp­fung, eine Vi­si­on glück­li­cher Träu­me. Die­se al­ten jun­gen Leu­te und die­se jun­gen Grei­se hat­ten eine so leb­haf­te Emp­fin­dung, dass sie Lu­ci­en um das er­ha­be­ne Vor­recht der Ver­wand­lung die­ser Frau in eine Göt­tin be­nei­de­ten. Die Mas­ke ging dort, als wäre sie mit Lu­ci­en al­lein; für die­se Frau wa­ren die zehn­tau­send Per­so­nen, war die schwe­re At­mo­sphä­re vol­ler Staub nicht mehr vor­han­den; nein, sie stand un­ter dem Him­mels­ge­wöl­be der Lie­be da, wie Raf­faels Ma­don­nen un­ter ih­rem ova­len Gold­reif ste­hen. Sie fühl­te nicht, wie man sie mit Ell­bo­gen streif­te; die Flam­me ih­res Blicks brach durch die bei­den Lö­cher ih­rer Mas­ke her­vor und ent­zün­de­te sich an Lu­ciens Au­gen, und schließ­lich schi­en das Zit­tern ih­res Kör­pers von der Be­we­gung ih­res Freun­des aus­zu­ge­hen. Wo­her kommt die­se Flam­me, die eine lie­ben­de Frau um­strahlt und sie un­ter al­len an­de­ren aus­zeich­net? Wo­her kommt jene Leich­tig­keit ei­nes Luft­geis­tes, die die Ge­set­ze der Schwe­re zu ver­wan­deln scheint? Ist es die nach au­ßen tre­ten­de See­le? Hat das Glück phy­si­sche Kräf­te? Die Harm­lo­sig­keit ei­ner Jung­frau, die An­mut der Kind­heit ver­rie­ten sich un­ter dem Do­mi­no. Ob­gleich sie ge­trennt ein­her­gin­gen, gli­chen die­se bei­den We­sen je­nen Grup­pen Flo­ras und Ze­phyrs, die von den ge­schick­tes­ten Bild­hau­ern kunst­voll ver­schlun­gen sind; aber es war mehr als Skulp­tur, als die größ­te der Küns­te; Lu­ci­en und sein hüb­scher Do­mi­no er­in­ner­ten an jene mit Blu­men oder Vö­geln be­schäf­tig­ten En­gel, die der Pin­sel Gio­van­ni Bel­li­nis un­ter die Bil­der der Jung­frau-Mut­ter setz­te; Lu­ci­en und die­se Frau ge­hör­ten der Fan­ta­sie an, die über der Kunst steht, wie die Ur­sa­che über der Wir­kung steht.

Als die­se Frau, die al­les ver­gaß, nur noch einen Schritt von der Grup­pe ent­fernt war, rief Bi­xiou: »Esther!« Die Un­glück­li­che wand­te sich leb­haft um, wie je­mand, der sich ru­fen hört, er­kann­te den bos­haf­ten Men­schen und senk­te den Kopf gleich ei­nem Ster­ben­den, der den letz­ten Seuf­zer aus­ge­sto­ßen hat. Ein gel­len­des Ge­läch­ter brach aus, und die Grup­pe zer­stob in der Men­ge wie ein Trupp er­schreck­ter Feld­mäu­se, die am Ran­de des We­ges in ihre Lö­cher schie­ßen. Nur Ras­ti­gnac ent­fern­te sich nicht wei­ter, als er muss­te, da­mit es nicht aus­sah, als flö­he er vor den fun­keln­den Bli­cken Lu­ciens; er konn­te einen zwie­fa­chen, gleich tie­fen, wenn auch ver­schlei­er­ten Schmerz be­wun­dern: zu­nächst die arme Tor­pil­le, die wie vom Blitz ge­trof­fen war; dann die un­ver­ständ­li­che Mas­ke, den ein­zi­gen Men­schen der Grup­pe, der ge­blie­ben war. Esther flüs­ter­te Lu­ci­en in dem Mo­ment, in dem ihr die Knie bra­chen, et­was ins Ohr, und Lu­ci­en ver­schwand mit ihr, in­dem er sie stütz­te. Ras­ti­gnac folg­te dem hüb­schen Paar mit dem Blick, ver­sun­ken in sei­ne Ge­dan­ken.

»Wo­her hat sie die­sen Na­men der Tor­pil­le?« frag­te ihn eine düs­te­re Stim­me, die ihn bis ins In­ners­te traf, denn sie war nicht mehr ver­stellt. »Er ist es, und er ist wie­der ent­kom­men …« sag­te Ras­ti­gnac vor sich hin. »Schweig, oder ich brin­ge dich um«, er­wi­der­te die Mas­ke, in­dem sie eine an­de­re Stim­me an­nahm. »Ich bin mit dir zu­frie­den; du hast dein Wort ge­hal­ten, und also hast du mehr als einen Arm zu dei­nem Dienst. Blei­be hin­fort stumm wie das Grab; aber ehe du ver­stummst, ant­wor­te auf mei­ne Fra­ge.« »Nun, die­ses Mäd­chen ist so reiz­voll, dass sie dem Kai­ser Na­po­le­on den Kopf be­nom­men hät­te und dass sie selbst ei­nem, der noch schwe­rer zu ver­füh­ren ist, den Kopf be­neh­men wür­de: dir!« er­wi­der­te Ras­ti­gnac, in­dem er fort­ging. »Ei­nen Au­gen­blick!« sag­te die Mas­ke. »Ich will dir zei­gen, dass du mich nie­mals ir­gend­wo ge­se­hen zu ha­ben brauchst.«

Der Frem­de nahm die Mas­ke ab; Ras­ti­gnac zö­ger­te einen Au­gen­blick, da er nichts von der scheuß­li­chen Per­sön­lich­keit er­blick­te, die er ehe­mals im Hau­se Vau­quer ge­kannt hat­te. »Der Teu­fel hat es Ih­nen er­mög­licht, sich ganz zu ver­wan­deln, nur die Au­gen nicht, die man nie­mals ver­ges­sen könn­te«, sag­te er. Die Hand aus Ei­sen drück­te ihm den Arm, um ihm ewi­ges Schwei­gen zu emp­feh­len.

Um drei Uhr mor­gens fan­den Des Lu­peaulx und Fi­not den ele­gan­ten Ras­ti­gnac noch im­mer an der­sel­ben Stel­le; er lehn­te an der Säu­le, wo ihn die furcht­ba­re Mas­ke ver­las­sen hat­te. Ras­ti­gnac hat­te vor sich selbst ge­beich­tet: er war in ei­ner Per­son Pries­ter und Sün­der, Rich­ter und An­ge­klag­ter ge­we­sen. Er ließ sich zum Früh­stück da­von­füh­ren, und als er nach Hau­se kam, war er voll­stän­dig be­rauscht, aber schweig­sam.

Die Rue de Lan­gla­de ver­un­ziert mit den an­sto­ßen­den Stra­ßen das Palais Roy­al und die Rue de Ri­vo­li. Die­ser Teil ei­nes der glän­zends­ten Pa­ri­ser Vier­tel wird noch lan­ge den Ma­kel tra­gen, den ihm die Keh­richt­hü­gel des al­ten Pa­ris auf­ge­drückt ha­ben, auf de­nen ehe­mals Müh­len stan­den. Die­se en­gen, düs­tern und ko­ti­gen Stra­ßen, in de­nen In­dus­tri­en ge­trie­ben wer­den, die we­nig für ihre äu­ße­re Er­schei­nung sor­gen, neh­men nachts eine ge­heim­nis­vol­le und kon­trast­rei­che Phy­sio­gno­mie9 an. Wenn man von dem licht­rei­chen Pflas­ter der Rue Saint-Ho­noré, der Rue Neu­ve des Pe­tits Champs und der Rue de Ri­che­lieu kommt, in de­nen sich eine nie eb­ben­de Men­ge drängt und in de­nen die Meis­ter­wer­ke der In­dus­trie, der Mode und der Küns­te glän­zen, so muss je­der, dem das abend­li­che Pa­ris un­be­kannt ist, von ei­ner trau­ri­gen Angst er­grif­fen wer­den, so­bald er in das Ge­wirr der klei­nen Stra­ßen ge­rät, das die­sen bis zum Him­mel hin­auf­ge­spie­gel­ten Glanz um­schließt. Dich­ter Schat­ten folgt auf die Strö­me von Gas­licht. Von Zeit zu Zelt wirft eine blei­che La­ter­ne ihr un­ge­wis­ses, rau­chi­ges Licht, das ge­wis­se schwar­ze Sack­gas­sen nicht mehr be­leuch­tet. Sel­ten sieht man einen Men­schen ge­hen, und der geht schnell. Die Lä­den sind ge­schlos­sen, und wenn ei­ner ge­öff­net ist, so macht er einen ver­däch­ti­gen Ein­druck; es ist eine dunkle, un­sau­be­re Knei­pe oder ein Wä­sche­la­den, in dem man Eau de Co­lo­gne ver­kauft. Eine un­ge­sun­de Käl­te legt ei­nem den feuch­ten Man­tel auf die Schul­tern. Es kom­men we­nig Wa­gen durch. Es gibt un­heim­li­che Win­kel, un­ter de­nen sich die Rue de Lan­gla­de, die Mün­dung der Saint-Guil­lau­me-Pas­sa­ge und ein paar Stra­ßen­e­cken aus­zeich­nen. Die Ge­mein­de­ver­wal­tung hat bis­lang we­nig tun kön­nen, um die­ses große Aus­satz­spi­tal aus­zu­spü­len; denn seit lan­gem hat hier die Pro­sti­tu­ti­on ihr Haupt­quar­tier auf­ge­schla­gen. Vi­el­leicht ist es ein Glück für die Welt von Pa­ris, wenn man die­sen Gas­sen ih­ren Ko­tan­blick lässt. Wenn man bei Tage durch­kommt, so kann man sich nicht vor­stel­len, was bei Nacht aus all die­sen Stra­ßen wird; sie wer­den durch­streift von wun­der­li­chen We­sen, die kei­ner Welt an­ge­hö­ren; halb­nack­te wei­ße Ge­stal­ten ste­hen an den Mau­ern hin; der Schat­ten ist be­lebt. Zwi­schen dem Haus­ge­mäu­er und den Vor­über­ge­hen­den glei­ten Klei­der, die ge­hen und re­den. Ge­wis­se an­ge­lehn­te Tü­ren bre­chen jäh in schal­len­des Ge­läch­ter aus. Wor­te fal­len ei­nem ins Ohr, die, wie Ra­be­lais sagt, ge­fro­ren wa­ren und jetzt schmel­zen. Aus dem Pflas­ter tö­nen Re­frains her­auf. Es ist kein va­ges Geräusch, es be­deu­tet ir­gen­det­was; wenn es hei­ser wird, so ist es eine mensch­li­che Stim­me; aber wenn es ei­nem Sin­gen gleicht, so hat es nichts Men­sch­li­ches mehr und nä­hert sich ei­nem Zi­schen. Oft wird plötz­lich ge­pfif­fen. End­lich ha­ben die Stie­fel­ab­sät­ze ir­gen­det­was Her­aus­for­dern­des und Spöt­ti­sches. Ei­nen schwin­delt bei die­sem Ge­samtein­druck der Din­ge. Dort sind die at­mo­sphä­ri­schen Ver­hält­nis­se ver­wan­delt: man schwitzt im Win­ter und friert im Som­mer. Aber wel­ches Wet­ter auch herr­sche, die­se selt­sa­me Na­tur bie­tet stets das­sel­be Schau­spiel dar: hier lebt die fan­tas­ti­sche Welt des Ber­li­ners Hoff­mann. Der am rech­ne­rischs­ten ver­an­lag­te Kas­sie­rer fin­det hier nichts Wirk­li­ches mehr, wenn er die Stra­ße­nen­gen hin­ter sich hat, die zu den an­stän­di­gen Stra­ßen füh­ren, wo es Passan­ten, Lä­den und Lam­pen gibt. Wäh­le­ri­scher oder scham­haf­ter als Kö­ni­ge und Kö­ni­gin­nen ver­gan­ge­ner Zei­ten, die sich nie fürch­te­ten, sich mit den Kur­ti­sa­nen zu be­schäf­ti­gen, wagt die mo­der­ne Ver­wal­tung oder Po­li­tik es nicht mehr, die­ser Wun­de der großen Städ­te ins Ge­sicht zu se­hen. Si­cher­lich müs­sen sich die Maß­re­geln mit den Zei­ten wan­deln, und sol­che, die das In­di­vi­du­um und sei­ne Frei­heit an­grei­fen, sind hei­kel; aber viel­leicht soll­te man sich in den rein ma­te­ri­el­len Din­gen, in Be­zug auf Licht, Luft und Lo­ka­le, weit­her­zig und kühn zei­gen. Der Mora­list, der Künst­ler und der wei­se Ver­wal­ter wer­den die al­ten Holz­ga­le­ri­en des Palais Roy­al zu­rück­er­seh­nen, wo sich die­se Schäf­lein dräng­ten, die im­mer da­hin kom­men wer­den, wo­hin die Spa­zier­gän­ger ge­hen: und ist es nicht bes­ser, wenn die Spa­zier­gän­ger da­hin ge­hen, wo sie sich be­fin­den? Was ist ge­sche­hen? Heu­te sind die glän­zends­ten Tei­le der Bou­le­vards, ist die­se Zau­ber­pro­me­na­de am Abend der Fa­mi­lie ent­zo­gen. Die Po­li­zei hat die Aus­kunfts­mit­tel nicht zu be­nut­zen ver­stan­den, die ihr in die­ser Hin­sicht ei­ni­ge Durch­gän­ge bo­ten, so­dass sie die öf­fent­li­che Stra­ße hät­te ret­ten kön­nen.

Das auf dem Opern­ball von ei­nem Wort ge­bro­che­ne Mäd­chen wohn­te seit ei­nem oder zwei Mo­na­ten in der Rue de Lan­gla­de, in ei­nem Hau­se von ge­mei­nem Äu­ße­ren. Die­ser Bau, der sich an die Mau­er ei­nes un­ge­heu­ren Hau­ses an­lehnt, ist schlecht stu­ckiert, ohne Tie­fe und von fa­bel­haf­ter Höhe; er be­zieht sein Licht von der Stra­ße und hat nicht ge­rin­ge Ähn­lich­keit mit ei­ner Hüh­ner­stie­ge. In je­dem Stock­werk liegt eine Woh­nung von zwei Zim­mern. Eine schma­le Trep­pe führt hin­auf, die an die Mau­er an­ge­klebt ist und wun­der­lich be­leuch­tet wird durch Fens­ter­klap­pen; die ge­ben au­ßen den Gang des Ge­win­des an, und je­der Trep­pen­ab­satz wird mar­kiert durch eine Ab­fluss­rin­ne, eine der scheuß­lichs­ten Ei­gen­tüm­lich­kel­ten von Pa­ris. La­den und Zwi­schen­stock ge­hör­ten ehe­mals ei­nem Blech­schmied; der Be­sit­zer des Hau­ses wohn­te im ers­ten Stock; die vier an­de­ren Stock­wer­ke hat­ten sehr an­stän­di­ge Gri­set­ten inne, die vom Wirt und der Schlie­ße­rin al­ler­lei Rück­sich­ten und Ge­fäl­lig­kei­ten be­an­spru­chen konn­ten, weil es schwer war, ein so son­der­bar ge­bau­tes und ge­le­ge­nes Haus zu ver­mie­ten. Der Cha­rak­ter die­ses Vier­tels fin­det sei­ne Er­klä­rung eben im Vor­han­den­sein ei­ner großen Men­ge sol­cher Häu­ser, die der Han­del nicht will und die nur von ver­leug­ne­ten, an­rü­chi­gen oder wür­de­lo­sen In­dus­tri­en aus­ge­beu­tet wer­den kön­nen.

Um drei Uhr nach­mit­tags hat­te die Pfört­ne­rin, die um zwei Uhr mor­gens ge­se­hen hat­te, wie Fräu­lein Esther ster­bens­krank von ei­nem jun­gen Mann nach Hau­se ge­bracht wur­de, eben mit der Gri­set­te vom obe­ren Stock­werk be­rat­schlagt; das Mäd­chen hat­te ihr, ehe sie in den Wa­gen stieg, um sich zu ei­ner Lust­par­tie zu be­ge­ben, ge­sagt, wie un­ru­hig sie in be­treff Esthers wäre: sie hät­te sie sich nicht rüh­ren hö­ren. Esther schlief ohne Zwei­fel noch; aber die­ser Schlum­mer schi­en ver­däch­tig. Da die Pfört­ne­rin in ih­rer Loge al­lein war, be­dau­er­te sie, nicht hin­auf­stei­gen zu kön­nen, um sich zu er­kun­di­gen, was im vier­ten Stock, wo Fräu­lein Esther wohn­te, vor­ging. In dem Au­gen­blick, als sie sich ent­schloss, die Wa­che in ih­rer Loge, ei­ner Art Ni­sche im Zwi­schen­stock, wo die Mau­er ein we­nig ein­sprang, dem Sohn des Blech­schmieds an­zu­ver­trau­en, hielt ein Fia­ker vor der Tür. Ein Mann, der vom Kopf bis zu den Fü­ßen in einen Man­tel ein­gehüllt war, und zwar in der of­fen­ba­ren Ab­sicht, sein Ko­stüm oder sei­nen Stand zu ver­ber­gen, stieg aus und frag­te nach Fräu­lein Esther. Die Pfört­ne­rin war so­fort voll­kom­men be­ru­higt; das Schwei­gen und die Ruhe bei der Ein­ge­schlos­se­nen schie­nen ihr jetzt ganz er­klär­lich. Als der Be­su­cher die Stu­fen ober­halb der Loge hin­auf­stieg, be­merk­te die Pfört­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­