Transit wird herausgegeben am Institut für die Wissenschaften vom Menschen
(IWM) in Wien und erscheint im Verlag Neue Kritik, Frankfurt am Main
Herausgeberin: Shalini Randeria
Gründungsherausgeber: Krzysztof Michalski †
Gastherausgeber dieser Nummer: Klaus Nellen
Lektorat: Sindy Meyer und Miriam Schmitthenner
Redaktionskomitee: Cornelia Klinger (Hamburg), János M. Kovács (Budapest/Wien), Ivan Krastev (Sofia/Wien), Timothy Snyder (Yale/Wien).
Beirat: Peter Demetz (New Haven), Timothy Garton Ash (Oxford), Claus Leggewie (Essen), Petr Pithart (Prag), Jacques Rupnik (Paris), Aleksander Smolar (Warschau/Paris), Fritz Stern †.
Redaktionsanschrift: Transit, Institut für die Wissenschaften vom Menschen,
Spittelauer Lände 3, A-1090 Wien, Telefon (+431) 31358-0, Fax (+431) 31358-30
www.iwm.at
Website von Transit: Europäische Revue und Tr@nsit_online: www.iwm.at/transit
Verlagsanschrift: Verlag Neue Kritik, Kettenhofweg 53, D-60325 Frankfurt/
Main, Telefon (069) 72 75 76, Fax (069) 72 65 85, E-mail: verlag@neuekritik.de
ISSN 0938-2062/ ISBN 978-3-8015-0632-2 (epub)/ ISBN 978-3-8015-0633-9 (mobi)
Transit ist Partner von Eurozine – the netmagazine (www.eurozine.com), einem Zusammenschluss europäischer Kulturzeitschriften im Internet. Transit is regularly listed in the International Current Awareness Services. Selected material is indexed in the International Bibliography of the Social Sciences.
Nachweise: Ivan Krastevs Beitrag erschien zuerst unter dem Titel „The Unraveling of the Post-1989 Order“ im Journal of Democracy 27:4 (2016), S. 88-98. © 2016 National Endowment for Democracy and Johns Hopkins University Press. Reprinted with permission of Johns Hopkins University Press. Dem Beitrag von Karl Schlögel liegt seine Dankesrede zum Deutschen Historikerpreis 2016 zugrunde.
© 2017 für sämtliche Texte und deren Übersetzungen Transit / IWM
Transit 50 (Sommer 2017)
Ein Zeitalter wird besichtigt. 1989 revisited
In memoriam Krzysztof Michalski
Editorial
Ivan Krastev (Sofia/Wien)
Die Auflösung der liberalen Weltordnung
Timothy Garton Ash (Oxford)
Nachkriegseuropa. Nachmauereuropa. Und was nun?
Jacques Rupnik (Paris)
Nach 1989.
Die ewige Wiederkehr Mitteleuropas
Pavel Barsa (Prag)
Das Ende der letzten mitteleuropäischen Utopie
oder Das ambivalente Erbe der Dissidenten
Balázs Trencsényi (Budapest)
Transit wohin?
Die Rückkehr der Geschichte, nachdem sie eine Weile als vermisst galt
Karl Schlögel (Berlin)
Melancholie und Geschichtsschreibung
Marci Shore (New Haven)
Die Zerbrechlichkeit des Liberalismus
oder Das Ende vom »Ende der Geschichte«
Krzysztof Michalski
Nach dem Umbruch im Osten Europas: Was tun? (1993)
Claus Leggewie (Gießen)
Heimatloser Antikapitalismus
Gegen die Entwendung der sozialen Frage
Claus Offe (Berlin)
Optionen und Irrwege der europäischen Flüchtlingspolitik
Chris Niedenthal (Warschau)
1989. Momentaufnahmen
Photoessay und persönliche Erinnerungen
Janos Matyas Kovacs (Budapest/Wien)
Vom Zweifel zur Scham
Sieben falsche Vorhersagen über das postkommunistische Ungarn
Jiří Přibáň (Cardiff)
Warten auf einen Führer?
Notizen aus der Tschechischen Republik
Piotr Koryś (Warschau)
1989 und die Kosten der Transformation
Versuch einer Bilanz
Slavenka Drakulić (Zagreb/Stockholm)
1989: Es war einmal
Wie ein enttäuschter Osten zum Lehrmeister des Westens wurde
Elitza Stanoeva (Sofia)
Bulgarien: Politik der Nostalgie
Andrii Portnov (Dnipro)
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben?
Die Ukraine und Europa
Maxim Trudolyubov (Moskau)
Phantom Sowjetunion
Mark Lilla (New York)
Der Hund, der nicht bellte
oder Das Verschwinden des Bürgers
Zu den Autorinnen und Autoren
Editorial
Das erste Heft der europäischen Revue Transit, der Zeitschrift des 1982 in Wien gegründeten Instituts für die Wissenschaften vom Menschen (IWM), kam 1990, unmittelbar nach der Wende, heraus. Die vorliegende fünfzigste – und letzte – Ausgabe von Transit scheint abermals mit einem historischen Moment zusammenzufallen: Sind wir heute nicht, ebenso wenig vorhergesehen, Zeugen der Auflösung eben jener liberalen Weltordnung, die damals – vor nicht einmal drei Dekaden – geboren wurde?
Transit 1 erschien unter dem Titel »Osteuropa – Übergänge zur Demokratie?«, wobei der Plural und das Fragezeichen signalisieren sollten, dass »man sich auf einen langen Weg begeben hat, für den es keine Garantien gegen Rückschläge, dramatische Krisen und Niederlagen gibt.«1 Mit dem in Nr. 1 gesetzten Ziel vor Augen, zu einem Medium europäischer Selbstverständigung zu werden, begleitete Transit in den Folgejahren die tiefgreifenden Transformationsprozesse, die bald ganz Europa erfassen sollten, mit kritischen Analysen aus östlicher wie westlicher Perspektive.
Der Übergang zu Demokratie und Marktwirtschaft kam rasch in Gang, wenn auch hier und da mit Hindernissen – und mit der großen Ausnahme, die die Regel bestätigte: Jugoslawien – , und schien bald irreversibel. Die Zeit war von Optimismus erfüllt. Auch uns inspirierte damals der Geist von 1989 – allerdings unter der Prämisse kritischer Distanz, die sich schon an den Themenschwerpunkten der Hefte ablesen lässt,2 vor allem aber am Namen der Zeitschrift selbst: »›Transit‹ bezeichnet (…) einen prekären Zwischenzustand, einen vorübergehenden Aufenthaltsort. Angesichts der großen Probleme, die unsere Zeit vor sich herschiebt, bedarf es nicht der Zahlenmagie der Jahrtausendwende, um zu begreifen, dass wir auch im Westen in einer kritischen Übergangszeit leben.«3 Mochten andere das »Ende der Geschichte« feiern, in unseren Augen fing die Arbeit erst an.
Eingedenk der Tatsache, dass Transit sowohl ein Kind als auch ein kritischer Beobachter dessen ist, was Timothy Garton Ash »Nachmauereuropa« nennt, haben wir diesmal Autorinnen und Autoren, die über die Jahre zur vorliegenden Zeitschrift beigetragen haben, eingeladen, auf diese Ära zurückzublicken: Was waren ihre Träume, Hoffnungen und Befürchtungen? Und: Was ist schief gelaufen? Ihre Antworten werden ergänzt durch Stimmen aus der jüngeren Generation.
So wie viele damals ein Gefühl des Aufbruchs erfüllte, verspüren wir heute, dass etwas zu Ende geht; so, wie wir damals in Ostmitteleuropa eine Revolution für die Freiheit erlebten, und sei sie nur nachholend gewesen, sind wir heute mit einer Revolution gegen die westlichen Werte konfrontiert.
Bei aller Freude über das Ende der Teilung Europas waren wir damals sicher, »dass die Europäer noch lange mit den Ungleichzeitigkeiten, den unterschiedlichen Erfahrungen, Sehweisen, Werten und Einstellungen zu leben haben werden, die die Teilung Europas hervorgebracht hat.«4 Man sollte meinen, dass fast 30 Jahre genug gewesen wären, diese Kluft zu überwinden. Das Gegenteil scheint der Fall zu sein. Einerseits ist Europa dank der EU-Erweiterung ohne Zweifel zusammengewachsen, doch es scheint, der Integrationsprozess selbst hat Kräfte, neue und alte, freigesetzt, welche die längst für obsolet gehaltene Ost-West-Trennung wiederkehren lassen. Hinzu kommt der wachsende Graben zwischen Nord und Süd. Europa bietet heute ein zerrissenes Bild.
Jacques Rupnik differenziert dieses Bild: »Die Rückkehr Mitteleuropas in illiberalem Gewand«, schreibt er, »hat die Vorstellung einer Spaltung Europas in Ost und West wiederbelebt und Zweifel an der Klugheit und Praktikabilität der EU-Osterweiterung geweckt. Dies verkennt allerdings die Lage und blockiert damit auch mögliche Antworten darauf. Gewiss gibt es spezifische Eigenarten des populistischen Backlashs in Ostmitteleuropa mit seinen besonderen politischen Kulturen und Hinterlassenschaften aus der Zeit vor 1989. Doch ist die heutige Krise des Liberalismus und die Entstehung einer Vielzahl populistischer Nationalismen ein transeuropäisches, ja transatlantisches Phänomen«. Könnte diese Entwicklung das »Vorzeichen einer tiefer liegenden, reaktionären neuen Gegenaufklärung sein«? Müssen wir uns mit Marci Shore heute wieder fragen: »Wie vermag etwas, das noch gestern unvorstellbar war, in kürzester Zeit zur Normalität zu werden?«
Früh schon und gegen die allgemeine Euphorie über das endlich vereinigte Europa schrieb Tony Judt, bis zu seinem Tode 2010 ein treuer Beiträger dieser Zeitschrift: »In gewissem Sinne erleben wir (…) das Ende der europäischen Aufklärung. (…) Europa [tritt] in vieler Hinsicht in eine Epoche der Unruhe, eine Zeit großer Schwierigkeiten und Wirren ein. (…) Für den alten Kontinent ist das natürlich nichts Neues, aber für die meisten der derzeit Lebenden wird es überraschend kommen und eine unangenehme Erfahrung sein.«5 Es scheint, dass seine düstere Prognose sich heute bewahrheitet.
Es mag indes verfrüht oder vermessen sein, für dieses Heft auf den Titel von Heinrich Manns Erinnerungen zurückzugreifen. Kann man denn schon von einem Zeitalter sprechen, auf das man zurückblicken könnte? Zumindest könnte man den letzten Satz seines Buches als Warnung für die heutige Zeit lesen: »(…) von bequemen Anfängen schritten wir zur katastrophalen Vollendung.«6 Die Versuchung ist immer groß, der eigenen Zeit die Fiktion eines Anfangs oder eines Endes zu unterlegen,7 was vielleicht für 1989 und für die Gegenwart in besonderem Maße gilt: Konnte man das »Ende der Geschichte« nicht lesen als säkularisierte Eschatologie – Ende der Tage und Anbruch einer neuen Welt? Und verheißt unsere Zeit nicht auch ein Ende der Geschichte – diesmal als Apokalypse? Wir wollen uns hier solcher Konstruktionen enthalten. So, wie am Anfang dieser Zeitschrift der Versuch stand, eine Landkarte möglicher Entwicklungspfade in die Zukunft zu skizzieren, möchten wir hier versuchen, sowohl eine Bestandsaufnahme des seit 1989 Erreichten (und Versäumten) vorzunehmen als auch Handlungsoptionen aufzuzeigen.
Für die jedenfalls, die seit 1990 an der europäischen Revue Transit gearbeitet haben, geht eine Geschichte zu Ende. Dies ist ein guter Moment, uns mit dem vorliegenden fünfzigsten Heft von unserer Leserschaft zu verabschieden.
Für das Institut für die Wissenschaften vom Menschen indes hat mit dem Rektorat der Sozialanthropologin Shalini Randeria, das sie 2015 angenommen hat, ein neues Kapitel begonnen. Während das IWM einige seiner alten Forschungsvorhaben und regionalen Projekte fortsetzt, wurden unter Randerias Ägide neue Schwerpunkte initiiert: So beschäftigen sich ihre eigenen Forschungen mit dem Thema Scales of Justice and Legal Pluralism; der Verfassungshistoriker Miloš Vec, seit 2016 Permanent Fellow am IWM, leitet den Schwerpunkt International Law and Multinormativity; 2017 kam der Bürgerrechtler und Politologe Ivan Vejvoda als Permanent Fellow ans IWM, um Forschungen über Europe’s Futures auf den Weg zu bringen. Zu den neuen Forschungsthemen zählen des Weiteren Justifications of Wealth und Democracy and Demography.
Die Beiträge im vorliegenden Heft nähern sich dem Thema aus verschiedenen Perspektiven und auf verschiedene Weisen. Eine instruktive Einführung gibt Ivan Krastevs umfassende Zeitdiagnose. Die erste Hälfte des Heftes ist eher systematischen Versuchen gewidmet, die neue Wende, den »atemberaubenden Wechsel vom Licht zur Finsternis« (Garton Ash) zu verstehen; die zweite nähert sich dem Thema eher anhand spezifischer Beispiele. Angesichts der Vielfalt von Ansätzen wäre es müßig, sie alle auf eine Formel bringen zu wollen. Wir wollen hier nur zwei Fragen herausgreifen, die sich bei der Lektüre aufdrängen: Wie ist 1989 aus heutiger Sicht historisch zu verorten? Und wie ist die Verdrängung »klassischer« Politik durch Identitätspolitik zu verstehen?
Ein Thema, das sich durch das Heft zieht, ist die Frage, wie 1989 und der mit diesem Jahr markierte Epochenwechsel historisch einzuordnen sind und welche Implikationen dies für das Verständnis unserer eigenen Zeit hat. Für Jacques Rupnik symbolisiert 1989 den erneuerten Anspruch Mitteleuropas »auf eine westliche Identität und die Konversion zum Liberalismus, das kulturelle in Kombination mit dem liberalen Narrativ, der ›Kundera-Moment‹ mit dem ›Havel-Moment‹.« Beide Narrative werden heute infrage gestellt. Timothy Garton Ash fragt: »Wenn die Nachmauerzeit von 1989 bis 2009 dauerte, in welcher Epoche befinden wir uns dann jetzt?« und kommt zu dem Schluss, dass wir dies »wohl erst in zehn oder vielleicht auch 30 Jahren sagen können«.
Pavel Barsa schlägt eine Periodisierung der jüngeren Geschichte vor, in der 1989 keine neue Ära einleitet, sondern die Vollendung einer alten. Die historische Zäsur liege vielmehr »in den 1970er Jahren, dem Jahrzehnt der Entzauberung der sozialistischen Utopien (…). Ihr volles Potenzial entfalteten sie jedoch erst nach dem Fall des Kommunismus, als die amerikanisch-westliche Hegemonie verschiedene Elemente, die in den beiden Jahrzehnten zuvor aufgekommen waren, aufnahm, um sie zur herrschenden Ideologie zu vereinen. Demnach wäre das, was man in Mitteleuropa normalerweise ›Postkommunismus‹ nennt, nur das letzte Kapitel einer längeren historischen Epoche.«
Balázs Trencsényi gehört zu der jüngeren Generation von »osteuropäischen« Historikern, die versuchen, die traditionellen nationalen Forschungsansätze zu überwinden und den komplexen und miteinander verflochtenen Geschichten der Region gerecht zu werden. In seinem Beitrag versucht er, die Zeit von der Wende von 1989 bis zur heutigen Krise zu historisieren, indem er eine transnationale Genealogie ihrer kulturellen und politischen Faktoren skizziert.
Seine Reflexionen zur Arbeit des Historikers sieht Karl Schlögel »noch ganz und gar im Schatten oder Bann des annus mirabilis 1989 (…), in dem so viele von einem Ende der Geschichte und dem Anbruch eines Zeitalters des Ewigen Friedens sprachen, das nun doch nicht gekommen ist.« Der »Gang über die historische Ruinenlandschaft des östlichen Europa« bietet, so Schlögel, die Chance einer radikalisierten Infragestellung der europäischen Fortschrittsidee und sensibilisiert für das Kontingente in der Geschichte. Vielleicht ist heute, angesichts einer aus den Fugen geratenen Welt, wieder die »Stunde des melancholischen Blicks« gekommen, der die »Physiognomiker der Umwälzung« auf den Plan ruft. Es gilt, so Schlögel, hellwach zu sein für das, was jetzt im »Dunkel des gelebten Augenblicks« geschieht. Die Melancholie kann hier zur »Verbündeten, zum Organon der Aufklärung« werden und helfen bei der »Neuvermessung der Welt, da die alten Koordinatensysteme außer Kraft gesetzt sind«.
Besonders hinweisen wollen wir auf ein Zeitdokument, das ein erhellendes Licht auf die Wende wirft. Anfang 1993 hielt der polnische Philosoph Krzysztof Michalski einen Vortrag über die Optionen, die sich seinem Land für den Übergang aus dem Kommunismus anboten. Im Zentrum seiner Überlegungen stand die tiefe Ambivalenz des revolutionären Erbes: »Die (…) Institutionen, die den Widerstand gegen das kommunistische Machtsystem getragen haben, stehen heute am Scheideweg: Die gesellschaftlichen Funktionen der Kirche, der nationalen Identität, der Dorfgemeinschaft müssen neu definiert werden. Wie sie definiert werden – davon hängt der zukünftige Charakter der Gesellschaft ab.« Diese gesellschaftlichen Institutionen »waren (…) nicht nur älter als das Regime, gegen das sie sich wehrten; sie waren zumeist auch älter als die Moderne. Das bringt Spannungen innerhalb der neuen Demokratien mit sich und kann zu Konflikten führen: zwischen einer im Kampf mit dem Kommunismus erfolgreichen Tradition und einer von den Kommunisten in Verruf gebrachten Modernisierung, zwischen Nation, Kirche, Familien- und Dorfstrukturen einerseits und dem modernen, demokratischen Staat andererseits. Diese Spannungen sind aber gleichzeitig eine Chance – eine Chance, neue, noch nicht begangene Wege der Modernisierung zu erschließen, die sich vielleicht auch für die Lösung westeuropäischer Krisen anbieten.«
Eine Integration Polens in die EU, so argumentierte Michalski damals, sei die Voraussetzung dafür, dass diese Spannungen produktiv würden – eben auch für den Westen. Im Rückblick sieht es freilich so aus, als hätten die rückwärtsgewandten Kräfte, mit einer gewissen Verspätung, die Oberhand gewonnen – und nicht nur in Polen: Ihre Protagonisten offerieren inzwischen auch dem Westen erfolgreich Krisenlösungen – Lösungen, an die der Autor damals wohl nicht gedacht hatte. Die bittere Ironie ist, dass sie dies eben als Mitglieder der EU tun. 2017 hört sich das so an: »Vor 27 Jahren glaubten wir hier in Mitteleuropa, dass Europa unsere Zukunft sei; heute spüren wir, dass wir die Zukunft Europas sind.«8
»Innere Vielfalt und Widersprüchlichkeit sind ebenso Momente des europäischen Selbstverständnisses wie der Austausch mit anderen Kulturen. Transit versteht sich als europäische Zeitschrift im Sinne dieser offenen und niemals fertigen Identität, die von der Überschreitung des eigenen Gesichtskreises, der Neugier für Unterschiede und der Bereitschaft zum Streit lebt«, hieß es im Editorial der ersten Nummer. In mehreren Beiträgen des vorliegenden Heftes begegnet uns die Vermutung, dass die Malaise unserer Zeit wesentlich der Verabschiedung von diesem Verständnis von Identität und dem »Aufstieg der Identitätspolitik« (Krastev) geschuldet ist.
Am dramatischsten zeigt sich diese identitätspolitische Wende darin, dass die Flüchtlingsfrage zum zentralen Bezugspunkt für das europäische Selbstverständnis geworden ist – gegen dessen ursprünglich offene und pluralistische Verfasstheit. »Wenn wir etwas von den jugoslawischen Kriegen lernen können, dann, so scheint es, dass Rückschritt jederzeit möglich ist«, schreibt Slavenka Drakulić. Die damals praktizierte »Art der Identitätspolitik kann man als Avantgarde für die Entwicklungen sehen, die wir im Europa von heute beobachten. Immigranten und Flüchtlinge werden nicht länger als Individuen behandelt, nicht einmal als Bürger eines Staates oder einer Nation. Sie werden auf eine religiöse Identität reduziert, gleich, ob sie gläubig sind oder nicht.« Und beunruhigender noch: »Wir scheinen blind dafür zu sein, dass auch wir in derselben Weise reduziert werden.« So sind ausländische Arbeitnehmer zuerst zu Türken und schließlich zu Muslimen geworden, und wir entsprechend zu Christen, die meinen, ihre Kultur gegen diese »Eindringlinge« verteidigen zu müssen.9 Nichts illustriert diese Einstellung besser als das Treffen zweier Protagonisten der 1989er Revolution, Jaroslaw Kaczyński und Viktor Orbán, im September 2016, auf dem sie im Namen der Rettung Europas gemeinsam zu einer »kulturellen Konterrevolution« aufriefen, gerichtet gegen die »europäischen Eliten«, die angeblich darauf aus sind, »nationale Identitäten auszulöschen«.10 Gegen diese Logik plädiert Claus Offe angesichts der Flüchtlingskrise für eine umgekehrte Integrationsanstrengung, nämlich dass wir uns selbst ändern und den Gegebenheiten einer Einwanderungsgesellschaft fügen, die wir längst sind.
Es sind die beiden eben genannten Politiker, die sich heute am deutlichsten gegen eine solche Politik stellen. Sie verstehen sich als die Speerspitze einer identitätspolitischen Wende für ganz Europa. Die Motive dieser Politik liegen allerdings tiefer: »Beide haben sich«, schreibt Barsa, »im Namen ihrer jeweiligen ethnisch verstandenen Nation gegen den Kommunismus (…) und gegen den Liberalismus, der ihn beerbte, ausgesprochen. In diesem Sinne haben beide ein – für unsere Region typisches – rechtspopulistisches ideologisches Repertoire entwickelt. Es beschwört eine Bedrohung der konkreten nationalen Identität durch einen abstrakten Universalismus, der der Nation von transnationalistischen Kräften aufgezwungen wurde – vor 70 Jahren vom Kommunismus und dann vor fast 30 Jahren vom Liberalismus«.
Dieses Bedrohungsszenario wird noch verstärkt durch einen generellen Strukturwandel unserer Gesellschaften: »Was wir heute in Europa sowohl im Osten wie im Westen sehen, ist eine Verschiebung weg von klassenbasierten politischen Identitäten und eine Erosion des Konsenses, der sich um diese Identitäten gebildet hat«, schreibt Krastev. Auf diesen Identitäten sei das westeuropäische Demokratiemodell errichtet worden. Pointiert gesagt, wird die soziale Frage zunehmend durch Identitätsfragen ersetzt. Wir erleben seit einiger Zeit das Paradox, dass das Problem der Ungleichheit in dem Maße aus dem öffentlichen Diskurs verschwindet, wie es sich bedrohlich verschärft. Dass an dieser Verschiebung die liberale Linke nicht unbeteiligt ist, darauf hatte Richard Rorty schon 1998 hingewiesen: Sie gebe zunehmend »cultural politics« den Vorzug vor »real politics« und mache sich über die Idee lustig, dass demokratische Institutionen eines Tages wieder der sozialen Gerechtigkeit dienen könnten.11
Den Beginn dieser Entwicklung sieht Barsa in einer »kulturalistischen Wende«, die er auf die 1970er Jahre datiert. Sie propagierte »die Anerkennung spezifischer kollektiver Identitäten (…). Im Gegensatz zu den Ideologien des 19. Jahrhunderts, die der Zukunft zugewandt waren, sind diese Identitäten von der Vergangenheit geprägt – seien es die Identitäten von Gruppen, die im Laufe der Geschichte zu Opfern gemacht wurden, wie die Juden, die Schwarzen, die Homosexuellen, oder die kulturellen Identitäten geographischer Regionen wie etwa Mitteleuropa.«
Ihre größten Triumphe hat die kulturalistische Wende in den USA gefeiert. Auf die Folgen weist Mark Lilla hin. »Identity politics« zähle heute, neben Neoliberalismus und Populismus, zu den entscheidenden Herausforderungen für die liberale Demokratie. Die liberale Linke habe die ursprüngliche Idee, unterdrückte Minderheiten zu ermächtigen, zu einem Kult von Differenz und Diversität gemacht, der sie der Fähigkeit beraubt, die Bürger unabhängig von ihrer Identität anzusprechen und für übergreifende Ziele zu gewinnen.
Und mehr noch: Die obsessive Sorge um die eigene Identität habe ländliche und religiöse Weiße ermuntert, sich ebenfalls als benachteiligte Gruppe, sozusagen als Fremde im eigenen Land wahrzunehmen, die von den Eliten ignoriert werden und in ihrer Existenz bedroht sind. Hieran anknüpfend meint Claus Leggewie, dass man weiter fragen müsse, warum »reiche Gesellschaften im Bemühen um eine Verringerung der rechtlichen Ungleichbehandlung bestimmter Gruppen so viel erfolgreicher [sind] als bei ihren Versuchen, die Ungleichverteilung von Einkommen und Vermögen zu verringern«. Es bedürfe »einer politischen Anthropologie, die bei aller notwendigen Sensibilität für Differenz universalistisch bleibt und sich gegen Identitäts-Funktionäre gleich welcher Provenienz zur Wehr setzt.«
Zugespitzt gesagt, führt die radikalisierte linksliberale Identitätspolitik zu einer Zersplitterung der Gesellschaft in immer kleinere Gruppen, die nur noch um die Anerkennung ihrer eigenen Rechte, aber nicht mehr um ein übergreifendes Gemeinwohl besorgt sind und so das politische Feld anderen Kräften überlassen, die es bereitwillig besetzen. Die illiberale Identitätspolitik der Populisten spricht im Namen des Gemeinwohls, versteht dieses aber exklusiv: Sie will eine geschlossene Gesellschaft, die sich aus der Mehrheit, dem »wahren Volk« konstituiert; wer nicht dazu gehört, hat keinen legitimen Anspruch auf Teilhabe.12Entwickeln diese beiden Typen von Identitätspolitik Synergien, die man bisher nicht gesehen hat oder wahrhaben wollte? Jedenfalls scheinen beide auf je ihre Weise die Voraussetzungen einer »lebendigen Demokratie« (Charles Taylor) infrage zu stellen, die vom wechselseitigen Respekt ihrer Bürger und ihrer Solidarität füreinander, dem Zugehörigkeitsgefühl aller zum Gemeinwesen und der inklusiven Möglichkeit zur politischen Partizipation lebt.13
Spätestens hier muss man darauf hinweisen, dass die Verfechter der »illiberalen Demokratie«, ganz gleich, wo, einen mächtigen Verbündeten in Russland haben. Der Kreml unterstützt Rechtspopulisten in ganz Europa und sieht sich als Retter der wahren abendländischen Werte, die er in einem dekadenten Europa untergehen sieht. Neu für die Russen, schreibt Trudolyubov, sei »dass Europa – vielleicht zum ersten Mal seit Jahrhunderten – aufgehört hat, für die russische Gesellschaft ein Leitstern zu sein, wie fern auch immer«. In einer Umkehrbewegung exportiert nun Russland seine Ideen von »gelenkter Demokratie« und nationaler Größe erfolgreich in den Westen. Interessant sind deren Quellen. Timothy Snyder widmet seinen Beitrag14 dem russischen Philosophen Iwan Alexandrowitsch Iljin (1883-1954). In seinen Werken, auf die sich der Kreml wiederholt berufen hat, beschwört Iljin die »organisch-spirituelle Einheit der Regierung mit dem Volk und des Volkes mit der Regierung« und will die »empirische Vielfalt der menschlichen Wesen« durch die »metaphysische Identität aller Menschen einer Nation« überwinden.
Der zweite Teil des Heftes wird mit einem bewegenden Zeitzeugnis eröffnet: Aufnahmen historischer Augenblicke aus dem Jahr 1989, die der polnische Pressephotograph und Chronist der Wende Chris Niedenthal damals eingefangen hat.
Janos Matyas Kovacs, Jiří Přibáň und Elitza Stanoeva zeigen, wie verschieden die Wende in ihren Ländern verlaufen ist, teilen aber ganz ähnliche Sorgen über die Gegenwart. Eine positivere Bilanz aus der Sicht des Ökonomen zieht Piotr Koryś für Polen. Andrii Portnov beschwört den Maidan als letzten Ort, an dem die Idee Europas noch hochgehalten wurde, während sie weiter westlich schon angeschlagen war.15 Maxim Trudolyubov verfolgt die unendliche Spiegelung zwischen Russland und Europa durch das Prisma der Sowjetunion, während Mark Lilla zeigt, was die Europäer aus dem Scheitern der Identitätspolitik in den USA lernen können.
Weitere Beiträge erscheinen separat in einem Online-Supplement zu dieser Ausgabe. Dort schreiben unter anderen, wie erwähnt, Timothy Snyder über die späte Rückkehr Iwan Iljins nach Moskau; Steven Beller über die Lehren, welche die Habsburger Monarchie für die Europäische Union bereit hält, Pawel Marczewski über Proteste in Polen nach 1989 und Carl Henrik Fredriksson über den Zerfall Europas. Von Charles Taylor bringen wir noch einmal einen Essay über die Frage, wieviel Gemeinschaft die Demokratie braucht; 1986 geschrieben, hat er durch eben die Entwicklungen, die in diesem Heft reflektiert werden, überraschend an Aktualität gewonnen.
Die erste Nummer von Transit wurde anlässlich des Erscheinens der vorliegenden letzten digitalisiert und steht den Abonnenten zur Verfügung. Sie kann auch beim Verlag erworben werden.
Die Aufgabe von Zeitschriften ist in ihren Begriff einbeschrieben: Sie unternehmen den fortgesetzten Versuch, unseren Ort in der Zeit zu bestimmen – eine Anstrengung, die ebenso unverzichtbar wie nahezu aussichtslos ist: »Wir möchten gern die Welle kennen, auf welcher wir im Ozean treiben, allein wir sind diese Welle selbst«, schrieb Jacob Burckhardt 1867 in seiner Geschichte des Revolutionszeitalters. Eines aber scheint klar: Es gibt etwas zu verlieren, und es lohnt sich, dafür zu kämpfen. »Vom Ergebnis dieses Kampfes wird es abhängen, welchen Namen unsere gegenwärtig noch namenlose Epoche künftig tragen wird.«16
Dieses fünfzigste Heft ist eine Hommage an Krzysztof Michalski, den 2013 verstorbenen ersten Herausgeber von Transit und Gründer des Instituts für die Wissenschaften vom Menschen. Wir möchten allen danken, die zum Erfolg der Zeitschrift beigetragen haben: den Autorinnen und Autoren für ihre luziden Beiträge; dem Redaktionskomitee und dem Beirat für ihren unschätzbaren Rat; Miriam Schmitthenner und Sindy Meyer für ihr unbestechliches Lektorat; den Kuratoren Chris Niedenthal, Josef Wais († 2017) und Walter Seidl für die Entdeckung kongenialer Photographen; den Übersetzern für ihre kompetente und unermüdliche Arbeit; den Kolleginnen, Kollegen und Fellows am IWM für ihre vielfachen Anregungen; der neuen Rektorin des IWM und Herausgeberin dieser Zeitschrift, Shalini Randeria, für ihre großzügige Unterstützung; dem Zeitschriftennetzwerk Eurozine, insbesondere Carl Henrik Fredriksson, für die Verbreitung von Transit-Artikeln weit über die Stammleserschaft hinaus; und den Lesern für ihre Treue. Die Idee zu Transit wurde kurz vor der Wende geboren; wir danken Dorothea Rein vom Verlag Neue Kritik für ihren verlegerischen Mut, sich auf eine neue Zeitschrift einzulassen, und für fast drei Jahrzehnte wunderbarer Zusammenarbeit.
Klaus Nellen
Wien, im August 2017
1 Transit. Europäische Revue, Nr. 1 (Herbst 1990, www.iwm.at/transit/transit-01), Editorial. Das Heft enthält Auszüge aus Diskussionen, die auf der im Sommer 1990 vom IWM veranstalteten Konferenz Central Europe on the Way to Democracy geführt wurden. Timothy Garton Ash schrieb damals im Independent: »Glancing around the gorgeous late-Baroque dining-room of the Palais Schwarzenberg, with dinner served by white-gloved footmen and the Prince himself presiding, you could imagine for a moment that you were back in 1814, at the Congress of Vienna. But look again and you discover in place of Tsar Alexander the Russian historian Yuri Afanasiev, instead of Talleyrand, the historian of the French revolution, François Furet. The part of Prussia’s Prince Hardenberg is taken by Joachim Fest, the biographer of Hitler, and then, of course, there is Lord Weidenfeld – now Metternich, now Castlereagh. Only Prince Schwarzenberg is indeed Prince Schwarzenberg. In 1814 his ancestor was commander-in-chief of the imperial Austrian armies. The present Prince is chief-of-staff to President Vaclav Havel in Prague Castle, but has taken time out to join this conference in Vienna. The Institute for Human Sciences, a remarkable institution started by a young Polish philosopher, Krzysztof Michalski, eight years ago, has brought together in the old Habsburg capital distinguished representatives of the intellectual and political élites of West Central Europe (Germany, Austria) and East Central Europe (Poland, Hungary, Czechoslovakia), as well as others from America, Britain, France, Italy, Russia, Lithuania, Estonia and Romania.«
2 Zum Beispiel Nr. 2 »Rückkehr der Geschichte«, Nr. 3 »Die Mühen der Ebene«, Nr. 9 »Ex occidente lux?« oder Nr. 18 »Was bleibt von 1989?«. Weitere Nummern waren Problemen gewidmet wie den sozialen Kosten des Übergangs (weiterverfolgt über viele Jahre im Rahmen eines Forschungsschwerpunkts über Solidarität), Europas geteilter Geschichte, der Zukunft der Demokratie oder, nach der EU-Erweiterung 2004, der Frage »Was hält Europa zusammen?«.
3 Transit 1, a.a.O., Editorial.
4 Ebd.
5 Tony Judt, »Europa am Ende des Jahrhunderts« in: Transit 10 (1995), S. 18 und 22. Siehe dazu auch die Bemerkungen in diesem Heft von Timothy Garton Ash zu Tony Judts und Mark Mazowers Europa-Skeptizismus (S. 30 f.) sowie die Ausführungen von Krastev über Ken Jowitts 1991 gestellte Prognose einer bevorstehenden »Weltunordnung« (S. 18).
6 Heinrich Mann, Ein Zeitalter wird besichtigt, Berlin 1947, S. 548.
7 Vgl. Frank Kermode, The Sense of an Ending: Studies in the Theory of Fiction, Oxford 1967.
8 Viktor Orbán in seiner Rede auf der 28. Freien Sommeruniversität in Bálványos am 22 Juli 2017, https://visegradpost.com/en/2017/07/24/full-speech-of-v-orban-will-europe-belong-to-europeans/.
9 Vgl. das Interview mit Claus Leggewie »Wir Europäer sollten aufwachen« in der taz vom 4. Oktober 2016.
10 Wiener Zeitung vom 7. September 2016, www.wienerzeitung.at/nachrichten/europa/europaeische_union/843272_Orbans-kulturelle-Konterrevolution.html.
11 Darauf weist Claus Leggewie in seinem Beitrag hin. Siehe Richard Rorty, Achieving Our Country: Leftist Thought in Twentieth-Century America, Cambridge, MA 1998.
12 Vgl. hierzu Jan-Werner Mueller, Was ist Populismus?, Berlin 2016, und »Illiberale Demokratie?«, in: Transit 48 (2016).
13 Vgl. hierzu den Wiederabdruck von Taylors Essay Wieviel Gemeinschaft braucht die Demokratie? im Online-Supplement dieses Heftes, www.iwm.at/transit.
14 Erscheint im Online-Supplement zu dieser Nummer.
15 Vor 40 Jahren schrieb Czesław Miłosz: »Etwas ist geschehen in den letzten Jahrzehnten. Durch die politische Teilung Europas sind wir zu Außenstehenden geworden und haben begonnen, klarer als zuvor zu sehen, was die vom Alltagsbetrieb absorbierten Menschen im Westen sich nicht eingestehen wollen, und das Schauspiel, das sich unseren Augen bietet, ist nicht gerade vielversprechend.« Angesichts des »geistigen Niedergangs« des Westens müssten nun die entscheidenden Aufgaben von der Peripherie übernommen werden, von »weniger glanzvollen Nationen, einfach weil die anderen erschlafft sind.« (Czesław Miłosz, Emperor of the Earth: Modes of Eccentric vision, University of California Press, 1977, S. VII.) Die neueren Erscheinungsformen und politischen Instrumentalisierungen des Topos von der Rettung des Westens durch den Osten wären eine eigene Untersuchung wert. Hinweise finden sich hier in den Beiträgen von Portnov, Barsa, Trudolyubov und Snyder.
16 Timothy Garton Ash in diesem Heft, S. 40.
Ivan Krastev
DIE AUFLÖSUNG DER LIBERALEN WELTORDNUNG
Die Zeit ist aus den Fugen. Vor unseren Augen löst sich die nach 1989 entstandene liberale Weltordnung auf. Dies geschieht auf drei verschiedene, aber miteinander zusammenhängende Weisen: 1) Der Westen verliert im internationalen System an Macht und Einfluss, wie am Aufstieg Chinas, dem Wiederaufstieg Russlands und der global zunehmenden Zahl bewaffneter Konflikte abzulesen ist. 2) Das westliche Modell der Marktdemokratie verliert seinen universalen Reiz, wie die weitverbreiteten Reaktionen gegen die Globalisierung – verstanden als freie Bewegung von Waren, Kapital, Ideen und Menschen rund um den Globus – vor Augen führen. 3) Die liberaldemokratischen Regime des Westens erleben eine innere Krise, die gewöhnlich als »Aufstieg des Populismus« zusammengefasst wird.
Am verheerendsten und folgenschwersten machen sich die Auswirkungen dieser Auflösung in Europa bemerkbar, wo die seit dem Ende des Kalten Kriegs herrschende Ordnung geboren und geprägt wurde. Nach dem Brexit ist ein vollständiger oder teilweiser Zerfall der Europäischen Union nicht mehr undenkbar. Eine zunehmend autoritäre Türkei könnte die NATO verlassen – von sich aus oder durch Ausschluss. Belgien, Spanien und das Vereinigte Königreich könnten auseinanderbrechen. Die Etablierung illiberaler Regime in Ungarn und Polen geht einher mit der Kontrolle der Medien, Feindseligkeit gegenüber nichtstaatlichen Organisationen, Missachtung der Unabhängigkeit der Gerichte und einer starken Polarisierung der Gesellschaft und weckt bei vielen die Furcht, dass Mittel- und Osteuropa sich schlafwandelnd in die 1930er Jahre zurückbewegen.
Ein besonders besorgniserregender Fall ist Polen. Das Land ist ein Paradebeispiel für den erfolgreichen nachkommunistischen Übergang und konnte sich mindestens ein Jahrzehnt lang der stärksten Wirtschaftsdynamik in Europa rühmen. Vor diesem Hintergrund war der Wahlsieg der nationalkonservativen Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) ein Schock. Im Lichte der Entwicklung in Polen fällt es schwer, den Niedergang liberaler Regime in erster Linie durch den Verweis auf weltwirtschaftliche Nöte wegzuerklären.
Anders als viele der aufgehenden Sterne des europäischen Populismus ist der PiS-Führer Jarosław Kaczyński kein korrupter Opportunist, der schlicht versucht, die Stimmung der Massen einzufangen, während er die roten Linien der EU entlangtänzelt, sorgsam darauf bedacht, sie nicht zu überschreiten. Er ist vielmehr ein echter Ideologe, wie man sie aus dem 20. Jahrhundert kennt. Und nicht viel anders als der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan versteht er Politik im Sinne von Carl Schmitts Unterscheidung zwischen Freunden und Feinden.
Warum haben die polnischen Wähler ihre Stimme denselben Populisten gegeben, die sie erst vor weniger als einem Jahrzehnt aus dem Amt geworfen hatten? Warum haben die Polen, die laut Meinungsumfragen noch immer eines der am stärksten pro-europäischen Wahlvölker Europas sind, Euroskeptiker an die Macht gebracht? Warum wählen Mittel- und Osteuropäer zunehmend Parteien, die unabhängige Institutionen wie Gerichte, Notenbanken und freie Medien verabscheuen? Das sind die Fragen, die die neue Debatte in Ostmitteleuropa bestimmen. In ihr geht es nicht länger darum, was mit der postkommunistischen Demokratie schiefläuft; vielmehr dreht sie sich um die Frage, was wir hinsichtlich des Wesens der nachkommunistischen Zeit falsch verstanden haben.
Zurück ins Jahr 1989
Vor etwas mehr als einem Vierteljahrhundert, in dem nun sehr entrückt erscheinenden Jahr 1989 – ein annus mirabilis, das jubelnde Deutsche auf der Berliner Mauer tanzen sah – , erfasste ein Intellektueller und Mitarbeiter des amerikanischen Außenministeriums namens Francis Fukuyama den Geist der Zeit. Mit dem Ende des Kalten Kriegs, so argumentierte er in einem berühmt gewordenen Essay, seien alle großen ideologischen Konflikte gelöst.1 Der Wettstreit sei vorüber, und die Geschichte habe einen Sieger hervorgebracht: die Demokratie westlichen Stils. Im Rekurs auf Hegel präsentierte Fukuyama den Sieg des Westens im Kalten Krieg als ein Urteil der Geschichte selbst – das Höhere Gericht der Weltgerechtigkeit hatte gesprochen. Kurzfristig könnten einige Länder Schwierigkeiten haben, dieses exemplarische Modell nachzuahmen, doch würden sie es versuchen müssen, denn eine Alternative gab es nicht mehr.
Vor diesem Hintergrund lauteten die zentralen Fragen: Wie kann der Westen den Rest der Welt transformieren, und wie kann der Rest der Welt den Westen imitieren? Welche Institutionen und politischen Praktiken müssen dazu übertragen bzw. kopiert werden? Zufällig folgte dem »Ende der Geschichte« die Morgendämmerung des Internets als Massenphänomen mit tief greifenden Auswirkungen auf Wirtschaft, Gesellschaft und das Alltagsleben. Beides schien zusammenzugehen, so dass das Ende der Geschichte in der Sphäre der Politik und der Institutionen Imitation erforderte, während es auf dem Gebiet der Technologie und des gesellschaftlichen Lebens gleichzeitig nach Innovation verlangte. Der globale Wettbewerb würde sich verstärken, aber es würde ein Wettbewerb zwischen Firmen und Individuen statt zwischen Ideologien und Staaten sein. Als Resultat würden sich die Länder einander annähern.
Die Vision vom Ende der Geschichte hatte ihre Zweifler – Fukuyama selbst hatte hinter den Titel seines ursprünglichen Artikels ein Fragezeichen gesetzt – , aber viele fanden sie dank ihres Optimismus und der Art, wie sie den westlichen Liberalismus und nicht diese oder jene antiliberale revolutionäre Bewegung ins Zentrum der Fortschrittsidee stellte, reizvoll. Was Fukuyama so wirkungsvoll artikulierte, war eine Vision postutopischer politischer Normalität. Die westliche Zivilisation war die moderne, die normale Zivilisation, die natürliche Ordnung der modernen Welt.
Es ist diese Vision der Welt nach dem Kalten Krieg, die gerade vor unseren Augen zerbricht. Nur indem wir ihre wesentlichen Vorannahmen sichtbar machen, können wir uns mit den Problemen auseinandersetzen, vor denen wir heute stehen. Die Frage, die sich durch die Auflösung der liberalen Ordnung stellt, ist nicht, was der Westen falsch gemacht hat in seinem Bestreben, die Welt zu transformieren. Die drängende Frage ist vielmehr, wie die letzten drei Jahrzehnte den Westen transformiert haben.
Nach dem Fall der Berliner Mauer, so besagt ein Gerücht, ließ der Diplomat Robert Cooper, damals Planungschef im britischen Außenministerium, Stempel mit dem Kürzel »OBE!« anfertigen, das für »Overtaken By Events!« (von den Ereignissen eingeholt) stand. Cooper bat seine Kollegen dann, die vorhandenen Akten durchzusehen und nach Bedarf abzustempeln. Es ist Zeit, den OBE!-Stempel wieder hervorzuholen. Um die nun im Gange befindlichen Veränderungen zu verstehen, müssen wir einen radikalen Wechsel unseres Ausgangspunktes vornehmen und das Wesen der postkommunistischen Periode neu verstehen.
Zu der Zeit, als Fukuyama das Ende der Geschichte verkündete, beschrieb der Politologe Ken Jowitt im Journal of Democracy den Ausgang des Kalten Kriegs nicht als Stunde des Triumphs, sondern als den Anbruch einer Epoche der Krise und des Traumas, als Aussaat dessen, was er »die neue Weltunordnung« nannte.2 Jowitt, ein respektierter Kalter Krieger, der sein Leben mit dem Studium des Kommunismus verbracht hatte, war anderer Meinung als Fukuyama und widersprach dessen Auffassung, es ereigne sich gerade »eine Art historischer chirurgischer Schlag«, der den Rest der Welt »weitgehend unberührt« lassen würde. Vielmehr sollte, schrieb Jowitt, das Ende des Kommunismus
(…) mit einem katastrophalen Vulkanausbruch verglichen werden, der anfänglich und unmittelbar nur die umliegenden politischen »Biota« (d.h. andere leninistische Regime) betrifft, dessen Effekte jedoch sehr wahrscheinlich globale Auswirkungen auf die Grenzen und Identitäten haben werden, die ein halbes Jahrhundert lang die Welt politisch, ökonomisch und militärisch definiert und geordnet haben.3
Für Fukuyama trat die Welt nach dem Kalten Krieg in eine Zeit, in der die zwischenstaatlichen Grenzen offiziell bestehen bleiben, dabei aber einen Großteil ihrer Relevanz verlieren würden. Jowitt hingegen sah voraus, dass Grenzen neu gezogen, Identitäten umgeformt und Konflikte um sich greifen würden, in einer von lähmender Unsicherheit gekennzeichneten Welt. Er sah die postkommunistische Phase nicht als undramatisches Zeitalter der Imitation, sondern als eine schmerzliche und gefährliche Zeit voller Regime, die sich am besten als politische Mutanten beschreiben ließen. Er stimmte Fukuyama darin zu, dass keine neue universelle Ideologie auftauchen würde, um die liberale Demokratie herauszufordern, prophezeite aber eine Rückkehr alter ethnischer, religiöser und tribalistischer Identitäten. Jowitt sagte ferner voraus, dass sich aus der Asche der geschwächten Nationalstaaten »Wutbewegungen« erheben würden. Kurz, Jowitt sagte in Umrissen al-Qaida und ISIS voraus.
Mehr als zwei Jahrzehnte lang sah es, zumindest was Europa anbelangte, so aus, als ob Fukuyama recht behielte, nicht Jowitt. Doch es ist Jowitts Analyse der Ära nach dem Kalten Krieg als Zeit einer globalen Identitätskrise und neugezogener Grenzen zwischen Staaten und Gemeinschaften, die uns helfen kann, die gegenwärtige politische Lage in Europa im Allgemeinen und in Mittel- und Osteuropa im Besonderen zu verstehen.
20 Jahre lang übernahmen Europas neue Demokratien skrupulös die demokratischen Institutionen des Westens und die von der Europäischen Union verlangten Gesetze und Bestimmungen. Die Wahlen waren frei und fair, und die gewählten Regierungen blieben innerhalb des demokratischen Spektrums. Die Wähler konnten Regierungen abwählen, nicht aber die herrschende Politik. Die soziale Ungleichheit wuchs, manche Gruppen verloren ihren Status, und Bevölkerungsgruppen bewegten sich innerhalb ihres Landes und über nationale Grenzen hinweg. Aber nichts davon führte zu großen politischen Verwerfungen. In vieler Hinsicht waren die jungen Demokratien Europas wie fleißige Einwanderer der ersten Generation, die sich eifrig um Anpassung bemühten und nach der Arbeit still nach Hause gingen.
Es gab wohl etwas lauten Populismus, aber anscheinend eher im Stil als in der Substanz – Reformverlierer, die mit ihrer Proteststimme Dampf abließen. Der Populismus war jedoch immer mehr als das. Jan-Werner Müller argumentiert überzeugend, dass Populismus keine kodifizierte Doktrin sei, sondern ein Bündel distinkter Ansprüche, und dass er eine innere Logik besitze.4 Er ist mehr als das, was Cas Mudde als »eine illiberale demokratische Reaktion auf undemokratischen Liberalismus« bezeichnet.5
Das Kernmerkmal des Populismus ist Feindseligkeit nicht gegenüber dem Elitismus, sondern gegenüber dem Pluralismus. Wie Müller formuliert: »Populisten behaupten: ›Wir sind das Volk!‹ Sie meinen jedoch – und dies ist stets eine moralische, keine empirische Aussage (…): ›Wir – und nur wir – repräsentieren das Volk.‹«6 Kaczyński repräsentiert nicht alle Polen, sondern die »wahren Polen«. Beinahe die Hälfte der Türkei ist gegen die Politik von Erdoğan, aber ihn erfüllt die Gewissheit, der einzige Sprecher des Volkes zu sein, weil die »wahren Türken« für ihn stimmen. Es ist die ausgrenzende Identitätspolitik des Populismus, die Jowitts düstere Vision bestätigt.
Migration und der Aufstieg der Identitätspolitik
Von den vielen Krisen, vor denen Europa heute steht, ist es die Migrationskrise, die das sich verändernde Wesen der europäischen Politik am deutlichsten zeigt. Viele Europäer verbinden mit der Migration das wachsende Risiko von Terroranschlägen, die Islamisierung ihrer Gesellschaften und die Überlastung des Wohlfahrtsstaats. Ängste vor der Migration stehen hinter der Popularität des rechtsgerichteten Populismus, dem Sieg der Brexit-Befürworter und der wachsenden Kluft zwischen Ost und West innerhalb der EU, die Zweifel an der Idee einer »unumkehrbaren« europäischen Integration aufkommen lässt.
Bei der Migration geht es um mehr als um hereinströmende Menschen; es geht um hereinströmende Bilder, Emotionen und Argumente. Eine bedeutende Kraft in der heutigen europäischen Politik besteht aus Mehrheiten, die sich bedroht fühlen. Sie haben das Gefühl, dass Ausländer ihr Land übernehmen und ihren Lebensstil bedrohen, und sind überzeugt, dass dies das Ergebnis einer Verschwörung zwischen kosmopolitisch eingestellten Eliten und tribalistisch gesinnten Migranten ist. Der Populismus dieser Mehrheiten ist kein Produkt eines romantischen Nationalismus, wie es vor einem Jahrhundert hätte der Fall sein können. Vielmehr wird er von demographischen Projektionen gespeist, die sowohl auf die schrumpfende Rolle Europas in der Welt als auch auf befürchtete Masseneinwanderungen von Menschen nach Europa vorausdeuten. Es ist eine Art von Populismus, auf die wir schlecht vorbereitet sind, weil wir in der Geschichte keine Vorläufer dafür finden.
Was immer EU-Politiker in Brüssel sagen mögen, bei der Migrationskrise geht es nicht um einen »Mangel an Solidarität«, vielmehr um ein Aufeinanderprallen von Solidaritäten – von nationalen, ethnischen und religiösen Solidaritäten, die sich mit unseren mitmenschlichen Verpflichtungen ins Gehege kommen. Die Migration sollte nicht nur als Bewegung von Nichteuropäern auf den alten Kontinent oder von den armen EU-Mitgliedsstaaten in die reicheren gesehen werden, sondern auch als Bewegung der Wähler weg von der Mitte und als Ersetzung der Grenze zwischen Links und Rechts durch die Grenze zwischen Internationalisten und Nativisten.
Der Skandal im Verhalten der Mittel- und Osteuropäer, zumindest aus Sicht des Westens, ist nicht so sehr ihre Bereitwilligkeit, neue Zäune an eben jenen Stellen zu errichten, an denen vor weniger als drei Jahrzehnten Mauern niedergerissen wurden; es ist eher ihre Behauptung, dass wir »diesen Leuten nichts schuldig sind«. Die Öffentlichkeit im Osten scheint ungerührt von der Misere der Flüchtlinge und Migranten, und die dortigen Staatsführer haben die Entscheidung der EU, die Flüchtlinge unter den Mitgliedsstaaten zu verteilen, heftig gegeißelt. Der slowakische Premierminister Robert Fico erklärte, sein Land werde nur Christen akzeptieren, da es über zu wenige Moscheen verfüge. In Polen warnte Jarosław Kaczyński, Neuankömmlinge könnten Krankheiten ins Land schleppen. Ungarns Premier Viktor Orbán argumentierte, die erste Pflicht der EU sei es, die Bürger ihrer Mitgliedsstaaten zu schützen, und ließ ein Referendum darüber abhalten, ob Ungarn der Forderung Brüssels nach Aufnahme von Ausländern nachkommen solle. Solche Abstimmungen sind nichts Außergewöhnliches mehr: In 18 der 27 Mitgliedsstaaten der EU werden derzeit 34 Referenden in Zusammenhang mit der EU erwogen.