Bernward Schneider
Flammenteufel
Kriminalroman
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Personen und Handlung sind frei erfunden.
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sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/Korrekturen: Julia Franze / Sven Lang
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von Getty Images
ISBN 978-3-8392-3726-7
Die Schilderung des Prozessgeschehens beruht auf den Original-Verhandlungsprotokollen des Reichstagsbrandprozesses, der am 21. September 1933 vor dem Leipziger Reichsgericht begann, in der Zeit vom 10. Oktober bis zum 18. November 1933 im unversehrt gebliebenen Teil des Reichstagsgebäudes in Berlin fortgesetzt wurde, und nach weiteren Verhandlungstagen in Leipzig am 23. Dezember 1933 mit dem Todesurteil gegen den Angeklagten van der Lubbe sowie Freisprüchen für die vier anderen Angeklagten endete.
Als ich die Lietzenburger Straße erreichte, war es dunkel geworden, und in der wuchtigen Häuserfront, in die sich die schwarzgraue Fassade des Hotels Belvedere einreihte, brannten vereinzelt die Lichter. Es hatte zu regnen begonnen, und der Asphalt, über den die Limousinen rollten, schimmerte in einem finsteren Glanz. Auf der anderen Straßenseite ließ ein schwarzes Mercedes-Cabriolet, das mit laufendem Motor am Bordsteinrand gewartet hatte, die Scheinwerfer aufgleißen und fuhr mit hoher Geschwindigkeit in westlicher Richtung davon.
Die Rezeption in der Hotelhalle war von einer Gruppe Reisender umlagert, und da mich niemand beachtete, wandte ich mich nach links, wo ich nach ein paar Metern auf das Treppenhaus stieß, das sich um das schmiedeeiserne Gitterkleid des Fahrstuhlschachts herum nach oben wand und dessen Stufen ein roter Teppich bedeckte.
Auf dem Flur im dritten Stock brannte eine Art Notbeleuchtung. Einen Lichtschalter gab es nicht; jedenfalls konnte ich keinen finden. Ganz am Ende des Ganges entdeckte ich die Tür mit der Ziffer 303, die Alice Resow mir genannt hatte.
Auf mein Klopfen passierte nichts, und auch nach dem zweiten Anklopfen blieb die Aufforderung zum Eintreten aus. Ich senkte lauschend den Kopf und wartete, dass etwas geschehen würde, aber von drinnen kam kein Laut.
Schon in diesem Moment beschlich mich ein unbehagliches Gefühl. Das Gefühl war dumpf und stärker, als es dem Anlass entsprach. Es war nicht nur eine dunkle Ahnung, sondern die aus einem Wust vager Erinnerungen gespeiste Gewissheit, dass irgendetwas an meiner ganzen Unternehmung nicht stimmte.
Ich klopfte noch einmal lauter, aber alles blieb still.
Der Knauf an der Tür ließ sich drehen, sie war nicht verschlossen.
Ein schwacher Lichtschein fiel in den Flur.
»Frau Resow?«, rief ich und schob die Tür ein Stück weiter auf.
Es war kein kleines, aber dafür einfach und zweckmäßig eingerichtetes Zimmer mit soliden Möbeln, einem großen Doppelbett, einem Kleiderschrank, einer Art Schreibtisch mit Stuhl davor und an den Wänden hingen Bilder, deren Stil an Emil Nolde oder August Macke erinnerte. Das Bett war mit der Tagesdecke bezogen und ein paar Kleidungsstücke lagen darauf. Das Licht im Zimmer kam von der Ecktischlampe gegenüber dem Bett.
Fast war ich erleichtert, dass ich beim ersten Blick in das Zimmer niemanden sah. Schon wollte ich mich zurückziehen, um im Hotelrestaurant nach Alice Resow Ausschau zu halten, da wurde meine Aufmerksamkeit nach rechts zu einem Schatten gelenkt, der von dort unsichtbar nach mir zu greifen schien. Abrupt riss ich den Kopf herum und starrte in den Teil des Raums, der sich hinter meiner Schulter befand.
Alice Resow saß auf dem Boden, gerade aufgerichtet und mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt. Eine Strähne des kastanienfarbenen Haars war ihr in die Stirn gerutscht, ihre grünen Augen blickten weit geöffnet in die Tiefe des Raums; eine gerade Nase, kleine, spitze Ohren, ein langer Hals – um diesen aber war ein Seidenschal geschlungen, dessen Enden an einem Gestänge befestigt waren, das zu einem Heizkörper gehörte, der sich neben ihr befand. Der Schal wirkte straff gespannt und der Glanz in den Augen von Alice Resow war erloschen.
Ich warf einen Blick zurück in den Gang. Überall herrschte schummerige Finsternis. Nichts war zu hören und kein Mensch zu sehen.
Leise zog ich die Tür hinter mir zu; dann trat ich näher an die Tote heran.
Abgesehen von dem Schal war sie vollkommen nackt; und trotz des Schreckens, der mich gepackt hielt, konnte ich nicht übersehen, dass sie einen verdammt schönen Körper hatte.
Ich beugte mich zu ihr hinab. War sie denn wirklich tot? Ihre Augen – Augäpfel, Iris und Pupillen – blickten starr, unbeweglich. Ich hielt mein Ohr nahe an ihre stummen, halb geöffneten Lippen, fühlte den Puls an ihrem Handgelenk, aber es war kein Leben mehr in ihrem Körper; ich hatte mich nicht getäuscht.
Ich richtete mich wieder auf und blickte mich um. Ein Glück immerhin, dachte ich mit einem Anflug verspäteter Bestürzung, dass der Irre, der für dieses Geschehen Verantwortung trug, nicht mehr im Zimmer war.
Die Zeiger der Uhr an meinem Handgelenk zeigten halb acht. Vor einer knappen Stunde hatte Alice Resow mich angerufen. Es gäbe Ärger mit einem Freund, hatte sie mir am Telefon erklärt, und als ich erwiderte, dann solle sie besser die Polizei einschalten, hatte sie fast entrüstet reagiert und vehement bekundet, dass ihr die Polizei nicht helfen könne.
Mit fest aufeinandergepressten Lippen trat ich ans Fenster. Der Regen glitzerte silbern im Schein der Laternen und verschwand im Dämmer über dem Asphalt. Ein einsamer Fahrradfahrer stemmte sich gegen den Wind. Was sollte ich tun?
Noch vor wenigen Monaten hätte ich mir diese Frage nicht stellen müssen. Damals hätte ich die Rezeption verständigt und die Polizei gerufen, hätte den Beamten gesagt, was ich wusste, und wäre meines Weges gegangen; doch in der heutigen Zeit ging das nicht mehr – vor allem nicht, soweit es meine Person betraf.
Seit mehr als einem halben Jahr war Adolf Hitler Kanzler des Deutschen Reiches, und seitdem er im Amt war, wusste man nicht, mit wem man es zu tun bekam, wenn man sich an die Polizei wandte; man konnte nicht sicher sein, ob es die richtige Polizei, die geheime Polizei oder gar die vornehmlich aus Schlägern der SA bestehende Hilfspolizei war, die die Sache übernahm.
Das allein hätte mich nicht schrecken müssen. Schlimmer war, dass mein Name auf einer schwarzen Liste stand. Ich hatte am eigenen Leibe erfahren, was es bedeutete, wenn man sich mit den Leuten anlegte, die nunmehr in Deutschland das Sagen hatten, und als ein gebranntes Kind war ich nicht erpicht darauf, dass sich die Erfahrungen, die ich hatte machen müssen, wiederholten.
Diffuse Gedanken, Fragen und Zweifel nagten an mir. War es ein Zufall, dass ausgerechnet mir diese Sache hier passierte? Konnte das Ganze womöglich eine Falle sein, die meine Widersacher mir stellten? Was, wenn Philipp Arnheim, der furchtbare Bankier, oder wenn mein Schwager Rudolf Mantiss, der ›Pharao der Loge der Brüder und Schwestern vom Licht‹, hinter der Sache steckten? Oder war das bloß ein abwegiger Gedanke? An und für sich war ich kein Mensch, der unter Verfolgungswahn litt, aber ich wusste, dass ich in dieser Stadt von wirklichen Dämonen umgeben war, und deshalb schloss ich inzwischen fast gar nichts mehr aus.
Mein Blick kehrte zu der toten Alice Resow zurück.
Ihr Gesicht war selbst im Tode noch schön, und auch der Hauch von Verruchtheit, der mir bei unserer einzigen Begegnung als Erstes aufgefallen war, haftete ihm noch an. Es sah fast so aus, als lächelte sie.
Sie hatte es hinter sich, ging es mir durch den Sinn, und wieder einmal musste ich daran denken, wie richtig doch der Satz war, dass es nicht selten die Lebenden waren, die die Toten beneideten.
Mir war klar, dass ich schnell eine Entscheidung treffen musste, aber selbst hier im Zimmer, wo ich unbeobachtet war, musste ich aufpassen, dass ich keinen Fehler beging.
Wieder spähte ich durch das Fenster. Der Schein der hohen Laternen tauchte die Straße in ein diffuses Licht. Der Regen war stärker geworden, und die durch die Lichtkegel der Straßenlaternen eilenden Passanten wirkten schemenhaft.
Ein, zwei Minuten verstrichen, dann streiften die Lichter einer schwerachsigen schwarzen Mercedes-Limousine durch den Regen. Kurz darauf hielt der Wagen am Straßenrand; ungefähr an derselben Stelle, wo bei meinem Eintreffen vor dem Hotel das schwarze Cabriolet davongefahren war.
Auf beiden Seiten wurden die Türen aufgestoßen, zwei Männer in langen Mänteln, deren Gesichter durch Velourshüte verdeckt waren, stiegen in den lichterglitzernden Regen hinaus.
Ich blickte mich um. Wo im Raum hatte ich Fingerabdrücke hinterlassen? Aber machte es überhaupt Sinn, sie zu entfernen? Konnte ich ausschließen, dass mich jemand gesehen hatte, als ich hergekommen war? Wenn ich daher meine Anwesenheit im Hotel zu verbergen suchte und man später trotzdem herausfand, dass ich der Toten einen Besuch abgestattet hatte, machte ich alles nur noch schlimmer. Dann musste ich gar damit rechnen, dass man versuchen würde, mir einen Mord anzuhängen. Es gab Leute in meinem Umfeld, die sich für diese Gelegenheit geradezu bedanken würden. Nein, meine Anwesenheit zu vertuschen, wäre die schlechteste Wahl zwischen allen schlechten Alternativen. Es half nichts, ich musste in den sauren Apfel beißen, die Rezeption benachrichtigen und die Polizei anrufen, ganz egal, was für Folgen das für mich hatte.
Schließlich straffte ich mich, ging auf die Zimmertür zu, hielt wieder inne, weil ich von draußen Geräusche vernahm. Kein Zweifel, das waren Schritte – und sie näherten sich der Tür. Verdammt! Sie waren alle so viel schneller als ich!
Ich stand still und starrte auf das weiße Holz, rechnete damit, dass jeden Moment jemand anklopfen würde.
Aber es war nichts zu hören – stattdessen sah ich, wie der Knauf sich drehte und die Tür einfach aufgemacht wurde.
Sie waren zu zweit, und ich war sicher, dass es die Typen waren, die ich eben vom Fenster aus beim Verlassen ihres Wagens beobachtet hatte.
Geheime Polizei! Ich sah es auf den ersten Blick. Mitarbeiter des Geheimen Staatspolizeiamtes! Ledermäntel und Velourshüte, bleiche, hagerere Gesichter – doch woran man sie auf jeden Fall erkannte, waren die Augen. Selbst wenn sie groß und tiefblau waren, immer waren sie kalt und mitleidlos.
Ich war also tatsächlich in eine Falle getappt.
Der eine der beiden war noch jung; ein kräftiger, hoch aufgeschossener Bursche mit Sommersprossen, hellen, eisblauen Augen und blondem Haar. Der andere war älter, ein hagerer dunkler Typ mit bartschattigen bleichen Wangen.
Der Jüngere mit den hellen Haaren richtete den Blick mit anhaltender Neugier auf die nackte Tote; er schien aber nicht wirklich überrascht zu sein, sie zu sehen. Sein Kollege hatte überhaupt nur einen kurzen Blick für Alice Resow übrig, und wandte dann sogleich mir die ungeteilte Aufmerksamkeit seiner stechenden schwarzen Augen zu.
»Name und Adresse! Haben Sie einen Ausweis?«, sagte er und stieß mir seine Polizeimarke, die er bereits in den Händen hielt, fast in die Augen. Er trug einen stark verknitterten Anzug unter dem Mantel, und sein dunkles Haar, das unter dem Hut sichtbar war, hatte aus der Nähe einen rötlichen Stich.
Ich zeigte ihm meinen Anwaltsausweis, den ich seit einiger Zeit immer bei mir trug, und machte ihm die Angaben, die er hören wollte. Während er das Papier eindringlich betrachtete, fügte ich hinzu: »Die Tote ist meine Mandantin. Sie heißt Alice Resow und rief mich an, weil sie Hilfe brauchte. Leider bin ich zu spät gekommen.«
Der Gestapo-Mann nahm einen Block und einen Stift aus der Innentasche seines Jacketts und machte sich Notizen.
»Wieso brauchte die Frau Hilfe?«
Ich warf einen Blick auf die Tote und sagte nichts.
»Haben Sie mich nicht verstanden?«, wiederholte er.
»Am Telefon sprach Frau Resow davon, dass sie Ärger mit einem Freund hätte.«
Der Bleichgesichtige notierte sich das.
»So, so«, sagte er. »Ärger mit einem Freund? Wer ist denn dieser Freund?«
»Sie hat mir seinen Namen nicht genannt.«
Der Dunkelhaarige sah mich wieder an. »Warum haben Sie nicht die Polizei gerufen?«
»Wie meinen Sie das? Von meiner Kanzlei aus?«
»Nein, von hier!«
»Sie sind doch schon da! Ich bin selbst erst kurz vor Ihnen gekommen.«
Ein Schatten fiel über seine Züge.
»Habe ich Ihr Gesicht nicht schon einmal irgendwo gesehen?«, fragte er und kniff die Augen zusammen.
»Wahrscheinlich im Verbrecheralbum«, ließ sich der Blonde aus dem Hintergrund vernehmen, nachdem es ihm gelungen war, seinen Blick von der Toten loszureißen. »Am besten, wir nehmen ihn mit aufs Revier.«
»Derjenige, der Sie angerufen hat, wird Ihnen bestätigen können, dass ich erst angekommen bin, als Frau Resow schon tot war«, entgegnete ich.
Der Blonde kam näher und baute sich vor mir auf. In seinen Augen zeigte sich ein harter, fiebriger Glanz. »Wer hat uns angerufen?«
»Das wollte ich Sie auch gerade fragen. Ich war ja nicht dabei.«
»Werd nicht frech, Freundchen!«
»Hören Sie auf, mich zu duzen!«
Er packte mich mit beiden Händen am Kragen meiner Jacke und hob mich ein Stück hoch.
»Überlegen Sie sich gut, was Sie sagen, Herr Goltz!«, schaltete sich der Bleichgesichtige ein. »Sie scheinen den Ernst Ihrer Lage zu verkennen.«
»Ein Mord ist eine ernste Sache, allerdings. Aber der Täter befindet sich nicht hier im Raum.«
»Mord?«, raunte der Blonde. »Woher wissen Sie denn, dass die Frau ermordet wurde?«
»Sehen Sie doch mal genau hin!«
»Lassen Sie ihn, Wunram!«, sagte der Bleichgesichtige. »Wir müssen uns um die Tote kümmern.«
Wunram stellte mich wieder auf die Füße.
»Kann ich jetzt gehen?«, fragte ich in Richtung des Bleichen.
»Nein«, gab dieser scharf zurück.
»Was wollen Sie noch von mir?«
Wunram sah mich mit einem unangenehmen Lächeln an. »Was wohl? Ein paar Auskünfte …«, grinste er frech, »… und den Tod!«
»Wollen Sie schon sterben?«, fragte ich.
»Ich spreche von Ihrem Tod, Goltz«, meinte er.
»Wir kommen wirklich auf keinen grünen Zweig.«
»Ruhe!«, sagte der Bleichgesichtige, der offenbar der Ranghöhere der beiden war. Er hatte jetzt die Augen der toten Alice Resow zugewandt und betrachtete sie ziemlich intensiv.
»Weshalb ist sie eigentlich nackt?«, fragte er, als wäre ihm dieser Umstand bisher entgangen.
»Wahrscheinlich war ihr heiß«, sagte Wunram.
Der Bleichgesichtige beachtete ihn nicht. »Haben Sie irgendetwas hier verändert?«, fragte er mich, ohne mich anzusehen oder auch nur den Blick von der Toten zu nehmen.
»Ich habe nichts angerührt, bis auf die Dame – ich habe ihr nämlich den Puls gefühlt.«
»Und?«
»Nichts.«
Der Bleichgesichtige runzelte die Stirn. »Was denken Sie, ist passiert?«, fragte er und schaute nun wieder zu mir her.
»Darüber lässt sich nur spekulieren«, antwortete ich.
»Dann tun Sie es mal!«
»Es sieht aus, als wäre sie an den Falschen geraten – sie hatten Sex und der Typ ist durchgedreht.«
Der Bleichgesichtige nickte. »Gar nicht schlecht die Theorie – könnte so gewesen sein. Hm, aber vielleicht war es auch ganz anders oder jedenfalls ein wenig anders, nämlich in einem entscheidenden Punkt.«
»Vielleicht waren Sie ja dieser Typ, der durchgedreht ist, wollte mein Kollege damit sagen«, sagte Wunram. »Sie sind hergekommen, um Ihre schöne Mandantin zu vernaschen, und als sie nicht so wollte wie Sie, da hat es bei Ihnen ausgesetzt, da sind Sie durchgeknallt, und das Ergebnis haben wir nun vor Augen.«
Ich schwieg lieber, denn das konnte man nicht kommentieren.
Der Bleichgesichtige, dessen Aufgabe es war, eine Entscheidung zu treffen, rieb sich das Kinn, als dächte er darüber nach, ob er das Wort lieber an seinen Kollegen oder an mich richten sollte.
»Was machen wir mit ihm, Herr Köhler?«, fragte Wunram seinen Vorgesetzten.
»Wir greifen den Dingen besser nicht vor«, erwiderte der Angesprochene. »Seine Personalien haben wir, das reicht uns für den Moment.« Er schaute zu der Toten zurück, und Wunrams Augen folgten seinem Blick, bis wir alle drei auf die am Boden sitzende Alice Resow starrten.
Die Wirkung, die von Alice Resows Erscheinung ausging, ihre Nacktheit und ihre besondere Attraktivität, die ihr durch den Tod nicht genommen worden war, war so stark, dass man sich der voyeuristischen Spannung nur schwer entziehen konnte. Mir war, als würde sie uns mit ihren leblosen Augen sehen, während eigentlich wir drei Lebenden die Blinden waren, und ich spürte ein mit einer seltsamen Beunruhigung gefärbtes Unbehagen, die Frau könne nicht wirklich tot sein, und ihr magisches Bewusstsein würde noch, unsichtbar für uns, in diesem Raume anwesend sein.
»Warum müssen ausgerechnet die Schönen sterben«, sagte der Gestapo-Mann Köhler, »es ist so verdammt ungerecht.«
Eine tote nackte Frau und drei Männer, die sie betrachteten, die Situation hatte etwas Obszönes. Es war fast, als hätten wir uns alle drei gegen Alice Resow verschworen, als trügen wir aufgrund der bloßen Tatsache, dass wir Männer waren, eine Mitschuld an ihrem Tod.
Von draußen prasselte Regen gegen die Fensterscheibe, und in der Ferne grollte der Donner.
Köhler blickte zum Fenster. »Es kommt immer alles Üble zusammen«, sagte er.
»Da haben Sie recht«, sagte ich und dachte im nächsten Augenblick, ich hätte es besser nicht gesagt.
Köhler wandte die kalten Augen zu mir zurück. Sein Gesicht wirkte so blass und leer wie die Spree in einer lauen Sommernacht.
»Was meinten Sie eben?«
»Ich dachte daran, dass ich keinen Schirm dabei habe.«
»Sonst haben Sie kein Problem?«
»Nein.«
»Sie könnten aber eines kriegen – vielleicht sogar einen ganzen Sack voll.« Er schaute mich eindringlich an. »Jedenfalls dann, wenn Sie …«, er machte eine bedeutungsschwere Pause »… wenn Sie uns Ärger machen.«
Ärger? Der Sinn dieser Bemerkung erschloss sich mir nicht. Hatten die beiden etwa Angst vor mir? Etwas an deren Auftreten war mir von Anfang an merkwürdig erschienen. Es wurde mir in diesem Moment deutlich bewusst.
»Warum sollte ich Ihnen Ärger machen? Ich bin ein friedlicher Mensch.«
Köhler trat einen Schritt näher an mich heran, sodass sich fast unsere Nasenspitzen berührten.
»Gut«, sagte er. »Dann bleiben Sie Ihrem Vorsatz treu! Und jetzt werden Sie in die Hotelhalle gehen und sich dort zur weiteren Verfügung halten! Wir werden das Notwendige veranlassen. Der zuständige Staatsanwalt wird entscheiden, was mit Ihnen geschieht. Und unternehmen Sie nicht den Versuch, stiften zu gehen. Es wäre zwecklos. Wir kriegen Sie ohnehin!« Er nickte mit dem Kopf in Richtung der Tür, und ich zögerte nicht, seiner Aufforderung zum Verschwinden Folge zu leisten.
Über den verschatteten Gang kehrte ich durch das Treppenhaus in die Halle zurück, wo ich mich in einen der schweren Ledersessel fallen ließ, die dort ein paar kleine Tische umstanden. Niemand nahm Notiz von mir; nur der Portier warf mir einen merkwürdigen Blick zu, als hätte er schon eine Ahnung, dass irgendetwas Unangenehmes im Gange war.
Die Sache war fürs Erste besser ausgegangen, als ich befürchtet hatte, und ich wunderte mich etwas darüber. Zwar hatten die beiden Geheimen recht mit ihrer Bemerkung, dass ich ihnen nicht entwischen konnte, aber wenn sie mich wirklich verdächtigten, am Tod von Alice Resow schuldig zu sein, hätten sie mich so ohne Weiteres gewiss nicht ziehen lassen. Wussten die beiden etwas, von dem ich keine Ahnung hatte?
Zwei Minuten nach mir erschien der blonde Wunram in der Halle und ließ sich von dem Portier das Telefon geben. Eine Minute lang sprach er leise in den Hörer, dann legte er auf und entschwand im Treppenhaus, ohne mich eines Blickes zu würdigen.
Fast eine halbe Stunde lang sah ich dem Treiben in der Halle zu. Gäste kamen und gingen, alles war wie immer. Der Todesfall oben im dritten Stock schien hier niemanden zu bekümmern.
Schließlich trafen ein paar Herren ein. Sie sahen aus wie preußische Beamte und waren in Zivil. Letzteres behagte mir im Allgemeinen weniger als der Anblick von uniformierten Polizisten, aber zu meinem Glück war unter den Zivilisten jemand, den ich kannte: Ferdinand Warneke, ein Staatsanwalt, obendrein ein Mann, von dem ich wusste, dass mit ihm zu reden war.
»Herr Goltz«, sagte er, als er sich in der Halle umgeschaut hatte und mich erblickte. »Kommen Sie mit hinauf. Man sagte mir bereits, dass ich Sie hier antreffen würde. Was ist denn geschehen?«
Er war Anfang 40, also in meinem Alter, hatte ein rosiges Gesicht und blondes Haar, das sich bereits lichtete.
»Die Tote auf Zimmer 303 war meine Mandantin«, sagte ich, und während wir über den roten Teppichläufer nach oben gingen, erzählte ich ihm von Alice Resows Anruf und dem, was sich danach ereignet hatte.
»Na, die Kollegen waren aber schnell«, kommentierte er den Auftritt der beiden Gestapo-Leute, doch mehr wollte er nicht hinzufügen.
Oben angekommen, trat er zusammen mit seinen Begleitern in das Zimmer der Toten, während man mir bedeutete, auf dem Gang zurückzubleiben.
Es war mir ganz recht, dass ich die im Zimmer anwesende Männerrunde nicht vergrößern musste, und ich wünschte mir, die arme Alice Resow hätte in einer Situation, da sie den forschenden Männerblicken ausgesetzt war, wenigstens einen einzigen weiblichen Beistand gehabt.
Bald hörte ich sie drinnen miteinander reden. Meistens hatte Köhler das Wort. Es war fast, als würde er den Ton angeben. Was er sagte, war nicht zu verstehen, aber ich hatte nicht das Gefühl, dass es dabei um mich ging. Alles in allem, vor allem so wie ich bisher behandelt wurde, hielten sie mich offenbar für eine Randfigur, und damit hatten sie ja auch recht.
Nach zehn Minuten kam Warneke wieder in den Flur.
»Sie können jetzt nach Hause gehen, Herr Goltz«, sagte er. »Man wird eine Obduktion Ihrer Mandantin vornehmen. Kommen Sie morgen Vormittag in mein Büro im Kriminalgericht. Dort können Sie Ihre Aussage zu Protokoll geben, damit alles seine Richtigkeit hat.« Und etwas leiser fügte er hinzu: »Keine Sorge! Ich denke, es liegt nichts gegen Sie vor.«
Warnekes freundliche Bemerkung war nicht geeignet, mich zu beruhigen. Auf die Meinung eines Staatsanwalts kam es in Deutschland nicht mehr wesentlich an. Wohin die Dinge sich entwickeln würden, bestimmten ganz andere Leute. Der Gang der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen spielte nur noch eine untergeordnete Rolle dabei.
Judith Singer, meine jüdische Freundin, mit der ich Ende Februar nach Paris hatte fliehen wollen und die ich allein hatte ziehen lassen müssen, als man meine Abreise verhinderte, hatte recht behalten. ›Eugen, du wirst keinen Abend mehr mit der Sicherheit zu Bett gehen können, dass nicht in der Nacht gegen deine Tür geschlagen wird und man kommt, um dich zu holen.‹ Sie hatte meine gegenwärtige Situation richtig vorausgesagt. ›Das grässliche Lebensgefühl, das daraus erwächst, mag dich dann endlich dazu zwingen, freiwillig auf diese Leute zuzugehen oder alle einflussreichen Stellen deiner Loyalität zu versichern, in der trügerischen Hoffnung, dass man dich weiterhin in Ruhe lässt. Das scheint mir, ist das Schicksal, das dir – ebenso wie vielen anderen Menschen – in Deutschland bald blüht.‹
Ein Weglaufen war für mich fast unmöglich. In der Nacht des Reichstagsbrandes am 27. Februar, als in Deutschland die Jagd auf die Gegner des Regimes begann, hatten meine Feinde dafür gesorgt, dass ich unter einem Vorwand verhaftet wurde. Zwei elend lange Tage hatte ich in einem finsteren Kellerloch zubringen müssen, nicht wissend, ob ich das Tageslicht jemals wiedersehen würde. Bevor man mich dann laufen ließ, hatte man mir meinen Pass weggenommen, und seit ein paar Wochen hatte ich es sogar amtlich, dass er mir bis auf Weiteres entzogen war. Der Einspruch, den ich gegen die Einziehung erhoben hatte, war als unbegründet verworfen worden. Außerdem hatte ich der Politischen Polizei einen Revers unterschreiben müssen, mich jeder politischen Tätigkeit zu enthalten, nicht ins Ausland zu gehen oder mit dem Ausland zu korrespondieren, geschweige denn, Verbindung zu ausländischen Freunden aufzunehmen. Meine Post würde überprüft, und sie würde beschlagnahmt werden, wenn ich gegen die mir auferlegten Gebote verstieß.
Während ich mich im Bett hin und her wälzte, dachte ich darüber nach, ob ich nicht doch ohne Pass versuchen sollte, das Weite zu suchen. Wäre es nicht das Beste, überlegte ich, wenn ich gleich am nächsten Morgen meine Bank aufsuchte, alles Geld abholte, den nächsten Zug nach Westen bestieg und irgendwie versuchte, bei Nacht und Nebel über die grüne Grenze zu kommen? In meinen halb wachen Träumen war ich zeitweise fest entschlossen, es zu tun; doch wie so oft in solchen Situationen sah am nächsten Morgen die Welt wieder etwas freundlicher aus.
Das Wetter hatte nach dem Regen der vergangenen Nacht aufgeklart und der blaue und fast wolkenlose Himmel versprach einen angenehmen Herbsttag. Staatsanwalt Warneke würde ich erst am späten Vormittag aufsuchen, und so machte ich mich zunächst auf den Weg in mein Büro, das nur wenige hundert Meter entfernt von meiner Wohnung lag, um zuvor ein paar Terminarbeiten zu erledigen.
Meine Zuversicht, dass der Vorfall vom gestrigen Abend keine Folgen für mich zeitigen würde, hielt nicht lange an. Denn als ich mich dem Gebäude näherte, in dem sich meine Kanzlei befand, sah ich, wie sich die Silhouette einer Gestalt aus dem Schatten des Baumes löste, der die Eingangstür gegen die Sonne beschirmte. Zu meinem Erschrecken erkannte ich den Bankier Philipp Arnheim, einen ehemaligen Mandanten aus meiner Zeit mit meinem früheren Sozius Haller in Berlin-Mitte, der sich inzwischen als einer meiner schlimmsten Feinde entpuppt hatte.
Schade, dachte ich, dass man auch bei so schönem Wetter auf solche Leute treffen musste.
Philipp Arnheim, hochgewachsen und schlank, drahtig und sonnengebräunt, grinste mich an.
»Wie geht es Ihnen, Herr Goltz?«, fragte er. »Sie sehen viel besser aus, als ich dachte.«
Es gab so viele schlimme Erinnerungen, die mit Arnheims Person verbunden waren, dass ich mich sehr zusammenreißen musste, um mir nicht anmerken zu lassen, wie blass ich innerlich geworden war.
»Warum sollte ich schlecht aussehen?«
Sein Grinsen wurde breiter. »Manche Erfahrungen im Leben hinterlassen Spuren.«
Ärger stieg plötzlich in mir hoch. »Was wollen Sie?«
»Nicht so garstig, Herr Goltz! Darf ich hereinkommen – Sie werden mir doch nicht die Tür weisen wollen!«
»Für Sie übernehme ich kein Mandat mehr, Herr Arnheim.«
»Keine Sorge«, lachte er. »Damit will ich Sie auch nicht belasten.«
Er war einer der letzten Menschen, mit denen ich Kontakt haben wollte, aber ich musste aufpassen, dass ich es mir nicht zur Gänze mit ihm verdarb. Arnheim war ein Mann mit Einfluss, und in dieser Stadt war er nichts weniger als eine gefährliche Gestalt.
»Gut, gehen wir in mein Büro.«
Der Mann, der mir kurz darauf auf der anderen Seite meines Schreibtischs gegenübersaß, war nicht nur unberechenbar, sondern in meinen Augen schlichtweg ein Mörder.
In seinem Auftrag war ich vor einem Jahr nach New York gereist, um die Scheidung von seiner amerikanischen Ehefrau Florence zu regeln, die ihn verlassen hatte und in ihre amerikanische Heimat zurückgekehrt war. Während meines Aufenthalts in New York war Florence auf mysteriöse Weise ums Leben gekommen. Offiziell war von Selbstmord die Rede gewesen, aber meine späteren Nachforschungen hatten ergeben, dass Florence im Auftrag der ›Berliner Loge der Brüder und Schwestern vom Licht‹, der auch ihr Mann angehörte, ermordet worden war. Ich selbst war der Schlüssel gewesen, mit dem diese Leute sich Zugang zu Florence verschafft hatten, und nur gewisse verwandtschaftliche Bande sowie der Umstand, dass ich keine Kontakte zu einflussreichen amerikanischen Kreisen wie Florence besaß, hatten mich vor einem ähnlichen Schicksal wie dem ihren bewahrt.
Arnheim blickte sich um. »Wie laufen die Geschäfte, Herr Goltz?«
»Gut.«
Die schlichten Räumlichkeiten, die mir seit dem Frühjahr als Büro dienten, unterschieden sich sehr von der gediegenen Pracht meiner alten Kanzlei in Berlin-Mitte, erfüllten aber vollkommen ihren Zweck.
»Als Spezialist für Scheidungen haben Sie bestimmt gut zu tun«, sagte er. »Wie ich hörte, lassen sich in diesem Jahr so viele Leute scheiden wie noch nie zuvor, vor allem Deutsche, die mit Juden verheiratet sind.«
»Bei mir ist keiner von diesen Fällen gelandet!«, erwiderte ich.
Er war ein Antisemit der übelsten Sorte, und gegen seine Einstellung war kein Kraut gewachsen, sodass jedes Gegenargument ohnehin vergeblich war.
»Kommt noch, Herr Goltz«, lächelte er. »Warten Sie es ab! Natürlich, auf Alice Resow trifft das nicht zu – die war bestimmt keine Jüdin.«
Ich hatte Mühe, mir meine Überraschung nicht anmerken zu lassen. »Was wissen Sie von Alice Resow?«
Er zuckte die Achseln. »Sie soll eine sehr schöne Frau gewesen sein. Schade, dass ich sie nicht kannte. Was war sie für ein Mensch?«
»Ich werde mit Ihnen nicht über Frau Resow sprechen«, sagte ich. »Es gibt so etwas wie eine anwaltliche Schweigepflicht post mortem.«
»Post mortem!« Er lachte. »Ja, vielen bleibt nichts anderes als die Hoffnung auf etwas nach dem Tod. Aber keine Angst. Die persönlichen Angelegenheiten von Frau Resow interessieren mich nicht die Bohne – nein, worüber ich mit Ihnen zu sprechen habe, sind nur die Umstände ihres Todes.«
»Auch dazu kann ich Ihnen nichts sagen. Ich würde selbst gern mehr darüber erfahren.«
Er nickte. »Ja, das glaube ich.« Dann fügte er hinzu: »Wie ich hörte, haben Sie die tote Frau Resow gefunden? Man wird Sie darüber vernehmen! Haben Sie bei der Polizei schon Ihre Aussage gemacht?«
»Allerdings.«
»Vollständig? Ich meine – so mit Vernehmungsprotokoll?«
Von dem Gespräch, das ich noch an diesem Vormittag mit dem zuständigen Staatsanwalt führen musste, würde ich ihm nichts erzählen; wahrscheinlich wusste er ohnehin darüber Bescheid.
»Woher wissen Sie denn, dass ich meine Mandantin tot aufgefunden habe?«, fragte ich ihn stattdessen.
Arnheim lächelte. »Ich verfüge über gute Beziehungen in dieser Stadt – wie Sie wissen – über sehr gute Beziehungen!« Er lehnte sich zurück und legte die Hände gegeneinander. »Sie haben wirklich Pech mit Ihren hübschen Mandantinnen, Herr Goltz. Ich erinnere mich da noch sehr gut an die arme Florence.«
»Sie verwechseln da etwas, Herr Arnheim. Ihre Frau war nicht meine Mandantin.«
Arnheim seufzte. »Richtig, Sie haben ja mich vertreten! Ihr Juristen nehmt es immer so genau. Aber es ändert nichts daran, dass der Fall von damals und der von heute – sagen wir mal – einander ähnlich sind.«
»Ich weiß nicht, worin Sie die Ähnlichkeit zwischen dem Fall von Florence und dem von Alice Resow sehen.«
Sein Lächeln verschwand und er senkte den Blick. »Nun, wie Sie wissen hat Florence Selbstmord begangen. Trotzdem gab es – drüben in New York – Leute, die meinten behaupten zu müssen, es sei Fremdverschulden im Spiel. Darin könnte die Ähnlichkeit zum Fall Alice Resow bestehen!«
»Sie wollen doch nicht ernsthaft behaupten, Alice Resow habe sich selbst getötet?«
Er hob die Brauen. »Aber das steht doch ganz außer Frage!«
»Für mich nicht! Ich habe sie gesehen.«
»Was haben Sie denn gesehen?«
»Kein Kommentar.«
»Machen Sie bloß kein Tralala wegen Ihrer Schweigepflicht. Mit solchem Blödsinn brauchen Sie mir nicht zu kommen.«
Ich lehnte mich zurück. Mir war klar, dass Arnheim und seine Freunde mich nie in Ruhe lassen würden, und ich besaß genug Fantasie, um mir vorzustellen, was mir blühte, wenn ich mich weigerte, nach ihrer Pfeife zu tanzen. Eigentlich war das, was ich im Hotelzimmer gesehen hatte, sowieso ein offenes Geheimnis, mit dem ich daher kaum hinter dem Berg zu halten brauchte, so sagte ich mir nun. Und über die privaten Belange von Alice Resow wusste Arnheim wahrscheinlich ohnehin besser Bescheid als ich.
»Es war ein Seidenschal um ihren Hals«, informierte ich ihn. »Sie sah aus, als sei sie erdrosselt worden. Aber das wissen Sie doch sicher, da Sie über so gute Beziehungen verfügen. Warum interessieren Sie sich eigentlich für Frau Resow, wenn Sie sie gar nicht kannten?«
»Nun, ich müsste es Ihnen nicht sagen, aber es schadet nichts, wenn ich es tue: Sie ist – sie war die Freundin eines Freundes, der mich um Hilfe gebeten hat.«
Es wurde interessant. Was Alice Resow anging, wusste er offenbar mehr als ich. Mir selbst war bei dem einzigen Gespräch, das ich mit ihr geführt hatte, nur bekannt geworden, dass sie Tänzerin an der Scala war und dass ihr Ehemann sie des Ehebruchs verdächtigt und schwer misshandelt hatte. Dieser Mann war in der SA, und zwar, wie sie angedeutet hatte, in führender Position. Eigentlich ein ziemlich normaler Scheidungsfall, der wohl darauf hinaus gelaufen wäre, dass man Alice Resow die Schuld an der Scheidung zugesprochen hätte, sodass sie mit finanziellen Zuwendungen kaum hatte rechnen können. Es hatte keine Rolle für sie gespielt, schließlich hatte sie einen Beruf, der sie ernährte. Hauptsache, sie wurde den Schläger los. Dass sie mit dem neuen Freund offenbar keine bessere Wahl getroffen hatte, stand auf einem anderen Blatt.
»Hilfe? Sprechen Sie von der Art Hilfe, die dafür sorgt, dass, was ans Licht gehört, im Dunkeln bleibt?«, fragte ich Arnheim.
Er lächelte. »Sie haben Mut, Herr Goltz, so mit mir zu sprechen. Sie sollten sich im eigenen Interesse in Zurückhaltung üben.«
»Ich will es versuchen, aber ich muss wissen, worüber wir eigentlich reden.«
Der Blick seiner stahlblauen Augen fokussierte sich auf mich. »Hilfe heißt: Man tut eben, was man kann. Meine Verbindungen zur geheimen Polizei waren der Grund, weshalb mein Freund mich um Hilfe bat. Nun, ich half, war verpflichtet dazu, die Polizei erschien im Hotel und traf dort – auf Sie. Als ich davon erfuhr, sagte ich dem zuständigen Herrn: Mein Gott, der Anwalt Goltz, den kenne ich doch gut. Was hatte denn der dort zu suchen? Ich spreche mal mit ihm. Und bevor wir noch weiter um den heißen Brei herumreden, sage ich Ihnen direkt ins Gesicht, dass ich hergekommen bin, um Sie anzuweisen, nicht wieder den Neugierigen zu spielen. Inzwischen dürfte Ihnen klar geworden sein, welche unangenehmen Folgen es haben kann, wenn man zu hoch gepokert hat.«
»Sie wollen mir drohen?«
»Ganz richtig!«
Er beugte sich ein Stück vor. »Wobei Sie immer im Auge behalten sollten, Goltz, dass ich in Ihrem ureigensten Interesse handele. Ich müsste Sie nicht warnen. Mich treibt die Sorge um Ihr Wohlbefinden. Wenn Sie Ärger machen sollten, würden Sie ohnehin den Kürzeren ziehen! Das ist Ihnen doch klar.«
Eine bestimmte Grenze durfte ich nicht überschreiten, wenn ich nicht Kopf und Kragen riskieren wollte.
»Ich bin orientiert«, gab ich daher zurück.
Arnheim nickte. »Ich hoffe, Sie meinen es ehrlich, Herr Goltz, ich hoffe es wirklich für Sie. Die geheime Polizei ist nicht Herr der Ermittlungen in Sachen der armen Frau Resow. Die Kriminalpolizei, der Staatsanwalt – sie wissen gleichwohl, den Sachverhalt zutreffend zu beurteilen. Ich bin lediglich hier, um Ihnen, falls Sie eine Aussage bei der Polizei machen müssen, nahezulegen, nicht den Helden zu spielen.«
Er beugte sich noch ein Stück weiter vor. »Nur der Vollständigkeit halber noch dies: Falls Sie dennoch darauf bestehen sollten, dass der Tod Ihrer Mandantin kein Freitod gewesen ist, dann wird man natürlich keine Schwierigkeiten haben, einen Mörder zu finden, und Leute wie Sie, die schon Dreck am Stecken haben und auf der schwarzen Liste stehen – ich erinnere an den Reichstagsbrand – bieten sich für Rollen, die noch nicht besetzt sind, geradezu an. Sie schienen mir ein geeigneter Darsteller auch für diese Rolle zu sein, wenn sie denn tatsächlich besetzt werden muss.«
»Da Sie über so gute Verbindungen verfügen, wissen Sie, dass ich mit dem Tod von Frau Resow nichts zu tun habe.«
»Weiß ich das wirklich? Sie wurden immerhin am Tatort angetroffen. Der erste Anschein spricht gegen Sie.« Arnheim setzte wieder sein unverschämtes Grinsen auf. »Ach, und selbst, wenn es so wäre, wie Sie sagen – spielt das denn eine Rolle?«
»Ich mache mir keine Illusionen«, erwiderte ich. »Bleiben wir also bei der offiziellen Sprachregelung.«
»Bei der offiziellen Sprachregelung – und der Wahrheit, Herr Goltz, denn die entspricht der offiziellen Sprachregelung auch.« Er lächelte. »Wir verstehen uns?«
Er sah mich mit seinen strahlenden Augen an und ich nickte ihm zu. »Ich bin ganz sicher.«
»Ich bin froh, dass Sie mich nicht enttäuschen», fuhr er fort. »Das habe ich übrigens auch zu meinen Freunden gesagt. Ich sagte: Lasst doch den armen Goltz in Ruhe. Der macht uns bestimmt keinen Ärger. Er hat die Lektion begriffen, die man ihm erteilen musste. Ja, Sie sehen mich so überrascht an, Herr Goltz! Aber ich habe meine Hand für Sie ins Feuer gelegt. Der Herr Goltz, sagte ich, hat in der Vergangenheit mal ein paar dumme Sachen gemacht, aber in Wahrheit ist er doch auf unserer Seite.« Sein Lächeln wurde tückisch. »So ist es doch, Goltz, nicht wahr? Oder habe ich meinen Freunden etwas Falsches erzählt?«
»Sie sehen das schon ganz richtig, Herr Arnheim, wir sind mal wieder einer Meinung.«
Zuckerbrot und Peitsche, die altbewährte Methode. Aber ich war kein Narr, der freiwillig die Folter wählte. Arnheims Drohung war mehr als deutlich, und ich war nicht in der Situation, dass ich es mir hätte leisten können, mich mit meinen Feinden anzulegen.
Arnheim kratzte sich hinter dem Ohr. »Es gibt da übrigens noch etwas anderes, das ich mit Ihnen erörtern müsste, Herr Goltz, aber das soll nicht hier und heute geschehen.«
Er sah mich an. »Ich möchte unsere Bekanntschaft auf eine neue Grundlage stellen, will ich einmal sagen. Sie wissen, wo ich wohne. Einmal im Monat gebe ich in meinem Haus eine Cocktailparty. Morgen Abend ab acht Uhr ist es wieder mal so weit. Es werden illustre Gäste erscheinen. Ich möchte Sie herzlich einladen, unsere Gesellschaft mit Ihrer Anwesenheit zu beehren. Ich weiß wohl, dass es Einladungen gibt, auf die man gern verzichtet. Auf der anderen Seite gibt es gesellschaftliche Anlässe, vor denen man sich nicht drücken kann. Morgen, das ist wieder so ein Abend. Und – wie soll ich sagen – in Ihrem Fall ist Erscheinen sogar Pflicht.«
Er wartete nicht darauf, dass ich mich für die Einladung bedankte, sondern erhob sich aus dem Sessel.
»Nun aber will ich Ihre kostbare Zeit nicht länger in Anspruch nehmen. Besuchen Sie den Herrn Staatsanwalt! Und morgen Abend – nicht wahr, Herr Goltz – da besuchen Sie mich. In meinem Haus im Tiergarten, das Sie ja bereits kennengelernt haben! Die anderen Gäste freuen sich auf Sie – jedenfalls die meisten von ihnen!«
Das Kriminalgericht in Moabit, in dem die mit der Strafverfolgung befassten Richter und Staatsanwälte residierten, war ein Gebäude, das nicht zum Betreten einlud, so Furcht einflößend wirkte seine monumentale Architektur.
Staatsanwalt Warneke, der mich erwartete, wirkte gut gelaunt, als böten die Fälle, die er bearbeitete, ihm bei aller Tragik noch genügend Anlass zur Freude. Er wollte lediglich ein paar Einzelheiten von mir wissen, um seine Akte auf den vorgeschriebenen Stand zu bringen. Nachdem er meine Angaben vollständig notiert hatte, berichtete er mir, was der Gerichtsmediziner von der Sache hielt.
»Ihre Mandantin starb durch Strangulation«, sagte er. »Die Strangmarke am Hals ist deutlich sichtbar. Der Gutachter sprach von atypischem Erhängen. Sein vorläufiger Bericht liegt mir vor.«
Er zog eine Akte aus dem Stapel vor ihm auf dem Schreibtisch, nahm ein aus zwei Blättern bestehendes Schriftstück heraus und begann, aus einem Bericht vorzulesen. »Kennzeichnend dafür ist, dass der Betroffene nicht frei in der Schlinge hängt, sondern mit Füßen, Knien, Gesäß oder anderen Körperteilen Bodenkontakt hat. Auch beim atypischen Erhängen wird das um den Hals liegende Strangwerkzeug durch das Gewicht des eigenen Körpers zugezogen und dabei werden die Blutgefäße des Halses komprimiert. Der Tod tritt aber nicht durch Ersticken ein. Bereits nach wenigen Sekunden setzt Bewusstlosigkeit ein, die bei anhaltender Halskompression schnell den Tod herbeiführt. Zum vollständigen Verschluss der Halsschlagadern reicht bereits ein Druck von drei bis vier Kilogramm aus. Um die Halsschlagadern zu komprimieren, genügt also eine Kraft, die weit geringer ist als das eigene Körpergewicht. Das erklärt, warum recht schnell der Tod eintritt, ohne dass der Körper frei hängt.«
»Wieso eigenes Körpergewicht? Wenn sie erdrosselt wurde, sind es doch die Kräfte des Täters, die da wirken.«
»Sie hat sich vermutlich selbst stranguliert.«
»Haben Sie vergessen, dass die Frau mich angerufen hatte, weshalb ich ihr zu Hilfe kam?«
»Was genau hat die Dame denn am Telefon gesagt?«
»Dass sie Hilfe braucht, weil ihr Freund …« Ich unterbrach mich und überlegte. »Genau genommen, meinte sie nur, dass es Ärger mit einem Freund gab. Und dann sagte sie noch, dass die Polizei ihr nicht helfen könne.«
»Sehen Sie! Sie wollte keine Polizei, weil es gar kein Problem mit einem Freund gegeben hat!«
»Und warum hat sie mich dann angerufen?«
»Es könnte eine Art Hilferuf gewesen sein, Herr Goltz. Denn Hilfe brauchte sie durchaus, nur eben nicht, um vor ihrem Freund beschützt zu werden. Die Gefahr war sie selbst.«
Mir war nicht danach, meine Zweifel zu verbergen. »Wenn ich sie so vor mir sehe, in diesem Hotelzimmer, nackt …«
»Es ist nicht ungewöhnlich, dass Leute sich ausziehen, bevor sie in den Tod gehen. Manchen scheint das geradezu ein Bedürfnis zu sein.«
»Aber dieser Seidenschal, der um ihren Hals geschlungen war. Kann man sich denn selbst bis zum Tod strangulieren? Geht das überhaupt?«
»Es geht, das heißt: Wenn man denn weiß, wie es geht. Ich würde es dem Erhängen bestimmt vorziehen.«