Karl-Heinz Ott wurde 1957 in Ehingen an der Donau geboren. Für seine Romane wurde er mit dem Thaddäus-Troll-Preis, dem Alemannischen Literaturpreis, dem Candide-Preis, dem Preis der LiteraTour Nord und dem Johann-Peter-Hebel-Preis ausgezeichnet. Zuletzt erschien sein Roman Wintzenried (2011). Karl-Heinz Ott lebt in Freiburg.
Endlich Stille. Nur Bussarde über mir. Beim Hinabsteigen das Geräusch von Geröll. Es klang, als möchte es ihm nachfolgen.
Er redete an diesem Abend so viel davon, wie es nicht mehr weitergehen und wie es nicht mehr sein soll, und dieses viele Nicht fiel mir vermutlich mehr als sonst auf, weil ich morgens, vor der Abfahrt, in Amsterdam ein Buch mit dem Titel Zestien manieren het neen te vermijden – Sechzehn Wege das Nein zu vermeiden gekauft hatte, obwohl ich kaum Holländisch und das wenige vermutlich noch falsch verstehe. Soweit ich den Klappentext begreife, richtet sich der aus dem Japanischen übersetzte Ratgeber vor allem an Wirtschaftskräfte und Diplomaten, aber auch an alle, die sich höflicher durchs Leben bewegen und ihre Neins aus dem Reden und Denken tilgen wollen. Eine Puppenspielerin, die auf eine Japan-Tournee eingeladen worden war, erzählte mir einmal, ihr Stück mit dem Titel Nirgendwo ist alles anders sei dort als Überall ist alles gleich angekündigt worden, und als sie sich gegen diesen Widersinn gewehrt und eine genaue Übersetzung eingefordert habe, sei ihr von allen Seiten bestätigt worden, eine solche Verneinung, zumal sie auf verquere Weise eine doppelte sei, könne im Japanischen nur umständlich umschrieben werden und man fahre, wie ein dortiger Theaterleiter vorgeschlagen habe, überhaupt am besten damit, das Stück mit der Überschrift Überall ist Zuckerland anzupreisen. Daran erinnerte ich mich an diesem Abend und ich fragte mich, wie es möglich sein soll, ein Nein zu meinen, ohne es in den Mund zu nehmen und so lange um es herumzuspielen, bis deutlich wird, worauf man hinauswill. Obwohl mir Seminardiskussionen in meiner Lage längst nichts mehr nützen, geht mir seither Spinozas Satz wie nie zuvor im Kopf herum: omnis determinatio est negatio, was heißt, daß alles, was wir begehren oder begreifen, sich einer Welt von Ausschließungen und Verwerfungen verdankt, ob es uns gefällt oder nicht, ob einer eher das Ja als das Nein bevorzugt, ob es laut oder leise, entschieden oder heimlich, zielstrebig oder absichtslos geschieht.
An all das dachte ich, während dieser andere über Schubert, über eine in Zürich lebende Prostituierte aus Kamerun, über den Berg Athos und seine Sehnsucht nach einem klösterlichen Leben und über Selbstmordphantasien redete. Oft sehnte ich mich an diesem Abend in das weiträumige American Café am Amsterdamer Leidseplein zurück, in dem ich die Tage zuvor stundenlang allein unter Leuten saß. Von meinem Platz am Fenster schaute ich vorbeischlendernden Frauen nach und stellte mir vor, wie mit dieser oder jener, die da auftauchte und gleich wieder aus dem Gesichtsfeld verschwand, mein Leben hätte endlich gelingen können. Mit solchen Wachträumen konnten halbe Tage vergehen und ich vermißte nichts dabei, obwohl die herbeigerufenen Bilder nur von verpaßten Gelegenheiten handelten. Jene Schattenlichtspiele an den Fassaden, die den aufgewühlten Aprilhimmel spiegelten, das Auf und Ab am Kiosk und an der Straßenbahnstation, die Möwen, die gewölbte Brücke über die Gracht und die Vorstellung, mit einem Schiff noch am frühen Abend das Meer erreichen zu können, all das genügte, und ich war in diesen Stunden mitten unter Leuten, ohne irgendwem eine Verbindlichkeit erweisen zu müssen.
Aber dann war ich diesem Menschen am Ausgang des Straßburger Bahnhofs begegnet, genauer gesagt, wir waren bereits auf dem Bahnsteig nebeneinander hergegangen, die Treppen hinab, die Treppen hinauf und durch die Eingangshalle immer noch nebeneinanderher, als gehörten wir zusammen, und als wir am Portal vor dem weiten, kahlen, von keinem Baum gesäumten Platz standen und wie auf eine choreografische Anweisung hin die Koffer im gleichen Augenblick abstellten und geradeaus starrten, als müßte jeder von uns einen Plan fassen, fragte er mich: »Suchen Sie auch ein Hotel?« Jetzt, vier Monate danach, werde ich damit leben müssen, daß diese Begegnung sich als weitreichender als alle bisherigen in meinem Leben erweisen sollte und dieser Mensch sich weniger als jeder andere aus meinem Gedächtnis je ausradieren lassen wird. Niemandem, so nahe er mir auch sein mag, werde ich diese Geschichte je mitteilen können, doch die Last dieses Geheimnisses gibt mir vielleicht zum ersten Mal im Leben das Gefühl, erwachsen zu sein. Lange glaubte ich, nur Geständnisse und Beichten könnten mich vor einem unerträglichen Alleinsein bewahren, aber bereits jetzt, auf dem Rückweg, beim Blick auf das eindunkelnde Rheintal hinab, läßt mich der Gedanke, daß diese Ereignisse bis an mein Ende nur mir allein gehören dürfen, beinahe jauchzen.
Damals, an jenem Abend, färbte der Himmel über Straßburg die pastellfarbenen Prachtfassaden samtig ein, und es sah aus, als leuchteten sie von innen heraus und strahlten die tagsüber gesammelte Wärme zurück. Bis kurz vor Ostern hatte der Winter sich immer wieder mit Schneestürmen zurückgemeldet, aber dann war über Nacht ein bereits sommerlich wirkender Frühling eingekehrt, so daß die Leute, was tags zuvor noch undenkbar gewesen wäre, jetzt bereits in den Straßencafés saßen. Kurz vor der Ankunft hatte die Sonne den Himmel vom Horizont her lodernd erhellt und die Baumkronen und Dächer des auf der anderen Seite gewitterig bewölkten, in ein violettes Dunkel getauchten Landes mit einem so feurigen Licht überstrahlt, wie man es nur aus Altorfers Alexanderschlacht kennt. Drüben, über dem Rhein, schien die Welt unterzugehen und im Westen kurz vor der Dämmerung noch ein Schöpfungstag anzubrechen.
Ich wolle hier nur zwei Tage bleiben, sozusagen auf dem Heimweg von Amsterdam nach Basel, um die Ankunft dort noch ein wenig hinauszuzögern. Das erklärte ich auf seine Frage, ob auch ich ein Hotel suche, und wunderte mich, warum ich das diesem Fremden überhaupt erzähle. Vielleicht lag es an seinem Lächeln, aus dem man einen Zug von Herablassung, aber auch eine Spur von Hilflosigkeit herauslesen konnte, und an seinem Blick, der etwas Taxierendes und Irritiertes zugleich ausdrückte. »Ich war noch nie hier«, sagte er mit einem verwunderten, wie über sich selbst staunenden Kopfschütteln, als wisse er in diesem Augenblick überhaupt nicht, was ihn an diesen Ort getrieben hat. Er müsse das Münster besichtigen, empfahl ich ihm und fand meinen Rat fast peinlich, aber vielleicht, so kommt es mir im nachhinein vor, wollte ich ihn mit dieser Bemerkung verabschieden. Doch dann überquerten wir im Gleichschritt den Paradeplatz, während unsere Koffer auf dem Kopfsteinpflaster klackten. Uns kam eine Handvoll Musikanten, denen die Hemden aus den Hosen hingen, mit zerdellten Blechinstrumenten entgegen, die plötzlich, mitten auf dem Platz, mit jäher Energie einen wilden, orientalisch angehauchten Marsch zu blasen anfingen, der ständig aus den Fugen zu geraten schien und aufjauchzend und traurig zugleich klang. Ich blieb stehen, um ihnen zuzuhören, aber mein Begleiter zerrte mich mit einem abschätzigen »Das sind Zigeuner aus Bulgarien« weiter. Anders als sonst, wenn mich eine Musik unwillkürlich zum Gleichschritt zwingt, schien diese mich aus dem Tritt zu bringen. »Es ist ein merkwürdiger Rhythmus«, rief ich meinem Begleiter zu, als wir an diesen ärmlich aussehenden Gestalten vorbeispazierten, aber als sei es der Rede nicht wert, schrie er mit einer wegwerfenden Handbewegung: »Fünfer- und Siebenermetren, das ist bei denen so üblich.« – »Sind Sie Musiker?« fragte ich, und er stöhnte: »Ja, aber vielleicht nicht mehr lange.« Es klang, als sage er es nur zu sich selbst, obwohl wir fast brüllen mußten, um die Musik zu übertönen. »Warum nicht mehr lange?« wollte ich wissen, aber er schien die Frage überhören zu wollen. Als die Kapelle nach einem einzigen Stück ebenso abrupt, wie sie angefangen hatte, wieder zu spielen aufhörte, wirkte der Platz trotz der Passanten wie verödet. Stumm gingen wir weiter und bogen in eine von arabischen Imbißbuden gesäumte Straße ein, als steuerten wir auf ein gemeinsames Ziel zu. »Endlich kommt der Frühling«, unterbrach ich nach einer Weile unser Schweigen, nur um etwas zu sagen. Vielleicht lag es an seinem mächtigen schwarzen Hut und seinem strikt geradeaus gerichteten Blick, daß ich mir neben ihm klein und sogar ein wenig ergeben vorkam und das Gefühl hatte, ihm hinterherzuhinken, obwohl unsere Ärmel sich auf dem schmalen Gehsteig immer wieder berührten.
Am Kanal angelangt, entschied er: »Am besten, wir nehmen das nächstbeste Hotel.« Er zeigte auf ein Eckhaus, dessen Fenster seit langem nicht mehr geputzt worden waren, dessen Verputz abgeblättert war und in dessen Aufschrift »Hotel« die mittlere Letter fehlte. Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, im Gerberviertel oder in der Nähe des Münsters ein Zimmer zu suchen, aber diesen Vorschlag wischte er mit der Bemerkung weg: »Bett ist Bett, und zum Schlafen werden wir heute nacht eh nicht viel kommen.« Als die Frau an der Rezeption fragte, ob wir zusammengehören, und ich mich zu betonen beeilte: »Nein, zwei Einzelzimmer bitte«, empfand ich ihm gegenüber beinahe ein schlechtes Gewissen.
Mein schwefelgelbes, seit Jahren nicht mehr gestrichenes Eckzimmer stank nach abgestandenem Rauch, und das Fenster ging auf einen Hinterhofschacht hinaus, in dem Mülleimer standen. Wir hatten verabredet, daß wir uns in einer halben Stunde wieder treffen, aber als ich mich, kaum den Mantel abgelegt und den Waschbeutel ausgepackt, gerade hinlegen wollte, klopfte es bereits, und er rief: »Ich bin soweit!« Auf den knarrenden Dielen schlich ich mich zum Bad, ließ die Dusche laufen und betätigte die Klospülung, um ihn glauben zu machen, man könne ihn von hier drinnen nicht hören.
Ich hatte in Straßburg Halt gemacht, um den Abend im Wintergarten eines Restaurants zu verbringen, in dem ich mit Marie bei unserem allerersten und dann wieder allerletzten gemeinsamen Elsaß-Ausflug eingekehrt war. Bevor sie sich endgültig von mir getrennt hatte, machten wir häufig Ausflüge, um nicht zu zweit zu Hause sitzen zu müssen. Draußen, so hatten wir wohl beide das Gefühl, ohne daß wir je darüber geredet hätten, fühlten wir uns unbefangener und gleichzeitig mußten wir uns in der Öffentlichkeit zusammenreißen. Wenn wir uns an manchen Tagen zwischen Küche, Schlafzimmer und Bad, soweit es möglich war, aus dem Weg zu gehen versuchten, sollte wenigstens ein Essen außer Haus noch eine Ahnung von ungetrübter Gemeinsamkeit aufkommen lassen. Dabei wäre Marie, vor allem wenn wir in feineren Lokalen einkehrten, in denen gedämpfte Töne die Atmosphäre prägen, manchmal am liebsten aufgesprungen und schreiend hinausgerannt. Um mir diese Ausbrüche und die Scham zu ersparen, vor allen Leuten wie ein halb bemitleideter, halb verabscheuter Aussätziger dazusitzen, nahm ich mich, wenn Maries Mund so eng wurde, daß die Lippen sich in nichts aufzulösen schienen, hündisch zurück, um mit keinem falschen Wort ihren Jähzorn zu reizen. Wenn, wie es nicht selten vorkam, die Kellner und die Gäste an den Nebentischen längst unsere Gereiztheit mitbekamen, übte ich mich verkrampft in einer ans Debile grenzenden Leichtigkeit und Freundlichkeit. Draußen, wenn wir es endlich hinter uns hatten – und ich mag mich am allerwenigsten an die mit verzerrtem Lächeln absolvierten Verabschiedungsfloskeln beim Zahlen erinnern –, draußen tobte ich dann umso maßloser, um nicht nur endlich den aufgestauten, vernichtungsgierig tobenden Zorn loszuwerden, sondern vor allem um Marie dafür zu bestrafen, mich wieder einmal in eine solche Lage gebracht zu haben. Trotzdem blieb uns gegen Ende, das heißt in den letzten anderthalb Jahren unseres verquälten Zusammenlebens, nichts anderes mehr übrig, als vor der häuslichen Enge so oft wie möglich in Restaurants zu flüchten, um Luft zum Atmen zu haben. Doch die Angst davor, alleine in eine stille Wohnung zurückzukehren, muß all diese Zeit über schlimmer als das Gefühl der Beengung gewesen sein.
Als mein unverhoffter Begleiter vorschlug, gleich unten an der Ecke in die Brasserie zu gehen, wehrte ich mich nicht, auch wenn man von weitem sehen konnte, daß für eine solche Küche kein Umweg über Straßburg nötig gewesen wäre und dort eher der Barbetrieb als die Speisekarte die Leute anzieht. Nun sagte ich mir, es sei vielleicht sogar besser, wenn mich wenig an früher erinnert, und stimmte derart eilfertig zu, als spräche geradezu Begeisterung aus mir. »Warum soll man sich in einen Gourmettempel begeben, wenn gleich nebenan eine gemütliche Stube auf uns wartet«, behauptete ich, als überlegten wir bereits seit Stunden, ob wir einen kulinarischen Pilgerhof oder einfach die nächstbeste Kneipe wählen sollten. Wie um meinen Aberwillen gegen eine solche Lokalität, für die ich nie und nimmer in Straßburg Halt machen würde, mit grotesken Selbstüberredungskünsten zu bekämpfen, ließ ich dieser beflissenen Beteuerung noch ein paar weitere solcher Floskeln folgen und hörte mir dabei zu, als spräche eine fremde Stimme aus mir. Der andere ging mir schweigend einen Schritt voraus, hielt mir die Tür auf, verneigte sich halb theatralisch, halb spöttisch vor mir, schob mich an der Schulter mit einem sanften Druck neben sich her zum einzigen noch freien, in der Mitte stehenden Tisch und legte auf ihm, wie zum Zeichen, daß er ab sofort besetzt ist, seinen Hut ab. Das an den getäferten Wänden ringsum mit Wimpeln und Pokalen dekorierte Lokal, das der Weiträumigkeit einer Brasserie nicht im geringsten entsprach, präsentierte sich als eine Mischung aus holzgemütlicher Stube und Sportvereinsheim. Auf den Fensterplätzen saßen nur ältere Leute, und am Tresen hing eine Schar von Soldaten herum, von denen ein paar bereits angetrunken waren. Der Kellner hängte den Hut an eine Stuhllehne, legte den Tisch mit einer rotweiß karierten Papierdecke aus und brachte mit den Speisekarten eine Flasche Riesling, die mein Begleiter noch im Stehen, gleich mit dem »Bonsoir Monsieur«, bestellt hatte.
Am Nebentisch saß ein junges arabisches Paar, das an diesen Ort schon deshalb nicht zu passen schien, weil das Gesicht der vermutlich erst Siebzehn- oder Achtzehnjährigen von einem blütenweißen Tschador umhüllt war, der weniger wie eine Verhüllung als ein Raffinement wirkte, das ihre makellose, karamelfarbene Haut und das Glänzen ihrer schwarzen Augen wie in einem auratischen Oval engelgleich, rätselhaft und lasziv in einem erscheinen ließ. Ich fragte mich, warum sich diese beiden ausgerechnet in einer Tresenwirtschaft treffen, in der sie von Rentnern, Soldaten und traditionsseligen Wahrzeichen, von Wappen, kinderstubenkitschigen Emaillefiguren und Wandtellern mit alemannischen Sinnsprüchen umgeben sind. »Denne vun Basel esch’s egal wenn d’ Strosburger in de Rhin brunze«, stand über der Tür, die zu den Toiletten hinausging, und über dem Ausschank prangte ein geschnitztes Holzbrett mit der Aufschrift: »Wo e Wille isch, isch e Waj.« Die beiden an unserem Nebentisch, das Mädchen und ihr älterer Freund, saßen bei zwei Cola-Gläsern, und ich rätselte, ob das Kopftuch noch eine religiöse Bedeutung hat oder aus einer Haute-Couture-Boutique stammt.
»Übrigens, ich heiße Friedrich Grävenich«, stellte sich mein Tischgenosse vor und erklärte, ohne in die Karte zu schauen, er nehme das gleiche wie ich, nur Fisch möge er nicht. Als ich anfing, ihm die Speisen vorzulesen, unterbrach er mich mit einem brüsken »Wählen Sie, was Sie wollen« und fing unvermittelt an, von weitreichenden Entscheidungen zu sprechen, die noch heute nacht zu treffen seien. Während ich die Speisekarte überflog, erfuhr ich, daß er an der Mannheimer Musikhochschule Klavier unterrichtet, daß er ein paar Monate in einem fast ausgestorbenen lothringischen Dorf gelebt hat und sich mit dem Gedanken trägt, die Musik vollkommen aufzugeben. »Bis morgen muß ich wissen, ob ich weiterhin an der Akademie bleiben oder alle Brücken hinter mir abbrechen will«, erklärte er, während ich zwischen Salat und Schnecken, Choucroute garnie und Coq au vin abwägte und mich zwingen mußte, nicht ständig zu der Frau am Nebentisch, zu dieser Araberin oder Perserin, hinüberzuschielen, die – anders konnte ich mir es kaum vorstellen – ihre Lust daran haben mußte, alle, die sich hier aufhielten, durch ihr bloßes Äußeres zu irritieren. Als einziger in diesem Lokal, so kam es mir vor, schien sie nur mein Tischgenosse nicht wahrzunehmen. Halb an sich selbst, halb an mich gewandt, redete er über das abgelegene, nahezu verlassene Dorf, aus dem er vor wenigen Stunden abgereist war und in dem er sich ein Vierteljahr lang aufgehalten hatte. Vielleicht, so sinnierte er vor sich hin, werde er mit der in Zürich lebenden Afrikanerin nach Kamerun auswandern oder aber in ein Kloster gehen, wie er es sich schon früher als Schüler beim Lesen eines Buches über den Berg Athos ausgemalt habe, doch das wisse er noch nicht, es stehe in den Sternen, beides sei möglich, obwohl er sich bald entscheiden müsse, im Grunde noch heute nacht, zumindest was die Musik, die Dozentur, die Rückkehr nach Mannheim und all das betreffe, was damit zusammenhänge. Meine Frage, ob er mit Hähnchen in Riesling einverstanden sei oder nur einen Flammkuchen bestellen möchte, winkte er mit einer unwirschen Handbewegung ab. An seine Internatsjahre habe er zwar ungute Erinnerungen, redete er unablässig weiter, während ich immer noch in der Karte blätterte, aber seit langem fürchte er, bloß eine fremdbestimmte Ordnung könne ihn noch retten, gleichgültig, auf welche Regeln sie baue und welches Credo er dabei nachbeten müsse. Als der Kellner die Bestellung aufnehmen wollte, sagte ich, wir seien noch nicht so weit, weil ich nicht über den Kopf meines Gegenübers hinweg bestimmen wollte, was er essen sollte. In dem lothringischen Dorf, aus dem er gerade komme und das durchaus einer Eremitei zu vergleichen sei, hörte er währenddessen gar nicht zu reden auf, habe er jeden Tag vier, fünf Stunden lang die Sonaten von Scarlatti gespielt, um mit diesen Exerzitien sich selbst einen Halt zu geben und der uferlos gewordenen, von keiner äußeren Notwendigkeit strukturierten Zeit eine Verbindlichkeit aufzuzwingen.
»Gab es denn niemanden, mit dem Sie reden konnten?« fragte ich ihn, immer noch in die Speisekarte vertieft. – »Es gab nicht einmal ein Telefon, das heißt, ich hätte eines anschließen lassen können, aber ich wollte es nicht. Übrigens«, sagte er dann in beinahe feierlichem Ton und hob das Glas dabei, »ich heiße Friedrich, wir können uns doch duzen!« Beim Zuprosten schaute ich der Orientalin im weißen Hosenanzug nach, wie sie, mit einer roten Schärpe um die Hüften, auf dem Weg zur Toilette durch die Tischreihen tänzelte. »Eigentlich blickt man sich bei einem solchen Anlaß in die Augen«, wies er mich zurecht, hob noch einmal das Glas und wiederholte sein nachdrückliches »Ich heiße Friedrich«, um die Prozedur diesmal angemessen zu begehen. Dann verschränkte er die Arme hinter der Stuhllehne, stülpte die Brust heraus und fragte mich merkwürdig gewunden, ob die Musik mir ein Anliegen sei. »In der Regel höre ich Musik nur nebenbei, und wenn sie vom Nachbarn kommt, stört sie mich meist«, sagte ich, »aber Scarlatti mag ich, auch wenn ich davon nicht allzuviel verstehe.« Er trank ein volles Glas in einem Zug leer, schaute eine Weile angespannt vor sich hin, reckte plötzlich den Arm, rief schnalzend den Kellner herbei, orderte eine neue Flasche, stützte sich mit verschränkten Armen auf den Tisch, blickte mir in die Augen und stöhnte mit leiser, rauchig klingender Stimme: »Die meisten wissen gar nicht, was Musik anrichten kann!«
»Hatten Sie auch keinen Fernseher?« hakte ich nach, um dem unversehens so bedeutsam gewordenen, an der Grenze zu einem vielsagenden Schweigen angesiedelten Ton auszuweichen. Er nahm meine Hand, streichelte sie mit seinen haarigen Pranken, die zu einem Pianisten gar nicht zu passen schienen, beugte sich herüber zu mir und flüsterte begütigend: »Hähnchen in Riesling ist vollkommen in Ordnung.« Sein Bart verdeckte eine pockennarbige Haut, und er schaute an mir ständig so schwirrend vorbei, daß ich nicht wußte, ob er schielt oder meinem Blick ausweicht. Um meine Hand frei zu bekommen, griff ich nach der Karte und schlug vor, eine gemeinsame Vorspeise zu nehmen. Er nickte entrückt und fragte mich, den Kopf zur Seite geneigt, beinahe pastoral, aber auch wie von oben herab: »Haben Sie schon einmal die Stille gehört?«, unterbrach jedoch die andachtsvolle Atmosphäre, die zu entstehen drohte, selbst mit einem jovialen, sich in die Banalität der Umgebung zurückschleudernden: »Eigentlich waren wir doch schon beim Du!« Nochmals stießen wir aufeinander an, wie um von vorn zu beginnen, und hielten die nachklingenden Gläser, uns zulächelnd, so lange in die Höhe, bis nur noch das Stimmengewirr um uns herum zu hören war. Unsere beiden Tischnachbarn redeten abwechselnd arabisch und französisch, während die älteren Leute, die in meinem Rücken saßen, oft innerhalb eines einzigen Satzes zwischen einem fränkisch klingenden Französisch und dem Alemannischen hin und her sprangen. Es sei der reinste Kammerton gewesen, stellte mir mein Gegenüber sein Gehör unter Beweis, nachdem er das Glas abgestellt hatte, und flüsterte mir, wiederum über den Tisch gebeugt, zu: »Die Stille hört man nicht, weil sie umso weniger existiert, je länger man sie wahrnimmt.«
Die vollendete Stille würde unerträglich oder gleichbedeutend mit dem Tod sein, gab ich zurück, aber er hörte nicht zu, sondern nahm unvermittelt den Faden einer seiner Geschichten wieder auf und erzählte, daß er einfach habe fliehen müssen, daß er Anfang des Jahres, von jetzt auf gleich sozusagen, mir nichts, dir nichts aufgebrochen sei, daß er alles habe stehen und liegen lassen und sich auf der Fahrt durch das verschneite, fast menschenleere Lothringen, nur mit dem Allernötigsten und Scarlattis Sonaten im Gepäck, befreit wie noch nie gefühlt habe. Das verrostete Ortsschild des Dorfes, in das er sich zurückgezogen habe, kündige jahrein, jahraus ein Village fleuri an, auch mitten im Winter, obwohl die Landflüchtigen diesen Flecken längst dem Verfall überlassen hätten. Aber gerade seine Leere habe diesem Weiler ein unverwechselbares Gepräge gegeben, und oft sei er sich, vor allem in nächtlichen Stunden, wenn die Kirchturmuhr nur noch wie für ihn geschlagen habe, wie der Hüter eines verschwundenen Lebens vorgekommen. Manchmal habe er von seinen Fenstern aus tagelang keine Menschenseele gesehen, außer einer alten Frau, die bei jedem Wetter, auch bei Regen und Wind, während des mittäglichen Angelusläutens am Zaun gestanden, mit den Händen Zeichen in die Luft gemalt und zum Himmel hinaufgewunken habe. Drei Monate lang sei das, Tag für Tag, so gegangen, und oft habe er stundenlang vom Sofa aus bloß dem Taubenpaar auf dem gegenüberliegenden Dach und dem Spiel der Wolken zugeschaut.
Von der Vorspeisenplatte, die ich uns bestellt hatte, dem Gemüseteller mit Preßkopf, rührte er nichts an. Während ich immer noch an meinem ersten Glas nippte, hatte er bereits die zweite Flasche halb leer getrunken, und nur wenn er, wie ich es sonst noch bei niemandem beobachten konnte, mit einem einzigen tiefen Zug von der Zigarette einen ganzen Fingerbreit wegrauchte, sein Brustkorb sich dabei wölbte und erst nach einem intensiven Innehalten der Qualm durch die Nasenlöcher strömte, herrschte für eine Weile Stille an unserem Tisch. Ansonsten redete er ununterbrochen, als müßten sich seine durch das monatelange Schweigen aufgestauten Gedanken alle auf einmal Luft verschaffen. Nicht nur zwei- oder dreimal, sondern immer von neuem schilderte er seinen Aufbruch, oder genauer gesagt, seine winterliche Flucht, als könne er sich erst jetzt, angesichts eines Zuhörers, vergegenwärtigen, was damals überhaupt in ihm vorgegangen war. Kurz vor Weihnachten, wiederholte er mit stets ähnlichen Worten, habe er, ohne lange darüber nachzudenken, den Telefonhörer in die Hand genommen, wie in Trance die Nummer der Sekretärin gewählt und sich dann einfach bei ihr krank gemeldet, einen Hörsturz erfunden, ihr seine Verwirrung, seine Ängste, sein Ohrensausen geschildert und das entsetzte Bedauern dieser Frau, ihre mitfühlende Klage, ihre Ermahnungen zu unbedingter Ruhe, aber auch ihre kaum verhohlenen Hinweise auf seinen Lebenswandel entgegengenommen, worauf er ihr, wie außer sich vor Verzweiflung und am Rande eines Zusammenbruchs, das Knirschen und Klirren in seinen Ohrgefäßen geradezu lautmalerisch vorgeführt habe, um mit der abschließenden, mit einem Seufzer unterlegten Befürchtung, in den nächsten Wochen oder gar Monaten oder vielleicht nie mehr unterrichten zu können, den Hörer aufzulegen.
In Wirklichkeit, was niemand wissen könne, habe er in diesem Historischen Kaufhaus nie mehr auftreten wollen, in dem man bei jedem Konzert unter sich bleibe, unter Professoren und Studenten, deren Freunden, Bekannten und Verwandten, und sich dabei wie bei einem Wettbewerb während des Spielens verkrampfe und ständig überlege, was die Kollegen über einen denken könnten. Schuberts Wandererfantasie sei auf dem Programm gestanden, aber diesen jähen Gewalten, mit denen das Klavier sich selbst zu übertrumpfen suche, habe er sich plötzlich nicht mehr gewachsen gefühlt, obwohl die Finger das Stück, wie früher schon so oft, mühelos hätten absolvieren können. Dieser gehetzten, endlos weitertreibenden und dabei wie auf der Stelle tretenden Musik mit ihren brüsken, zwischen Befriedung und Getriebensein hin- und hergerissenen Stimmungswechseln habe er sich nicht mehr aussetzen können und sich für immer vor diesen aufwühlenden, tagelang im Kopf wie im Kreis drehenden Klangballungen schützen müssen. Auf einmal sei ihm dieses Werk als früher Ausdruck all jener nach Schubert sich häufenden und in die vielfältigsten Irritationen sich verzweigenden Musik vorgekommen, die in ihrer Erregung heimlich zu rufen scheine: »Erlöse mich!« Diese Hast durch allerlei Tonarten, dieses harte Neben- und Ineinander aus Schroffem und Sanftem, aus überbordender Kraft und friedloser Erschöpfung, Aufbegehren und Ergebung könne man, wenn man es ernst nehme, auf Dauer nicht ertragen.
Wenn er in seinem Redefluß gelegentlich innehielt und mich anschaute, nickte ich und aß weiter. Mich ekelte sein Hut, den er wieder von der Stuhllehne genommen und neben dem Brotkorb abgelegt hatte, aber ich wagte mein Gegenüber nicht zu unterbrechen und zu bitten, ihn wegzulegen oder am Mantelständer aufzuhängen, obwohl ich in meiner Phantasie Läuse aus ihm hervorkriechen und in unsere Teller krabbeln sah. Doch trotz seines ein wenig verwilderten Äußeren, seiner borstigen Lockenhaare und seines vom vielen Rauchen an den Oberlippen bräunlich gefärbten Barts konnte man ihm einen verwegenen Charme nicht absprechen. Wie er mit der Zigarette am äußersten Rand der Finger spielte, wie er jeden einzelnen Zug, als sei er der allererste am Tag, voller Verlangen genoß, indem er sich dabei, wie um die Zeit anzuhalten und die Lungen zu weiten, stets ein wenig zurücklehnte, wie er den Kellner mit schwungvollen Dirigierbewegungen halb gebieterisch, halb elegant an den Tisch zitierte und dabei die Lippen beinahe zum Kußmund spitzte, wie er den Kopf leicht zur Seite neigen, ein Lächeln andeuten und einen dabei ansehen konnte, als wollte er sich für sein unablässiges Reden entschuldigen, all das hatte auch etwas Entwaffnendes. »Du mußt sagen, wenn dich meine Geschichte nicht interessiert«, munterte er mich ein paarmal auf, aber es klang zu beiläufig, um ernst gemeint zu sein.
Wie um von vorne zu beginnen oder einen neuen Erzählstrang einzufädeln oder einen längst verlassenen wiederaufzunehmen, setzte er nach seinen kurzen Rauchpausen, tief Luft holend, mit einem stoßseufzergroßen »Also« seine auseinanderlaufenden und sich überkreuzenden Geschichten fort, und jedesmal klang es aus seinem Mund, als wartete ich bereits ungeduldig auf immer neue Details und Lebenskapitel, die mir nicht vorenthalten bleiben sollten. Sein litaneiartig repetiertes »Verstehst du?« war nie als Frage gemeint, sondern dazu da, sich meiner Aufmerksamkeit zu versichern. Nur einmal unterbrach er sich mitten im Satz und wollte ohne ersichtlichen Zusammenhang von mir wissen, ob ich ins Bordell gehe, aber die überraschende Frage diente ihm nur als Auftakt, um mir seine Zürcher Begegnungen mit der Prostituierten aus Kamerun zu schildern, mit der er nächtelang im Bett Tierfilme angeschaut habe. Morgens seien sie stumm nebeneinanderher durch die Niederdorfgasse geschlendert, seien, als ein so ungleiches Paar, von den Müllmännern angestarrt worden, hätten sich an der Hand gehalten, dann wieder Fremdeln miteinander gespielt, und manchmal habe sie zu ihm gesagt: »Tu es bizarre«, was nichts bedeutet habe, sondern bloß eine ihrer Redensarten gewesen sei, mit denen sie das Schweigen habe unterbrechen und ihm allenfalls sagen wollen, wie seltsam sie es finde, sich in einen Kunden, dazu noch in einen Deutschen zu verlieben, in einen Sohn Hitlers, wie sie sich ein paarmal ausgedrückt habe, um zu sehen, ob er sich damit provozieren lasse.
Er zückte den Geldbeutel und kramte zwischen Scheinen, Kärtchen und Zettelchen ein Foto hervor, das er mir über den Tisch reichte: »Das bin ich, vor zwanzig Jahren«, zeigte er auf das Bild, und es klang ein wenig Stolz dabei mit. Mit brustlangen, fülligen, nach hinten geschwenkten Haaren saß er an einem von Mikrofonen umstellten Flügel, ins Spiel versenkt und sich doch auch dessen bewußt – so jedenfalls konnte man es dem unmerklich der Kamera zugewandten Blick entnehmen –, daß er beim Überkreuzspiel fotografiert wird. Damit das matte, körnige Schwarzweißbild ins Portemonnaie paßt, hatte er es in der Mitte geknickt, so daß darauf seine Nase amputiert war. Friedrich zog noch ein weiteres, kleineres Bild hervor, dessen gezackte Ränder auf die Zeit vor unserer Geburt zurückzuweisen schienen. Es zeigte einen schlohweißen Pater mit einem ausfransenden Flusenbart, der neben einem kurzgeschorenen, ihn von der Seite anlachenden Buben auf einer Orgelbank sitzt und mit zwei gespreizten Fingern wie ein Augenausstecher scheinbar die Noten hypnotisiert.
Dieser Pater, ein ehemaliger Missionar, der über seine Zeit in China ein Buch mit dem Titel Sie nannten mich Drachen geschrieben habe, sei sein erster Musiklehrer gewesen, erklärte Friedrich und er erzählte mir von einem Erlebnis, das mir heute, auf dem Weg zurück ins Tal hinab, wie der Anfang einer jetzt erst zum Abschluß gekommenen Geschichte erscheint. Dieser Pater habe die schlechte Musik ausmerzen wollen, wozu in seinen Augen fast alles gehört habe, was nicht in die Zeit zwischen Bach und Bruckner falle. Wäre es nach diesem verbitterten, in Maos Gefängnissen von Todesängsten gepeinigten ehemaligen Heidenbekehrer – so titulierte Friedrich ihn – gegangen, hätte man ein Gesetz erlassen müssen, das jede aufreizende Musik, jedes aufwühlende Getön, jedes wollüstige Gekreische verbietet. Ich wollte einstreuen, daß dieser Gedanke eine lange Tradition besitzt, daß vom janusköpfigen Wesen mancher Gesänge bereits Homers Sirenen erzählen und daß sowohl Platon als auch Augustinus nur eine Musik hatten gelten lassen wollen, die keine Leidenschaften aufwühlt und keine sündigen Gedanken schürt. Aber er ließ mir keinen Raum für Zwischenreden, und ich dachte dann auch, daß meine Bildungsrückgriffe nur akademische Klugheiten hätten ausbreiten wollen und zu seiner Geschichte hätten nichts Wichtiges beitragen können. Und doch war es mir, je länger er redete, zunehmend danach, auch einmal zu Wort zu kommen, und sei es weniger aus der Kränkung heraus, sich überfahren zu fühlen, als aus dem viel schlichteren Grund, meine Gedanken nicht abschweifen zu lassen, sondern durch eigene Einwürfe bei der Sache zu bleiben. Natürlich müsse man nicht gleich mit Homer und Platon und Augustinus kommen, wenn einer eine Begebenheit aus seinem Leben zum besten geben wolle, warf ich mir insgeheim vor, aber es war immerhin einen Versuch wert gewesen, dem anderen die Möglichkeit zu geben, endlich einmal nachfragen zu können, ob ich mich etwa beruflich mit solchen Fragen beschäftige. Doch meine zwei Halbsätze, mit denen ich ihm bestätigen wollte, daß mir solche Dinge nicht unbekannt sind, nahm er nur wie ein Räuspern wahr, das seinen Redefluß stört. Der Säuberungswahn dieses Alten, redete Friedrich einfach weiter, habe zwar närrische Ausmaße angenommen, und während der Predigten hätten sie, die Schüler, wegen seines zitternden Barts ständig kichern müssen, aber jetzt, dreißig Jahre später, müsse er diesem Eiferer zugestehen, von den Gefahren der Musik mehr als all diejenigen gewußt zu haben, denen sie als etwas Natürliches, Unbedenkliches, Unverfängliches erscheine. »In der Abgeschiedenheit meines lothringischen Dorfes konnte ich täglich erleben, wie gewaltsam das Klavierspiel die Stille durchfurcht, obwohl ich nur die feinziselierten, lichtdurchfluteten Stücke von Scarlatti gespielt habe«, sagte er nicht nur ein einziges Mal und er folgerte daraus, daß die nach Musik Süchtigen erstaunlich abgestumpft sein müssen.
Ich wollte ihm entgegenhalten, ein und dieselbe Musik könne der eine als Stimulans, der andere als Nervengift empfinden, auf einen gemeinsamen Nenner ließen sich solche Erfahrungen nicht bringen. Als ich zum Widerspruch ansetzte, stand er auf und ging zur Toilette. Das Mädchen im Tschador schaute ihm nach und schien ihrem Freund mit einem rotierenden Zeigefinger, hochgezogenen Augenbrauen und einem schmunzelnden Mund zu erkennen zu geben, daß sie das endlose, erregte Reden dieses Menschen nicht nur penetrant, sondern auch amüsant findet. Plötzlich allein am Tisch, kam mir diese Unterbrechung nicht wie eine wohltuende Pause, sondern wie das Hereinbrechen einer durch nichts zu füllenden Leere vor. Obwohl es mich längst zu ärgern anfing, daß nur der andere zu Wort kam, fühlte ich mich während seiner kurzen Abwesenheit wie verloren in dem Lokal, als gäbe es nicht den geringsten Grund, ohne diesen Menschen auch nur einen einzigen Augenblick an diesem Ort zu verbringen. Während das Mädchen am Nebentisch mich nahezu barmherzig anschaute, hätte ich mich am liebsten davongeschlichen, um nicht bemitleidet werden zu müssen.
Als Friedrich wieder zu der Tür hereinkam, über der die alemannischen Brunz-Verse prangten, stand ihm, absichtslos und ohne es zu bemerken, in der Nähe des Tresens einer der Soldaten im Weg. Friedrich drückte ihn von hinten brüsk zur Seite, so daß er auf einen Kameraden kippte, der mit dem Rücken zu ihm auf einem Barhocker saß und der reflexartig, ohne sich umzuschauen, den Ellbogen so heftig zurückstieß, daß der Getroffene aufschrie, sich vor Schmerzen krümmte, nach zwei Schrecksekunden Friedrich hinterherlief, ihn, als er sich setzen wollte, am Arm zurückriß und schrie: »Qu’est-que tu veux, sale boche?« Einen Moment lang stand der Soldat, seinen anderen Arm zum Zuschlagen angewinkelt, bebend vor ihm, unentschieden zwischen dem Drang, es ihm heimzuzahlen, und der Angst zu unterliegen, und später dachte ich, es habe ihn in diesem Augenblick nicht nur das beschwichtigende Rufen vom Tresen herüber, sondern Friedrichs aus dem mächtigen Bartgesicht gleichgültig auf ihn herabschauender Blick innehalten lassen. Friedrich vermittelte dabei eine Souveränität, die sich nicht seiner Körperkraft verdanken konnte, sondern ihre Stärke aus ganz anderen Quellen beziehen mußte. Der Soldat ließ den Arm sinken und versuchte, bevor er umkehrte, eine angewiderte Miene zu ziehen, während Friedrich sich dandyhaft, wie man es aus Filmen kennt, den Ärmel abstreifte, bevor er sich setzte. Aber gerade das Theatralische dieser Geste ließ dann auch jene Gelassenheit, die er eben noch glaubhaft ausgestrahlt hatte, wie inszeniert erscheinen. Er beugte sich über den Tisch, griff wieder nach meiner Hand und sagte, diesmal mit lauter Stimme, in die rundum herrschende Stille hinein: »Wir waren bei Pater Cölestin stehengeblieben.« Wie ein Schauspieler, der um seine Wirkung weiß, drehte er sich noch einmal zum Tresen hinüber und rief: »Une autre bouteille, s’il vous plaît!«, obwohl die Flasche im Kühler noch halb voll war.