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Buch

Der Absturz des Satelliten mitten in der mongolischen Wüste ist schon schlimm genug. Schließlich befindet sich an Bord das Auge Gottes, eine streng geheime experimentelle Kamera. Doch das letzte Bild, das der Satellit an die Basis übertragen hatte, ist noch schrecklicher. Painter Crowe von der Sigma Force kann kaum glauben, was er sieht. Auf dem Foto ist genau zu erkennen, dass die gesamte Ostküste der USA in Trümmern liegt! Wenig später kommt es zu einer noch unglaublicheren Enddeckung: Die fotografierte Szene liegt neunzig Stunden in der Zukunft! Painter Crowe bleiben weniger als vier Tage, um die Katastrophe zu verhindern …

Autor

Der New York Times-Bestsellerautor James Rollins hat einen Doktorgrad in Tiermedizin. Als begeisterter Höhlenforscher und ebenso eifriger Taucher ist er häufig unter Wasser oder unter der Erde anzutreffen. Er wohnt in den Bergen der Sierra Nevada in Kalifornien, USA.

Von James Rollins bei Blanvalet erschienen:

Sigma Force:
Der Genesis-Plan, Feuermönche, Sandsturm, Der Judas-Code, Das Messias-Gen, Feuerflut, Mission Ewigkeit, Das Auge Gottes

Die Bruderschaft der Christuskrieger:
Das Evangelium des Blutes, Das Blut des Verräters, Die Apokalypse des Blutes

Außerdem:

Sub Terra, Im Dreieck des Drachen, Das Flammenzeichen, Operation Amazonas, Das Blut des Teufels

Indiana Jones und das Königreich des Kristallschädels

James Rollins

Das Auge Gottes

Roman

Aus dem Englischen
von Norbert Stöbe

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Die englische Originalausgabe erschien unter dem Titel
»The Eye of God« bei William Morrow, New York.


1. Auflage

November 2016 bei Blanvalet, einem Unternehmen
der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Copyright © 2013 by Jim Czajkowski

Published in agreement with the author, c/o Baror Interantional, Inc.
Armonk, New York, U.S.A.

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2014 by
Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Umschlaggestaltung und -motiv: © Johannes Wiebel | punchdesign,
unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com

Redaktion: text in form / Gerhard Seidl

HK · Herstellung: kw

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-19488-8
V002

www.blanvalet.de

Für Dad

Er schenkte uns Flügel … und den Himmel,
um hoch zu fliegen.

Der Unterschied zwischen Vergangenheit,
Gegenwart und Zukunft ist eine Illusion,
wenn auch eine hartnäckige.

Albert Einstein

VORBEMERKUNG ZUM HISTORISCHEN HINTERGRUND

WAS IST WAHR? Wenn es um die Vergangenheit geht, ist diese Frage schwer zu beantworten. Winston Churchill sagte einmal, die Geschichte werde von den Siegern geschrieben. Wenn er recht hatte, welchen historischen Dokumenten kann man dann trauen? Die schriftlichen Aufzeichnungen reichen nur etwa sechstausend Jahre in die Vergangenheit zurück und verzeichnen nur einen vergleichsweise kurzen Abschnitt der Geschichte der Menschheit auf diesem Planeten. Und selbst diese Aufzeichnungen sind voller Lücken, sodass die Geschichte einem mottenzerfressenen Wandteppich gleicht. Bemerkenswert dabei ist, dass in diesen Lücken viele der größten Rätsel der Geschichte verschwunden sind, die ihrer Enthüllung harren – darunter auch Ereignisse, die geschichtliche Wendepunkte markieren, die seltenen Momente, die Zivilisationen verändern.

Ein solcher Moment trug sich im Jahr 452 n. Chr. zu, als die plündernden Horden Attilas durch den Norden Italiens zogen und alles verwüsteten, was ihnen in die Quere kam. Rom war gegenüber dem Barbarenansturm nahezu wehrlos und dem Untergang geweiht. Papst Leo I. verließ die Stadt und ritt Attila an den Ufern des Gardasees entgegen. Sie unterhielten sich unter vier Augen, schriftliche Aufzeichnungen gab es nicht. Nach der Unterredung verzichtete Attila auf den sicheren Sieg und die Einnahme Roms und wandte Italien den Rücken zu.

Weshalb? Was ist bei dieser geheimen Unterredung geschehen, das Attila veranlasst hat, sich den sicheren Sieg entgehen zu lassen? Die Geschichtsschreibung weiß darauf keine Antwort.

Blättern Sie weiter und erfahren Sie, wie nahe wir der Selbstvernichtung gekommen sind an jenem vergessenen Moment, da die westliche Zivilisation an einer Schwertspitze zu zerschellen drohte – an einer Klinge, die als Schwert Gottes bezeichnet wurde.

VORBEMERKUNG ZUM WISSENSCHAFTLICHEN HINTERGRUND

WAS IST REAL? Das ist die einfachste Frage – und die schwerste von allen. Im Lauf der Zeiten hat sie Philosophen und Physiker beschäftigt. In seiner Schrift Der Staat verglich Plato die wahre Welt mit einem unsteten Schatten an einer Höhlenwand. Seltsamerweise sind Wissenschaftler Jahrtausende später zu dem gleichen Schluss gelangt.

Das Papier, auf dem dieser Text gedruckt ist – oder das Lesegerät in Ihrer Hand – besteht aus fast nichts. Blicken wir tiefer in das hinein, was als hart erscheint, stellen wir fest, dass die Dinge aus Atomen zusammengesetzt sind. Nimmt man die Atome auseinander, findet man einen winzigen harten Kern aus Protonen und Neutronen, umgeben von leeren Schalen, in denen ein paar Elektronen kreisen. Doch selbst diese Elementarteilchen lassen sich noch weiter aufspalten: in Quarks, Neutrinos, Bosonen und so weiter. Blickt man noch tiefer, stößt man auf eine bizarre Welt schwingender Energiestränge, die vielleicht der wahre Ursprung des Feuers sind, das die unsteten Schatten wirft, von denen Plato gesprochen hat.

Nicht minder merkwürdig sind die Phänomene, auf die man stößt, wenn man nach außen blickt, auf den Nachthimmel, in den unbegreiflich weiten Weltraum, eine unermessliche Leere, die von Milliarden Galaxien gesprenkelt ist. Und selbst dieses gewaltige Gebilde ist vielleicht nur eines von vielen Universen, die in ihrer Gesamtheit ein Multiversum bilden. Und was ist mit unserem eigenen Universum? Die neueste Vermutung lautet, dass alles, was wir erfahren – angefangen von den kleinsten schwingenden Energiestrings bis zu den gewaltigen Galaxien, die um einen Mahlstrom realitätszerfetzender Schwarzer Löcher kreisen – möglicherweise nichts weiter ist als ein Hologramm, eine dreidimensionale Illusion, und dass wir alle in einer Art Simulation leben.

Kann das sein? Hatte Plato vielleicht recht, als er schrieb, wir seien blind gegenüber der wahren Wirklichkeit, die uns umgibt, und alles, was wir sähen, seien nur die unsteten Schatten an einer Höhlenwand?

Blättern Sie weiter – wenn dies ein Buch ist – und entdecken Sie die erschreckende Wahrheit.

PROLOG

Sommer, 453 n. Chr.
Ungarn

DER KÖNIG STARB zu langsam im Hochzeitsbett.

Die Mörderin kniete über ihm. Die Tochter eines Burgunderprinzen war die siebte Gemahlin des Königs und am Tag zuvor mit diesem barbarischen Herrscher zwangsverheiratet worden. Sie hieß Ildiko, was in ihrer Muttersprache Wilde Kriegerin bedeutete. Doch sie fühlte sich nicht wild, denn sie verzagte neben dem sterbenden Mann, dem Tyrannen mit Blut an den Händen, der sich den Namen Flagellum Dei verdient hatte, Geißel Gottes, eine lebende Legende und ein Krieger, der angeblich das vom skythischen Kriegsgott erschaffene Schwert schwang.

Allein schon sein Name – Attila – öffnete Stadttore und beendete Belagerungen, so gefürchtet war er. Doch jetzt, da er nackt im Sterben lag, wirkte er nicht einschüchternder als jeder andere gewöhnliche Mensch. Er war ein wenig größer als sie, wenngleich er die kräftigen Muskeln und schweren Knochen seines Nomadenvolks hatte. Seine Augen – weit offen und in tiefen Höhlen liegend – erinnerten sie an die eines Schweins. In der Nacht, als er sie – nach vielen beim Hochzeitsfest geleerten Bechern Wein – mit blutunterlaufenen Augen unverwandt angestarrt und in sie hineingestoßen hatte, war der Eindruck besonders stark gewesen.

Jetzt blickte sie ihn an, registrierte jedes gurgelnde Keuchen und versuchte zu schätzen, wie lange es noch dauern würde. Sie wusste jetzt, dass sie zu sparsam mit dem Gift umgegangen war, das der Bischof von Valence ihr mittels des Erzbischofs von Wien mit Zustimmung des Königs Gundioch von Burgund hatte zukommen lassen. Da sie fürchtete, der bittere Geschmack des Gifts könnte dem Tyrannen auffallen, war sie zu vorsichtig gewesen.

Sie krampfte die Hand um das halb leere Fläschchen und spürte, dass bei dieser Intrige noch andere Mächte mitgemischt hatten, höhere Mächte als König Gundioch. Sie verfluchte das Schicksal, das ihr eine solche Bürde in die kleinen Hände gelegt hatte. Weshalb wurde das Geschick der Welt – das gegenwärtige und das zukünftige – ausgerechnet einer Frau von gerade mal vierzehn Sommern aufgebürdet?

Eine Gestalt im Kapuzenumhang, die vor einem halben Monat an der Tür ihres Vaters aufgetaucht war, hatte sie gleichwohl von der Notwendigkeit der finsteren Tat überzeugt. Sie war dem Barbarenkönig bereits versprochen gewesen, doch in jener Nacht hatte man sie zu dem Fremden gebracht. An seiner linken Hand funkelte kurz ein goldener Kardinalsring auf, dann fiel der Ärmel herab. Der Mann berichtete ihr – erst ein Jahr war es her –, dass Attilas Barbarenhorden die norditalienischen Städte Padua und Milan geplündert und alle Menschen niedergemetzelt hätten, die sich ihnen in den Weg stellten. Männer, Frauen und Kinder. Nur diejenigen, welche in die Berge oder in die Küstensümpfe geflohen seien, hätten die Grausamkeiten überlebt.

»Rom war dazu verdammt, von seinem gottlosen Schwert gefällt zu werden«, erklärte ihr der Kardinal vor dem kalten Kamin des Hauses. »Eingedenk dieses Schicksals, hat Seine Heiligkeit Papst Leo sich von seinem irdischen Thron erhoben und ist dem Tyrannen an den Ufern des Gardasees entgegengeritten. Und mit seiner kirchlichen Macht hat der Pontifex den unerbittlichen Hunnen vertrieben.«

Ildiko aber wusste, dass es nicht die Macht der Kirche allein gewesen war, welche die Barbaren abgewehrt hatte – auch der Aberglaube des Königs hatte dabei eine Rolle gespielt.

Verängstigt blickte sie den Kasten auf dem Podest am Fußende des Betts an. Er war Geschenk und Drohung des Pontifex. Er war nicht länger als ihr Unterarm und auch kaum höher, doch sie wusste, dass sein Inhalt über das Schicksal der Welt entschied. Sie fürchtete sich, ihn zu berühren oder zu öffnen, doch sobald ihr Gemahl tot war, würde sie es trotzdem tun.

Sie konnte nur mit einem Schrecken gleichzeitig fertigwerden.

Ihr furchtsamer Blick huschte zur geschlossenen Tür des Hochzeitsgemachs. Der Himmel im Osten kündete bereits vom anbrechenden Tag. Wenn es dämmerte, würden die Männer des Königs das Gemach betreten. Bis dahin musste er tot sein.

Sie beobachtete, wie ihm mit jedem keuchenden Atemzug Blut aus der Nase quoll. Sie lauschte auf das Rasseln in seiner Brust. Er hustete schwach, und Blut trat über seine Lippen. Es sickerte durch seinen gegabelten Bart und sammelte sich in der Halskuhle. Dort zeichnete sich sein Herzschlag ab; mit jedem schwachen Schlag erglänzte die dunkle Lache.

Sie betete darum, dass er sterben möge – und zwar rasch.

Verbrenne in den Flammen der Hölle, in die du gehörst …

Als hätte er ihr Flehen gehört, entrang sich der blutgefüllten Kehle ein rauer Atemzug, der noch mehr Blut über die Lippen treten ließ – dann senkte sich der Brustkorb ein letztes Mal und hob sich nicht mehr.

Ildiko schrie vor Erleichterung leise auf. Tränen traten ihr in die Augen. Es war vollbracht. Die Geißel Gottes war tot und konnte kein Unheil mehr über die Welt bringen. Und das keinen Moment zu früh.

In ihrem Elternhaus hatte der Kardinal ihr Attilas Plan enthüllt, seine Streitmacht erneut gegen Italien zu wenden. Gleichlautende Gerüchte waren ihr beim Hochzeitsfest zu Ohren gekommen, lautstarkes Schwadronieren von der Einnahme Roms, das man dem Erdboden gleichmachen und dessen Einwohner man abschlachten wolle. Das helle Licht der Zivilisation drohte unter den Barbarenschwertern für immer zu erlöschen.

Mit ihrer blutigen Tat hatte sie die Gegenwart gerettet.

Doch sie war noch nicht fertig.

Die Zukunft war noch immer in Gefahr.

Sie rutschte auf bloßen Knien zum Fußende des Betts. Sie näherte sich dem kleinen Kasten und empfand dabei mehr Angst als in dem Moment, als sie das Gift in den Trank ihres Gemahls geträufelt hatte.

Die Außenhülle war aus schwarzem Eisen, der schwere Deckel mit großen Scharnieren befestigt. Abgesehen von zwei auffälligen Symbolen an der Oberseite, gab es keinerlei Verzierungen.

Sie kannte die Schrift nicht, doch der Kardinal hatte sie gut darauf vorbereitet. Dies war angeblich die Sprache von Attilas Ahnen, den Nomadenstämmen im Fernen Osten.

Sie berührte eines der Zeichen, das aus einfachen Strichen zusammengesetzt war.

»Baum«, flüsterte sie und bemühte sich, Kraft zu sammeln. Das Zeichen hatte eine entfernte Ähnlichkeit mit einem Baum. Ehrfurchtsvoll berührte sie das zweite Zeichen – ebenfalls ein Baum.

Erst dann brachte sie den Mut auf, den Deckel anzuheben. In der Truhe befand sich ein zweiter Kasten, der aus hellstem Silber bestand. Die Inschrift war ebenso primitiv, aber mit großer Sorgfalt ausgeführt.

Die einfachen Striche bedeuteten Befehl oder Anweisung.

Da sie spürte, dass die Zeit drängte, unterdrückte sie das Zittern ihrer Hände und hob den Deckel des silbernen Kastens an. Darunter kam ein drittes Behältnis zum Vorschein, diesmal aus Gold. Die funkelnde Oberfläche wirkte im Fackelschein geradezu flüssig. Das eingeritzte Zeichen war eine Kombination der Symbole auf den Kästen aus Eisen und Silber. Übereinander angeordnet ergaben sie ein neues Wort.

Der Kardinal hatte sie auf die Bedeutung dieses Zeichens aufmerksam gemacht.

»Verboten«, flüsterte sie atemlos.

Behutsam öffnete sie den innersten Kasten. Sie wusste, was sie darin vorfinden würde, doch der Anblick verursachte ihr dennoch eine Gänsehaut an den Armen.

Aus dem goldenen Kasten hervor blickte sie ein gelblicher Totenschädel an. Der Unterkiefer fehlte, die leeren Augen starrten sie leblos an, als schauten sie zum Himmel auf. Wie die Kästen war auch der Schädel beschriftet. Wortzeilen wanden sich in einer engen Spirale von der Schädelmitte nach unten. Die Sprache war eine andere als auf den Kästen, denn dies war die alte Schrift der Juden – jedenfalls hatte dies der Kardinal gesagt. Außerdem hatte er sie über den Verwendungszweck des Schädels instruiert.

Er hatte den Juden zur Beschwörung gedient, zur Anrufung Gottes, auf dass er ihnen Gnade erweisen und sie erretten möge.

Papst Leo hatte Attila diesen Schatz angeboten, um Rom zu retten. Außerdem hatte er Attila gesagt, der machtvolle Talisman sei nur einer von vielen, die in Rom verwahrt würden und die durch Gottes Fluch geschützt seien, der jeden zum Tode verurteile, der sich gewaltsam Einlass verschaffe. Um seiner Drohung Nachdruck zu verleihen, hatte der Papst ihm die Geschichte König Alarich I., des Anführers der Goten, erzählt, der Rom vierzig Jahre zuvor geplündert hatte und nach Verlassen der Stadt gestorben war.

Attila schenkte der Warnung Glauben und floh mit dem kostbaren Schatz aus Italien. Doch mit der Zeit verblassten seine Ängste, und sein Begehren, Rom zu belagern und die Kraft seiner eigenen Legende mit dem Fluch Gottes zu messen, gewann die Oberhand.

Ildiko blickte seinen hingestreckten Leichnam an.

Offenbar hatte er die Prüfung nicht bestanden.

Auch die Mächtigen vermochten dem Tod nicht auf Dauer zu entrinnen.

Sie wusste, was sie zu tun hatte, und streckte die Hände zum Totenschädel aus. Dabei fiel ihr Blick auf die eingeritzten Zeichen im Zentrum der Spirale. Die beschwörende Bitte um Errettung wandte sich gegen das, was hier geschrieben stand.

Es bezog sich auf das Ende der Welt.

Der Schlüssel zu diesem Schicksal befand sich unter dem Schädel – versteckt unter Eisen, Silber, Gold und Gebein. Seine Bedeutung hatte sich vor einem Monat offenbart, als ein nestorianischer Priester aus Persien am Stadttor Roms erschienen war. Er hatte von dem Geschenk gehört, das Attila aus der Schatzkammer der Kirche zuteilgeworden war und das ursprünglich von Nestorius gestammt hatte, dem Patriarchen Konstantinopels. Der Priester enthüllte Papst Leo die in diesem verschachtelten Behältnis verborgene Wahrheit und sagte ihm, es stamme aus dem Fernen Osten und sei der Ewigen Stadt zur Aufbewahrung übergeben worden.

Schließlich offenbarte er dem Papst den wahren Schatz – zusammen mit dem Namen des Mannes, der den Schädel einmal auf seinen Schultern getragen hatte.

Ildiko berührte die Reliquie und begann wieder zu zittern. Es schien so, als blickten die leeren Augen in sie hinein und prüften ihren Wert. Wenn der Nestorianer die Wahrheit gesagt hatte, hatten diese Augen einst ihren Herrn Jesus Christus erblickt.

Sie schreckte davor zurück, die heilige Reliquie zu bewegen – und wurde für ihr Zögern durch ein Klopfen an der Tür bestraft. Dann war eine gutturale Stimme zu vernehmen. Sie verstand die Sprache der Hunnen nicht, doch sie wusste, dies waren Attilas Männer, die bald in den Raum eindringen würden, wenn der König ihnen keine Antwort gab.

Sie hatte zu lange gewartet.

Eilig hob sie den Schädel an – doch darunter befand sich nichts. Am Boden des Kastens war ein goldener Abdruck in der Form des alten Kreuzes, das dort einst gelegen hatte – der Reliquie, die angeblich vom Himmel herabgefallen war.

Das Kreuz aber war verschwunden, geraubt.

Ildiko blickte ihren toten Gemahl an, den Mann, der nicht nur für sein kühnes strategisches Denken, sondern auch für seine Grausamkeit berüchtigt gewesen war. Außerdem hieß es, er habe Ohren unter jedem Tisch.

Hatte der König der Hunnen von den Geheimnissen erfahren, die der nestorianische Priester dem römischen Papst anvertraut hatte? Rührte daher sein neu erwachter Wunsch, Rom zu plündern?

Die Rufe auf dem Gang wurden lauter, das Klopfen drängender.

Verzweifelt legte Ildiko den Schädel zurück und verschloss die Kästen. Erst dann sank sie auf die Knie und schlug die Hände vors Gesicht. Schluchzer schüttelten sie, als hinter ihr die Tür splitterte.

Männer drängten in den Raum. Ihr Geschrei wurde zorniger, als sie den König auf dem Totenbett erblickten. Sie stießen ein lautes Klagegeheul aus.

Niemand aber wagte es, die in sich zusammengesunkene, trauernde Witwe anzurühren, die apathisch neben dem Bett auf den Knien lag und ohne Unterlass vor und zurück schaukelte. Sie glaubten, ihre Tränen gälten dem toten Gemahl, dem verstorbenen König, doch sie irrten sich.

Sie weinte um die Welt.

Um die Welt, die dem Untergang geweiht war.

GEGENWART

17. November, 16:33 MEZ
Rom, Italien

ES WAR, ALS hätten sich die Sterne gegen ihn verschworen.

Vermummt zum Schutz gegen die beißende Winterkälte, eilte Monsignore Vigor Verona durch den Schatten auf der Piazza della Pilotta. Trotz des dicken Wollpullovers und des Mantels fröstelte er – nicht wegen der Kälte, sondern weil der Anblick der Stadt ihn mit Furcht erfüllte.

Ein heller Komet stand am Abendhimmel, schwebte über der Kuppel des Petersdoms, dem höchsten Punkt von ganz Rom. Der himmlische Besucher – der hellste seit Jahrhunderten – überstrahlte den soeben aufgegangenen Mond und überdeckte die Sterne mit seinem langen, schimmernden Schweif. Solche Kometen galten in der Vergangenheit häufig als Unheilskünder.

Er hoffte, dass es diesmal anders wäre.

Vigor drückte das Paket fester an seine Brust. Er hatte es nur notdürftig in Packpapier eingeschlagen, doch der Bestimmungsort war nicht weit entfernt. Vor ihm ragte die Fassade der Päpstlichen Universität Gregoriana auf, flankiert von Seitenflügeln und Vorgebäuden. Vigor gehörte zwar weiterhin dem Päpstlichen Institut für Christliche Archäologie an, hielt aber nur noch selten Gastvorlesungen. Jetzt diente er dem Heiligen Stuhl als Präfekt des Archivio Segreto Vaticano, des Geheimarchivs des Vatikans. Doch das Paket beförderte er nicht in seiner Eigenschaft als Professor oder Präfekt, sondern als Freund.

Das Geschenk eines toten Kollegen.

Er gelangte zum Haupteingang der Universität und schritt durch die Vorhalle aus weißem Marmor. Er unterhielt noch ein Büro an der Universität, denn das war sein gutes Recht. Er kam sogar häufiger hierher, um den großen Buchbestand zu katalogisieren und zu verschlagworten. Die Universität mit ihren über eine Million Bänden konnte es sogar mit der Nationalbibliothek aufnehmen. Untergebracht waren sie in einem angrenzenden sechsstöckigen Gebäude, darunter auch viele alte Texte und seltene Erstausgaben.

Nichts davon aber kam dem Buch gleich, das Vigor bei sich trug – oder dem, was außerdem noch in dem Paket gewesen war. Dies war der Grund, weshalb er den Rat der einzigen Person suchte, der er in Rom wahrhaft vertraute.

Als Vigor die Treppe hochstieg und durch die schmalen Gänge schritt, machten sich seine Knie schmerzhaft bemerkbar. Er war Mitte sechzig und nach jahrzehntelanger archäologischer Feldforschung körperlich noch immer recht fit, doch in den vergangenen Jahren hatte er sich zu lange in den Archiven vergraben, war eingesperrt gewesen hinter Schreibtischen und Bücherstapeln und gefesselt von der Verantwortung.

Bin ich der Aufgabe gewachsen, Herr?

Er musste es schaffen.

Schließlich erreichte Vigor den Fakultätstrakt und erblickte eine bekannte Person, die an seiner Bürotür lehnte. Seine Nichte war ihm zuvorgekommen. Sie musste direkt von der Arbeit hierhergekommen sein. Dunkelblaue Carabiniereuniform, Hose und Jacke mit roten Streifen, silberne Schulterepauletten. Sie war noch keine dreißig und schon Leutnant des Comando Carabinieri Tutela Patrimonio Culturale, der für das Kulturerbe zuständigen Abteilung, die sich um gestohlene Kunstwerke und Artefakte kümmerte.

Ihr Anblick erfüllte ihn mit Stolz. Er hatte sie nicht nur wegen ihrer Sachkenntnis herbestellt, sondern auch aus Liebe. Niemandem vertraute er mehr als ihr.

»Onkel Vigor.« Rachel umarmte ihn rasch. Dann wich sie zurück, streifte sich das dunkle Haar hinters Ohr und musterte ihn mit ihren karamellfarbenen Augen. »Was gibt es denn Dringendes?«

Er schaute den Flur entlang, doch es war Sonntag, und um diese Zeit hielt sich niemand hier auf, und alle Büros waren unbeleuchtet. »Komm rein, dann erkläre ich’s dir.«

Er schloss die Tür auf und geleitete sie über die Schwelle. Trotz der hohen Wertschätzung, die er genoss, glich sein Büro einer engen Zelle. Die Regale an den Wänden quollen über von Büchern und Zeitschriftenstapeln. Der kleine Schreibtisch stand vor einem Fenster, das so schmal war wie eine Schießscharte. Der kürzlich aufgegangene Mond warf einen silbrigen Lichtstrahl in das Durcheinander.

Erst als er die Tür von innen geschlossen hatte, schaltete er die Beleuchtung ein. Er seufzte erleichtert auf, denn die vertraute Umgebung beruhigte und tröstete ihn.

»Hilf mir mal, etwas Platz auf dem Schreibtisch freizuräumen.«

Als das geschehen war, legte Vigor das Paket ab und entfernte das braune Packpapier. Darunter kam eine kleine Holzkiste zum Vorschein.

»Das ist heute Morgen angekommen. Ohne Absenderadresse, nur mit dem Namen des Absenders.«

Er drehte das Paket herum.

»Pater Josip Tarasco«, las Rachel vor. »Sollte ich ihn kennen?«

»Nein, das wäre zu viel erwartet.« Er blickte sie an. »Er wurde vor über zehn Jahren für tot erklärt.«

Sie zog die Brauen zusammen und spannte sich an. »Aber der Zustand des Pakets ist zu gut, als dass es so lange hätte verschollen sein können.« Sie richtete ihren abschätzenden Blick wieder auf Vigor. »Könnte es sich vielleicht um einen grausamen Scherz handeln?«

»Das kann ich mir nicht vorstellen. Ich glaube, der Absender hat das Paket absichtlich von Hand adressiert. Er wollte, dass ich Pater Tarascos Handschrift wiedererkenne. Wir waren gute Freunde. Ich habe die Schrift auf dem Paket mit mehreren seiner Briefe verglichen, die sich noch in meinem Besitz befinden. Die Handschrift ist identisch.«

»Wenn er noch lebt, weshalb wurde er dann für tot erklärt?«

Vigor seufzte. »Pater Tarasco verschwand während einer Forschungsreise nach Ungarn. Er arbeitete an einer umfassenden Darstellung der Hexenjagd zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts.«

»Hexenjagd?«

Vigor nickte. »Anfang des siebzehnten Jahrhunderts herrschte in Ungarn eine zehnjährige Dürre, die mit einer Hungersnot und Seuchen einherging. Ein Sündenbock musste her, dem man die Schuld geben konnte. Binnen fünf Jahren hat man über vierhundert Hexen den Prozess gemacht und sie getötet.«

»Und was ist mit deinem Freund? Was wurde aus ihm?«

»Als Josip nach Ungarn reiste, hatte sich das Land gerade erst von der sowjetischen Herrschaft befreit. Das waren unruhige Zeiten, und es war gefährlich, allzu viele Fragen zu stellen, zumal in ländlichen Gebieten. Die letzte Nachricht hat er auf meinen Anrufbeantworter gesprochen. Er sagte, er gehe beunruhigenden Informationen zu zwölf Hexen und Hexern nach – sechs Frauen und sechs Männer –, die in einem Städtchen im Süden Ungarns verbrannt worden seien. Er machte einen besorgten und aufgeregten Eindruck. Dann kam nichts mehr. Niemand hat je wieder von ihm gehört. Die Polizei und Interpol haben ein Jahr lang nach ihm gesucht. Nach weiteren vier Jahren ohne neue Erkenntnisse wurde er für tot erklärt.«

»Dann muss er untergetaucht sein. Aber weshalb? Und noch wichtiger: Weshalb taucht er dann zehn Jahre später wieder auf? Weshalb gerade jetzt?«

Den Rücken seiner Nichte zugewandt, lächelte Vigor stolz. Rachel fand immer rasch zum Kern einer Sache.

»Die Antwort auf deine Frage geht aus dem Inhalt des Pakets hervor«, sagte er. »Schau’s dir an.«

Vigor holte tief Luft und klappte den Deckel des Kastens auf. Behutsam nahm er den ersten von zwei Gegenständen heraus und legte ihn in den Lichtstreifen, der auf den Schreibtisch fiel.

Rachel wich unwillkürlich einen Schritt zurück. »Ist das ein Totenschädel? Ein Menschenschädel

»Richtig.«

Sie hatte den ersten Schreck überwunden und trat wieder näher. Sie bemerkte die eingeritzte Inschrift auf der Schädeldecke und folgte der Spirale mit der Fingerspitze, ohne sie zu berühren.

»Und die Schrift?«, fragte sie.

»Aramäisch. Ich glaube, die Reliquie ist ein Beispiel der frühen talmudischen Magie, die von den babylonischen Juden praktiziert wurde.«

»Magie? Meinst du Hexerei?«

»Gewissermaßen. Ein solcher Zauber sollte gegen Dämonen helfen oder dafür sorgen, dass Wünsche in Erfüllung gehen. Im Lauf der Jahre haben Archäologen Tausende solche Artefakte ausgegraben – hauptsächlich Beschwörungsschalen, aber auch einige Totenschädel wie diesen hier. Im Berliner Museum werden zwei solche Objekte gezeigt. Andere befinden sich in Privatbesitz.«

»Und dieser Schädel hier? Du hast gesagt, Pater Tarasco habe sich für Hexen interessiert. Ich nehme an, sein Interesse galt auch Kultobjekten.«

»Möglich. Aber ich glaube nicht, dass dieses hier echt ist. Die talmudische Magie begann im dritten Jahrhundert und starb im siebten aus.« Vigor schwenkte die Hand, als wollte er eine Beschwörung aussprechen. »Dieses Objekt ist vermutlich nicht so alt. Allenfalls dreizehntes oder vierzehntes Jahrhundert. Um meine Vermutung zu bestätigen, habe ich einen Zahn zum Universitätslabor geschickt.«

Rachel nickte langsam und überlegte.

»Aber ich habe die Inschrift untersucht«, fuhr Vigor fort. »Ich kenne mich mit dieser alten Form des Aramäischen aus. Ich bin auf zahlreiche Fehler gestoßen – spiegelverkehrte diakritische Zeichen, falsche oder fehlende Akzente. Als hätte jemand, der die Sprache nicht verstand, eine plumpe Kopie der echten Inschrift angefertigt.«

»Dann ist der Schädel also eine Fälschung?«

»Eigentlich glaube ich nicht, dass hier böse Absicht dahintersteckt. Möglicherweise ging es weniger ums Fälschen, als ums Bewahren. Jemand hatte Angst, das Wissen könnte verloren gehen, deshalb hat er oder sie Kopien angefertigt, um etwas sehr Altes zu bewahren.«

»Welches Wissen?«

»Dazu komme ich gleich.«

Er griff in die Kiste hinein, nahm den zweiten Gegenstand heraus und legte ihn neben dem Totenschädel auf den Tisch. Es handelte sich um ein altes Buch, so breit wie seine ausgestreckte Hand und doppelt so dick. Es war in grobes Leder gebunden, die Seiten waren vernäht.

»Das ist ein Beispiel für anthropodermische Bibliopegie«, erklärte er.

Rachel verzog das Gesicht. »Und das bedeutet …?«

»Das Buch wurde in Menschenhaut gebunden und mit Sehnen des gleichen Ursprungs vernäht.«

Rachel wich abermals zurück, doch diesmal hielt sie auf Abstand. »Woher weißt du das?«

»Ich wusste es nicht. Aber ich habe eine Probe des Leders zu dem Labor geschickt, das den Schädel untersucht, um das Alter bestimmen und einen DNA-Test durchführen zu lassen.« Victor hob das makabere Buch hoch. »Aber ich bin mir sicher, dass ich richtigliege. Ich habe das Leder unter einem Seziermikroskop untersucht. Die Poren von Menschenhaut weisen eine andere Größe und Form auf als die von Schweine- oder Kalbsleder. Und wenn man genau hinsieht, fällt einem in der Mitte des Einbands etwas auf …«

Er fuhr mit dem Fingernagel über eine tiefe Falte im Leder.

»Mit der entsprechenden Vergrößerung kann man noch die Follikel der Augenwimpern erkennen.«

Rachel erbleichte. »Wimpern?«

»Auf dem Einband befindet sich ein menschliches Auge, das mit dünnen Sehnen zugenäht wurde.«

Seine Nichte schluckte. »Also, was ist das? Eine okkulte Schrift?«

»Das habe ich auch geglaubt, zumal in Anbetracht von Josips Interesse an den ungarischen Hexen. Aber das ist keine Schrift des Dämonismus. Wenngleich man sie in gewissen Kreisen als blasphemisch ansehen würde.«

Behutsam schlug er das Buch auf, darauf bedacht, die Bindung nicht zu stark zu beanspruchen. Zum Vorschein kam lateinische Schrift. »Das ist eine gnostische Schrift.«

Rachel legte den Kopf schief und übersetzte die einleitenden Worte. »Dies sind die geheimen Worte des lebendigen Jesu …« Sie blickte rasch Vigor an. »Das ist das Thomas-Evangelium.«

Er nickte. »Das Evangelium des Heiligen, der Christi Auferstehung angezweifelt hat.«

»Aber weshalb ist es in Menschenhaut eingebunden?«, fragte Rachel angewidert. »Weshalb sollte dein verschwundener Kollege dir so etwas Grauenhaftes schicken?«

»Als Warnung.«

»Warnung, wovor?«

Vigor wandte sich wieder dem Schädel zu. »Die Inschrift ist eine Bitte an Gott, er möge das Ende der Welt verhindern.«

»Das kann ich sicherlich unterstützen, aber …«

Er fiel seiner Nichte ins Wort. »Auf dem Schädel findet sich auch das Datum der drohenden Apokalypse, genau in der Mitte der Spiralschrift. Ich habe die Zahl aus dem alten jüdischen Kalender auf die moderne Zeitrechnung übertragen.« Er tippte ins Zentrum der Spirale. »Das ist der Grund, weshalb Pater Josip aus seinem Versteck gekommen ist und mir diese Gegenstände geschickt hat.«

Rachel wartete darauf, dass er fortfuhr.

Vigor blickte aus dem Fenster zu dem Kometen, der am Nachthimmel stand und so hell strahlte, dass er den Mond in den Schatten stellte. Angesichts dieses Vorzeichens erschauerte er. »Das Ende der Welt … findet in vier Tagen statt.«

TEIL 1

TRÜMMER UND FLAMMEN

1

17. November, 7:45 PST
Luftwaffenstützpunkt Los Angeles
El Segundo, Kalifornien

DIE PANIK HATTE bereits eingesetzt.

Auf der Besucherplattform über dem Kontrollraum registrierte Painter die plötzliche Anspannung. Die Gespräche der Techniker waren verstummt. Nervöse Blicke wanderten die Befehlskette nach oben und durchs Space and Missiles Systems Center. Nur die Topleute des Stützpunkts und einige Vertreter der Forschungsabteilungen des Verteidigungsministeriums waren zu dieser frühen Stunde anwesend.

Die darunter liegende Etage glich einer verkleinerten Version des NASA-Kontrollraums. Die in Reihen angeordneten Computerkonsolen und Arbeitsplätze für die Satellitensteuerung waren drei riesigen Flachbildschirmen zugewandt, die an der gegenüberliegenden Wand angebracht waren. Auf dem mittleren Display war eine Weltkarte dargestellt, leuchtende Linien kennzeichneten die Umlaufbahnen zweier militärischer Satelliten und die Flugbahn des Kometen.

Die Displays an den Seiten zeigten Livebilder der Satellitenkameras. Links drehte sich langsam die Erdwölbung vor dem Hintergrund des Alls. Den rechten Bildschirm füllte der leuchtende Kometenschweif aus, der die dahinter befindlichen Sterne verschleierte.

»Irgendwas stimmt da nicht«, murmelte Painter.

»Wie meinen Sie das?« Neben ihm stand sein Vorgesetzter.

General Gregory Metcalf war der Leiter der DARPA, der Forschungs- und Entwicklungsabteilung des Verteidigungsministeriums. Metcalf, in voller Uniform erschienen, war Mitte fünfzig, Afroamerikaner und West-Point-Absolvent.

Painter hingegen war mit einem schwarzen Sportsakko und Cowboystiefeln bekleidet. Die Stiefel waren ein Geschenk von Lisa, die gerade in New Mexico auf Forschungsreise war. Als Halbindianer hätte er solche Stiefel eigentlich ablehnen sollen, doch er mochte sie, zumal sie ihn an seine Verlobte erinnerten, die er seit einem Monat nicht mehr gesehen hatte.

»Irgendetwas hat den Stabsoffizier beunruhigt«, sagte Painter und zeigte auf einen Mann in der zweiten Konsolenreihe.

Der Einsatzleiter ging zu einem Kollegen hinüber.

Metcalf winkte ab. »Die kommen schon klar. Das ist ihr Job. Die wissen, was sie tun.«

Der General setzte seine Unterhaltung mit dem Befehlshaber des 50. Weltraumgeschwaders aus Colorado Springs fort.

Painter beobachtete mit wachsender Sorge die um sich greifende Unruhe. Man hatte ihn nicht nur deshalb zu der Code-Black-Mission eingeladen, weil er der Direktor von Sigma war, die der DARPA unterstand, sondern auch, weil er persönlich ein Teil entwickelt hatte, das in einen der beiden militärischen Satelliten eingebaut war.

Die beiden Satelliten – IoG-1 und IoG-2 – waren vor vier Monaten in den Weltraum gestartet. Die Abkürzung stand für Interpolation of the Geodetic Effect – Interpolation des geodätischen Effekts –, ein Begriff, der ursprünglich von einem Militärphysiker geprägt worden war, der das Projekt im Zuge seiner Gravitationsforschungen entwickelt hatte. Dabei hatte er die Absicht verfolgt, die Raum-Zeit-Krümmung um die Erde zu analysieren, um die Genauigkeit der Berechnung der Flugbahnen von Satelliten und Raketen zu erhöhen.

Das Unterfangen war bereits sehr ambitioniert gewesen, doch die zwei Jahre zurückliegende Entdeckung des Kometen durch zwei Amateurastronomen hatte die Zielsetzung des Projekts abermals verändert – zumal der Himmelskörper eine anomale Energiesignatur aufwies.

Painter blickte seinen Nachbarn zur Linken an, eine ranke und schlanke Forscherin vom Smithsonian Astrophysical Observatory.

Dr. Jada Shaw war erst dreiundzwanzig, hochgewachsen und durchtrainiert. Ihre Haut zeigte einen makellosen Mokkaton, das schwarze, kurz geschnittene Haar betonte den Schwung ihres Halses. Sie trug Jeans und einen weißen Laborkittel, die Arme hatte sie verschränkt und kaute nervös am Daumennagel.

Die junge Astrophysikerin war vor siebzehn Monaten von Harvard zu dem militärischen Code-Black-Abenteuer hinzugestoßen. Offenbar fühlte sie sich hier fehl am Platz, versuchte aber, es nach Kräften zu verbergen.

Das war bedauerlich. Eigentlich hatte sie keinen Grund, nervös zu sein. Ihre Arbeit hatte bereits internationale Anerkennung gefunden. Mittels Quantenberechnungen – die Painters intellektuelle Auffassungsgabe weit überstiegen – hatte sie eine ungewöhnliche Theorie zur Dunklen Energie entwickelt, der geheimnisvollen Kraft, die drei Viertel der Gesamtmasse des Universums ausmachte und verantwortlich war für die Beschleunigung der kosmischen Expansion.

Ihre Befähigung wurde auch dadurch unterstrichen, dass sie als einzige Physikerin die kleinen Anomalien bei der Annäherung des am Nachthimmel leuchtenden Objekts bemerkt hatte – des Kometen mit dem Namen IKON.

Vor anderthalb Jahren hatte Dr. Shaw den digitalen Feed der neuen Dunkle-Energie-Kamera angezapft. Die Kamera mit einer Auflösung von fünfhundertsiebzig Megapixeln war vom amerikanischen Fermilab konstruiert und in einem Bergobservatorium in Chile installiert worden. Damit überwachte Dr. Shaw den Flug des Kometen. Dabei war sie auf Anomalien gestoßen, von denen sie glaubte, sie deuteten darauf hin, dass der Komet in seinem Gefolge Dunkle Energie abgab oder sie störte.

Ihre Arbeit wurde alsbald der Geheimhaltung unterstellt. Eine neue Energiequelle wie diese barg ein enormes Potenzial – sowohl ökonomisch wie auch militärisch.

Fortan verfolgte das ultrageheime IoG-Projekt nur ein einziges Ziel: die Erforschung der potenziellen Dunklen Energie des Kometen. Der Plan sah vor, IoG-2 durch den leuchtenden Kometenschweif hindurchzusteuern, wo er versuchen sollte, die von Dr. Shaw entdeckte anomale Energie zu absorbieren und sie zu dem Zwillingssatelliten im Erdorbit zu übertragen.

Zum Glück brauchten die Ingenieure die älteren Missionssatelliten für diese Aufgabe nur leicht zu modifizieren. Sie waren bereits mit einer Quarzkugel ausgestattet, die sich drehte, sobald der Satellit den Orbit erreicht hatte, und einen gyroskopischen Effekt erzeugte, der es erlaubte, die Krümmung der Raumzeit um die Erde zu messen. Wenn das Experiment erfolgreich verlief, würde der von dem einen zum anderen Satelliten übermittelte Strahl Dunkler Energie eine kleine Störung in der Krümmung der Raumzeit hervorrufen.

Es war ein kühnes Experiment. Das Namenskürzel der Satelliten übersetzte man im Scherz mit Eye of God, Auge Gottes. Painter mochte den neuen Namen und stellte sich die rotierende Kugel vor, die darauf wartete, einen Blick in die Geheimnisse des Universums zu werfen.

Der leitende Techniker rief: »Der Satellit erreicht in zehn Sekunden den Schweif!«

Während der Countdown begann, fixierte Dr. Shaw unverwandt die Daten, die auf dem riesigen Bildschirm angezeigt wurden.

»Ich hoffe, Sie haben sich geirrt, Direktor Crowe«, sagte sie. »Als Sie meinten, hier würde etwas nicht stimmen. Jetzt ist kein guter Zeitpunkt für Fehler, denn wir sind im Begriff, eine Energie anzuzapfen, die auf die Geburt unseres Universums zurückgeht.«

Wie auch immer, dachte Painter. Jetzt gibt es kein Zurück mehr.

7:55

Im Verlauf von sechs quälend langsam verstreichenden Minuten drang IoG-2 immer tiefer in den Schweif aus ionisiertem Gas und Staub ein. Der rechte Bildschirm – der den Live-Feed der Satellitenkamera wiedergab – zeigte nur Rauschen. Der Satellit befand sich im Blindflug, und sie mussten sich ganz auf die Telemetriedaten verlassen.

Painter ließ die Atmosphäre auf sich wirken, die Anspannung im Raum und die historische Bedeutung des Augenblicks.

»Ich messe einen Energieausschlag bei IoG-2!«, rief der EECOM-Techniker an seinem Arbeitsplatz. Alle Blicke wandten sich der anderen Konsole zu, an welcher der Aerospace-Ingenieur IoG-1 überwachte. Bislang gab es offenbar noch keinen Hinweis darauf, dass die vom ersten Satelliten aufgefangene Energie an seinen Zwilling im Erdorbit übermittelt worden war. Plötzlich aber sprang der Techniker auf.

»Ich hab was!«, rief er.

Der SMC-Controller eilte an seine Seite.

Während alle auf eine Bestätigung warteten, deutete Dr. Shaw auf die Weltkarte, auf der die Telemetriedaten scrollten. »Bislang sieht es vielversprechend aus.«

Wenn Sie das sagen …

Für ihn waren die angezeigten Daten unverständlich. Und der Datenstrom beschleunigte sich noch weiter. Nach einer weiteren Minute begannen die Zahlen zu verschwimmen.

Der EECOM-Techniker wurde noch unruhiger. Warnhinweise und Fehlermeldungen blinkten auf seinen Monitoren, während er den Flug von IoG-2 durch den Kometenschweif verfolgte. »Sir, das Energieniveau sprengt die Erfassungsgrenze, alles ist im roten Bereich! Was soll ich tun?«

»Abschalten!«, befahl der Missionsleiter.

Ohne sich zu setzen, gab der EECOM-Techniker Befehle ein. »Abschalten nicht möglich, Sir! Satellitennavigation und Steuerung reagieren nicht mehr.«

Der rechte Bildschirm wurde auf einmal schwarz.

»Die Kameraübertragung ist unterbrochen«, fügte der Techniker hinzu.

Painter stellte sich vor, wie IoG-2 in den Weltraum hinausflog, ein kalter, dunkler Brocken Weltraumschrott.

»Sir!« Der IoG-2 zugeteilte Techniker winkte den Einsatzleiter zu sich. »Ich habe neue Messwerte reinbekommen. Das sollten Sie sich ansehen.«

Dr. Shaw trat ans Geländer der Besucherplattform. Painter stellte sich neben sie, und die meisten anderen Anwesenden taten es ihm nach.

»Der geodätische Effekt verändert sich«, erklärte der Techniker und zeigte auf den Monitor. »Zwei Prozent Abweichung.«

»Das ist unmöglich«, murmelte Dr. Shaw an Painters Seite. »Es sei denn, das Raum-Zeit-Gefüge ist instabil geworden.«

»Sehen Sie!«, fuhr der Techniker fort. »Das Drehmoment des Auges nimmt zu, weit stärker als es nach den Berechnungen zu erwarten wäre. Außerdem beschleunigt der Satellit.«

Dr. Shaw krallte die Hand ums Geländer, als wollte sie nach unten springen. »Ohne externe Energiequelle ist das nicht möglich.«

Painter merkte, dass sie gern von Dunkler Energie gesprochen hätte, doch offenbar schreckte sie vor voreiligen Schlüssen zurück.

Ein anderer Techniker – diesmal an der Konsole, die mit Steuerung beschriftet war – rief: »IoG-1 wird instabil!«

Painter wandte sich dem Display in der Mitte zu, auf dem die Weltkarte und die Flugbahnen der Satelliten dargestellt waren. Die Sinuskurve der Flugbahn von IoG-1 flachte merklich ab.

»Die gyroskopischen Kräfte innerhalb des Satelliten drücken ihn anscheinend aus dem Orbit«, erklärte Dr. Shaw ebenso panisch wie mit einer gewissen Begeisterung.

Auf dem linken Bildschirm wurde der Erdumriss allmählich größer, füllte den Monitor aus und verdeckte die dunkle Leere des Weltraums. Der Satellit stürzte aus dem Orbit in die Gravitationssenke zurück, aus der er hervorgekommen war.

Das Bild wurde verschwommen, als der Satellit in die obere Atmosphäre eindrang. Es traten Datenartefakte und Geisterschatten auf, die das Bild verdoppelten und verdreifachten.

Kontinente, Wolkenfetzen und blaue Wasserflächen rasten vorbei.

Dann wurde auch dieser Monitor schwarz.

Schweigen senkte sich auf den Raum herab.

Auf der Weltkarte spaltete sich die Flugbahn des Satelliten auf, da der Rechner die Bahnen der Trümmerteile extrapolierte, wobei er zahlreiche Variablen einbezog: atmosphärische Strömungen, Eintrittswinkel, Geschwindigkeit beim Auseinanderbrechen.

»Sieht so aus, als würden die Trümmer an der Ostgrenze der Mongolei auftreffen!«, sagte der Telemetrie-Spezialist. »Vielleicht auch in China.«

Der Befehlshaber des 50. Weltraumgeschwaders schimpfte verhalten. »Peking kriegt das mit, darauf können wir wetten.«

Painter konnte dem nur beipflichten. China würden die auf das Land zufliegenden glühenden Trümmerteile nicht entgehen.

General Metcalf sah Painter durchdringend an. Er kannte diesen Blick. Die Militärtechnologie des Satelliten war streng geheim. Sie durfte nicht in unbefugte Hände gelangen.

Einen Moment lang flackerte der linke Monitor, dann wurde er wieder dunkel – ein letztes Lebenszeichen des sterbenden Satelliten.

»Der Vogel ist tot!«, erklärte der Control Officer. »Er sendet keine Signale mehr. Jetzt stürzt er ab wie ein Stein.«

Der Strom der Telemetriedaten auf der Weltkarte verlangsamte sich – dann versiegte er ganz.

Dr. Shaw legte auf einmal eine Hand auf Painters Unterarm. »Sie sollen das letzte Bild noch mal zeigen«, sagte sie. »Von dem Zeitpunkt, bevor die Funksignale abgebrochen sind.«

Offenbar war ihr etwas Beunruhigendes aufgefallen.

Auch Metcalf hatte sie gehört.

Painter blickte seinen Boss an. »Na los. Machen Sie schon.«

Die Anweisung pflanzte sich über die Befehlskette fort. Ingenieure und Techniker taten ihr Bestes. Nach einigen langen Minuten des Redigitalisierens, Schärfens und Filterns wurde noch einmal das letzte Bild angezeigt.

Ein Raunen erfasste den Raum.

Metcalf neigte sich zu Painter hinüber. »Wenn auch nur ein Splitter des Satelliten den Absturz überstanden hat, muss er gefunden werden. Er darf nicht unseren Gegnern in die Hände fallen.«

Painter hatte dafür volles Verständnis. »Ich habe bereits Leute in der Region.«

Metcalf musterte ihn irritiert und fragte sich im Stillen, wie das möglich war.

Purer Zufall.

Er würde darauf aufbauen und unverzüglich ein Bergungsteam zusammenstellen. Einstweilen aber starrte er noch fassungslos auf den Bildschirm und konnte den Blick nicht abwenden.

Zu sehen war die Satellitensicht der Ostküste der Vereinigten Staaten. Das Bild war aufgenommen worden, während der Satellit eine Leuchtspur über den Himmel zog. Die Auflösung reichte aus, um die Großstädte an der Küste erkennen zu können.

Boston, New York City, Washington, D. C.

Alle Städte lagen in Trümmern.