Deutsche Erstausgabe
Als Ravensburger E-Book erschienen 2021
Die Print-Ausgabe erscheint in der Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg
© 2021 Ravensburger Verlag GmbH
Text © 2021 Lyla Payne
Umschlaggestaltung: unter Verwendung von Motiven von © Shutterstock (janniwet, emi13, Lukasz Szwaj und MrVander)
Übersetzung: Sabine Tandetzke
Lektorat: Tamara Reisinger, www.tamara-reisinger.de
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-473-47149-2
www.ravensburger.de
Für alle, die auf der Suche nach der wahren Liebe sind – meistens findet sie dich, wenn du es am allerwenigsten erwartest.
DER SOMMER DANACH
Die Sommersonne schien warm auf meine Schultern und der Sand unter meinen nackten Beinen fühlte sich nach diesem heißen, fast schon zu perfekten Nachmittag wohlig warm an. Aber es war der vom vielen Lesen schon ganz zerknitterte Zettel in meiner Hand, der mir erneut ein breites Lächeln entlockte.
Als ich vor neun Monaten nach Golden Isles gekommen war, hätte ich mir all das nicht mal im Traum vorstellen können.
So vieles hatte sich seitdem verändert. Nicht alles davon war positiv, aber letztendlich hatte sich alles zum Guten gewandt.
Bei dem Gedanken musste ich grinsen. Meine beste Freundin Jo würde vermutlich die Augen verdrehen, wenn ich behauptete, alles wäre so gekommen, wie es vorherbestimmt war. Aber das wäre natürlich totaler Quatsch.
Die Dinge hatten sich nicht zum Guten gewandt, weil das Schicksal es so gewollte hatte; das glaubte ich auch nicht.
Sie hatten sich zum Guten gewandt, weil ich dafür gesorgt hatte. Ich. Und niemand anders.
Und diese Erkenntnis war vielleicht das Beste, was mir hier auf dieser Insel passiert war.
Der Zettel mit der Nachricht war schon ganz weich und verknittert, auch wenn ich mir noch so viel Mühe gegeben hatte, ihn auf meinem Bein glatt zu streichen. Wahrscheinlich lag es daran, dass ich ihn schon so oft gelesen hatte.
Die Worte ließen mein Herz immer noch höher schlagen. Ich konnte es kaum glauben, dass ich hier tatsächlich die Liebe gefunden hatte.
Und jeden Morgen, wenn ich beim Aufwachen an ihn dachte, war ich überrascht, wie sehr ich ihn liebte.
Unser erstes richtiges Date an diesem Strand liegt jetzt vier Monate zurück. Wir sollten es nachholen. Heute um 16 Uhr. Du weißt, wo du mich findest - und keine Sorge, ich habe eine saubere Decke mitgebracht.
Und ein Vorhängeschloss. ;)
Xxx
O ja, ich wusste, wo ich ihn finden würde, und nach einem Blick auf die Uhr konnte mich nichts mehr halten. Meine Füße führten mich automatisch dorthin.
Denn auch nach all diesen Monaten fühlte ich mich nirgendwo wohler als in seinen Armen.
Nicht mal am Strand.
MAY
In meinem Leben gab es so viele Dinge, die ich ignorieren musste – das Knurren meines Magens, die Sprachnachricht auf meinem Handy und das Telefongespräch, das mir unwiderruflich bevorstand, sobald ich sie abgehört hatte –, dass ich gar nicht wusste, wo ich anfangen sollte.
Das Haus fühlte sich viel zu groß an, auch wenn ich darin, als Grammy noch lebte, manchmal das Gefühl hatte, keine Luft zu bekommen. Sie war keine große Frau gewesen, aber ihre Persönlichkeit nahm eine Menge Raum ein – Raum, den ich sonst immer für mich gehabt hatte, weil meine Mutter mir mehr davon ließ, als ich jemals gewollt hatte. Außerdem hatte sie erwartet, dass ich mich ihrem Leben anpasste und nicht umgekehrt.
Doch jetzt, ohne die Frau, die mir die Tür geöffnet hatte, als ich auf ihrer Veranda aufgetaucht war, anstatt sie mir vor der Nase zuzuschlagen, kam mir das Haus riesig und kalt vor.
Rastlos lief ich in die Küche, wo ich versuchte, mich abzulenken, indem ich erst die Kühlschranktür auf- und zumachte und das Ganze gleich darauf mit sämtlichen Schranktüren wiederholte. Einige Dosen mit Bohnen und anderem Gemüse, ein paar Fertigsuppen. Ungelogen ein Jahresvorrat an Mayonnaise. Sonst nicht viel.
Aber das war nichts Neues.
Auch im Kühlschrank befanden sich nur ein halber Liter Milch, eine Dose Cola und zwei Äpfel, die ich nächste Woche als Mittagessen mit in die Schule nehmen wollte.
Ich griff nach meinem Handy, ignorierte weiterhin die Sprachnachricht und öffnete stattdessen meine Banking-App. Das würde mich auch nicht glücklicher machen als die Nachricht von dieser Bulldogge vom Jugendamt, die es ja ach so gut mit mir meinte, aber es würde mir zumindest die Illusion verschaffen, irgendetwas unter Kontrolle zu haben.
Mit einer Mischung aus Ungeduld und Furcht wartete ich darauf, dass die Seite lud. Als mein Kontostand auf dem Bildschirm erschien, stieß ich erleichtert die Luft aus – 1257 Dollar.
Noch vor einem Jahr hätte ich gedacht, ich hätte den Jackpot geknackt, aber nach den zwei Monaten, die ich jetzt alleine lebte, wusste ich ganz genau, wie schnell dieses Geld verschwinden würde.
Zwölfhundert Dollar und das Schulgeld für zwei Jahre an der Golden Isles Academy waren alles, was meine Großmutter mir hinterlassen hatte, als sie kurz nach Weihnachten an einem Schlaganfall gestorben war – dem ersten und einzigen gesundheitlichen Problem, das sie in achtzig Jahren jemals gehabt hatte. Und ihr Haus, was natürlich auch keine Kleinigkeit war.
Okay, das Haus war für Golden Isles vergleichsweise klein, aber Grammy hatte diesen zeitlosen Geschmack, der nie außer Mode kam, und das Geschenk, ein Dach über dem Kopf zu haben, war nicht zu unterschätzen – nicht, als sie mich hier hatte wohnen lassen, nachdem ich von zu Hause weggelaufen war, und erst recht nicht jetzt, nach ihrem unerwarteten Tod. Indem sie mir das Haus hinterlassen hatte, bot sie mir auf lange Sicht ein Heim – und das, obwohl wir viel zu wenig Zeit gehabt hatten, uns richtig kennenzulernen.
Trotzdem musste ich mich von irgendetwas ernähren, den Strom bezahlen, Benzin in meinen Tank füllen und warm duschen … Das Geld würde in ein paar Monaten aufgebraucht sein. Und das war noch großzügig geschätzt.
Ich brauchte also dringend einen Job.
Als ich mein Handy ausschalten wollte, fiel mein Blick erneut auf das Icon der Sprachnachricht. Eigentlich gab es keinen Grund, sie mir anzuhören. Ich konnte mir ziemlich genau vorstellen, was diese neugierige Frau vom Jugendamt von mir wollte –, aber es machte mich wahnsinnig, wenn eine nicht abgehörte Nachricht auf meinem Display angezeigt wurde.
Ich versuchte, sie weiterhin zu ignorieren. Es juckte mir in den Fingern, etwas zu programmieren, in einer Sprache zu schreiben, die überall auf der Welt verstanden wurde, und wo man mit einer bestimmten Abfolge von Befehlen das Chaos in Schach und ganze Universen im Gleichgewicht halten konnte. Aber diese kleine rote Zahl auf meinem Display würde dadurch auch nicht verschwinden. Ich verstand nicht, wie man es schaffte, sie einfach zu ignorieren und ins Unendliche steigen zu lassen. Solche Leute waren für mich Psychos.
Und da das Letzte, was ich im Moment gebrauchen konnte, war, dass mich jemand auch noch für gestört hielt, drückte ich auf »Abhören«, holte tief Luft, schloss die Augen und presste mir das Handy ans Ohr.
»Hallo, Miss May Russell, hier noch mal Caroline Dawson. Es ist nun bereits acht Wochen her, seit Ihre Großmutter verstorben ist, und ich brauche von Ihnen jetzt wirklich eine Entscheidung in Bezug auf Ihre vorzeitige Mündigkeit. Sollten Sie die nötigen Unterlagen nicht im Laufe des nächsten Monats einreichen, werden zwangsläufig staatliche Stellen eingeschaltet. Also melden Sie sich bitte auf meinen Anruf und informieren Sie mich über den Stand der Dinge. Bitte denken Sie auch daran, dass Sie nachweisen müssen, dass Sie finanziell für sich selbst sorgen können, und dass ich Empfehlungsschreiben von geeigneten Erwachsenen brauche. Jemand von Ihrer Schulleitung wäre ideal. Ich melde mich Montag noch mal. Einen schönen Tag noch, Liebes.«
Ihr »Liebes« ärgerte mich maßlos. Auch wenn ich nie woanders als in South Carolina gelebt hatte, konnte ich es nicht ausstehen, dass einige ältere Frauen alle jungen Leute behandelten, als wären sie ihre eigenen Kinder. Aber vielleicht reagierte ich auch nur instinktiv mit Misstrauen, wenn jemand versuchte, mich zu bemuttern. Vor allem, weil meine eigene Mutter ihren Job nicht besonders gut gemacht hatte.
Resigniert löschte ich die Nachricht. Mir blieb nichts anderes übrig, als Mrs. Dawson zurückzurufen – wenn nicht heute, dann Montag auf dem Weg zur Schule. Mir war klar, dass sie bis jetzt ziemlich nachsichtig mit mir gewesen war. Denn nachdem aus mir eine allein lebende Minderjährige geworden war, hätte ich entweder zu meiner Mutter zurückkehren, mich in die Obhut der staatlichen Jugendhilfe begeben oder direkt nach Grammys Tod einen Antrag auf vorzeitige Mündigkeit stellen müssen.
Es war wirklich dumm von mir, dass ich so viel Zeit hatte verstreichen lassen, ohne einen einzigen Punkt auf der Liste der Dinge in Angriff zu nehmen, die ich brauchte, um diesen Antrag zu stellen. Denn das war definitiv die einzige Option für mich.
»Okay, May«, sagte ich laut zu mir selbst. »Es wäre besser, wenn du ihr diesmal auch etwas liefern könntest.«
Einen Job zu finden, wäre da schon mal ein guter Anfang. Das hätte ich bereits in den Tagen nach Großmutters Beerdigung tun sollen, aber ich hatte mich einfach treiben lassen und so getan, als würde sie vielleicht doch zurückkommen – auch wenn ich wusste, dass das nicht geschehen würde.
Es würde keine gemeinsamen Sonntagsessen am gedeckten Tisch mehr geben; es würde auch niemanden mehr geben, der mich an ihren Bridge-Abenden aus dem Haus scheuchte, niemanden, der mich aufforderte, mir selbst etwas zu essen für die Schule zu machen, weil sie keine Lust hatte, noch einmal jemanden zu bemuttern. Mit diesem Teil ihres Lebens hatte sie abgeschlossen.
Grammy war gestorben, und mit ihr wahrscheinlich auch meine einzige Chance, in diesem Leben noch eine funktionierende Beziehung zu einem Familienmitglied aufzubauen. Denn meine Mutter schied da auf jeden Fall aus.
Und die beiden waren meine einzigen Verwandten. Zumindest soweit ich wusste.
Es war auch nicht so, als hätte ich vorher noch nie gejobbt. Ich hatte schon gearbeitet, bevor es überhaupt erlaubt war. Für mich war es nichts Neues, dass ich selbst dafür sorgen musste, etwas in den Magen zu bekommen.
Aber als ich aus der tiefsten Provinz nach Golden Isles gezogen war, hatte Grammy darauf bestanden, dass ich mich hier endlich mal meinem Alter entsprechend verhielt – und nicht wie eine Erwachsene. Ich sollte mich auf die Schule konzentrieren und – wenn ich Lust darauf hatte – Sport machen oder einem Club beitreten, aber sonst nichts.
Es machte mir Spaß, die neue Website der Academy zu programmieren, und ich tat nichts lieber, als sie zu pflegen und Verbesserungen einzuführen, um die mich niemand gebeten hatte, die Mrs. Reynolds, unsere Journalistiklehrerin, jedoch regelmäßig zu Begeisterungsstürmen hinrissen.
Aber jetzt war alles anders. Wieder mal.
Das musste ich mir nicht zum ersten Mal in Erinnerung rufen. Und wenn ich für einen Job das Website-Projekt aufgeben musste, dann würde ich das tun. Ich würde dann eben weiter mein Onlinespiel programmieren, an dem ich arbeitete, seit ich vierzehn war, wann immer ich es irgendwie reinquetschen konnte, und mir einen richtigen Job suchen.
Ja, das würde ich tun.
Ich straffte die Schultern, schnappte mir meine Tasche und die Autoschlüssel und stürmte aus der Tür.
Ich beschloss, als Erstes ins Burrow’s zu fahren und dort wegen meiner Bewerbung nachzuhaken. Das Café lag in der Nähe der Golden Isles Academy, und Josephine, meine einzige Freundin in der Schule, arbeitete dort als Barista. Sie hatte mir zwar gesagt, dass sie gerade niemand einstellten, aber ich hatte trotzdem ein Bewerbungsformular ausgefüllt. Einen Versuch war es immerhin wert.
Und selbst wenn es mit dem Job nicht klappte, konnte ich die schlechte Nachricht wenigstens mit einem Kaffee und vielleicht einer Schale heißer Suppe ausgleichen.
Als ich das Burrow’s betrat, wurde ich von einer warmen und behaglichen Atmosphäre begrüßt. Sofort drang mir der bekannte Geruch in die Nase: eine Mischung aus Kaffeearoma und dem süßem Duft von Sirup und Gebäck, das genauso gut schmeckte wie das meiner Grammy.
Ein Glück, dass sie mich gerade nicht hören konnte …
Ich war immer wieder überrascht, wie kuschelig es hier war. Das Hereinkommen fühlte sich jedes Mal an wie eine Umarmung.
Mit seinem modernen Farmhousestil, den lackierten Holzpaneelen und Bodendielen, der gedimmten Beleuchtung und den Sofas und Stühlen mit klaren, schmörkellosen Formen wirkte das Café gemütlich und einladend. Es unterschied sich mit seiner Einrichtung zwar kaum von den anderen Läden in Golden Isles, aber irgendwie hatte das Burrow’s etwas besonders Heimeliges. So als könnte man sich hier einen ganzen Tag lang mit einem Buch in die Ecken und Winkel zurückziehen, und als müssten alle ihre Überheblichkeit vor der Eingangstür ablegen.
In Golden Isles gab es nämlich zwei verschiedene Gruppen von Leuten – diejenigen, die von den Siedlern abstammten, die die Stadt gegen Ende des 16. Jahrhunderts gegründet hatten, und alle anderen.
Die Alle-anderen waren überwiegend diejenigen, die die alltägliche Arbeit auf der Insel erledigten. Sie führten Restaurants, reinigten die Kleidung der reichen Leute oder putzten die riesigen Häuser, die über den dunklen, unendlichen Fluten des Atlantiks thronten.
Automatisch sah ich mich nach Jo um, doch sie war nicht hinter der Theke, und sie hatte es sich auch nicht mit einem zerlesenen Liebesroman in einer Nische gemütlich gemacht. Doch dann fiel mir wieder ein, dass heute Freitag war und sie wahrscheinlich ihren Vater zu einem seiner Kurse ins Krankenhaus auf dem Festland brachte.
Eine Frau, nicht viel älter als ich, lächelte mich freundlich an, als ich sie nach meiner Bewerbung fragte.
»Ich bin Twyla, Süße, und das hier ist mein Laden. Ich bin sicher, du würdest hier super reinpassen, aber im Moment kann ich dir leider keine Stelle anbieten. Randy und Dee machen beide im Mai ihren Abschluss, das heißt, dass sie zum Ende des Sommers wahrscheinlich wegziehen. Wie wär’s, wenn du dich dann noch mal bei mir meldest?«
»Klar, kein Problem«, antwortete ich und hoffte, dass ich nicht so verzweifelt aussah, wie ich mich fühlte. »Dann nehme ich einfach nur einen schwarzen Kaffee und eine Schale Tomatensuppe.«
»Geht klar.«
Ich schlüpfte in eine der Nischen, spielte mit meinem Handy herum und wünschte, ich hätte meinen Laptop oder meine Chemiehausaufgaben mitgebracht – irgendwas, womit ich mich beschäftigen konnte. Und wodurch ich nicht ganz so jämmerlich und einsam wirkte, auch wenn genau das der Fall war. In Clover hatte ich nicht gerade zu den beliebtesten Mädchen gehört, und dadurch, dass ich nicht wie alle anderen hier aus einer reichen Familie stammte und in Golden Isles eine ziemlich ausgeprägte Kleinstadt-Mentalität herrschte, hatte ich mir nie irgendwelche Illusionen gemacht, dass sich das nach meiner Ankunft ändern würde.
Nichtsdestotrotz war ein Teil von mir nach wie vor davon überzeugt, dass nur Loser und alte Leute alleine im Café saßen und nichts besseres zu tun hatten, als die anderen Gäste zu belauschen.
Twyla brachte mir meine Bestellung an den Tisch, und bevor ich ihr sagen konnte, dass sie etwas falsch verstanden haben musste, hob sie die Hand.
»Du bist Josephines Freundin, richtig? Ich weiß, dass sie dir normalerweise einen Caramel Macchiato macht. Und in meinem Café lassen wir die Leute keine Tomatensuppe essen, ohne ihnen dazu ein gegrilltes Käsesandwich zum Eintunken zu servieren. Geht aufs Haus, Süße.«
Mein Lächeln geriet etwas ins Wanken, aber hielt sich dann doch. »Danke.«
Anstelle der günstigeren Schale, die ich bestellt hatte, hatte sie mir einen großen Teller Suppe gebracht, und das Sandwich war riesig, mit drei Sorten geschmolzenem Käse auf dickem, knusprigem Sauerteigbrot. Doch wegen dem Kloß in meiner Kehle hatte ich Schwierigkeiten, die ersten Bissen hinunterzuschlucken.
Seit Weihnachten hatte niemand mehr darauf geachtet, ob ich auch genug zu essen bekam, geschweige denn für mich gekocht.
Beim Gedanken an meine Großmutter riss ich mich zusammen und verkniff mir das Selbstmitleid – das Sandwich war viel zu gut, um es zu vergeuden, und wenn Grammy sehen könnte, dass ich wegen Käse und Tomatensuppe heulte, würde sie mich böse anfunkeln.
Davon abgesehen – wenn es irgendetwas gab, das noch peinlicher war, als alleine zu essen, dann, dabei auch noch zu flennen.
Das Essen war warm und hatte etwas Tröstliches an sich, wie die meisten Gerichte der Südstaatenküche, wenn sie richtig zubereitet waren. Als ich mich mit vollem Mund umsah, entdeckte ich mehrere Leute aus der Schule. Riley Hayes saß über ein Physikbuch gebeugt neben einem Jungen, den ich nicht kannte, während ihre beste Freundin und Alpha-Queen Ivy Summers auf der gegenüberliegenden Seite der Nische durch ihr Handy scrollte und sich dabei eine Strähne ihrer schimmernden blonden Haare um den Finger wickelte.
An einem anderen Tisch saßen ein paar Jungs aus dem Basketballteam, die an ihren Smoothies nuckelten und sich dabei in voller Lautstärke abwechselnd über ihr nächstes Spiel, Mädchen und die Colleges, an denen sie sich beworben hatten, unterhielten.
Ein paar auffällig stille Kids, die auf die Public School gingen, hatten sich an einen kleinen Tisch in der Nähe der Tür gezwängt und starrten höchstkonzentriert auf ihre Laptops.
»Hey, es tut mir echt leid, dass du extra kommen und mich abholen musstest. Ich habe Mrs. Frank gesagt, dass ich auch nach Hause laufen kann.« Die wütende Stimme eines jungen Mädchens am Nebentisch erregte meine Aufmerksamkeit.
»Du bist elf, Soph. Niemand würde dich alleine nach Hause gehen lassen, nachdem du in der Schule Ärger gehabt hast. Vor allem nicht, wenn dich dort niemand in Empfang nehmen kann.« Es folgte eine kurze Pause, dann ein Seufzen. »Weißt du, Soph, du kannst dich nicht weiter so aufführen.«
Die Stimme kam mir irgendwie bekannt vor. Als ich einen kurzen Blick riskierte, stellte ich erstaunt fest, dass es Felix James war, der dem Mädchen wegen seines Verhaltens Vorwürfe machte.
Ausgerechnet Felix James.
Bei allem, was ich über ihn gehört hatte – was, wie ich zugeben musste, zu neunzig Prozent auf Gerüchten beruhte –, war das echt ein Witz. Er war der Letzte, der jemand anders wegen unangemessenen Verhaltens Vorwürfe machen sollte.
»Sorry, großer Bruder, aber du hast es gerade nötig, mich runterzumachen.«
Es gelang mir nur mit Mühe, ein Prusten zu unterdrücken, als die Kleine meine Gedanken genauso rotzig aussprach, wie ich es auch getan hätte.
»Was?« Felix lachte ungläubig auf.
»Du hast mich schon verstanden. Meinst du, nur weil ich noch ein Kind bin, kriege ich nichts von deinen ganzen Freundinnen mit? Oder von all den Abenden, an denen Noah dich abholen muss, weil du nicht mehr fahren kannst?« Das Mädchen – Soph – saugte durch den Strohhalm lautstark an ihrem leeren Getränk, was ihr genervte Blicke der anderen Gäste einbrachte. »Ich bin elf, nicht blöd. Und außerdem haben wir in der Schule schon über Alkohol und andere Drogen gesprochen.«
Diesmal entschlüpfte mir ungewollt ein Kichern, aber die beiden waren so mit ihrer Auseinandersetzung beschäftigt, dass sie es nicht bemerkten. Es war vielleicht falsch, andere zu belauschen, aber wir waren hier schließlich in South Carolina. Man hätte es an den Schulen glatt als eigene Sportart einführen können, aber dann wäre es nahezu unmöglich gewesen, ins Auswahlteam zu kommen, weil es dafür viel zu viele Anwärter gab.
»Okay, na gut. Ich bin auch nicht perfekt, aber du kannst nicht einfach jemanden schlagen, Soph. Jetzt hör mir doch erst mal zu«, fuhr er hastig fort, als sie den Mund öffnete, um etwas zu erwidern. »Niemand versteht dich besser als ich.«
Die beiden starrten sich ein paar Sekunden lang schweigend an. Um nicht beim Lauschen ertappt zu werden, tat ich so, als würde ich etwas auf meinem Handy lesen. Aus dem Augenwinkel beobachte ich sie jedoch weiterhin, fasziniert von ihrem Schlagabtausch.
Nach einer gefühlten Ewigkeit unterbrach das Mädchen den Blickkontakt und stand auf. »Ich muss mal aufs Klo.«
Felix sagte nichts darauf. Aber nachdem sie sich genervt in Richtung Toilette verzogen hatte, sank er mit einem tiefen Seufzer auf seinem Sitz zusammen. Seine Hände waren so groß, dass er mit einer von ihnen problemlos den Kaffeebecher umfassen konnte, in den er gerade so konzentriert starrte, als würde er dort alle Antworten in Bezug auf den Umgang mit elfjährigen Mädchen finden.
Was ich ernsthaft bezweifelte. Meine eigene Mutter hatte zu diesem Zweck Schnaps bevorzugt, aber auch die »normalen« Mütter meiner Freundinnen schienen ihre Töchter nicht besser zu verstehen, egal wie viel Kaffee sie tranken.
Und sie tranken eine Menge.
Wieder entschlüpfte mir ein Kichern. Er sah so fertig aus, und die ganze Situation war so untypisch für das, was ich von ihm gehört hatte, dass ich es einfach nicht unterdrücken konnte.
Felix’ Kopf ruckte hoch. Als sich unsere Blicke trafen, konnte ich nicht mehr so tun, als hätte ich über irgendetwas auf meinem Handy gelacht. Meine Wangen liefen knallrot an, und nicht zum ersten Mal in meinem Leben verfluchte ich meine helle Haut und meine Sommersprossen.
»Was ist so komisch?«
Bei seinem angriffslustigen Ton verflüchtigte sich meine Verlegenheit darüber, dass ich die beiden belauscht hatte, schneller als Benzin in der Sommerhitze. Seit Grammy mich so plötzlich verlassen hatte, steckte ich voller Wut, von der ich nicht wusste, wie ich sie loswerden sollte; wenn er Streit suchte, hatte er sich also definitiv die Falsche ausgesucht.
Ich zuckte mit den Schultern. »Ausgerechnet du machst jemand anderem Vorwürfe wegen seines Verhaltens? Das ist echt … lustig.«
»Kenne ich dich?«
»Das bezweifle ich.« An der Golden Isles Academy war ich zwar nicht gerade unsichtbar, aber Leute wie Felix James und seine Clique hatten von meinem Einstieg zu Beginn des Schuljahrs nicht die geringste Notiz genommen.
»Dann tu nicht so, als würdest du mich kennen«, blaffte er mich an und drehte sich demonstrativ in die andere Richtung.
»Okay«, sagte ich leise und meinte es auch so.
Vielleicht war es wirklich nicht fair, ihn aufgrund von Gerüchten zu verurteilen – auch wenn ich die Geschichten über ihn von praktisch jedem gehört hatte, Grammy eingeschlossen.
Mich steckten die Leute aufgrund meiner Mutter und meiner Vergangenheit auch in eine bestimmte Schublade. Jedenfalls hatten das viele getan. Und taten es immer noch. Das war auch nicht wirklich fair, aber ich hatte gar nicht erst versucht, mich dagegen zu wehren.
In Felix’ Stimme lag ein Unterton, den ich instinktiv erkannte. Er klang nicht wütend oder abwehrend, sondern eher so, als würde er sich mühsam zusammenreißen, obwohl er am liebsten alles hingeschmissen hätte.
Ich schüttelte den Gedanken ab und schaute auf mein Handy, um zu sehen, wie spät es war. Genug Zeit, um wegen meiner Bewerbungen im Supermarkt und beim Mexikaner vorbeizuschauen, bevor ich mich um die Internetübertragung des Basketballspiels kümmern musste.
Nachdem ich meine Sachen zusammengesammelt und das Geschirr zurückgebracht hatte, blieb ich neben Felix’ Tisch stehen, obwohl mein Bauchgefühl mir deutlich signalisierte, ihn lieber in Ruhe zu lassen.
»Ähm, deine Schwester ist jetzt schon ziemlich lange auf dem Klo.« Ich biss mir auf die Unterlippe, als sein Kopf hochruckte und er mich wieder kampflustig ansah, aber ich ließ mich nicht einschüchtern.
»Du hast recht, …« Die Pause sollte wohl für meinen Namen stehen.
Ich hasste es, dass er ihn nicht kannte, aber noch mehr hasste ich mich selbst dafür, dass ich erwartet hatte, er würde ihn kennen. »May.«
»May.« Wieder stieß er einen tiefen Seufzer aus. »Könntest du mal nach ihr sehen?«
»Ich?«
Seine vollen Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. Auch wenn es nicht mir persönlich galt, und auch wenn es kein bisschen sexy war, setzte mein Herz einen Schlag aus. Er legte es in diesem Moment nicht darauf an, aber dieses Lächeln, die dichten kastanienbraunen Haare, sein ausgeprägtes Kinn, auf dem sich der Hauch eines Bartschattens abzeichnete, und dieser durchdringende Blick aus seinen seltsamen bernsteinfarbenen Augen … Eine plötzliche Wärme breitete sich in meiner Brust aus und schoss von dort bis in meine Zehenspitzen.
Und in diesem Moment hatte ich keinen Zweifel mehr daran, dass alles, was ich über ihn gehört hatte, der Wahrheit entsprach. O Mann, dieser Typ war echt nicht ohne.
»Du bist ein Mädchen …«
Ich zog überrascht eine Augenbraue hoch. »Ähm, schön, dass es dir aufgefallen ist.«
»Ich bin ein Junge.« Er hob die Hände. »Was dir nicht entgangen sein dürfte, da du offenbar ziemlich aufmerksam bist. Und da es sich bei meiner Schwester ebenfalls um ein weibliches Wesen handelt, ist es wahrscheinlich besser, wenn ich nicht einfach mal so ins Damenklo reinplatze.«
Zu meinem Erstaunen beschloss ich, ihm den Gefallen zu tun. Und das, obwohl ich bis eben weder mit ihm noch mit seiner Schwester ein Wort gewechselt hatte. Davon abgesehen hatte ich auch keinerlei Erfahrung darin, mich mit Mädchen in ihrem Alter zu unterhalten.
Als ich kurz darauf die Toilette betrat, war Sophie schon halb aus dem Fenster gekrabbelt. Ich unterdrückte ein Seufzen. Es gab wohl keine bessere Gelegenheit, es zu lernen.
»Äh … brauchst du Hilfe?«
Es gab nur dieses eine Fenster. Es war gar nicht mal so klein, öffnete sich aber schräg nach außen, sodass das Mädchen sich auf dem Bauch hindurchschieben musste, um hinauszukommen. Da sie klein und zierlich war, würde sie es wahrscheinlich sogar schaffen, aber es würde nicht einfach werden.
Ein paar rote Streifen auf ihrem Bauch waren der Beweis dafür und zeigten auch deutlich, dass sie nicht aufgeben würde.
Niemand wusste besser als ich, dass man für seine Freiheit meist kämpfen musste.
»Hau ab«, kam ihre gedämpfte Antwort.
»Also, das hier geht mich ja eigentlich nichts an …«
»Stimmt. Und jetzt zisch ab.«
»Aber dein Bruder hat mich gebeten, nach dir zu sehen. Das heißt, dass er sich wenigstens ein bisschen Sorgen um dich macht. Falls dich das überhaupt interessiert.«
Sie beantwortete meine unausgesprochene Frage, indem sie sich ein Stückchen weiter durchs Fenster wand. Jetzt musste sie nur noch ihre Hüften freibekommen, und dann wäre sie draußen.
Etwas an ihrer Entschlossenheit, dem unangenehmen Gespräch mit ihrem Bruder zu entkommen, und ihrem Bedürfnis frei zu sein, auch wenn sie wusste, dass es nur für eine begrenzte Zeit war, weckte mein Mitgefühl, das ich nach Grammys Tod tief in mir verschlossen hatte.
»Sophie …« Ich benutzte die einzige Waffe, die ich hatte – ihren Namen.
»Dem ist doch bloß wichtig, was andere über ihn denken.« Sie machte eine kurze Pause. »Was kümmert’s dich?«
»Ich kenne mich ein bisschen mit beschissenen Familien aus«, vertraute ich ihr an.
»Wetten nicht?«
»Was hältst du davon, wenn du wieder reinkommst, und ich erzähle dir davon? Wenn du danach immer noch abhauen willst, schiebe ich dich raus. Abgemacht?«
Sie antwortete nicht, aber nach einer Weile schlängelte sie sich zurück in die Toilette. Da konnte ich sie zum ersten Mal richtig sehen. Ihre Haare waren blond, heller als die kastanienbraunen Locken von Felix und seinem Zwillingsbruder Noah, aber alle drei hatten diese faszinierenden bernsteinfarbenen Augen.
»Ich bin May Russell«, sagte ich und hielt ihr die Hand hin.
Das Mädchen strich sich den dichten Pony aus den Augen und musterte mich dann ein paar Sekunden lang eingehend. Ich nutzte die Gelegenheit und erfasste im Gegenzug ihre schmale Gestalt, die teure Jeans und den stylishen Pullover.
Sie war elf, und ihre Klamotten hatten wahrscheinlich mehr gekostet als alles, was ich jemals besessen hatte. Zum Glück war sie noch ein Kind, sonst hätte ich mich womöglich dazu hinreißen lassen, sie zu hassen.
»Sophie James«, sagte sie schließlich und schüttelte mir die Hand. »Also, was ist so beschissen an deiner Familie?«
Sie sagte beschissen mit einem herausfordernden Glitzern in den Augen, als wäre es eine Art Test. Ich tadelte sie nicht dafür. Schließlich war sie nicht meine kleine Schwester, und selbst wenn – so ein harmloses Schimpfwort wäre unser kleinstes Problem gewesen.
»Mein Vater ist abgehauen, als ich noch ein Baby war. Meine Mutter hat sich ständig zugedröhnt. Wir haben in einem Wohnwagen gelebt und hatten manchmal nicht genug zu essen, aber dafür gab es immer mehr als genug Ungeziefer.« Manchmal auch größere, männliche Exemplare. »Die meiste Zeit hatten wir weder Heizung noch fließendes Wasser, sodass es für mich schwierig war, mit sauberen Klamotten zur Schule zu gehen. Meine Mutter hat sich um diese Dinge nie besonders gekümmert.«
Bei dem Wort »zugedröhnt« schossen Sophies Augenbrauen in die Höhe, und bei jedem Geständnis wurden ihre Augen größer. Garantiert kannte sie niemanden mit solch einem Leben, und dabei hatte ich die endlose Reihe an Typen noch gar nicht erwähnt, die im Laufe der Jahre das Bett meiner Mutter gewärmt hatten. Leute wie meine Mutter wurden in einer Gemeinschaft wie Golden Isles nicht toleriert.
»Meine Eltern sind tot«, entgegnete sie nach ein paar Sekunden des Schweigens. Ihre Worte waren leise und schlicht, doch sie füllten den kleinen Waschraum aus und pressten sämtliche Luft in die Ecken, bis man kaum noch atmen konnte.
Ich hatte gehört, dass ihre Eltern letzten Sommer bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen waren. Es war passiert, bevor ich hierhergezogen war, aber es war kein Geheimnis – eigentlich eher das Gegenteil. Doch es zu wissen und es von einem elfjährigen Mädchen zu hören, das offensichtlich todunglücklich war und verzweifelt versuchte, sich zusammenzureißen, waren zwei verschiedene Dinge.
»Ich weiß«, sagte ich zu ihr. »Und das ist doppelt beschissen.«
Ein schwaches Lächeln huschte über ihr Gesicht.
»Aber du und dein Bruder … ihr habt einander. Ich wünschte, ich hätte Geschwister.«
Sophie schnaubte. »Wenn du meinen Bruder hättest, würdest du das nicht sagen.
»Vielleicht. Aber Felix kam mir da draußen eben ein bisschen überfordert vor. Warum gibst du ihm nicht noch eine Chance? Nur dieses eine Mal.« Ich zog eine Braue hoch. »Vielleicht bist du ja irgendwann mal darauf angewiesen, dass er sich revanchiert.«
Sie sah mich abwägend an. Überlegte.
Dann stieß sie einen Seufzer aus, ebenso tief – wenn nicht tiefer – wie die von Felix im Café. »Okay. Aber nicht, weil mir danach ist, nett zu sein, sondern weil mich innerhalb der nächsten Stunde sowieso jemand nach Hause schleifen würde.«
»Ein ausgezeichnetes Argument.«
»Sag ihm, ich warte am Auto.« Damit stolzierte sie hinaus, während ich zurückblieb und mich verwundert fragte, wie es hatte passieren können, dass ich im Laufe weniger Minuten zur Vermittlerin in ihren Familienangelegenheiten geworden war.
Kopfschüttelnd drehte ich mich zum Waschbecken um und wusch mir die Hände. Nachdenklich starrte ich in den Spiegel. Die Frage beschäftigte mich noch einen kurzen Augenblick, doch dann ermahnte ich mich im Stillen, mich aus dem Drama der Familie James herauszuhalten.
Als ich ins Café zurückkam, saß Felix immer noch dort, wo ich ihn zurückgelassen hatte, nur, dass er jetzt auf sein Handy und nicht mehr in seinen Kaffee starrte.
»Sie wartet am Auto«, informierte ich ihn.
Seufzend stand er auf und reckte sich. Ich versuchte, nicht darauf zu achten, wie sein ausgeblichenes T-Shirt hochrutschte und dabei die glatte Haut seines Bauchs enthüllte. Doch noch während ich mir das vornahm, wanderte mein Blick automatisch über seine muskelbepackte Brust zu seinen kräftigen Armen.
Puh, Twyla heizte in ihrem Laden aber ganz schön ein.
»Sie war schon halb aus dem Fenster«, fügte ich hinzu und fragte mich gleichzeitig, warum ich ihm das überhaupt erzählte.
»Und wie hast du ihr das ausgeredet?«
»Ich fürchte, das ist Frauensache.«
»Ah. Sehr klug von dir.« Er stockte und musterte mich nachdenklich. Dabei sah er seiner Schwester so ähnlich, dass es meinem Herzen einen kleinen Stich versetzte.
In diesem Moment wurde mir wieder einmal schmerzhaft bewusst, dass ich tatsächlich gerne eine Schwester oder einen Bruder gehabt hätte, auch wenn ich meistens froh gewesen war, dass ich als Einzige gequält wurde.
»Was hältst du davon, Sophies Nanny zu werden?«
Ich brauchte einen Moment, um seinem Gedankensprung zu folgen, war mir aber trotzdem nicht sicher, ob ich ihn richtig verstanden hatte. »Was?«
»Ihre Nanny. Mein Bruder und ich sind mit Sophie inzwischen echt überfordert, und du scheinst gut mit ihr klarzukommen.«
»Du weißt doch nicht mal, was ich zu ihr gesagt habe. Vielleicht habe ich sie ja bedroht oder so.« Ich brach ab und versuchte zu verstehen, was hier abging. »Du kennst mich doch gar nicht.«
Schmunzelnd schüttelte er den Kopf. »Nie im Leben. Wenn Drohungen bei Sophie irgendetwas bringen würden, wäre alles einfacher, aber das funktioniert nicht. Hat es noch nie.«
Dass er vor zehn Minuten noch nicht mal gewusst hatte, wie ich hieß, überging er komplett. Aber das war sein Problem, und während ich fieberhaft überlegte, was ich ihm antworten sollte, fiel mir wieder ein, warum ich überhaupt in das Café gekommen war – ich brauchte einen Job.
Und vielleicht war mir gerade einer in den Schoß gefallen.
Eigentlich glaubte ich nicht an so was wie Schicksal, aber das war doch ein ziemlicher Zufall.
Ich kaute nachdenklich auf meiner Unterlippe herum. »Und was genau würde das beinhalten? Als Nanny zu arbeiten, meine ich.«
»Du holst Sophie von der Schule ab, bleibst bis zum Abendessen, oder wenn wir weg sind, auch länger. Und natürlich die Wochenenden. Ausflüge wären super.«
»Ausflüge.«
»Du weißt schon. Wie Mary Poppins.«
Ich riss die Augen so weit auf, dass ich fürchtete, sie würden mir aus dem Kopf fallen. »Findest du etwa, ich sehe wie Mary Poppins aus?«
»Kein bisschen, aber du hast eben bewiesen, dass du ein paar Tricks im Ärmel hast. Es ist vielleicht keine Zaubertasche ohne Boden, aber immerhin schon mal ein Anfang. Wir bezahlen dich selbstverständlich auch.« Seine amüsierte Miene verschwand, und er runzelte konzentriert die Stirn. »Vielleicht vierhundert pro Woche? Was meinst du?«
Fast hätte ich mich vor Schreck verschluckt. Das würde für meinen Lebensunterhalt reichen, und ich könnte sogar noch etwas Geld fürs College beiseitelegen.
Bleib cool, May. Das sind wahrscheinlich nur Peanuts für ihn.
»Weiß nicht«, sagte ich betont ruhig. »Bis jetzt hat mir noch nie jemand Geld dafür angeboten, dass ich mit einem Teenie abhänge.«
»Dann mach dich schlau und denk drüber nach. Es könnte ’ne gute Sache sein.« Er schaute auf sein Handy, runzelte die Stirn und schob es dann in die hintere Hosentasche. »Sag mir Bescheid. Ich geh jetzt besser mal, ehe Sophie keinen Bock mehr hat zu warten und selbst nach Hause fährt.«
Und ohne ein weiteres Wort ging er an mir vorbei zur Tür.
Mir schwirrte der Kopf von all den Möglichkeiten, die das Geld mir bieten würde, und der Tatsache, dass Sophie einen ziemlich coolen Eindruck machte – und offenbar eine Freundin gut brauchen konnte. Abgesehen davon machte ich mir aber auch Sorgen. Zum einen wegen Felix’ Ruf, immer zu bekommen, was er wollte, egal, um welchen Preis, und wegen der Art, wie er Menschen – insbesondere Frauen – behandelte; zum anderen wegen Sophie. Ihre Probleme sprengten definitiv den Rahmen des üblichen Mädchenkrams. Sie könnte – und würde – vielleicht mehr Hilfe brauchen, als ich ihr bieten konnte.
Mehr Hilfe, als ich irgendjemandem geben konnte.
Nicht mal mir selbst.