Timo Parvela
Ella und der Neue in der Klasse
Aus dem Finnischen von
Anu und Nina Stohner
Mit Bildern von Sabine Wilharm
Carl Hanser Verlag
Die Originalausgabe erschien 2007 unter dem Titel Ella ja seitsemän törppöä bei Tammi in Helsinki.
Das Hörbuch Ella und der Neue in der Klasse, gelesen von Friedhelm Ptok, erscheint bei Igel Records.
ISBN 978-3-446-24291-3
© Text Timo Parvela 2007
© der deutschen Ausgabe Carl Hanser Verlag München 2013
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Kreutzfeldt digital, Hamburg
Paavo
Eine selten dämliche Idee
Der Milchkopf
Geld
Die Modenschau
Und dann verkleideten wir uns
Paavo steckt in Schwierigkeiten
Auf Spurensuche
Die neue Nationalhymne
Was nun?
Hunger
Wie im Film
Die Kameras sehen alles
Der Onkel an der Pforte
Die Tapferen und die Schönen
Berliner und Kakao
Die Vatertagsüberraschung
Ich heiße Ella, und ich gehe in die zweite Klasse. Unsere Klasse ist sehr nett, und unser Lehrer ist auch sehr nett. Oder jedenfalls war er es früher, bevor Paavo kam.
Paavo ist der Neue. Er ist in unsere Klasse gekommen, weil seine Mutter glaubt, dass unser Lehrer ein Genie ist. Früher war Paavo nämlich immer müde, und da hat der Lehrer seiner Mutter geraten, dass sie Paavo früher ins Bett schicken soll. Seitdem ist Paavo putzmunter und will in allem der Erste und der Beste sein. In allem! Wenn wir anderen uns noch Suppe holen, steht Paavo schon in der Nachtischschlange. Wenn wir noch unsere Jacken anziehen, sitzt er schon auf dem Schulhof auf der Schaukel. Bis wir bei den Mathearbeiten die erste Textaufgabe verstanden haben, ist er schon bei den Zusatzaufgaben. Wenn wir nach der Schule noch unsere Rucksäcke packen, wartet Paavo schon am Schulhoftor auf uns.
»Ich hab gewonnen!«, jubelte er neulich wieder, als wir müde angeschlichen kamen.
»Das Leben ist kein Hundertmeterlauf«, zischte Timo.
»Ich lebe sowieso am allerlängsten!«, sagte Paavo.
»Wenn du so weiternervst, nicht«, vermutete Timo.
»Ich hab sowieso die besten Nerven«, erklärte Paavo.
»Ich fand’s wieder mal einen ätzend langen Tag«, seufzte Hanna.
»Ich fand ihn viel länger!«, seufzte Paavo.
»Wenn wenigstens der Rucksack nicht so schwer wäre!«, beschwerte sich Tiina.
»Für meinen bräuchte man einen Traktor«, beschwerte sich Paavo.
»Der Lehrer hat uns viel zu viele Hausaufgaben aufgegeben«, quengelte Mika. »Das schafft meine Mutter nie.«
»Bei mir sind’s so viele, dass meine Mutter wahrscheinlich ein Bürohochhaus mieten und extra Leute dafür einstellen muss!«, quengelte Paavo.
»Du hast doch genau denselben Lehrer und dieselben Hausaufgaben auf wie wir anderen auch«, sagte Timo.
»Ich mach dem Lehrer einen Knoten in den Zeigestock, wenn er uns noch mal so viel Hausaufgaben aufgibt«, drohte unser Klassenrambo.
»Und ich lass die Direktorin nachsitzen, wenn sie den Lehrer nicht an die Kandare nimmt!«, knurrte Paavo.
»Von was für Hausaufgaben redet ihr eigentlich?«, fragte Pekka.
Dazu fiel nicht mal Paavo was ein. Pekka ist unser Klassendödel.
Danach rannten wir zu unserem Lieblingsfelsen. Das ist ein großer Felsen auf dem Hof des kleinen Holzhauses, in dem unser Lehrer seit Neuestem wohnt. Oben auf dem Felsen ist es schön gemütlich, und man kann dem Lehrer winken. Er und seine Frau müssen an ihrem Haus noch ein paar Sachen renovieren, und wir wollten ihnen ein bisschen dabei zugucken. Der Lehrer braucht nur aus dem Wohnzimmerfenster zu schauen, dann sieht er uns, außer natürlich, wenn die Vorhänge zugezogen sind. Die Vorhänge sind meistens zugezogen, was wir ein bisschen komisch finden. Wenn wir in dem Haus wohnen würden, würden wir viel öfter aus dem Fenster schauen als der Lehrer und seine Frau.
Dumm ist nur, dass wir, seit Paavo in der Klasse ist, nicht mehr alle auf den Felsen passen. Oben ist Platz für die sieben in unserer Clique, aber Paavo gehört jetzt auch dazu, und so sind wir auf einmal zu acht. Am meisten ärgert sich Timo darüber, weil er der Langsamste von uns ist.
»Ich geh dann mal nach Hause, Hausaufgaben machen«, murmelte er, als er als Letzter beim Felsen ankam und sah, dass wir anderen alle schon oben saßen. Bevor er ging, trat er noch gegen den Blätterhaufen, den der Lehrer am Tag zuvor zusammengerecht hatte.
Wir anderen waren natürlich traurig, nicht wegen dem Blätterhaufen, sondern weil wir eigentlich Pläne fürs Wochenende machen wollten. Ohne Timo war es nämlich schwer, Pläne zu machen. Timo ist unser Klassengenie und hat von uns allen die besten Ideen. Wir anderen sind keine Genies und ganz normal, außer Pekka, der kein Genie und trotzdem nicht ganz normal ist. Aber er ist süß. Wenn seine Mutter nicht die Direktorin unserer Schule wäre, die dann ja meine Schwiegermutter werden würde, wäre ich bestimmt in ihn verliebt.
»Und was machen wir jetzt?«, fragte Hanna.
»Hausaufgaben?«, schlug ich vor.
»Am Wochenende, meine ich. Was machen wir am Samstag?«, erklärte es Hanna genauer.
»Hausaufgaben«, schlug ich noch mal vor.
Aber Tiina hatte eine andere Idee. Sie schlug vor, dass wir ihrer Großmutter Kuchen und Wein bringen sollten wie im Märchen von Rotkäppchen. Hanna schlug vor, dass wir lieber romantische Abenteuer erleben sollten wie in den schmalzigen Liebesfilmen, die sie so gern sieht. Mika schlug vor, dass wir lieber Gotham City retten sollten wie in Batman, aber natürlich nur, wenn seine Mutter es erlaubte.
»Batmans Mutter oder deine?«, fragte Pekka.
»Beide«, sagte Mika.
Pekka schlug dann vor, dass wir ja erst Batmans Großmutter Kuchen und Wein bringen und dann mit den zwei Müttern romantische Abenteuer in Gotham City erleben könnten.
Wir waren gespannt, was der Rambo vorschlug. Der musste erst kurz überlegen, dann schlug er vor, dass er allen außer Pekka einen Denkzettel verpasste, weil unsere Ideen angeblich hoffnungslos blöde wären.
Das hörten wir nicht gern, aber er hatte leider recht.
»Kein Timo, keine Ideen«, seufzte ich.
»Timo ist unser Märchen- und Ideenprinz«, seufzte Tiina.
»Timo ist der Vampir Edward der Ideen«, seufzte Hanna.
»Wenn Batman einen großen Bruder hätte, wäre es Timo«, sagte Mika.
»Timo ist ein genauso großes Genie wie der Terminator«, sagte der Rambo.
Es folgte eine tiefe Stille. Wir starrten den Rambo an. Irgendwas stimmte nicht mit ihm, wenn er jemanden lobte statt ihm Kloppe anzudrohen.
»Von wem redet ihr eigentlich?«, fragte Pekka.
»Ich hab eine Idee«, sagte Paavo.
Seit wir auf dem Felsen saßen, hatte er komischerweise noch gar nichts gesagt. Jetzt starrten wir ihn an wie vorher den Rambo. Paavo sieht eigentlich ganz nett aus. Er hat schwarze strubbelige Haare, braune Augen und die gleichen süßen Backen wie der Hamster meiner Kusine. Jetzt gerade war er auch noch ein bisschen aufgeregt, und aufgeregte Hamster finde ich besonders süß. Wenn Paavo einen Schnurrbart gehabt hätte, hätte der bestimmt superniedlich gewackelt.
»Wir könnten in die Stadt fahren und meinen Vater treffen«, sagte er.
»Und warum?«, wollte Hanna wissen.
»Weil er ein berühmter Filmregisseur ist«, sagte Paavo.
»Wie berühmt?«, fragte ich.
»Sein Name wird mit so großen Buchstaben geschrieben, dass er nicht auf seinen Führerschein passt«, behauptete Paavo.
»Wow!«, sagten wir im Chor, das heißt, alle außer Pekka, der nichts sagen konnte, weil er gerade mit zwei Fingern gleichzeitig in der Nase bohrte.
»Wir könnten zu ihm ins Filmstudio und zuschauen, wie er Regie führt«, sagte Paavo.
Das fanden wir eine klasse Idee, besonders Hanna, die auf einmal sogar behauptete, dass sie später Filmstar werden will.
»Ich dachte, du willst Lehrerin werden«, wunderte ich mich.
»Tagsüber«, sagte Hanna. »Abends werde ich dann Filmstar im Kino. Lehrerin und Filmstar lässt sich prima kombinieren, weil die Schulen bei Tag geöffnet sind und die Kinos bei Nacht.«
Wenn es ein Problem gibt, weiß Hanna fast immer eine praktische Lösung.
»Mein Vater gibt dir ein Autogramm, wenn du willst«, versprach ihr Paavo.
Da wäre Hanna fast in Ohnmacht gefallen wie manchmal die Frauen in romantischen Filmen. Aber dann merkte sie zum Glück noch rechtzeitig, dass hinter ihr eine kleine Pfütze war und ihre Kleider nass geworden wären. Also verdrehte sie nur die Augen und seufzte tief.
Damit war es abgemacht. Am Samstag würden wir alle zusammen in die Stadt fahren. Es war echt eine klasse Idee.