Impressum
© 2019 Rita Lell
Herstellung und Verlag:
BoD - Books on Demand GmbH, Norderstedt
Bildnachweis:
Stefanie Lell: Seite →
Portrait Umschlag: Brigitte Lang
weitere Bilder: Rita Lell
Layout:
Inhalt: Rita Lell
Lektorat: Agnes Hierl
Inge Marxreiter
Anna-Lena Schnaudt
ISBN: 9783750473911
www.ritalell.de
Friedhof Pérre Lachaise, Paris
Es ist ihr nach Erinnerungen an Italien zumute, der Frühsommertag beginnt vielversprechend.
Isabel hat Lust auf Pizza mit einem Glas vom trockenen Rotwein, den sie gestern gekauft hat. Frische Hefe war im Kühlschrank, der Hefeteig kann angesetzt werden und im angewärmten Backrohr in Ruhe aufgehen. Waltraud, eine liebe Freundin, wird um die Mittagszeit kommen, das passt perfekt.
Der Vormittag lockt mit seinem lauen Wetter zu einem Ausritt in den angrenzenden Wald. Der Teig hat Zeit zum Aufgehen, er braucht sie nicht, alle Zutaten sind vorbereitet. Isabel macht sich auf den Weg in den Stall zu ihrem Lieblingspferd Jo. Sie hat eine Zucht mit natürlicher, artgerechter Pferdehaltung aufgebaut. Alle ihre Pferde sind entspannt und gut erzogen. Jo trottet brav neben ihr zum Sattelplatz, lässt sich genüsslich putzen, indem er den Kopf streckt und einen langen Hals macht. Hufe auskratzen, den Sattel auflegen, die Trense über den Kopf streifen und los geht`s. Leicht lässt Isabel sich in den Sattel gleiten und lenkt Jo mit langem Zügel aus dem Hof in den einladenden Waldweg.
Sie liebt das Licht, das in leuchtenden Grüntönen durch die Blätter und Nadeln fällt. Sie genießt es sehr, mit dem vertrauten Pferd durch den Wald zu streifen. „Es ist das perfekte Glück“, denkt sie insgeheim. Diese Momente erkennen, ist vermutlich der Vorteil des Glücklichen.
Wie es auch sei, Isabel verschmilzt mit dem sanften Trab ihres Pferdes auf dem moosigen Waldboden. Jos Ohren zeigen seine große Aufmerksamkeit für die Umgebung. Isabel gibt ihm die nötige Sicherheit, beide verlassen sich aufeinander. Mit wachen Sinnen tauchen sie ein in das Wunder der Natur. Ein Gruppe Rehe bleibt auf der Lichtung stehen, sie flüchten nicht so leicht, wenn der Mensch auf einem Pferd sitzt, jeder Reiter kennt das Phänomen.
Auf ihrer gewohnten Runde begegnet ihnen kein Mensch. Sie kommen berauscht von den Eindrücken auf den Hof zurück, als das Cabrio von Waltraud einfährt.
„Ich bin viel zu früh“, gibt Waltraud hektisch von sich. Isabel lenkt ihren Jo neben Waltrauds Auto, strahlt über das ganze Gesicht und antwortet entspannt: „Schön, dass du hier bist, ich freu mich riesig. Geh schon mal in den Wintergarten und mach den Rotwein auf. Ich bring noch schnell mein Pferd auf die Weide.“ Sie steigt ab und führt Jo zum Sattelplatz im Stall.
Waltraud lächelt gequält zurück, kruschelt in ihrem Wagen, schaut ob die Haare sitzen und kontrolliert den Lippenstift.
„Das kann dauern“, denkt Isabel und nimmt sich alle Zeit der Welt, um ihr Pferd zu versorgen.
Wenn sie mit Pferden arbeitet, ist sie automatisch die Ruhe selbst. Es sind Fluchttiere, die eine Entschleunigung einfordern und den Menschen auf sich selbst und auf das Jetzt besinnen lassen. Jeder Handgriff sitzt, er ist ruhig und gewohnt und bedingt das Vertrauen des Tieres. Hektik wäre hier fehl am Platz. Isabel lässt die Trense aus Jos Maul gleiten, nimmt den Sattel ab, kratzt die Hufe aus. Er ist in der Sattellage nass geschwitzt, darum bekommt er eine leichte Abschwitzdecke aufgelegt und wird auf die Weide entlassen. Er trabt freudig zu seinen Kameraden und macht noch einen Buckler voller Übermut zum Abschied.
Neugierig auf ihre Freundin betritt Isabel den Wintergarten, denn sie hat Waltraud jahrelang nicht gesehen. Die Korbsessel sind allerdings noch leer, Waltraud kommt jetzt erst nervös in den Raum, sie umarmen sich symbolisch. Bei ihr stimmt wieder alles, die Frisur, der Schal, die Nägel, der Lippenstift, die Schuhe, die Handtasche, einfach alles passt perfekt zusammen. Isabel weiß, wie viel Mühe darin steckt und wie viel Zeit Waltraud dafür aufwenden muss. Eigentlich ist es ihr Lebenssinn, den sie unbedingt immer zur Schau stellen muss.
Für Isabel eine extrem langweilige Angelegenheit. Nichts ist ihr gleichgültiger als diese aufgesetzte, künstliche Perfektion.
Aber sie schätzt Waltraud, eine Freundin aus der Schulzeit, ein lieber Mensch, durch und durch warmherzig, aber ausgesprochen unsicher. Sie will ihr einen schönen Tag bereiten.
„Bei dir ist es so unkompliziert, wie machst du das, Isi“, lobt Waltraud. „Hier fühlt man sich gleich richtig wohl.“ Isabel bedankt sich, entschuldigt sich für die Wartezeit und macht den Vorschlag, in der Küche weiterzureden, damit sie die Pizza ofenfertig machen kann.
„Du isst Pizza und trinkst Rotwein, wie machst du das mit deiner Figur?“ fragt Waltraud. Sie war immer auf Diät, ihr ganzes Leben lang, denn ohne Einsatz keine Traumfigur.
Zumindest denkt sich Waltraud das so. Ihre Mutter hatte auch einen Perfektionsanspruch, was ihr Äusseres, ihre Wohnung, ihren Mann usw. betraf. Sie hatte keinen besonderen sozialen Status, fühlte sich dennoch von geldigen Kreisen angezogen.
Wie es auch sei, Waltraud war eine sanfte, liebenswerte Freundin, mit der sie seit der Schulzeit Kontakt hielt. Die letzen Jahre haben sie sich aus den Augen verloren. Umso mehr freut sich Isabel über das spontane Auftauchen der perfekten Waltraud.
Die Pizza entfaltet ihr Aroma im Backrohr, der Rotwein wird eingeschenkt, die beiden nehmen im Wintergarten Platz. Waltraud verlangt nach Wasser und nippt vorsichtig. Sie bekundet, dass sie sich auf das Essen freut, kramt aber Reiswaffeln aus ihrer Handtasche und fängt an zu knabbern.
„Jetzt isst sie wieder nichts“, denkt Isabel im Geheimen. „Ist mir aber sowas von egal, ich freue mich auf die Pizza.“
Sie will gerne wissen, wohin Waltraud die letzen Jahre verschwunden war und fragt vorsichtig nach. Es wäre nicht Waltraud, hätte sie nicht eine perfekte Erfolgsstory. Sie hatte so gute Angebote von Werbefirmen bekommen, dass sie nicht ablehnen konnte. Sie arbeitete in München, dann in Salzburg und in Hamburg.
Jetzt hätte sie genug von dem Vagabundenleben, sie war so sehr auf Karriere programmiert, dass sie es satt hat, die schicken Appartements und Autos, ohne wirkliche Freunde und Lebenssinn. Das möchte Waltraud jetzt ändern und denkt sofort an ihre alte Freundin Isabel, als hätte diese das Rezept für eine erfolgreiche Daseinsbewältigung.
Die Zeit vergeht im Flug, man nimmt einen Nachmittagskaffee. Isabel fragt gar nicht danach, ob Waltraud einen Kuchen wünscht. Sie hat zwei Reiswaffeln und ein kleines Eckchen Pizza verspeist, vom Rotwein genippt und erzählt. Ihre Karriere macht gewaltige Sprünge, sie verhilft Produkten und Firmen zu beachtlichen Markterfolgen und wird dann natürlich immer gerne gebucht. Sie will sich selbständig machen und nur noch gezielt an Erfolgsstories arbeiten. Genauso wie ihre Erscheinung stylt sie auch Produkte und Projekte für die Augen der Öffentlichkeit. Es ist ihr Ziel und ihre Intention, das Werbeobjekt so darzustellen, dass alle haben wollen was sie anpreist, zumindest Käufer, die gestrickt sind wie Waltraud.
Darum erscheint es Isabel ideal, wenn sie sich Werbeobjekte aussucht, die ihr liegen und sie somit genau die richtige Interessentengruppe anspricht.
„Wahnsinn, das ist es!“ Isabel ist begeistert und lobt Waltraud, dass sie doch so viel geschäftstüchtiger ist als sie selbst.
Die Freundin freut sich über die Bestätigung und will Freunde anrufen. Ihr Handy hat Funkprobleme, darum reicht ihr Isabel das mobile Telefon ihres Festnetzes.
Geschäftig gestikuliert Waltraud, wodurch ihr das Telefon aus der Hand gleitet und auf den Boden fällt. Mit einem ärgerlichen Klacks löst es sich in seine Bestandteile auf, der Deckel des Batteriefachs und die Akkus verteilen sich im Wintergarten, mitsamt der Reiswaffel, die Waltraud am Tellerrand liegen hat.
Die beiden Hunde von Isabel stürzen sich auf die Leckerei, mit der sie Waltraud schon länger angefüttert hat.
„Das ist kein Problem“, meint Isabell „das ist mir auch schon passiert“ und sucht die Teile des Telefons zusammen. Aber, es findet sich nur der Deckel des Akkufaches und ein einzelner Akku. Der zweite wird von den Frauen akribisch gesucht, noch dazu als Isabel zu Bedenken gibt, dass ihn ein Hund verschluckt haben könnte. Mit Batterien im Magen ist schließlich nicht zu spaßen. Isabel wird ärgerlich, das hat sie nun davon, die überzogene Freundin zu betütteln.
Nach einer halben Stunde erfolgloser Suche greift Isabel zum fest angeschlossenen Telefon im Büro und ruft den Tierarzt an.
Der spricht Warnstufe eins aus und rät, sofort zu kommen, um die Hunde erbrechen zu lassen.
Sie macht sich ohne Zögern auf den Weg. Waltraud verabschiedet sich verstört.
Nachdem Isabel das Haus verschlossen, Jo die Abschwitzdecke abgenommen und das Navi im Auto programmiert hat, fährt sie mit beiden Hunden los zur Kleintierklinik. „Das hat mir jetzt gerade gefehlt“, spricht Isabel mit den Hunden und bemüht sich, ruhig zu bleiben und konzentriert zu fahren.
Gut angekommen, müssen erst die Formulare ausgefüllt werden. Es herrscht eine bedrückende Stimmung in der Tierarztpraxis, ein Hund wacht aus seiner Narkose auf und jault jämmerlich. Das Personal ignoriert das gewohnte Hundegewimmer und huscht eilig von Behandlungszimmer zu Behandlungszimmer. Es ist Hochbetrieb in den Abendstunden, denn alle niedergelassenen Tierärzte haben bereits geschlossen. Wer dringend eine Behandlung braucht, kommt in die Tierklinik, die Tag und Nacht Bereitschaft hat.
Ein riesiger Kater wird in einer Katzenfalle hereingetragen. Er treibt sein Unwesen auf einsamen Bauernhöfen und attakiert friedliche Bauernkatzen bis auf Blut. Das hat dem Streuner das Aufstellen einer Falle eingebracht, in der er nun gefangen ist. Was wird ihn jetzt erwarten, sicher nichts Schlimmes, oder doch? Eine Kastration könnte sein Schicksal sein, nachdem abgeklärt wird, ob er gechipt ist und eventuell doch einen Besitzer hat. Natürlich ist er hier unter Tierfreunden und wird an einen liebevollen Platz vermittelt, sofern er vogelfrei ist.
Dann bekommen die beiden Hunde von Isabel jeweils eine Spritze, die zum Erbrechen führt. Ein Raum wird mit Papier ausgelegt, es soll zehn bis fünfzehn Minuten dauern. Wie zu erwarten gelingt es, der Rüde erbricht die Reiswaffeln mit Magensäure und die Hündin Lisa schließt sich bald an. Sie verträgt die Prozedur jedoch ganz schlech, hat einen Kreislaufzusammenbruch und liegt japsend am Boden. Die aufgeregte Tierärztin beteuert, dass sie so etwas nie erlebt hat und spritzt ein Gegenmittel, wodurch es Lisa bald besser geht. Sie ist schon dreizehn Jahre alt und steckt das Erbrechen nicht so gut weg, wie der Rüde Amigo. Diese Spritzen führen zu einer großen Übelkeit, wodurch das Erbrechen ausgelöst wird, klärt die Tierärztin auf. Es ist schlimm für die Hunde, doch bald überstanden. Aber die Batterie bleibt verschwunden.
Jetzt beginnt die zweite Phase der Suche und zwar mit dem Röntgenapparat. Auch hier wird man nicht fündig, was die Tierärztin veranlasst, in der Giftzentrale anzurufen und hier Rat einzuholen. Dieser lautet: „Die Batterie muss raus!“ Sie müsste mit einem Endoskop geortet und entfernt werden. Es ist gut möglich, dass man eine Aluminium Batterie auf dem Röntgenbild nicht sehen kann. Die Tierklinik arbeitet nicht mit einem Endoskop und die Tierärztin bietet an, Nachforschungen anzustellen, wer diese Behandlung macht.
Jetzt zieht Isabel die Notbremse und beschließt wieder heimzufahen und den Lauf der Dinge abzuwarten. Die Tierärztin rät, viel zu füttern, damit die Darmpassage beschleunigt wird.
Teils erleichtert fährt Isabel nach Hause, sie ist sich eigentlich sicher, dass keiner ihrer Hunde einen Akku frisst. Aber wo ist er abgeblieben?
Isabel verbringt den Rest des Abends mit Batteriesuchen und Füttern. Sie schaut ständig nach den Hunden und geht früh zu Bett. Die Nacht bleibt ruhig, sie macht weiter mit Füttern und Hundebeobachtung, als das Telefon am Morgen klingelt. Sie eilt ins Büro zum fest angeschlossenen Apparat, denn das mobile Telefon ist ja ausser Betrieb. Es fehlt ihm ein Akku!
Marianne ist am Apparat, sie fühlt sich alleine und will einfach nur ratschen. Auch für Isabel ist es angenehm, mit jemanden über ihren Tierarztbesuch zu sprechen. Bald konzentriert sich das Gespräch aber auf Waltraud. Denn auch Marianne hat dazu einiges auf Lager, das weiter verbreitet werden muss.
„Unsere Waltraud hat in der Stadt alle gehobenen Restaurants zur Verzweiflung gebracht“, erzählt Marianne aufgeregt. „Ihre Freunde haben das nicht so mitbekommen, dass Waltraud in den teuersten Lokalen Essen bestellt und dann ihre Zeche nicht bezahlt. Sie ist immer alleine dorthin gegangen, hat sich die ausgefallensten Speisen bestellt, sie aber dann nicht gegessen und auch nicht bezahlt.“
„Wie kann das gehen?“ fragt Isabel.
„Waltraud hat mehrere Stufen einer Strategie angewandt. Zuerst ist ihr übel geworden, zumindest hat sie das vorgegeben. Sie hat im Lokal herumgestöhnt und wurde kreidebleich. Der Wirt hat sie dann gerne gehen lassen, um seinen Ruf nicht zu gefährden. Einmal holte sie sogar ein Sanka ab, aber immer hat sie nichts bezahlt. Akribisch hat sie aufgepasst, das gleiche Lokal nur noch zu betreten, wenn andere Ober Dienst hatten. Aber als der Rettungswagen zum zweiten Mal kam, ist die Sache aufgeflogen. Sie wechselte die Lokale gleichmäßig durch, die Auswahl wurde immer dünner und Waltraud immer bekannter. Darum änderte sie die Strategie und es kam eine neue Masche zum Tragen. Waltraud machte sich eine Liste mit etwas weniger exklusiven Restaurants, in denen sie noch unbekannt war. Sie packte sich Ungeziefer in die Handtasche und setzte es auf die frisch aufgetragenen Speisen. Mit einem Schrei spielte sie die Erschrockene, die Teller wurden schnell abgetragen. Alle Versuche, ihr andere Speisen zu bringen, tat sie mit Appetitverlust ab und verließ das Restaurant“, erzählt Marianne.
Isabel setzt sich erst mal hin, denn diese Schilderungen hören sich nach einem längeren Telefonat an.
„Das glaube ich nicht, warum soll sich Waltraud Gerichte bestellen, die sie gar nicht essen will“, gibt Isabel zu bedenken.
„Das ist mir auch ein Rätsel, vielleicht will ihr jemand Böses und verbreitet Unwahrheiten über sie“, räumt Marianne ein.
Wie konnte Waltraud anderen Menschen Schaden zufügen wollen. Hat sich Isabel so sehr in ihrer Freundin getäuscht! Dann bedenkt sie ihren Perfektionswahn und die erfolgsgesteuerte Lebensweise und kommt ins Grübeln. Irgendetwas stimmt nicht mit ihr.
Die Freundinnen wechseln das Thema und telefonieren wie gewohnt noch eine ganze Stunde.
Dann ist es wieder Zeit zum Hundefüttern. Wenn heute nichts mehr passiert, sind sie außer Gefahr. Der verlorene Akku müsste den Magen und den Darm passiert haben und ausgeschieden sein. Würde er jedoch dort liegenbleiben und die Säure auslaufen, könnte die Darmwand verätzt und zerstört werden. Eine große Operation wäre unausweichlich und katastrophal für den Hund. Isabels Nerven wären am Ende und in ihrem Geldbeutel ein riesen Loch.
„So kann`s gehen“, denkt sich Isabel, als das Telefon klingelt. Zu allem Überfluss ist Waltraud dran. Besonders freundlich flötet sie in den Hörer: „Stell dir vor Isi, als ich meine Tasche wechseln will, fällt mir doch der Akku entgegen, den du gestern gesucht hast. Er ist in meine Tasche gesprungen und wir haben es nicht bemerkt.“
„Gott sei Dank! Er ist wieder aufgetaucht, der Akku“, antwortet Isabel. Sie beherrscht sich und bleibt freundlich, obwohl sie sehr wütend ist. Eigentlich kann Waltraud nichts dafür, es war ein Missgeschick mit unangenehmen Folgen, das kann sie Waltraud nicht anlasten. Aber sie traut sich, nach den Gerüchten über die Zechprellerei zu fragen. Da kommt ihr die Freundin jetzt gerade recht!
„Was ist eigentlich dran, dass du Wirte in die Verzweiflung treibst und dein Essen nicht bezahlst?“ fragt Isabel. Es herrscht eine bedrückende lange Pause. „Wie kommst du denn darauf Isi?“ weicht Waltraud aus. „Ich höre das nun schon öfter, da muss doch etwas dran sein an den Gerüchten“, fährt Isabel fort.
Wieder eine lange Pause. Dann kommt Waltraud zögernd zur Sache. „Ich bin doch so geplagt mit meinem Gewicht. Wenn ich nicht teuflisch aufpasse, nehme ich von jedem Bissen zu. Zum Glück habe ich eine Methode gefunden, um jedes Gramm ganz schnell wieder abzunehmen. Eine Heilpraktikerin hat mich auf diese Möglichkeit aufmerksam gemacht und ich wende sie jede Woche erfolgreich an“, versucht Waltraud zu erklären. „Es funktioniert super, wenn ich mich auf ein besonders gutes Essen freue, dann stellt der Körper Verdauungssäfte bereit und fängt an, Fettreserven zu verbrennen. Der Abbau von unnötigem Fett kommt damit richtig in die Gänge. Ich nehme ab und wiege nach dem Restaurantbesuch weniger. Somit gehe ich leichter heraus als hinein. Dadurch kann ich mein Gewicht immer niedrig halten.“
Wieder eine Pause, denn Isabel verschlägt es die Sprache.
„Du meinst, du bestellst dir Speisen und nimmst beim Warten ab. Damit du sie nicht essen musst, erfindest du etwas, um das Lokal verlassen zu können“, fasst Isabel zusammen.
„Ja richtig, liebe Isi, damit spare ich auch das Bezahlen, denn ich könnte mir die teuren Restaurantbesuche gar nicht leisten.“
„Ich weiß, man darf das nicht machen und ich muss damit aufhören, aber mein Gewicht bringt mich noch um.“
„Ja dann bist du jetzt durch mit dem Unfug?“ fragt Isabel.
„Ich muss mich auf meine Karriere konzentrieren, darum will ich ja in die Selbständigkeit, um voll ausgelastet zu sein. Hoffentlich werde ich nicht zu einem Mobbel-Monster!“ kontert Waltraud.
Isabel traut sich nun keine weiteren Fragen mehr zu stellen und schlägt ein stressfreies Treffen vor. Man einigt sich auf eine Stunde Nordic Walking mit anschließender Teestunde. Das ist unverfänglich für Waltraud, Isabel weiß ja um ihre Probleme, die vermutlich keineswegs überwunden sind.
„Wie kann sich ein Mensch, noch dazu eine schöne Frau, in so eine kuriose Lage bringen?“ denkt sich Isabel, weiß aber genau, alle Ermahnungen und Ratschläge sind völlig sinnlos.
Isabel bedankt sich für den Anruf, die Angst vor der Batterie im Hundemagen ist abgewendet. Sie braucht eine Entspannungspause und geht zu den Pferden, denn es ist ohnehin Zeit zum Heu austeilen.
Dann beschließt sie, es sich so richtig gutgehen zu lassen. Die Reste der Pizza sind im Kühlschrank, der Rotwein ist auch noch da. Die Tageszeitung liegt ungelesen im Wintergarten, am Abend läuft ein interessanter Film im Fernsehen. Was will sie mehr? Sie genießt ihr Leben und grübelt zwischendurch immer wieder über die verrückten Einfälle von Waltraud nach. Morgen wird sie eine Freundin anrufen, die mehr Kontakt mit ihr hat.
Hundegebell unterbricht die Beschaulickeit, ein Auto fährt in den Hof. Zwei Männer sitzen im Wagen, steigen aus und kommen auf die Haustüre zu. Isabel öffnet, sie weisen sich als Polizeibeamte aus und möchten Fragen stellen, Fragen nach Waltraud Münchinger, der Zechprellerin.
„Jetzt wird`s hinten höher als vorne!“ denkt Isabel und beschließt wenig Auskunft zu geben.
„Wir sind auf der Suche nach Frau Münchinger, sie ist in Deutschland mit keinem festen Wohnsitz gemeldet, es liegen aber Anzeigen gegen sie vor, wir müssen sie ausfindig machen“, erklären die Beamten.
Isabel ist erleichtert. Sie kennt auch keine Adresse von Waltraud und braucht somit nichts verschleiern.
„Ja, Waltraud ist mit mir befreundet, sie war jahrelang verschwunden, ist aber jetzt wieder aufgetaucht. Kürzlich hat sie mir einen Besuch abgestattet, aber keine Adresse hinterlassen“, antwortet Isabel wahrheitsgetreu und fragt vorsichtig nach dem Grund der Recherchen.
„Das ist eine unschöne Sache, zahlreiche Restaurants haben Anzeige erstattet. Frau Münchinger hat teuere Speisen bestellt und dann nicht bezahlt. Es ist ein erheblicher Schaden entstanden, den sie begleichen muss.“
Isabel hält sich zurück, fängt einen netten Smaltalk mit den Herren an und macht Kaffee, wozu sie leckere Plätzchen reicht, was gerne angenommen wird. Die Beamten verabschieden sich freundlich mit dem Hinweis, Isabel solle sich melden, wenn ein neuer Kontakt mit Waltraud entsteht. „Eine sehr sympathische Begegnung“, denkt Isabel und setzt ihren Wohlfühlnachmittag fort. Dass sie die Telefonkontakte verschwiegen hat, macht ihr keinerlei Kopfzerbrechen, es geht ja nur um Restaurant-Rechnungen, vermutlich in gehobenen Häusern, die gelegentliche Verluste leicht verkraften können. Vielleicht verläuft alles im Sand, wenn nichts ermittelt wird. Es ist nicht ihr Problem, aber interessieren würde sie es schon.
Was solls, sie bereitet sich auf den Fernsehabend vor, doch wer Tiere hat, muss sie versorgen. Die Pferde stehen schon in ihrer Box vor dem Futtertrog. Isabel verteilt den Hafer und schließt die Paddocktüren zur Weide. Die Hunde werden gefüttert und alles auf dem Hof kontrolliert. Sie hat ansonsten einen Stallhelfer, der diese Arbeiten erledigt, jedoch hat er heute seinen freien Tag.
Alles ist geruhsam und friedlich, über den Weiden liegt das Abendlicht, die Pferde mampfen genüsslich, Isabel geht zufrieden in ihr Wohnzimmer und macht es sich bequem.
Doch sie hat sich zu früh gefreut, die Hunde fangen an zu bellen, Waltrauds Auto biegt mit aufgeblendeten Scheinwerfern in ihren Hof und bremst abrupt ab. Ungewohnt schnell springt sie aus dem Wagen und eilt auf Isabel zu, die schon in der Haustüre steht. Sie wirkt aufgewühlt und blass, fast zitternd bittet sie um ein Nachtquartier.
Isabel kann sich schon denken, wovor sie auf der Flucht ist. „Keine Panik Waltraud, die Polizei war schon da, die kommt heute sicher nicht mehr her.“
Waltraud sieht sie entsetzt an, nickt erleichtert und holt eine Tasche aus dem Kofferraum. Isabel bittet sie ins Haus, begleitet sie zu einem Stuhl und macht ihr einen warmen Kakao, den Waltraud gierig in sich hineinschlürft. Sie weiß doch, was ausgehungerte Magersüchtige gerne mögen. Waltraud lässt alle Hemmungen fallen und fängt an zu weinen.
Es kehrt wieder etwas Farbe in ihr Gesicht, Isabel macht einen zweiten Kakao.
„Beruhige dich erst einmal, du bist hier sicher“, beschwichtigt Isabel. Natürlich denkt sie nicht daran, die Polizei zu verständigen. Vielleicht vertraut sich Waltraud ihr an und sie kann ihr helfen die Sache irgendwie zu bewältigen.
„Zuerst müssen wir dich tarnen, niemand darf erfahren, dass du hier auf dem Hof bist. Ich werde dein Auto in die Scheune fahren und das Tor schließen“, schlägt Isabel vor. Waltraud gibt ihr unterwürfig den Autoschlüssel und lehnt sich dankbar zurück.
Isabel will erst einmal Ruhe einkehren lassen, die Freundinnen setzen sich am Esstisch zusammen. Kerzen werden angezündet und ein Abendessen aufgetragen. Waltraud ist schon wieder beim Anblick der Speisen verunsichert, was Isabel einfach übergeht. Jede Beeinflussung wäre vergeudete Liebesmühe.
Jetzt ist es erst einmal vorbei mit der Beschaulichkeit am Abend. Isabel ist in der glücklichen Lage, sich voll auf die Situation einlassen zu können. Sie hat alle Zeit der Welt, ja es ist sogar entspannend für sie, die Situation mit Waltraud aufzudröseln und nach einem Ausweg zu suchen. Die missliche Lage, in die sich Waltraud gebracht hat, muss irgenwie ein Ende nehmen. Also hilft Isabel ihrer Freundin, nach einem Ausweg zu suchen.
Wenn jemand in Panik gerät, ist erst einmal Ruhe wichtig. Isabel schaltet den Fernseher ein, mit der Vorgabe, die Tagesschau sehen zu wollen. Damit verschafft sie ihrem Gast etwas Zeit zum Ankommen und Entspannen, sie will nicht gleich mit einem Verhör beginnen. Es wäre gut, wenn Waltraud von sich aus erzählen könnte.
Isabel hat noch einige Flaschen von dem guten Rotwein, sie entkorkt die erste und schenkt zwei Gläser ein. Waltraud lässt ihre strenge Fassade fallen und greift gerne zu.
„Das ist immerhin ein guter Anfang“, denkt Isabel. Waltraud ist in Sicherheit, kommt zur Ruhe, hat Kaba getrunken, sie fühlt sich relativ gut.