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© 2018 Klaus Kämmerer
5.Auflage
Illustration: Klaus Kämmerer unter Verwendung eines gemeinfreien Fotos von pixabay: https://pixabay.com/de
Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 97837528382200
This is for all the lonely people
Thinking that life has passed them by
America
Orte, Namen, Berufe und Schicksale der Figuren in diesem Roman sind frei erfunden oder gewählt, so dass sich lebende Personen hier nicht wiederfinden können. Zum Beispiel habe ich nicht in Dortmund studiert!
Bei seinem Rücktritt sagte Willy Brandt: „Es gibt Zeitabschnitte, da möchte man meinen, dass einem nichts erspart bliebe.“
Ich kanns ihm nachfühlen: Mit 13-14 war ich in eine ehemalige Klassenkameradin von der Grundschule verknallt. Zu schüchtern, Anita im Bus anzusprechen, himmelte ich sie heimlich an.
Es war übrigens kein Gedanke an die mit 11 entdeckte mysteriöse Sexualität dabei, ja nicht mal an einen Kuss. Anita war sozusagen heilig für mich. Sex dagegen erschien als etwas derart Monströses, dass es unmöglich etwas mit dem realen Leben und mit realen Personen zu tun haben konnte.
Liebe aber war etwas unendlich Großes und ich ein unendlich dummer, verklemmter katholischer Junge. Sie erinnerte mich, ungelogen, an die Uta von Naumburg – so, jetzt ist wohl klar, wie verdreht ich tickte.
Mit Hits im Kopf wie „Bridge Over Troubled Water“, „The Boxer“ oder „Kathy‘s Song“ und „With A Little Help From My Friends“ saß ich wochenlang immer wieder im Bus hinter ihr und bewunderte sie still, ihre Grazie und den eleganten Fall ihres Sommerkleides. Sie wohnte nur ein paar Straßen vor meiner und, wenn sie aufstand und den Bus verließ, starb irgendetwas in mir.
Eines Tages nahm ich all meinen Mut zusammen, stieg mit wackeligen Beinen hinter ihr aus und sprach sie an: „Hej, wie gehts?“
„Gut! Musst du nicht eine Haltestelle weiter fahren?“
„Ja, aber ich wollte dich mal fragen, auf welche Schule du jetzt gehst!“
Die Schule habe ich wieder vergessen und was wir noch über den Unterricht zu sagen hatten, aber dann kam vor ihrer Haustüre mein genialer Satz: „Dann könnte ich dich ja morgen wieder nachhause bringen.“
Sie lächelte ihr püppchenfeines Lächeln und meinte, das ginge nicht, sie zögen heute Nachmittag um, in einen ganz anderen Stadtteil.
Das wars dann gewesen. Sie nannte mir noch die Straße und ich fuhr ein paarmal dort auf und ab, in der Hoffnung sie zu treffen, was aber nicht klappte. Ich habe sie nie wiedergesehen, aber von Sport-Kollegen manchmal ihren Namen gehört, weil sie im Schulamt für den Bereich Sport als Sekretärin tätig ist. Ein merkwürdiges Gefühl, jedesmal ein kleiner Stich. Soviel zu Anita. Gut. Oder eher schade. Aber mit der nächsten, der wirklich großen Liebe sollte es auch nicht klappen.
1972 war ich 15 und in München fanden die Olympischen Spiele statt. Und zwar waren es die mit der Geiselnahme. Daran kann ich gut festmachen, wie mir erst im Sommer 72 das Mädchen im Strandkorb nebenan aufgefallen ist, das im Vorjahr natürlich genauso dagesessen hatte.
Interessant gefunden hatte ich 1971 aber nur die etwas gedrungene Mutter, die mit albern durchgedrückten Knien und ganz tief vornübergebeugt Muscheln aufsammelte und in einen blauen Eimer warf. Einfach zu komisch.
Anna, musisch begabt, intelligent, lustig, hatte ein Jahr später ein freundliches Lachgesicht mit wunderbaren gesprenkelten Augen, einem großen Mund und es war alles an ihr dran, Busen, Po und lange Beine, so dass es unmöglich war, sich nicht in sie zu verlieben. Ich wollte sie haben, ich wollte sie küssen, an Sex dachte ich nach wie vor nicht.
Aber ich muss etwas weiter ausholen.
Wasser, Sonne, Strandburgen bauen hatte ich 1969 oder 1970, das geht mir ein wenig durcheinander, im Urlaub vermisst, Schwimmen war mir immer ziemlich wichtig gewesen, im Sand rumliegen und lesen auch. Leider jedoch waren wir nicht ans Meer, sondern „nur“ an die Mosel gefahren, wo man, ja gut, natürlich auch mal schwimmen konnte.
Aber während Vater und Mutter viel Spaß mit dem Wein und der lokalen Küche hatten, schnappte ich mir die Zeitschriften, die sie so geschickt unter ihrem Bett versteckt hielten. Das waren Druckwerke, die damals die Sexuelle Revolution befördern wollten und heftige, derbe, ausschweifende Sexfantasien oder sogenannte Dokumentationen brachten, die zum Teil auf rosa Papier gedruckt in der Mitte der Zeitschrift klebten und erst durch einen Abreißstreifen freigegeben werden mussten. Das diente, obwohl unwirksam, wahrscheinlich dazu, die Zensur zu umgehen. Da der Streifen nun mal abgerissen war, muss ich davon ausgehen, dass meine katholischen Eltern den Schund gelesen hatten.
Leider fehlten ausreichende detaillierte Illustrationen, um mir einen völlig klaren Eindruck davon zu verschaffen, wie das alles funktionierte und was da zwischen den Beinen einer Frau auf mich wartete.
Das Onanieren klappte aber schon ganz gut. Ich war drauf gekommen, weil wir im Sportunterricht an Seilen klettern sollten und die Reibung plötzlich sehr angenehme Sensationen auslöste. Der Penis versteifte sich etwas, was sich schlichtweg großartig anfühlte. Das durfte doch eigentlich nicht sein, denn der ganze Bereich war ja „bah“, unsauber, böse, man befasste sich damit nicht. Kein Mensch befasste sich damit. Ha! Zum Glück fiel es nicht auf und ich drückte mich vor weiteren Übungen.
Sünde hin, Hölle her, die zu erzeugenden Gefühle waren gar zu interessant und zu Hause nach ausgiebigem Herumgespiele mit einem zusammengedrehten Handtuch (in Ermangelung eines Seils) und dann den Händen, kam der erste, eher schmerzhafte, trockene Orgasmus – aber es war natürlich auch aufregend und befriedigend und plötzlich machten Bemerkungen von Mitschülern und bestimmte Witze Sinn. Also am nächsten Tag nochmal das Ganze. Dann merkte ich, dass kristallklare, klebrige Flüssigkeit dabei austrat und wenig später wurde die Flüssigkeit milchig – ich war ein Mann. Aber, statt dass ich mich freute, dass mein Körper so was konnte, hatte ich ein schlechtes Gewissen und ekelte mich vor dem Produkt meiner Bemühungen.
Apropos Witze: Genau zum richtigen Zeitpunkt zog mein jüngster Onkel, 10 Jahre älter als ich, bei uns aus und hinterließ mir ein kleines Heftchen mit Sexwitzen, total blöd, aber super gezeichnet. Dummerweise bekam meine Mutter das mit und Onkel K. versuchte noch zu argumentieren, das seien doch nur gezeichnete Witze, das Heft wanderte in den Müll – aus dem ich es dann wieder hervorholte.
Der Typ dralle Blondine mit Wespentaille und Atombrüsten kam in all den Witzen nicht gut weg, stand in leichtester Bekleidung da und schmollte mit Lippen, die nach Botoxbehandlung aussahen.
Dominierendes Element neben der fundamentalen Naivität der Figuren war ihre Hilflosigkeit.
Ob beim Frauenarzt, in der Autowerkstatt oder nach einem Zusammenstoß auf dem Bürgersteig: Der Leser erhielt tiefe Einblicke und die Comicfrauen wurden ihm praktisch zur Selbstbedienung angeboten, man schien nur zugreifen zu müssen. Herausgestreckte Popos und vorgereckte Brüste überall. Allerdings trugen sie in entscheidenden Situationen noch einen Hauch von Slip oder die Stellung war so geschickt gewählt, dass die Details der Schamspalte verborgen blieben – der kleine Unterschied zur Pornografie.
Nun waren das nur Zeichnungen, aber ich fand reihenweise auf einer wilden Müllkippe in der Nähe, direkt unter dem Schild „Müll Abladen verboten“, Neue Revue, Wochenend und Praline Zeitschriften, immer gerade nur eine Woche alt. Dazwischen Prospekte und Tageszeitungen, alles gebündelt mit einer Schnur. Diese Machwerke enthielten neben dümmsten Texten auch Softpornofotos, die ganz schön anregend wirkten.
Im Nachhinein verstehe ich die Leute, die dort auf einer Art Niemandsland ihren Müll entsorgten, denn, wenn ich mich recht erinnere, war die Mülltonne damals ein gerade mal doppelt so großer Blechbehälter wie unser Papierkorb heute. Diese Zeitschriften passten da nicht mit hinein.
Leider musste ich den Kram auf der Wiese, der wilden Müllkippe lesen und dann wieder wegwerfen. Wenn ich damit zuhause aufgefallen wäre ... ich kann mir die üble Reaktion meiner verklemmten Eltern gar nicht vorstellen!
Nach einmal Draufgucken erinnere ich mich heute nicht mehr an die Inhalte, aber man kann sich ja solche Hefte googeln und dann sieht man, dass die einem in den 70ern mit folgenden Themen kamen:
Praline
Neue Revue
Wochenend
Die Sexwitze lieferten schon eine ganz dezidierte Rollenbeschreibung: Frauen waren naive, unterlegene Objekte männlichen Handelns. Und hier lernte ich also dazu, dass Sex meistens mit Gewalt zu tun hat. Wohlgemerkt war in den Softpornos die Schamspalte immer bedeckt. Ich wusste nur, dass ich einen Penis hatte und Frauen angeblich eine Vagina und dass das eine ins andere passen sollte und dann viel Spaß!
Dummerweise kam kein Korrektiv dazu, kam nichts, was mir helfen konnte, meine Sexualität normal zu entwickeln. Der Gewalt-Sex-Mischmasch der Hefte bestärkte eher noch meine Tendenz, Sex für unsauber, unerwünscht und schädlich zu halten. Folgerichtig zog ich es also vor, mir Situationen vorzustellen, in denen ich selber das Opfer war. Ich war gefesselt und an MIR wurde herummanipuliert, bis ich kam. Auf diese Art und Weise brauchte ich die Verantwortung nicht zu übernehmen, war ich doch von jemand anderem zum Orgasmus gebracht worden. So waren es wilde Stämme oder Dschungelvölker, die mich fingen, fesselten und mitnahmen zum in die Suppe Kochen oder Missbrauchen oder beidem. Jedenfalls waren die Motive „Seil“ und „Fesselung“ wichtig, weil sie bei den ersten Erregungen und Höhepunkten der direkte Auslöser gewesen waren.
In besagtem Mosel-Urlaub blieb ich in der Wohnung, um zu lesen oder fernzusehen, während meine Eltern auf Weinproben waren. Ich las ihre Hefte mehrmals gründlich und diese Phantasien einer angeblichen „sexuellen Revolution“ bereiteten mir viel Spaß.
Nebenbei lernte ich mehr und mehr, mir ein völlig verschrobenes Bild von Sexualität zusammenzusetzen, gerade weil mir nie jemand irgendwas darüber verraten hat – außer, dass es Sünde sei, sich anzufassen oder überhaupt nur an „Unkeusches“ zu denken.
Nun wusste ich, ein deutscher Teen kurz nach Woodstock, wenigstens, was „unkeusch“ hieß, wow! Welch sagenhafter Fortschritt! DAS muss man sich mal überlegen! Wie unglaublich krank war die ganze Gesellschaft? Wie körperfeindlich, unreflektiert und repressiv?
Ich bin völlig sicher, das Ganze wäre anders, netter, und zufriedenstellender verlaufen, hätte ich statt der Schuldgefühle genügend Informationen gehabt. So aber konnte sich schon ganz am Anfang eine masochistische Grundtendenz etablieren.
An drei der Storys erinnere ich mich noch:
Außerdem, wer hat aufgepasst(?), ist das ja nun schon die zweite Story, bei welcher derjenige, der den Sex erlebt, am Ende dafür mit dem Leben bezahlen muss.
Heute weiß ich, dass die verkorksten Schreiberlinge selber aus der verklemmteren Ecke eines verpfuschten Jahrhunderts gekommen waren und, schlimmer noch, dass es eine Vorgabe des jeweiligen Magazins war, Sex eben NICHT als normal und alltäglich und durchaus wünschenswert darzustellen, obwohl man ganz genau DAMIT auf den Titelseiten warb.
Die lebensverachtenden Konnotationen im Text sollten gezielt für einen gehobenen Zeigefinger sorgen: Vorsicht, Sex ist schädlich – so, wie es in dem dummen Büchlein aus der Bücherei stand, das mein Freund und ich uns ausgeliehen hatten: Onanieren erzeugt Rückenmarkserweichung. Das dreistdämliche Machwerk war noch bis in die späten 70er Jahre ausleihbar, bis es dahin wanderte, wo es hingehörte, in die Mülltonne.
Ich erinnere mich an eine weitere Geschichte, die in Fortsetzungen kam:
So geht es noch weiter: Der Doktor „untersucht“ besonders die Frauen nacheinander vor aller Augen auf ihren Betten, und zwar ausführlich und solange, bis sie sexuell reagieren. Dann dient er ihnen eine Fantasiekrankheit an, die er heilen werde. Leider weiß ich sonst nur noch, dass er mit seinen geilen Schwestern – nackt und sexy in kleinen weißen Schürzchen – viel Spaß hat und zwar besonders dann, wenn er operiert: Die nackten Opfer werden betäubt und es wird ihnen das Gehirn durch ein Stück Wassermelone ersetzt.
Kurzkommentar: Muss wohl auch bei dem passiert sein, der den Scheiß geschrieben hat!
Ist doch wahr, statt dass mir etwas Positives mitgegeben wird, etwas über Zärtlichkeit, Streicheln, Kuscheln, sich Wohlfühlen, erogene Zonen, die Natürlichkeit des Akts, gegenseitiges Verstehen, wird mein Kopf völlig und nachhaltig verdreht durch abseitige brutale Dinge, von sexueller Erniedrigung bis hin zum Mord, die da aber auch so gar nicht hingehören.
Extrem wichtig wäre auch gewesen, dass man mir erklärt hätte, was ein Orgasmus eigentlich ist! Was passiert denn da im Detail? Es ist doch traurig, dass ein Junge sein eigenes Sperma für eklig hält, für etwas Böses! Ausgerechnet das, was die Fortpflanzung ermöglicht! Das ist mal eine Umwertung der Werte! Wahnsinn!
Diese Druckwerke, die wegen freizügiger Darstellung immer mal wieder mit der Zensur in Konflikt gerieten, hätten meiner Meinung nach ruhig zeigen können, was sie gerade wollten. Der menschliche Körper ist immer ästhetisch und Sex ist das Natürlichste von der Welt. Die TEXTE hätten zensiert werden müssen! Oder es hätte groß draufstehen müssen: Wir verdrehen euch das Hirn, wir versauen eure Wahrnehmung, wir setzen euch Perversitäten in den Kopf!
Übrigens gönnten sich meine Eltern damals ganz erstaunlicherweise etwas, was der Glaube ihnen verwehrte und das auch sie mir verwehren wollten, nämlich meiner Sexualität, meinen sexuellen Fantasien nachzugehen. Jeder bloße Gedanke daran war doch eine Todsünde! Aber so ist das bei den verlogenen Katholiken, da wird im stillen Kämmerchen hemmungslos gesündigt, denn in der Beichte wirds ja wieder vergeben!
Von anderen aber verlangt man natürlich strikte Regelbefolgung. Ansonsten sind das böse, böse Menschen!
Selber die Pille nehmen, aber dem Papst Recht geben! Ekelhaft! Und Politiker, wie der unvergleichliche Kanzler Brandt, die sich haben scheiden lassen, sind natürlich nicht wählbar, sind unchristliche Kommunisten und Vaterlandsverräter.
Wie christlich die Politik der rechten Parteien denn wirklich war oder ist, steht ja objektiv auf einem ganz anderen traurigen Blatt!
Die Statistiken zeigen immer mehr arme Rentner und besonders Rentnerinnen, Kinderarmut, Frührentner.
Aber auf der anderen Seite sind allein 2016 unglaubliche 81 000 Millionäre hinzugekommen, nun sind es 1 280 300 Millionäre in Deutschland!
Aber das zählte früher nicht und zählt heute nicht.
Damals wurden übrigens der großen Masse der Nicht-Denkenden-Deutschen die guten Menschen, Vorbilder, Idole, immer als „feine Kerle“ angedient.
Adenauer, Louis Trenker, feine Kerle. Mireille Mathieu, eine gaaaanz feine Frau, unterstützt ihre arme Familie. DAS ist mal eine Künstlerin. Dass man sich den gejaulten Süßstoff nicht anhören konnte, durfte ich nicht laut sagen. Lou van Burg, ein böser Mensch, hat sich scheiden lassen. Freddy Quinn, Hans Albers und Heino, der verkappte minderbemittelte Nazi, feine Kerle, na klar!
Mein Vater ging sogar irgendwann so weit, zu behaupten, es habe nie Wehrmachts-Verbrechen gegen die Bevölkerung irgendeines Landes gegeben, das sei immer nur die SS gewesen! Der Wehrmachtssoldat war, na was wohl, genau, er war immer ein feiner Kerl gewesen! Aha! Wer hätte das gedacht?
Und was ist mit den Judenerschießungen, was ist mit den Geiselnahmen- und Erschießungen in Polen, Italien und Griechenland? Ganze Dörfer hat die Wehrmacht ausgelöscht.
Ja, Göbbels hatte die Köpfe der meisten Menschen im dritten Reich fest im Griff gehabt und das hat sich nicht geändert, nur weil das Tausendjährige Reich plötzlich BRD hieß.
Diese deutsche Gesellschaft konnte gar keinen Fortschritt machen, weil das Dritte Reich nicht aufgearbeitet worden war und bis heute nicht ist.
Was ist damals warum passiert? Was ist Moral? Was sind eigentlich lebenswerte positive Werte? Was ist Aufklärung? Wie kann man Faschismus verhindern? Wie erzieht man eine Gesellschaft um? Netter und unglaublich hilfloser Versuch der Alliierten, die Deutschen in die KZ (oder ersatzweise die Kinos) zu schicken, um mit eigenen Augen zu sehen, was sie angerichtet hatten.
Interessanterweise war die Feine-Kerle-Masche plötzlich Ende der 80er Jahre obsolet. Willi Brandt hatte noch die Schuld für die Guillaume-Affäre auf sich genommen und war zurückgetreten, spätere Politiker hatten so etwas nicht mehr nötig. 1987 wurde Graf Lambsdorff (FDP) im Zusammenhang mit der Flick-Affäre wegen Steuerhinterziehung zu einer Geldstrafe verurteilt, was ihm nicht geschadet hat. Er weigerte sich rundheraus, Konsequenzen zu ziehen.
Von dem verurteilten Hartz übernahm die Bundesregierung sogar den unglaublich unmoralischen Vorschlag zur Abschaffung des Sozialstaates, den Bismarck genialerweise auf den Weg gebracht hatte: Hartz IV haben wir stattdessen heute.
Und im Fernsehen muss man geradezu als Arschloch auftreten, um was zu werden: Spinner wie Raab und Bohlen hätten doch früher nicht mal Studios fegen dürfen!
Aber zurück zur Selbstgefälligkeit und moralischen Großkotzigkeit meiner Eltern, unter der ich wirklich litt, zum Beispiel, als es um Glaube und Kirchenbesuch ging. Mir war mit 13,14 klargeworden, dass wir in einer materiellen Welt leben, in der es keine Geister und keine Götter gibt und in der dieser „Jesus“ keinesfalls Gottes Sohn gewesen ist.
Laut Wikipedia wissen wir weder, wann genau er geboren, noch wann er gestorben ist, wahrscheinlich, Achtung, es wird witzig, „ist Jesus geboren zwischen 7 und 4 v. Chr.“ in Nazareth, † 30 oder 31 in Jerusalem. Auch die Geburtslegenden sind erfunden und die Worte Jesu von den Evangelisten ihm nach ihren eigenen Zielen und Vorstellungen erst viel später untergeschoben worden. Was er wirklich gesagt hat, kann heute niemand mehr feststellen. Man nimmt aber an, dass er als zentrales Thema die nahe „Königsherrschaft Gottes“ vertreten hat, womit er sich massiv geirrt hat. Kann der Sohn Gottes sich irren?
Das alles wusste ich zwar damals nicht, der ganze Kram war aber einfach nicht plausibel! Um mit Lennon zu sprechen: „My instincts are fine, I liked to learn to use them in order to survive ...“ Thank you, John!
Was habe ich mich vor Jahren schon beömmelt über die angestrengten, ja, verzweifelten Versuche, die Wunder in der Bibel pseudo-sachlich oder historisierend oder psychologisierend zu erklären, beispielsweise bei der wundersamen Brotvermehrung: Es kam ihnen als mehr vor ... sie waren alle an Jesus interessiert, nicht am Essen ... keiner wollte als erster ... keiner wollte das letzte Stück nehmen ... das Wunder besteht im selbstlosen Teilen!
Teilen? Fünf Brote und zwei Fische für Fünftausend? Ich bin ja schlecht im Rechnen, aber das krieg ich noch hin: Bei soliden Frankenlaiben von 3 Kilo pro Stück bleiben 3 Gramm Brot pro Person!
Und das mit den zwei Fischen lassen wir dann mal lieber.
Verdammt! Es ist, wie fast alles in der Bibel, einfach nur gelogen. Klar, ein Messias muss sowas können, das gehört zur Berufsbeschreibung von Propheten und Heilsverkündern, genau wie übers Wasser gehen und Kranke heilen. Also hat man ihm das angedichtet, weil man unter der römischen Besatzung Hoffnung brauchte.
Und nur um in die Hände zu klatschen und den Urknall auszulösen, benötige ich auch keinen Gott. Außerdem: ER hätte ja eingreifen müssen bei der Deportation der Juden aus dem Warschauer Ghetto, ER hätte die Ermordung von 6 Millionen Juden verhindern können und sicher auch wollen, wenn er denn existierte und allmächtig wäre.
6 000 000 x dieses Leid? Wie gleichgültig darf denn ein Gott sein?
80 000 000 Tote als Folge des 2. Weltkriegs. Die schiere Monstrosität des Ganzen jagt Hitzewellen über meinen Körper.
Warum konnte Hitler nicht als Kind an einem Bonbon in der Luftröhre sterben oder, wie in der genialen Werbeparodie von 2013, vom Auto überfahren werden?
Warum hat ER die Nazis nicht abgestraft, in der Antike hat ER doch angeblich den Pharaonen zehn Plagen geschickt.
Nein, Gott ist wirklich tot! Sagte man so etwas zu meinem Vater, stand dieser Idiot mit vor Wut funkelnden Augen und geballten Fäusten vor einem. Er glaubte auch nicht an die Evolution und die Todesstrafe war in seinen Augen eine feine Sache.
Ja, der in der Familie permanent schwelende – und immer lautstark ausgetragene – brutale Streit widert mich heute noch an und hat ein wesentliches Stück weit mein Leben vergiftet. Und es sollte sogar noch schlimmer kommen.
Tatsächlich redeten wir Jungs 71/72 auf unserer reinen Jungenschule in den Pausen über kaum etwas anderes als Ficken, Mösen, Titten, Dr. Sommer, Alkohol. Gut, dann gabs noch Grand Funk Railroad, Don McLean, Simon und Garfunkel und andere wichtige Instanzen wie den Fußball.
Apropos Grand Funk Railroad: Locomotion, die klare, kraftstrotzende Stimme, die sauberen Bässe, auch heute noch jeden Tag im Auto, am besten so laut, dass die Scheiben rausfliegen: Leben spüren!
Politik jedoch interessierte uns damals nicht. Die Schule sorgte dennoch dafür, dass wir alle kostenlos die Ostverträge als fett glänzendes Druckwerk auf den Tisch bekamen. Gleich mehrere Bücher für jeden! Da ist der Regenwald hektarweise gestorben! Wer hat den Kram denn je gelesen?
Aber es ging um Rechtfertigung: Einige der Lehrer waren anscheinend dafür, die konservative Mehrzahl des Lehrpersonals dagegen, übrigens ein Panoptikum, dieses Kollegium, ein Sammelsurium der abstrusesten Typen, meist überaltert und nicht immer nett. Highlights: Der guruartige, krumme, lässige Chemie-Opa, von dem man munkelte, er habe am Treibstoff für die V2 mitgearbeitet.
Die verdorrte Bio-Oma mit Filzhütchen und Borstenquaste, von der man annahm, dass sie sich bald zwischen die Exponate ihrer verstaubten Sammlung einordnen würde.
Der unverständlich vor sich hinbrabbelnde Kunst-Opa mit seiner stinkenden Pfeife, der Sportmensch, ein zorniger spanischer Torero, alt, aber drahtig, des Deutschen kaum mächtig.
Der junge, elegante Däne im grauen Anzug, den man als Deutschlehrer eingestellt hatte, der englische Student in Klasse 8 mit seinem groben löcherigen Pullover als völlig&total unfähiger Englischlehrer, der zwar cool drauf war, aber so wenig Deutsch konnte, dass er Schwierigkeiten hatte, uns den Sinn hinter American Pie zu erklären, ich könnte so weitermachen ... der Englischlehrer in Klasse 9 – zur Abwechslung mal ein Deutscher – hatte einen heftigen seltenen Sprachfehler und hätte nie Lehrer werden dürfen! Sorgte so aber dafür, dass einige Schülergenerationen sich nicht in England verständigen können! Und das ist alles wirklich nicht erfunden! Eine irre Zeit! Und das wird in ein paar Jahren wiederkommen.
Ach, was red ich, es ist schon so weit: Beim Einkaufen erzählte mir eine Mutter von ihrer Tochter in der zehnten Klasse, die auf dem Arbeitsblatt einer russlanddeutschen Lehrerin „die Flusen Europas“ zuordnen sollte. „Kann ich nicht“ hat sie hingeschrieben. Gut so!
Nur unsere Oberstufenlehrer später waren durch die Bank mittelalt, modern und konnten sogar korrektes Deutsch. Sie hätten auch nichts gegen die Bravo gehabt, die wir wenige Jahre zuvor, in der Mittelstufe, im Altbau auf den Korridoren mit dem dunklen knatschenden Parkett heimlich herumgezeigt hatten. Das Interesse war so groß gewesen, dass ich oft gar keinen Blick auf die retuschierten Weichzeichnerfotos hatte erhaschen können. Ich hatte auch dauernd Angst gehabt, wir könnten erneut Ärger bekommen, weil wir in diesen düsteren heiligen Hallen in der Pause so einen Schweinkram konsumierten.
Unsere älteren Lehrer tickten wirklich nicht ganz sauber. So hatten sie doch Anfang der 70er auf den Elternabenden verkünden lassen, wir sollten keine Comics lesen, das verdürbe uns nur die Sprache.
Der mittlerweile abgerissene Backstein-Altbau erinnert mich an noch so Einiges: Die stinkenden Toiletten. Andy, der in den Pausen oben vor der Aula auf dem Klavier spielte wie ein junger Gott! Aber nur bis die Aufsicht uns fand. Das Hausaufgaben Abschreiben auf den breiten Betonmauern, die im Krieg die Kellereingänge hatten schützen sollen. Die Tuba des Hausmeisters neben seiner Haustür.
Ja, und noch etwas: Der Sportunterricht! Da zeigten sich die Jungs einander in der halbdämmrigen, muffigen Mattenkammer die Schwänze. Nur ich war zu schüchtern dazu. Gern hätte ich da mitgemacht, aber ich hielt meinen Penis, dieses sündenbehaftete Ausscheidungsorgan, für derart hässlich und unanständig, dass ich nur Bewunderung und Neid gegenüber denen empfand, die sich den Hosenbund nach vorn zogen und mit den Worten „da isser“, jemanden einen Blick drauf werfen ließen.
Im Frühjahr 72, ich wurde 15, gestaltete sich so ganz langsam das Leben für mich einfacher.
Die Schule machte nicht mehr so große Probleme, ich war doch tatsächlich noch in der Quinta wegen Mathe und Englisch sitzengeblieben. Damals hockte ich demotiviert und voller Angst bis in den Abend hinein vor meinen verhassten Hausaufgaben und fantasierte mich nachts in den Schlaf mit Träumen vom Weglaufen.
Nun aber konnte ich mich ganz langsam nach oben arbeiten und was mir zugutekam: Ich war an fast allem wirklich interessiert. Nur an Mathe nicht, weil ichs nach wie vor nicht verstand. Ich las wie ein Wahnsinniger, hörte Klassik, Pop Rock, Liedermacher, konnte „Befragung eines Kriegsdienstverweigerers“, „The Boxer“, „Ballad Of John And Yoko“ auswendig.
Englisch war interessant, weil alle Beatlessongs verdienten übersetzt zu werden. Physik, weil ich neben französischen Krimis SF las und an Technik und ihren Grundlagen interessiert war, Geschichte, weil ich verstehen wollte, wie wir dahin gekommen waren, wo wir waren. Bio, weil ich das Leben verstehen wollte.
Nachmittags flog mein uraltes Stricker Dreigang Damenrad die staubigen Straßen entlang zur Bücherei, damals noch nicht so überlaufen, ein stiller Ort der Literatur, des Verstandes, der Besinnung. Ich hatte gerade die Albernheiten der Jugendabteilung hinter mir gelassen und durchstöberte begeistert die Schautische mit Lesevorschlägen für Erwachsene, so dass ich z.B. auf Sidney Sheldon stieß, auf Peter F. Brinkmann, Gavin Lyall, Jerzy Kosiński, Norman Mailer und so fort.
Wenn ich genug Zeit hatte, an besonders ruhigen Tagen, ließ ich mir den Schlüssel für den Musikraum geben. Man hatte tatsächlich einen Plattenspieler aufgestellt, aber die Sammlung bestand nur aus einem Regalbrett mit etwa 20 Platten, darunter einmal die Beatles und einmal Karajan mit Beethovens Fünfter. So saß ich dann allein in dem friedlich-hellen quadratischen Zimmer in der quadratischen Beton-Bibliothek mit ihrem wunderbaren Atrium und in meinem eigenen Kosmos aus Klang.
Es fühlte sich an wie Zuhause sein! Mein richtiges Zuhause, mit Kitsch und Krempel überladen, war oft problematisch, mein Vater verdiente wenig bei Thyssen. Als 1967 ein Auto angeschafft werden sollte, musste meine Mutter sich für ein paar Monate einen Teilzeitjob bei Hella suchen, um dazuzuverdienen. Da beide nun Nachtschicht hatten, war ich nachts allein im Haus, was ich als 10-jähriges Mamakind gar nicht gut wegsteckte. Die Großmutter in der Wohnung über uns zählte nicht, mit der alten Bauernfrau kam ich nicht gut klar.
Weil Geld dauernd knapp war, erschien immer alles unheimlich kostbar. Nichts wurde weggeworfen und was man selber machen konnte, wurde nicht gekauft. So reparierte mein Vater selber unsere Schuhe und er schnitt mir die Haare! Ja, genauso furchtbar sah das auch aus!
Ich war derart mit dem Spartick infiziert, dass ich nicht verstehen konnte, dass die Straßenkehrmaschinen, die damals mit großen rotierenden Bürsten aus langen flachen Stahldrähten die Rinnsteine säuberten, immer mal wieder einen der Bürstendrähte verlor. Der lag dann im Rinnstein und keiner kümmerte sich darum, war doch aus Metall, war doch was wert! Armer kleiner Klaus!
Der Ausflug mit dem Rad in die Bücherei jedenfalls war wie eine Jagd nach Input. Aufregend und immer befriedigend.
Ähnlich wie der offene, durchsichtige Büchereibau war mein Geist weit geöffnet und in heightened awareness stromerte ich durch die Gänge, studierte die wissenschaftlichen Zeitschriften und sog die wunderbaren Hochglanz-Fotos von wachsenden Kristallen oder Bakterien unter dem Elektronenmikroskop auf. Die Forschung machte enorme Fortschritte, das Leben würde immer besser werden!
Die Tage waren auf mystische Weise verheißungsvoll und vor allem länger. In der Sonne saß ich auf meinem Bett und schaute durch ein Prisma direkt in die unendlich brillanten Spektralfarben der Sonne. Der Mond leuchtete heller, im Licht des Vollmonds konnte ich lesen! Aus einem Jogabuch lernte ich den Lotossitz, Atemübungen und den Geist freizumachen, was ich nun aber schon jahrelang nicht mehr schaffe.
SF und Astronomie waren wahnsinnig spannend. Ich stellte mir nachts unter einem Sternenhimmel vor, wie die Erde sich weiterdrehte und gleichzeitig um die Sonne raste, die wiederum in ihrem Spiralarm ums Zentrum der Galaxis rotierte, welche ihrerseits mit unglaublicher Geschwindigkeit in die Tiefen des Alls unterwegs war. Das war, ohne mir bewusst zu sein, eine ziemlich anspruchsvolle Meditationsleistung gewesen. Als ich später die Karikatur von Loriot „Mann, mit der bloßen Einbildung die Erdrotation wahrnehmend“ (oder so ähnlich) sah, fühlte ich mich doch ein wenig verarscht.
Aber Monty Pythons und Stephen Hawking halten mitdem Galaxy Song dagegen:
Just remember that you‘re standing on a planet that‘s evolving
And revolving at nine hundred miles an hour
That‘s orbiting at nineteen miles a second, so it‘s reckoned
A sun that is the source of all our power ...
Im Fernsehen standen freche Serien wie „Schirm, Charme und Melone“ und besonders „die Zwei“ mit ihren unnachahmlichen Sprüchen für einen neuen Geist, für neue Freiheit und natürlich Monty Phytons Flying Circus oder Loriot, Otto und schließlich das unvergleichliche Klimbim.
Ingrid Steeger, für mich sind Sie eine Heilige! Ihre göttlichen Brüste zu zeigen, war ein hehrer und reiner Akt der Gnade im prüden, verklemmten Deutschland! Ich fürchte auch, Sie haben mehr gegeben, als Sie zurückbekommen haben und das macht mich schon traurig. Also danke an dieser Stelle!
Es waren auch die Liedermacher und Komiker wie Insterburg und Co, Schobert und Black oder the late, great Ulrich Roski mit „Der kleine Mann von der Straße“, das ich heute noch auswendig kann, die ein freches, modernes, authentisches und spaßiges Lebensgefühl gegen den Muff von tausend Jahren anboten.
Roski setzte sich mit dem „Kleinen Mann“ auch mit der Reaktion Deutschlands auf die Terroristen, die RAF, auseinander, da heißt es: „... ich reiß gleich die Hände hoch, damit man mich nicht, wie man es so oft hört, in sogenannter putativer Notwehr erschießt.“
Ja, tatsächlich lagen bei den Polizisten die Nerven blank und es wurden bei Verkehrskontrollen einige Mitbürger erschossen.
Warum greift der auch ins Handschuhfach?
Und der hat so komisch reagiert, ach Tourette Syndrom, Pech gehabt.
Im Ernst, als junger langhaariger Musikfreak hatte ich wirklich panische Angst, in eine Kontrolle zu geraten.
Terrorismus war der negative Teil Deutschlands, den man gern verdrängte. Die Anschläge waren so häufig nicht und sie waren immer woanders, nie da, wo man selber wohnte und lebte.
Genau wie heute.
Sie waren für den Normalbürger und für mich als Schüler unreal und unwichtig, doch die dämlichen Terroristen haben mit ihren (von ihnen selber überbewerteten) Aktionen dafür gesorgt, dass die Politiker aus dem gemütlichen Deutschland mit Kräutern am Straßenrand und VW-Käfern als Polizeiautos einen Polizeistaat züchten konnten, wo Überwachung ein eigener Wert geworden ist und die Innenminister seit Jahrzehnten beharrlich in immer neuen Anläufen und mit den immer gleichen Lügen (Wir werden bedroht ...) für den völlig transparenten Bürger und dessen totale Entrechtung kämpfen.