Peter Wehle

Drum morde, wer sich ewig bindet

Ein Wien-Krimi

Freitag, 3. Jänner 2014, 5 Uhr

Ruslan Tschochaev liebte seine Arbeit. Ganz besonders an einem dritten Jänner um fünf Uhr früh. Niemand machte sich über ihn lustig, kein Mensch störte ihn, als er die Überreste einer weiteren feierwütigen Nacht in Wiens historischem Herzen beseitigte.

Vor allem die Seite mit dem Singertor hatte es ihm angetan. Auch wenn der Stephansdom für einen anderen als seinen Gott erbaut worden war, stellte er sich den Eingang zur Türmerstube gern als geheimnisumwittertes Tor in eine andere Welt vor. Natürlich würde er diesen Gedanken nie laut aussprechen, aber in der feierlichen Stille der monotonen Bewegungen mit dem Besen erlaubte er sich solche Ideen.

Fein säuberlich kehrte er die zahlreichen Nischen des verwinkelten Giganten und schob den Dreck auf die Schaufel. Er hatte seinen Straßenkehrerkarren einige Meter entfernt stehen gelassen, es war ihm lieber, mit jeder vollen Schaufel die paar Schritte zu gehen, als jedes Mal den Wagen zur nächsten Ecke zu schieben. Ruslan Tschochaev drehte den Kopf nach rechts, den Blick über den Stock-im-Eisen-Platz hatte er am liebsten, vor allem wegen …

Vor Schreck über den markerschütternden Schrei ließ er die Schaufel fallen, ihr Krachen wurde von einem hässlich schmatzenden Geräusch übertönt. Automatisch riss der Straßenkehrer die Arme in die Höhe und wickelte sie um seinen Kopf. Er hatte gelernt, ihn zu schützen, wenn er einen Sterbenden brüllen hörte. Nach fünf Sekunden neuerlicher Stille öffnete er vorsichtig seine Augen. Als er den dunklen Haufen am Fuß des Südturms sah, ließ er endgültig seine Vorsicht bleiben, stürzte hin – und erstarrte. Er hatte genug zerquetschte Menschenleiber gesehen, um sofort zu erkennen, dass er nicht mehr die Rettung zu rufen brauchte.

Freitag, 3. Jänner 2014, 8.45 Uhr

Ob er dieses Schnaufen gehört oder nur geträumt hatte? Wie immer, wenn er seinen Rausch ausschlief, bildeten die reale und seine eigene Welt einen einzigen Wahrnehmungsbrei. Mühsam hob Fridolin Pocziorek seine Augenlider. Zuerst war alles verschwommen, aber auch, als er sich die Augen rieb, sah er draußen vor den Fenstern lediglich einen riesengroßen Watte­bausch. Was aber nicht weiter verwunderlich war, denn Anfang Jänner konnte es den ganzen Tag dichten Nebel geben, erst recht zwischen Bäumen und über Wiesen wie hier am Zentralfriedhof.

Als er sich an die weiße, wenn auch schneelose Pracht gewöhnt hatte, merkte er, dass er sich das Geräusch nicht eingebildet hatte. Das Stöhnen kam von einem der Gräber irgendwo ganz in der Nähe. Von oder aus einem der Gräber? Noch bevor sich die wüstesten Zombie-Alpträume seiner nach wie vor alkoholdurchtränkten Fantasie bemächtigten, schälte sich Pocziorek aus dem Schlafsack, den er zwischen zwei mächtigen Grababdeckungen aus Granit platziert hatte. Im Kolumbarium links der Luegerkirche hatte es selbst um diese Jahreszeit eine erträgliche Temperatur, weshalb er sich hier ganz gerne zur Ruhe begab, wenn er es in den Notschlafstellen nicht mehr aushielt.

Ganz langsam schob er die kleine Türe auf, deren Schlüssel er sich vor Jahren besorgt hatte. Zentimeter um Zentimeter – vorsichtig vermied er auch nur das leiseste Quietschen. Allerdings hatte die Konzentration auf die rostigen Scharniere einen wesentlichen Nebeneffekt: Er bemerkte nicht, dass das Keuchen seltener, aber lauter wurde.

Noch Monate später, als er seine Alkoholsucht überwunden hatte, schwor Fridolin Pocziorek Stein und Bein, dass er, als er sich durch den Spalt gequetscht und seinen Blick wieder nach vorne gerichtet hatte, gestorben war. Er war sich absolut sicher, dass sein Herz ausgesetzt hatte, als vor ihm das Monster stand. Ein haariges Ungetüm, hinter dem alle erdenklichen Menschenknochen lagen. Alle … außer einem, denn den Totenkopf hielt ihm das Höllenwesen entgegen.

Freitag, 3. Jänner 2014, 19.45 Uhr

Er hatte es immer schon gewusst.

„Danke, Ludwig, dass du dir die Zeit nehmen konntest. Ich bin in einer sehr unangenehmen Lage, vor allem, weil …“

Aber es war ihm noch nie so deutlich aufgefallen, dass es seinem Freund und Vorgesetzten Ernst ­Straka derart an Menschenkenntnis und Sozialbegabung mangelte.

„… weil mir die Hände gebunden sind. Ich weiß schon, in deinen Augen bin ich immer wieder ein elender Opportunist, der sich nur darum bemüht, es allen – vor allem übergeordneten Stellen – Recht zu machen. Und weißt du was, vielleicht …“

Wie konnte Ernst nur glauben, dass er ihm zuhören würde, wenn er ihn gerade heute in dieses Nobelrestaurant einlud? Es hätte ihm doch klar sein müssen, dass er damit genau das Gegenteil erreichte.

„… vielleicht stimmt das auch. Aber ich bin nach wie vor der Meinung, dass das a priori keine schlechte Eigenschaft sein muss. Denn gerade dadurch ist es mir gelungen, unsere Abteilung aus allen Querelen herauszuhalten. Und davon, dass ich dir …“

Jeder Mensch würde mit einer gewissen inneren Ablehnung reagieren, wenn ihn sein Chef an einem dritten Jänner anruft und zu einem Arbeitsessen am selben Abend einlädt. Aber zu glauben, dass man jemanden nach den Feiertagen mit einer üppigen Speisenfolge bestechen könnte, zeugte von sozialer Ahnungslosigkeit.

„… dir deinen Posten dank meiner Kontakte mehrfach gerettet habe, davon will ich gar nicht erst reden.“

„Ernst, dann sag bitte nicht, dass du nicht darüber reden willst, sondern schweig gleich!“

Stille! Offenbar war seine Replik sehr deutlich gewesen. Oder gar zu deutlich? Egal, Halb genoss den Moment der Ruhe, erst recht, da er – aus einer kindischen Rachelaune heraus – das teuerste Degustationsmenü gewählt hatte, obwohl er noch mit Weihnachtsköstlichkeiten vollgestopft war.

„Ludwig, bitte hör mir doch zu. Ich hab dich doch nicht aus Jux und Tollerei heute hierher gebeten. Ich brauche dringend deine Hilfe!“

„Dringend? An einem dritten Jänner!“

„Leider! Seit fünf Uhr früh.“

Halb hätte noch gerne weitergestichelt, aber Strakas ungewöhnlich präzise Antwort ließ ihn die nächste Bosheit hinunterschlucken.

„Von mir aus … Also, worum geht’s? Mord, nehme ich an.“

Unter normalen Bedingungen wäre das Strakas Stichwort für einen etwas zu emotionellen und ausschweifenden Bericht gewesen. Aber diesmal …

„Es geht um … ich weiß, dass sich jetzt gleich einige Deiner Organwindungen zusammenballen werden, aber … ich …“

„Ernst, wer ist der Tote? Oder handelt es sich um ein weibliches Opfer?“

„Nein. Der Tote heißt Doktor Leopold Maximilian Traigenberger, der ehemalige Vorstandsvorsitzende der AIRIS-Gruppe, der ‚Austro-International Reinsurance‘. Einer der größten Rückversicherer weltweit.“

„Noch spüre ich kein Zucken in mir.“

„Sofort, Ludwig. Denn Leomax – so nannten ihn Freunde und engere Bekannte, zu denen ich mich zählen durfte. Leomax … also, er ist heute um fünf Uhr in der Früh vom Stephansdom heruntergestürzt.“

„Tragisch, aber was hat ein Selbstmord mit dir, geschweige denn mit mir zu tun?“

„Die Tatsache, dass es sicher kein Selbstmord war.“

„Aha! Dritter Jänner, fünf Uhr früh, Stephansdom, Sturz in die Tiefe – und das soll kein Selbstmord gewesen sein? Ernst, bitte, wie kommst du auf diese Schnapsidee?“

„Siehst du, Ludwig, genau jetzt kommt der Moment, in dem sich dein Inneres verknotet und …“

„Da bin ich aber gespannt, weil mein Bauch liegt dermaßen voll und faul in mir herum, dass …“

„Sein letztes und damit wohl größtes Ziel war es, sich in einer der Gruften der ‚Vienna City Center Crypts‘ dank seiner weltlichen Großzügigkeit sowie seines gottgefälligen Lebens zur ewigen Ruhe betten zu dürfen.“

„Seines gottgefälligen … was bitte? Wo bitte? Ernst, du spinnst! Allerdings – gratuliere, du hast es geschafft. Tatsächlich, in mir …“

„Darf ich trotzdem weiterreden?“

„Bitte.“ Halb vermied jede Gesichtsregung, die Straka seine aufflammende Neugier verraten könnte.

„Die ganze Geschichte beginnt vor vier Monaten. Vielleicht erinnerst du dich an die Schlagzeilen, damals wurden bei Bauarbeiten in der Domgarage einige vergessene Katakomben aus dem Mittelalter freigelegt. Mehrere Gänge voller Wandnischen voller Skelette. Diese Gräber dürften aus der Zeit früher Pestepidemien stammen. Die wurden verständlicherweise möglichst tief und möglichst weit weg gegraben und dann schnell wieder zugemauert.“

„Eine wunderbare Ausgangssituation für einen Horrorfilm.“

„Stimmt, aber dieser Thriller geht ganz anders weiter, als du glaubst.“

„Na geh, keine Untoten? Das ist aber schade.“

„Untote nicht, aber ein Vampir tritt auf. Allerdings einer mit Maßanzügen und feinsten Lederschuhen.“

„Na und? Auch Dracula muss mit der Zeit gehen. Und elegant war der schon immer.“

„Ist schon gut, Ludwig. Also, der längste dieser Grabgänge liegt unter einem der Häuser, die nicht mehr direkt …“

„Aber du meinst jetzt nicht die Blutgasse 13, oder? Weil der Dobler-Fall liegt mir noch schwer im Magen.“

„Nein, ich rede vom Haus mit dem schönen alten Namen ‚Zum welschen Felsen‘, dessen Adresse legendär ist … es hat nämlich keine.“

Halb drehte sich demonstrativ um, als ob er etwas suchen würde. „Ernst, spielen wir hier ‚Versteckte Kamera‘? ‚Vienna City Center Crypts‘, vergessene Katakomben, ein gottgefälliges Leben zur ewigen Ruhe betten, ein ermordeter Selbstmörder und jetzt noch ein Haus ohne Adresse! Gleich schlägst du mir lachend auf die Schulter und ich bin plötzlich Fernsehstar in ‚Lustige Mordermittler ganz privat‘. Oder …“

„Ludwig – Star, ja! Lustig, nein! Du bist mein Star­ermittler, außerdem der einzige, auf den ich mich verlassen kann. Und daher – nichts von alldem ist erfunden.“

„Nicht einmal das Haus ohne …“

„Ist genauso echt wie alles andere. Schau, im Laufe der Jahrhunderte wurden auch die verbliebenen Höfe zwischen den Häusern um Sankt Stephan teilweise zugebaut, sodass du heute manche dieser Gebäude nur auf Umwegen betreten kannst.“

„Oder eben unterirdisch.“

„Genau. Über die alten Keller oder Teile der Katakomben kannst du auch …“

„Das überlasse ich lieber Höhlenforschern.“

„Ich auch. Aber leider spielt eine dieser Katakomben …“

„Die unter dem ‚welschen Felsen‘?“

„… die spielt eine Hauptrolle im Fall Traigenberger!“

Samstag, 4. Jänner 2014, 12.45 Uhr

„Ein Gang voller Skelette tief unten verursacht einen Todessturz von hoch oben? Auch nicht schlecht.“ Wie so oft fasste Schwejk einen komplexen Inhalt ebenso knapp wie zynisch zusammen.

„So in etwa. Das Bindeglied ist ein – laut Ernst – höchst dubioser Geschäftsmann namens Michael Firtussek.“

„Der mit dem Hinterhaus, unter dem diese Knochen herumliegen?“

„Stimmt, Verena.“ Dass sein „Teamküken“ Verena ­Planner schon bald den rauen Tonfall ihrer beiden altgedienten Kollegen Franz Haschek und Anton Wilt übernommen hatte, regte Halb schon längst nicht mehr auf.

„Die gefüllten Blini, bitte für wen? Und die Soljanka? Die Wareniki waren für die Dame. Und zuletzt – bitte schön, der Herr.“ Halb erschrak, als er seine Portion Perepetschi sah. Vielleicht hätte er doch nicht das Nützliche mit dem Angenehmen verbinden, sondern ehrlich sein sollen?

„Chef, sehr lieb, dass du ab nun jährlich zum ‚Neujahrsempfang der Ermittlergruppe Hofrat Halb, Referat 3.2.1 Gewaltkriminalität, Österreichisches Bundeskriminalamt‘ einladen willst, aber …“

„… aber es hätte doch nicht gleich beim ersten Mal so ein gehobenes Restaurant wie das ‚B/Allerlei/ka‘ sein müssen, schon gar nicht …“

„… an einem Samstag zu Mittag, wo wir doch wissen, wie sehr du es hasst, dich – und uns – auch am Wochenende mit einem Fall zu beschäftigen.“

Doch, er hätte lieber ehrlich sein sollen! Jetzt blieb nur die klassische Wiener Strategie, der gekränkte Entlastungsangriff. „Also, so viel triefenden Spott verdiene ich auch wieder nicht! Immerhin hab ich euch in eine der angesagtesten und teuersten Neueröffnungen am kulinarischen Himmel Wiens eingeladen!“

„Apropos Himmel … Vom Himmel hoch, da komm ich her – wie ist dieser Traigenberger zur Absprungstelle gekommen? Oder, falls Straka recht haben sollte – wie hat ihn sein Mörder dort hinaufgebracht?“

„Und wie lange war er weg? Weil, wenn er wirklich getötet worden ist, dann wird er ja kaum am dritten Jänner um vier Uhr in der Früh sich einfach so entführen haben lassen. Seit wann hat ihn denn seine Familie vermisst?“

„Und … vielleicht das Wichtigste, um überhaupt irgendeinen Anhaltspunkt zu haben: Wer war dieser Doktor Traigenberger? Wieso war es ihm so wichtig, in einer Gruft ganz in der Nähe des Stephansdoms bestattet zu werden? Wer waren seine Feinde?“

Dankbar stieg Halb auf das scheinbare Friedensangebot aller drei „Teamlinge“ ein. „Die erste Frage kann ich vielleicht beantworten: Wegen Bauarbeiten gibt es derzeit einen Materialaufzug hinten außen am Südturm. Aber sonst – über Doktor Leopold Maximilian Traigenberger weiß ich einstweilen nur, was mir Ernst erzählt hat. Ehemaliger Wirtschaftskapitän, auch in der Pension noch der typische ‚Macher‘. Spitzname ‚Leomax‘, verheiratet mit Philippine, genannt Ini, einer geborenen ‚von und zu‘. Sohn Leopold Albert, ‚Leobert‘, studiert Internationales Recht und Tochter Aurelia Amalia – mit dem schönen Kosenamen ‚Aumali‘ – scheint vor allem auf einen finanziell potenten Ehemann zu warten. Die ganze Familie ist – oder war – offenbar das Sinnbild altösterreichischen Bürgertums, etwas Biedermeier, ziemlich monarchistisch und sehr katholisch. … weshalb Ernst darauf beharrt, dass es kein Selbstmord gewesen sein kann. Die restlichen Antworten suchen wir uns ab Montag zusammen. Wobei, über den …“

„Chef, ab Dienstag.“

„Wie bitte, Toni?“

„Ab Dienstag suchen wir Antworten, nicht ab Montag. Feiertag!“

„Wieso …“

„Chef, du willst doch nicht behaupten, dass du dich nicht schon seit Tagen auf die heiligen drei Könige freust.“

„Wo die doch immer so schön singen!“

Halb schüttelte den Kopf, ausnahmsweise musste er seine – ihnen allen lieb gewordene – Verzweiflung nicht spielen, geschweige denn übertreiben. „Kann es sein, dass ihr das Motto ‚Weihnachten, ein Fest für Kinder‘ zu wörtlich genommen habt? Ich erkenn euch ja nicht wieder!“

„Ja, Herr Lehr…“ Verena schien die Komödie weiterspielen zu wollen, aber als Sie Schwejks und Tonis Gesichter sah, brach Sie sofort ab. „Chef, sei uns bitte nicht böse, aber … wie sollen wir denn sonst reagieren? Du zitierst uns mitten aus unseren – ohnehin kärglichen – Ferien zum Ermitteln. Und damit du kein allzu schlechtes Gewissen hast, tarnst du das als ‚Neujahrsempfang‘ in einem – zugegebenermaßen ausgezeichneten – Restaurant, obwohl du dir denken kannst, dass uns die heimischen Weihnachtsköstlichkeiten noch bis zur Oberkante Unterkiefer stehen. Wir hatten zwei Möglichkeiten: böse zu sein oder uns über dich lustig zu machen. Hättest du die andere lieber gehabt?“

Eine Sekunde lang hatte Halb den Eindruck, dass auch er jetzt nur zwei Möglichkeiten hatte: auf seine Teamlinge oder auf sich selber sauer zu sein. Nach vier tiefen Atemzügen entschied er sich für eine dritte Variante … und ließ seinem Ärger über Straka freien Lauf.

„Willkommen im Club! Ich hab doch nur das getan, was die Hierarchie und Straka verlangen – den Druck nach unten verteilen! Ihr könnt mir glauben, dass auch ich nicht rasend erfreut war, wie mich der Ernst gestern am Nachmittag angerufen und um Hilfe … ich möcht fast sagen … angefleht hat. Gut, ich gebe zu, den Pseudotrick mit dem ‚Neujahrsempfang‘ hätte ich mir sparen können. Ich verspreche hoch und heilig, dass ich euch nächstes Jahr am dritten Jänner höchstens auf eine zweitägige Entschlackungskur einlade. Aber was den Mordfall Traigenberger betrifft, da haben wir – noch einmal – zwei Möglichkeiten: uns auf den juristisch korrekten ‚Ferien bis zum siebenten Jänner!‘-Standpunkt zu stellen und Straka brutal zu brüskieren, oder aber als ‚Mord-Pfadfinder‘ zu agieren und …“

„Als wer bitte?“

„Wir sind wie die Pfadfinder – bei Mord allzeit bereit! Dafür machen wir ein anderes Mal ein paar Tage Urlaub, das muss ja dann keiner erfahren. Einverstanden? Dann …“ Halb warf einen besonders sanften „Chef-Blick“ in die kleine Runde. „Danke! Dann würde ich einen kleinen Verdauungsspaziergang vorschlagen … der Dom ist ja nur zwei Ecken entfernt. Wir haben ja ohnehin selten einen so schönen Tatort, also können wir es diesmal wenigstens genießen, uns einen ersten Eindruck zu verschaffen. Gut, dann …“

„Lass stecken, Chef. Du machst nie wieder einen ‚Neujahrsempfang‘, dafür zahlt heute jeder für sich. Okay?“

Halb zögerte nur kurz, dann zog er mit breitem Lächeln seine Brieftasche heraus. „Erstens nein! Zweitens ja! Drittens nein, liebe Verena. Nein – ihr zahlt nicht! Ja – ich erwähne dieses böse Neujahrswort nie wieder. Und drittens … nein, im Endeffekt zahle auch ich nicht! Selbstverständlich lass ich Ernst dafür bluten. Das ist ja wohl das Mindeste, wenn er uns schon als seine Privatdetektive missbraucht. Daher – Herr Ober, bitte die Rechnung … mit Mehrwertsteuer, ganz offiziell!“

Samstag, 4. Jänner 2014, 14 Uhr

„Hinter dieser Fassade, da müsste das Haus ‚Zum welschen Felsen‘ stehen. Dieser Firtussek … das heißt, wollt ihr überhaupt noch etwas über ihn hören? Oder habt ihr gar keinen Hunger mehr, nicht einmal nach Informationen?“ Die letzten Worte dekorierte Halb mit einem kleinen Lächeln als Schlusspunkt seiner Strategie der letzten Minuten. Zuerst ein Kaltluftstoß zur Aufmunterung, dann die Kreidestriche am Tatort, um die professionelle Neugier zu wecken, und zuletzt dieser beiläufige Scherz, der nach Widerspruch verlangte. So der Plan. Und …

„Also, wenn wir schon da sind, dann …“

„… es bleibt uns ja sowieso nicht erspart, uns auch mit ihm zu beschäftigen.“

„Und wir wollen dich ja auch nicht enttäuschen.“

Treffer! Allerdings konnte er sich mit den nächsten Worten alles verderben, weshalb er betont neutral fortfuhr. „Laut Ernst hat dieser Firtussek, kaum, dass er von der Katakombe unter seinem Haus gehört hatte, sie offiziell als seinen Besitz reklamiert. Zum Drüberstreuen hat er …“

„Chef, was ich nicht versteh – was heißt hier ‚Besitz‘? Ich mein, der Firtussek hätte doch erst den Denkmalschutz oder die Stadtarchäologie oder das Domkapitel, vielleicht sogar die Bestattung Wien, ja sogar den lieben Gott fragen müssen, ob er so einen Fund überhaupt als Besitz bezeichnen darf. Wir sind doch in Österreich, da darf man nicht dürfen, ohne zu fragen!“

„Toni, vielleicht hätte er das tun müssen, aber er ist lieber gleich in die Medien gegangen, und dann hat er sich sogar noch einen berühmten Anwalt genommen.“

„Kennen wir den?“

„Oh ja, nur allzu gut. Es ist niemand geringerer als Doktor Bäuler.“

„Uj, einer deiner speziellen Lieblinge. Pass nur auf, dass du nicht noch einmal vor seiner Kanzlei erschossen wirst.“

„Danke, Schwejk, ich werde deinen Rat beherzigen. Auf jeden Fall scheinen die zwei, Firtussek und Bäuler, einander glänzend zu ergänzen. Laut Ernst haben die beiden gleich nach Bekanntgabe des Sensationsfundes eine Pressekonferenz gegeben, bei der Sie die Frechheit besaßen, sich noch als Wohltäter und großzügige Sponsoren aufzuspielen.“

„Helfen Sie Waisenkindern? Oder Hochbegabten, weisen Kindern?“

„Verena, ich glaub, so humorvoll sind die nicht. Und der Erzdiözese wird wohl gleich das Lachen vergangen sein, weil Firtussek den hohen Herren über die Medien ausrichten hat lassen, er wäre bereit, alle neu entdeckten …“

„Alle?“

„Ja, nicht nur die eine unter seinem Haus, sondern alle. Er würde alle neu entdeckten Gräbergänge auf eigene Kosten sanieren, sodass diese zusammen mit den berühmten herrschaftlichen Gruften und den bereits bekannten Katakomben als eigenes Museum geöffnet werden könnten. Quasi nach dem Motto: Die bisherigen Katakombenführungen sind tot, hoch lebe die neue Katakombenattraktion! Der Stephansdom könnte dann natürlich auch die Eintrittsgebühren massiv erhöhen … und dürfte diese sogar behalten.“

„Wie großzügig von diesem Firtussek!“

„Nicht wahr, Toni! Aber natürlich … ‚Umsonst ist nur der Tod, und auch nur für den Verstorbenen!‘ Wie der Ernst diesen Satz zitiert hat, hat er Firtussek nachgeäfft und ihn beinahe ein A…“

„Nein! Das kann nicht sein. Nicht der Herr Hofrat Doktor Straka!“

„Doch, glaubt mir. Aber ich hab ihn gerade noch bremsen können.“

„Wie?“

„Indem ich ihm vorgeschlagen habe, über diesen geldgeilen Unhold ab nun nur mehr per ‚dieses Firtussek‘ zu sprechen.“

„Pfui, wie könnt ihr nur. Aber gut … und weiter?“

„Na ja, Firtussek hat auf dieser Pressekonferenz dann angeblich auf bescheiden gemacht. Für seine ach so großzügige Sanierung wollte er doch nichts Besonderes, nur die offizielle Erlaubnis, dass er ‚seine‘ Katakombe in einem ersten Schritt von den restlichen mit einer Spezialtür abtrennen dürfte. Dann würde er die Skelette entfernen und – selbstverständlich auch das auf eigene Kosten – in einer Gedenkstätte auf einem Wiener Friedhof feierlich bestatten lassen. Die dann leere Grabstätte unter seinem Haus würde er zu einer Gruft umbauen lassen – einer Gruft, die an Pracht und Noblesse kaum zu toppen wäre! ‚The Vienna City Center Crypts, Saint Stephen’s‘, die ‚VCCCs‘! Das wäre ein sensationelles Jahrhundertprojekt! Eine Gruft, die jegliche Sicherheit vor Zerstörung durch Vandalen oder sonstige Gegner der dort Bestatteten garantieren würde.“

„Eine Nobelgruft? Ein Taj Mahal am Stephansplatz? Besser gesagt, einige Stockwerke darunter? Der spinnt ja!“

„Schwejk, du brauchst dich gar nicht so aufzuregen! Denn das war noch nicht einmal alles. Laut Ernst hat sich Firtussek derart hineingesteigert, dass er dem Domkapitel angeboten hat, als Krönung seiner Großzügigkeit einen eigenen Abgang direkt vom Stephansplatz in das neue Museum zu bauen! Mit Eingangsbereich, Shop, Cafeteria und allem, was das Herz eines modernen Touristen begehrt. Und am Ende der Pressekonferenz hat Firtussek noch den glorreichen Vorschlag gebracht, das ganze ‚Katakombinum‘ zu nennen. Und damit die Besucher nur so in Scharen strömen, hat er der Erzdiözese nahegelegt, das Katakombinum vor allem den Themen ‚Pest‘, ‚Türkenkriege‘, ‚Todes­strafe‘ und ‚Skelette‘ zu widmen, das Ganze zu einer Art Geisterbahn umzubauen – der Tod allein würde doch keinen Hund mehr hinterm Ofen hervorlocken, nur echt blutiger Horror würde sich sehr gut verkaufen.“

„Und als Prunkstück dieser makabren Fremdenverkehrsattraktion würde sein seltsamer Nobelfriedhof …“

„Nein, Verena! Die Vienna City Center Crypts sind ein völlig separates Projekt, eine vom Katakombinum komplett abgetrennte Einrichtung, sozusagen die Belohnung für Firtusseks Sponsoring. Natürlich sagt er das nicht so offen, aber in Wirklichkeit will der damit Millionen verdienen.“

„Wie soll das gehen?“

„Indem er eine Gruft mit vierundzwanzig Grabstellen baut, je zwölf in einer Reihe. Jede dieser ‚Bestattungsgaragen‘ hat natürlich ihren eigenen Zugang mit persönlichem Code, ihre eigene Beleuchtung, ihre eigene Belüftung, ihre eigene musikalische Beschallung und ihr eigenes Service. Und gleich beim Eingang der VCCCs, der sowohl über einen Aufzug direkt aus der Tiefgarage als auch über eine betont unauffällige Tür im Erdgeschoß vom Haus ‚Zum welschen Felsen‘ zu erreichen ist – bei diesem Eingang soll es einen Personal- wie auch einen Besucherbereich geben. Laut Ernst hat Firtussek sogar einen kleinen Saal für Veranstaltungen eingeplant – zum Beispiel könnte dort anlässlich des x-ten Todestags eines der erlauchten Bestatteten eine Gedenkfeier stattfinden.“

„Chef, du hast vorhin von ‚Sicherheit vor Zerstörung durch Vandalen‘ gesprochen. Was genau meinst du?“

„Toni, ich hab das so verstanden, dass Firtussek diese Grabstätte vor allem in Tyrannen- und ähnlichen Kreisen bewerben will. Stellt euch vor, ein Diktator weiß, dass er bald sterben muss … ironischerweise an einer normalen Krankheit, nicht am schlechten Gewissen wegen der Millionen Opfer, deren Leid er verschuldet hat. So jemand will natürlich nicht nur schlicht begraben, geschweige denn irgendwo verscharrt werden. Und er muss auch an die Möglichkeit einer Grabschändung denken, falls seine ‚geliebten Untertanen‘ eines fernen Tages – aus seiner Sicht irrtümlich – frei sein sollten. Die Lösung: ‚Kommen Sie in die VCCCs, da wird sogar die Ewigkeit zur kurzweiligen Unterhaltung!‘“

„Aber, das ist doch ein grundsätzlicher Denkfehler! Ein wahrer Despot wird sich doch mitten in seinem Reich ein Grabdenkmal erbauen lassen, wie es die Welt noch nicht gesehen hat. Den kannst du doch nicht mit der Adresse ‚Grabstelle siebzehn, Zum welschen Felsen, Wien eins, tief unterm Stephansplatz‘ ködern.“

„Schwejk, mit mir musst du nicht argumentieren! Aber ich denk mir halt, dass der Firtussek dermaßen überzeugt von seiner Idee ist, dass …“

„Du willst sagen, er ist vom vielen Geld geblendet.“

„Oder so. Auf jeden Fall scheint er ein Mann zu sein, der – um es vorsichtig zu formulieren – außerordentlich begeisterungsfähig ist. Da kann es schon passieren, dass die Logik aussetzt.“

Obwohl inzwischen leichter Nieselregen eingesetzt hatte, lockerten Schwejk und Halb ihre Schals, so sehr hatten Sie die skurrilen Gedankengänge erhitzt.

„Und dort drüben unten …“, Verena deutete vage in die Richtung, in der sie die Katakombe unter dem ‚welschen Felsen‘ vermutete, „wollte sich auch dieser Doktor Traigenberger unbedingt bestatten lassen?“

„Laut Ernst – ja.“

„Aber warum? Warum wollte er in unmittelbarer Nachbarschaft zu diesem menschlichen Abschaum seine ewige Ruhe verbringen? Noch dazu, da das ein Schweinegeld kosten dürfte, denn …“

„Stimmt, Verena, das würde Toni und mich auch ganz besonders interessieren. Um welche Summen geht es denn bei diesen Vienna City Center Crypts? Wie viel soll denn jede dieser Einzelgruften kosten?“

„Schwejk, ich kann euch einstweilen natürlich nur das sagen, was mir Ernst erzählt hat. Laut ihm schweben dem Herrn vom ‚welschen Felsen‘ gewaltige Summen vor. Rund eine Million Euro! Pro Grab! Das sind …“

„Vierundzwanzig Millionen Euro?“

„Toni, jetzt tu doch nicht so erstaunt! Für die High Society der internationalen Bestien ist eine Million gerade einmal das, was jeder von diesen Sadisten pro Stunde, vielleicht sogar pro Minute allein schon an Enteignungen verdient. Und davon will sich eben der Herr Firtussek eine Scheibe abschneiden. Wobei, mit den vierundzwanzig Millionen würde er sich ja noch nicht zufrieden geben! Laut Ernst könnten die ­Vienna City Center Crypts pro Jahr mindestens einige zusätzliche Millionen einspielen … Blumenschmuck, spezielle Beleuchtungsprogramme, Beiträge für bestimmte Gedenkfeiern. Mein Gott, Kleinvieh macht auch Mist.“

Ohne es zu merken, hatten sie sich um die Umrisse von Traigenbergers Aufprallstelle gruppiert. Verena fixierte die im Regen immer blasser werdenden Kreidestriche, und Toni starrte vor sich hin. Schwejk versuchte mit seinen Blicken durch den Nebel zu dringen. „Wissen wir schon, von wie weit oben Traigenberger gesprungen ist? Oder gestoßen wurde?“

„Ich nicht, aber wir vielleicht schon. Ernst hat – wenn auch höchst inoffiziell – natürlich gleich gestern die Kriminaltechnik den halben Turm absuchen lassen. Die Ergebnisse bekommen wir am Mo… am Dienstag.“ Halb deutete ein leises Entschuldigungszucken seiner Schultern an. „Ich verspreche euch, bis Mittwoch nächster Woche werde ich mir gemerkt haben, dass am Montag ein Feiertag gewesen sein wird.“

Als erste sprang Verena auf seinen Wink mit dem Zaunpfahl an. „Aber vorhin hast du noch etwas von ‚bei Mord allzeit bereit‘ gesagt. Also, erwartest du uns jetzt am Montag im Büro oder nicht?“

„Selbstverständlich erwarte ich von euch, dass …“, nur mühsam unterdrückte Halb ein Lächeln, die „­Sekunden-Choreografie“ aus hoffnungsfroher Muskelanspannung und enttäuschtem Zusammensacken erheiterte ihn trotz der tristen Umstände, „ihr eure Ferien genießt und danach wieder in alter Frische dafür sorgt, dass das Böse in unserer Stadt keine Sekunde mehr ruhen kann, weshalb wir einander am Dienstag …“

„Und außerdem hast du keine Lust, überübermorgen noch einmal die ganze Geschichte zu wiederholen, wenn auch die Helli und der Ingeniöhr von ihren Urlauben zurück sind. Stimmt’s?“

„Nicht ganz, lieber Toni! Denn wie üblich werde ich erst gegen neun Uhr erscheinen und mich dann freuen, dass ihr drei die zwei bereits informiert habt. Also dann, auf Wiedersehen … am Dienstag, den siebenten Jänner!“

Kaum, dass er seinen Schal wieder fester gebunden, ein unbestimmtes Winken angedeutet und sich weggedreht hatte, hob Schwejk die Hand, als ob er seinen Chef zurückholen wollte. „Eins noch, habe ich das richtig verstanden? Nur weil Hofrat Straka einerseits seit Jahrzehnten Familie Traigenberger kennt und er sich andererseits nicht vorstellen kann, dass dieser Leomax freiwillig gesprungen ist, deshalb dürfen wir uns jetzt lächerlich machen? Natürlich war das ein Selbstmord, warum sonst sollte dieser Mann gleich die erste Gruft in dieser geschmacklosen Leichenbewahranstalt für Wien-Freunde der internationalen Diktatorenelite kaufen wollen?“

Halbs Versuch eines unbeschwerten Lächelns verkam aus verschiedenen Gründen zu einem Gesichtsausdruck, der jeder Sphinx zur Ehre gereicht hätte. „Siehst du, Schwejk, das ist doch gleich ein wunderbarer Einstieg für kommenden Dienstag. Grüß euch!“ Dass er die ganze Zeit gehofft hatte, auf diese und andere ähnlich seltsame Fragen gemeinsam eine Antwort zu finden, wollte er ihnen nicht noch nachrufen. Das hätte zu sehr nach Enttäuschung geklungen.

Samstag, 4. Jänner 2014, 14.30 Uhr

Auf dem Weg zur U-Bahn bemühte sich Halb, das ­Chaos in seinem Kopf in den Griff zu kriegen. Er hasste es, wenn die Gedanken selbstständig durch sein Hirn schwirrten, ohne ihn zu fragen, wo sie sich einordnen sollten. Im konkreten Fall machte ihm vor allem eines zu schaffen: Welche von Ernsts Neuigkeiten hatte er in den letzten Stunden seinen Teamlingen berichtet?

Eines war klar: Das gestrige Nachtmahl war viel informationsreicher als das heutige Mittagessen gewesen. Von Sixtus Ekkehardt zum Beispiel, von dem hatte er heute keine Silbe erwähnt. Strakas „Gott-sei-bei-uns“! Dabei hatte ihm Straka ausführlich seine Freude geschildert, als er von seinen Bekannten aus der Pfarre Sankt Stephan gefragt worden war, ob er nicht Mitglied in einem speziellen Gremium werden wollte. Als nämlich die Pläne Firtusseks ruchbar geworden waren – ja, Ernst hatte doch tatsächlich das Wort „ruchbar“ verwendet –, als eben diese Pläne bekannt geworden waren und gleichzeitig klar wurde, dass nicht so einfach gegen dieses schamlose Bauwerk vorgegangen werden könnte, war von einigen Würdenträgern beschlossen worden, auf jeden Fall allzu großes Aufsehen zu vermeiden. Irgendwie hatten Sie Firtussek unter Druck gesetzt und ihm eine Unterschrift abgerungen. Damit hatte der vorerst einmal akzeptiert, dass er die einzelnen Grabstellen nicht an jeden dahergelaufenen Massenmörder verkaufen könnte, sondern dass ein eigenes Gremium die Erlaubnis erteilen würde, wer dort seine letzte Ruhestätte finden dürfte. Und er, Ernst Straka, war gefragt worden, ob er nicht Mitglied eben dieses „Rats zur Beurteilung der Bestattungswertigkeit und –würdigkeit“, des „RaBeWe“ werden wollte. Und wie er wollte!

Halb lächelte, als ihm Strakas Gesichtsausdruck einfiel, wie er ihm die Leviten gelesen hatte. Er, Halb, wäre davon überzeugt, dass sowohl Firtusseks Unterschrift als auch dieser RaBeWe im „Papierkorb der Geschichte“ landen würden! Und zwar genau in dem Moment, in dem der erste millionenschwere Interessent für eine der Gruften auftauchen würde. Aber Straka war absolut bei seiner Meinung geblieben – nein, die Entscheidungen des RaBeWe würden ganz sicher auch von Firtussek, ja, sogar von Doktor Bäuler anerkannt werden! Da er es sich nicht mit seinem langjährigen Freund Ernst Straka, noch dazu wegen einer solchen Lächerlichkeit, verscherzen wollte, hatte er sofort das Thema gewechselt und sich über die anderen Mitglieder erkundigt. Was sich als grober Fehler erwies! Ernst hatte sofort zu jammern begonnen. Denn genau in diesem RaBeWe hatte er Sixtus Ekkehardt kennengelernt. Ein „menschliches Übel“, das dank seines Selbstbewusstseins sofort den – eigentlich gar nicht vorhandenen – „Chefsessel“ für sich in Anspruch genommen hatte. Außerdem war Ekkehardt „ein unvorstellbarer Besserwisser und Meinungstyrann! Weißt du, Ludwig, im Vergleich mit dem wirkt ein spanisches Inquisitionstribunal wie ein schlimmer Kindergarten. So was von einem humorlosen, arroganten Oberlehrer. Selbst wenn er hustet, hast du den Eindruck, als ob er den Zeigefinger heben und dich kritisieren würde. Und genau dieser Hohepriester der Selbstherrlichkeit ist jetzt der ‚Oberrichter‘, der über diese schreckliche Tragödie zu urteilen hat.“ An der Stelle waren Sie wieder auf Doktor Traigenberger zu sprechen gekommen.

Halb bog zur Virgilkapelle ab, um die aus der U-Bahn strömenden Menschenmassen an sich vorbeiziehen zu lassen. In diesem Eck konnte er besser nachdenken. Hatte er seinen Teamlingen alles über Traigenberger erzählt? Erzkonservativer Patriarch, Witwe Ini, Sohn Leobert, Tochter Aumali … und Leomax wollte unbedingt der erste sein, der in den Vienna City Center Crypts bestattet werden würde. Warum eigentlich? Das hatte ihm Ernst noch nicht gesagt … vielleicht nicht sagen können, möglicherweise wusste er es selber nicht.

Als sich Halb wieder in die Fluten des öffentlichen Verkehrs warf, sah er für einen Augenblick ein Gesicht, das ihn an einen Fischadler erinnerte. Unter einem Schopf weißer Haare maßen starre Augen die Umgebung, als ob die messerscharfe Nase und der leichte Vorbiss sofort auf eine Beute loshacken würden. So stellte er sich Sixtus Ekkehardt vor.

Und in dieser Sekunde hatte Halb ein Bild vor Augen, das ihn gleichermaßen ängstigte wie erheiterte: einen Schwarm Lachse, in deren Mitte ein bemerkenswertes Exemplar schwamm – es trug Ernst Strakas Züge. Dieser „Lachs-Ernst“ machte ein gequältes Gesicht, seine Augen flogen zwischen seinen Mitfischen hin und her. Plötzlich schoss eines der Tiere aus dem Wasser, stieg höher und höher und mutierte dabei zu einem Fischadler.

Als Halb nicht mehr mit den Menschenmengen mitschwamm, sondern in einem hinteren Waggonwinkel zum Stehen kam, spürte er ein flaues Gefühl im Magen – und er war ganz sicher, dass das keine verspätete Wirkung der Perepetschi war.

Ernst Straka, der sich ein Leben lang als Schwarmtier gesehen und entsprechend vernetzt hatte, drohte die Gefahr, aus mehreren freundschaftlichen Banden einen Strick gedreht zu bekommen.

Schwejk hatte Unrecht gehabt – es ging nicht um Ernsts Eitelkeit und Feigheit, es ging um mehr.

Aber um wie viel mehr? Und um welches „mehr“?

Samstag, 4. Jänner 2014, 22.30 Uhr

Verena?

Wohlig streckte sich Halb in seinem Lieblingsohrensessel. Der Duft der frischen Ostfriesen-Mischung mit Goldspitzen ließ ihn sanft, aber unerbittlich aus seinen Gedankennebeln auftauchen.

Hatte nicht Verena diese wesentliche Frage formuliert? Warum war es Traigenberger so wichtig gewesen, in unmittelbarer Nachbarschaft zu größenwahnsinnigen Massenmördern seine ewige Ruhe zu finden? Wollte er am Ende gar keine ewige Ruhe, sondern stattdessen tiefgekühlt auf Zeiten warten, in denen ihn eine modernere Medizin wieder in alter Frische auferstehen lassen würde? … Das wäre dann wohl in sehr alter Frische gewesen!

Oder sollte es sich doch nur um einen letzten Aufschrei – „Seht her, für mich nur das Teuerste!“ – handeln? Aber dann hätte er sich viel leichter auf irgendeinem Nobelfriedhof ein opulentes Grabmal bauen lassen können! Ein oberirdisches, gut sichtbar für jeden „Normalgrab“-Besucher.

Halb schüttelte munter den Kopf. Nein, beide Hypothesen widersprachen Traigenbergers streng katholischer Lebenssicht.

Vorsichtig schälte er sich aus seiner Kauerposition, um ein Zimmer weiter zu wechseln. Seit er zwischen drei Haushalten pendelte, wusste er nie so genau, ob und wann er welches Bett frisch überzogen hatte. Und da er die letzten zwei Wochen in – bereits erstaunlich trauter – Zweisamkeit und daher in seiner alten Wohnung verbracht hatte, hatte er keine Ahnung, welcher Anblick sich ihm in seinem Schlafzimmer bieten würde. Plötzlich grollte es heftig in ihm – warum musste Delia gerade heute ihre „Dreier-Mama“ besuchen! „Ludwig, deinetwegen! Sonst hätte ich sie doch schon am Heiligen Abend oder wenigstens zu Silvester besucht.“ – Er hatte ihren mit einer Prise Vorwurf gewürzten Tonfall noch allzu gut im Ohr.

Vorsichtig drückte er die Klinke herunter – und wäre am liebsten gleich im strahlenden Ensemble aus Leintuch, Polster und Decke versunken. Die wenigen noch notwendigen Schritte ins Badezimmer und zum Kleiderständer könnte er auch im Halbschlaf absolvieren und …

So hässlich hatte das Telefon noch nie geklingelt!

Sollte er? Oder nicht? Delia? Nein, die würde ihn am Handy anrufen. Allerdings, da er wieder einmal sein Handy vergessen hatte – besser gesagt, vergessen hatte, wo er sein Handy vergessen hatte –, blieb ihm nichts anderes übrig, als abzuheben.

Sonntag, 5. Jänner, 9.45 Uhr

Am liebsten hätte er ihn mit der Telefonschnur gefesselt und wenigstens einige Minuten so sitzen gelassen.

Andererseits war er selber schuld, er hätte es einfach weiterklingeln lassen sollen.

Andererseits, hätte er ahnen können, dass ihn Straka kurz vor dreiundzwanzig Uhr anrufen würde?