Thomas Bräutigam
Klassiker des Fernsehfilms
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eISBN: 978-3-89472-803-8
ISBN: 978-3-89472-859-5
Vorwort
Abkürzungsverzeichnis
Die Klassiker des Fernsehfilms von A bis Z
«Top 20» – Die 20 besten Fernsehfilme
Bibliografie
Personenregister
Man kann ihn als «Volkswagen unter den Filmen» bezeichnen, als «Mäusekino», «kleiner Bruder der Leinwand», «poor cinema» – oder was einem an phantasievollen Herablassungen noch einfällt. Der Fernsehfilm tut sich schwer, neben seinem großen Kino-Bruder als eigenständiges Wesen – als «Kunstwerk» gar – wahrgenommen zu werden.
Das Kino ist fest in der Kulturgeschichte verankert. Der Film gehört zum «Kulturerbe», dem man «Denkmalpflege» angedeihen lässt.1 Es gibt einen akzeptierten Kanon an Werken, Regisseuren, Autoren, es gibt Festivals, Preise, Retrospektiven etc. Verglichen mit Hollywood-Glamour ist das, was das Fernsehen an fiktionaler Produktion zu bieten hat, tatsächlich eine graue Maus. Ein paar aktuelle Titel und Namen sind vielleicht präsent, solche aus der Geschichte des Fernsehfilms jedoch kaum.
Hat er überhaupt eine Geschichte? Er hat! Gibt es Fernsehfilme von künstlerischem Rang, von hoher Aussagekraft, deren Kenntnis unseren Horizont erweitern würde? Es gibt sie! Kann man sich davon sofort überzeugen, indem man sich diese Werke ansieht? Nein, man kann nicht!
Allein mit diesen drei Punkten wäre ein Buch über die «Klassiker» des Fernsehfilms hinreichend legitimiert. Die Behauptung indes, dass aus jenem kleinen Möbelstück im Wohnzimmer (vulgo: «Glotze») in den letzten fünf bis sechs Jahrzehnten außer Bonanza, Dallas, Kulenkampff und Gottschalk auch Meisterwerke herausgeflimmert sein sollen, ist insofern kühn, als sie sich nicht auf Anhieb überprüfen lässt. Denn die Produktionen sind nach ihrer Erstsendung und vielleicht einmaligen Wiederholung in den Archiven der Sender verschwunden – versunkenes Kulturgut, ein Schicksal, das in der Geschichte des Hörspiels2 seine Parallele hat.
Von diesem Archivbegräbnis ist eben nicht nur die routinierte Unterhaltungsware betroffen, sondern auch das einzelne Kunstwerk. Eberhard Fechners Dokumentarfilm über den Majdanek-Prozess (DER PROZESS, 1984), ein Werk, das in seiner Bedeutung neben Claude Lanzmanns SHOAH steht – möglicherweise sogar das Beste, was das deutsche Fernsehen in seiner Geschichte überhaupt hervorgebracht hat – ist für die Öffentlichkeit nicht zugänglich (keine Wiederholung, keine DVD), viele wissen gar nichts von seiner Existenz.
Dieser Befund macht die Sichtung und Auslese einzelner Fernsehspiele/Fernsehfilme (beide Begriffe sind hier synonym verwendet) zum Desiderat. Zunächst ist eine knappe Vergegenwärtigung der historischen Entwicklung angemessen. Wir können uns kurz fassen, an historiographischen Darstellungen ist kein Mangel3, wohl aber an der Analyse einzelner Filme.
Auf der Suche nach einer eigenständigen Kunstform grenzte sich das Fernsehen in seiner Frühphase (erste Hälfte der 1950er Jahre) vom Film scharf ab, orientierte sich eher an Theater und Hörspiel. Das Live-Spiel im Studio sollte eine autonome Kunstform begründen, die ähnlich wie die Hörspiel-Ästhetik der Zeit auf Intimität und Innerlichkeit ausgerichtet war. Der kleine Bildschirm schien prädestiniert für die Form des kleinräumigen Kammerspiels, eine Reduzierung und Kondensierung des Geschehens durch Nah- und Großaufnahmen von Gesichtern, eine Visualisierung von «inneren», «vergeistigten» Vorgängen. Damit wollte man ein den anderen Künsten wie Theater und Literatur vergleichbares Niveau erreichen, trotz – oder gerade wegen – der schütteren technischen Möglichkeiten eines von elektronischen Kameras fixierten Studiobetriebs. Diese theoretischen Zielsetzungen erwiesen sich als Sackgasse. Nicht nur war es schwierig, gute Autoren zu gewinnen – die Intellektuellen waren nicht bereit, sich für diesen belächelten kleinen Kasten herzugeben, die Hörspielarbeit dagegen war viel besser bezahlt –, spätestens mit der Einführung der Magnetaufzeichnung und der Produktion auf Filmmaterial Ende der fünfziger Jahre, war dieses Prinzip der «intimen Bühne» auch schon veraltet.
Die Ablösung vom Studio-Spiel (die langsam vonstattenging, die elektronische Kamera blieb weiter im Einsatz) und die Hinwendung zum Filmischen eröffneten nicht nur neue formale Möglichkeiten, sondern änderten auch die inhaltliche Ausrichtung der TV-Fiktionen. Nicht mehr die Weltliteratur, aus deren Stoffangebot man sich zuvörderst bediente, war das maßgebliche Modell, sondern die eigene Wirklichkeit, die Gesellschaft der Gegenwart, die Zeitgeschichte. Dieses neue Paradigma war nicht etwa von der Programmdirektion «von oben» verordnet, sondern resultierte aus äußeren Faktoren. Der sprunghafte Anstieg der Zuschauerzahlen ab etwa 1960, die jetzt erst einsetzende rasante Entwicklung zum Massenmedium – wie in den Kinosälen der fünfziger Jahre sammelte sich nun die gesamte Gesellschaft vor dem Gerät –, bewirkte eine generelle Tendenz zu aktuellen, reportageartigen, informierenden Programmanteilen, das Fernsehen politisierte sich mit Magazinen und Journalen (Thilo Koch, Peter von Zahn, Gert von Paczensky hießen die Protagonisten) und wurde selbst zu einer kritischen Instanz innerhalb einer Gesellschaft, die den Mief der fünfziger Jahre abzustreifen begann, sich nicht mehr primär über «Privatheit» und «Intimität» definierte, sondern über Politik und Gesellschaft debattierte. Auch die bislang erfolgreich praktizierte Verdrängung der deutschen Vergangenheit wurde nun empfindlich gestört. Die Fakten, die etwa der Eichmann-Prozess in Jerusalem oder der Auschwitz-Prozess in Frankfurt offenlegten, ließen sich nicht mehr ignorieren.
In diesen Prozess der Modernisierung ordnete sich auch die fiktionale Produktion des Fernsehens ein. Studiotheater und Literatur-Adaption wurden abgelöst vom «Original»-Fernsehspiel, das sich der Realität zuwandte oder Zeitgeschichte in szenischer Darstellung rekonstruierte. Die Probleme und Konflikte der zeitgenössischen Gesellschaft ließen sich in einer Spielhandlung besser und attraktiver darstellen als in den eigentlichen Politiksendungen. «Das Fernsehspiel entwickelte sich zu einem Forum der Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Fragestellungen»4. Nun begann die «Glanz»- und «Blütezeit» dieses Genres, das sich damit markant gegen den damaligen Kinofilm profilierte. Während die Filmindustrie mit Lümmel- und Schlagerfilmen und sonstigem eskapistischen Biedersinn aus der selbstverschuldeten Misere herauszufinden suchte, fanden Themen wie Familien- und Generationskonflikt, die Tristesse an den Arbeitsplätzen in Fabriken und Zechen, die deutsch-deutsche Teilung, die Verbrechen der Deutschen im Zweiten Weltkrieg fast ausschließlich im Massenmedium Fernsehen statt (der Holocaust allenfalls noch im Dokumentartheater, nicht jedoch in der Prosaliteratur, auch nicht im «Neuen Deutschen Film»).
Dieser Anspruch, der auch die Gelegenheit zum Experiment und zur Provokation bot, ließ sich nur mit engagiertem Personal in den Sendern behaupten. Redakteure wie Egon Monk und Dieter Meichsner in Hamburg oder Günter Rohrbach in Köln setzten den politischen Fernsehfilm – im krassen Gegensatz zur heutigen Praxis – auch notfalls gegen das Publikum durch (viel Gelegenheit zum Wegzappen war bei nur zwei Vollprogrammen ohnehin nicht, was zur Primetime lief, wurde auch gesehen).
Dieses kritische, aufklärerische Potential war nun auch attraktiv für Autoren und Regisseure aus Film, Theater, Literatur (Heinar Kipphardt, Dieter Wellershoff, Gabriele Wohmann, Peter Zadek, Tankred Dorst, Rainer Werner Fassbinder u. a.). Viele, die später im Kino erfolgreich waren, begannen damals beim Fernsehen (z. B. Peter Lilienthal, Wolfgang Petersen oder der Kameramann Jost Vacano).
Rückblickend lässt sich feststellen, dass der Fernsehfilm der 1960er und 1970er Jahre noch vor allen anderen kulturellen Gattungen wie ein Fundus der deutschen Zeit- und Alltagsgeschichte erscheint, als solcher ist er allerdings noch kaum gewürdigt worden.5
Dies gilt indirekt auch für die «Fernsehdramatik» der DDR, allerdings unter völlig anderen Bedingungen. Die Produktion unterlag den ideologischen Vorgaben, sie sollte das Wunschbild einer sozialistischen Gesellschaft zeigen, herauszulesen ist aus ihr eher die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Was als Realismus ausgegeben wurde, war meist unfreiwillig Utopie.
Der dezidiert sozialkritische Anspruch des Fernsehspiels in der Bundesrepublik schwächte sich in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre wieder ab. Da das «Spiel» auf dem Bildschirm immer mehr zu «Film» geworden war, begannen die von beiden Seiten lange gepflegten Grenzen zwischen Fernsehen und Kino zu fließen. Mit dem «Film-Fernseh-Abkommen» von 1974 finanzierten ARD und ZDF Koproduktionen, überließen der Filmwirtschaft das Erstaufführungsrecht und bekamen die Möglichkeit zur Fernsehausstrahlung garantiert. Diese Kontaminierung der beiden Medien hatte thematische und ästhetische Konsequenzen. Der «spezifische Fernsehblick auf die Wirklichkeit», der die sechziger Jahre charakterisierte, änderte sich: «Die Funktion aufklärerischer Kritik durch Fiktion begann schrittweise der Unterhaltungsfiktion des Kinos zu weichen»6. Auf der anderen Seite wurde der deutsche Film nicht nur finanziell vom Fernsehen abhängig: «Ästhetisch orientierten sich die Koproduktionen am Fernsehen, auch wenn sie in der Erstverwertung im Kino gezeigt wurden. (...) Der sogenannte Neue Deutsche Film muss vor diesem Hintergrund eigentlich als Neues Deutsches Fernsehen klassifiziert werden.»7 Viele Filme, die auf Festivals liefen oder Filmpreise erhielten waren faktisch Fernsehproduktionen (z. B. DER PLÖTZLICHE REICHTUM DER ARMEN LEUTE VON KOMBACH, FALSCHE BEWEGUNG, LINA BRAAKE, DIE VERLORENE EHRE DER KATHARINA BLUM), ohne dass dies sonderliche Erwähnung fand.
Dass das Fernsehspiel-Problemstück mit didaktisch-volkspädagogischer Intention selbst problematisch geworden war, zeigte 1979 geradezu sensationell und schockartig der US-Mehrteiler HOLOCAUST. Ein triviales Rührstück löste eine ungeheure Emotionalisierung und Betroffenheit aus, was dem gutgemeinten, artifiziellen, dokumentaristischen Fernsehfilm vorher nicht gelungen war (diese verspätete Erschütterung machte schlagartig evident, wie die Deutschen einer Verarbeitung von «Auschwitz» 35 Jahre lang aus dem Weg gegangen waren).
Nach diesem Muster setzte eine unselige Gefühls-Offensive im Fernsehen ein, das gesellschaftliche Konflikte von nun an zwar nicht umging, doch statt Systeme und Institutionen anzugreifen, lieber individuelle, private, melodramatisch aufgezogene Geschichten erzählte und auch vor zährenschindenden Stoffen nicht zurückschreckte. Die Einführung des kommerziellen Privatfernsehens verstärkte diese Tendenz nochmals, da den öffentlich-rechtlichen Sendern als Reaktion auf die plötzliche Konkurrenz nichts anderes einfiel, als sich bis zur Unkenntlichkeit an deren Trash-Angebot zu assimilieren und die eigenen Programme einem bis dahin nicht gekannten Quoten-Fetischismus zu unterwerfen.
Seitdem gibt es zwar auch im Fernsehfilm anspruchsvolle Produktionen mit Qualitäts-Niveau (und die Wiedervereinigung ließ auch das Interesse am Politischen wieder aufflammen), denen aber nur dann Erfolg zugetraut wird, wenn sie als Unterhaltung verpackt sind («Anpassung an veränderte Sehgewohnheiten» lautet die Formel des Opportunismus). Auch gute Autoren mit kritischem Anspruch sehen sich gezwungen, ihre Stoffe in einem Who-done-it-Krimi oder Frau-zwischen-zwei-Männern-Melo unterzubringen. Der ehedem aufrüttelnde und querdenkende Impetus mutierte zu «organisiertem Süßstoff mit integriertem Schlafmittel» (Dominik Graf über die berüchtigten «Degeto»-Produktionen).
Sechzig Jahre Fernsehspiel haben zweifellos ein Repertoire entstehen lassen, das jedoch aufgrund des eingangs konstatierten Eintagsfliegen-Daseins der meisten Produktionen (mit nachfolgender Deponierung in den Sender-Katakomben) weitgehend unbekannt geblieben ist. Eine kulturelle Öffentlichkeit, die dieses Genre angemessen (Buch, Film, Theater vergleichbar) rezipiert hätte, hat es nie gegeben. Die Titel sind zwar erfasst und katalogisiert,8 doch die maßgeblichen Autoren und Regisseure, die vorrangig oder gar ausschließlich für das Fernsehen gearbeitet haben, sind im Unterschied zu ihren Kollegen von Theater und Film im Schatten geblieben: Egon Monk, Dieter Meichsner, Franz Peter Wirth, Fritz Umgelter, Rainer Erler, Peter Beauvais, Rolf Hädrich, Rainer Wolffhardt, Eberhard Fechner, Axel Corti, Eberhard Itzenplitz, Oliver Storz, Peter Schulze-Rohr, Daniel Christoff, Wolfgang Menge oder Tom Toelle – um nur einige zu nennen. Über die Personen immerhin kann man sich in einem vortrefflichen Nachschlagewerk informieren,9 die Fernsehspiel-Geschichte ist ebenfalls geschrieben,10 doch wenn es um einzelne Werke geht, überschreiten die Mitteilungen zwei bis drei Sätze nur selten. Ein Lexikon der Fernsehfilme, das Inhalt, Analyse und Kritik verbindet, fehlte bislang (auch im sonst so geschwätzigen Internet herrscht bei diesem Thema mehr Vakuum als Substanz).
Die Kriterien für die in diesem Buch getroffene Auswahl sind durch die erwähnte Literatur bereits vorstrukturiert. Dort sind die kanonisierten Autoren und Regisseure genannt (für die Gegenwart ergänzen wir stellvertretend: Dieter Wedel, Heinrich Breloer, Dominik Graf, Jo Baier, Matti Geschonneck, Christian Görlitz, Andreas Kleinert, Stefan Kolditz, Beate Langmaack, Torsten C. Fischer, Stefan Krohmer, Lars Kraume, Roland Suso Richter, Max Färberböck, Hermine Huntgeburth). Zuvörderst aus deren Œuvre rekrutieren sich die «Klassiker». Gemeint sind damit Produktionen, die geeignet sind, ihre Entstehungszeit zu überdauern, weil sie ein stilistisch-ästhetisch hohes Niveau aufweisen und/oder gesellschaftlich bzw. zeitgeschichtlich relevante Probleme behandeln, sich vielleicht gar experimentell gebärden. Nicht jeder Klassiker ist ein hehres Kunstgebilde, auch die zu ihrer Zeit umstrittenen Filme, die Debatten auslösten, gehören dazu, desgleichen die populären Publikumsrenner («Straßenfeger» wie etwa die Durbridge-Mehrteiler). Auch die Auszeichnung mit dem renommierten Adolf-Grimme-Preis wirkt repertoirebildend (die Preisträger sind im Lexikonteil mit markiert). Insgesamt sollte eine Auswahl von knapp 300 Produktionen einen repräsentativen Querschnitt durch die Fernsehspiel-Geschichte ergeben, «Geschichte», die selbstverständlich bis in die Gegenwart reicht. Wem dieser Kanon zu groß ist, der sei auf die «Top 20» im Anhang verwiesen.
Abzugrenzen ist der Fernsehfilm von der hier nicht berücksichtigten Fernsehserie.11 Serien bestehen aus in sich abgeschlossenen Episoden, ein «Mehrteiler» hingegen ist ein Film mit durchgehender Handlung, der nur wegen seiner Länge mehrere Folgen hat. So WEIT DIE FÜSSE TRAGEN, ACHT STUNDEN SIND KEIN TAG, BERLIN ALEXANDERPLATZ oder HEIMAT sind daher keine Serien, sondern mehrteilige Filme, die gleichwohl «seriell», d. h. auf ihre Mehrteiligkeit hin erzählt sein können.12 Ein Unikat wie DIE UNVERBESSERLICHEN findet hier dennoch Aufnahme: die einzelnen Folgen liefen nur im Jahresabstand.
Verzichtet wurde auf einige Fernsehfilme, die im Kino erfolgreich waren, da diese schon in der Film-Literatur besprochen sind (z. B. DIE KONSEQUENZ, DIE ABFAHRER, DIE POLIZISTIN, WOLFSBURG, HIERANKL). Die oben erwähnte Praxis der Koproduktionen macht eine Unterscheidung zwischen Fernseh- und Kinofilm ohnehin problematisch, im Zweifelsfall gilt der Ort der Erstaufführung. Selbstverständlich war die Auswahl auch davon abhängig, ob die Filme dem Autor überhaupt zugänglich waren.
Die einzelnen Artikel bestehen aus Produktionsdaten, «Cast & Crew», einer Inhaltsangabe, einer Bewertung bzw. historischen Einordnung und/ oder einem Zitat aus Rezensionen oder auch aus der Begründung der Jury des Adolf-Grimme-Preises. Ergänzend folgen Hinweise auf Textausgaben, Forschungsliteratur und DVD-Editionen. Ziel ist grundsätzlich, komprimierte Information über den Film zu liefern, im Idealfall den Leser auf ein Werk neugierig zu machen. Die Möglichkeit, diese Neugier auch zu befriedigen, besteht – siehe oben – in vielen Fällen nicht. Mit diesem Buch auf verborgene Schätze aufmerksam zu machen, ergibt letztlich nur Sinn, wenn diese der Öffentlichkeit auch zugänglich sind. Filme wollen gesehen, nicht nur beschrieben werden.13
1vgl. Anna Bohn: Denkmal Film, 2 Bde., Wien/Köln/Weimar 2013.
2In dieses «Schicksal» hat der Verfasser schon einmal versucht einzugreifen: Thomas Bräutigam:Hörspiel-Lexikon, Konstanz 2005.
3Der akademische Zirkel, der sich mit «Fernsehspiel-Forschung» beschäftigt, ist klein, deshalb fallen immer wieder die gleichen Namen: Knut Hickethier: Das Fernsehspiel der Bundesrepublik, Stuttgart 1980. Knut Hickethier: Geschichte des deutschen Fernsehens, Stuttgart/Weimar 1998. Knut Hickethier: Das Fernsehspiel oder Der Kunstanspruch der Erzählmaschine Fernsehen, in: Helmut Schanze / Bernhard Zimmermann (Hrsg.): Das Fernsehen und die Künste, München 1994, S. 303–348. Irmela Schneider: Das Fernsehspiel. Wie es war, ist und sein könnte, in: Helmut Kreuzer / Karl Prümm (Hrsg.): Fernsehsendungen und ihre Formen, Stuttgart 1979, S. 25–52. Thomas Koebner: Das Fernsehspiel – Themen und Motive, in: Peter von Rüden (Hrsg.): Das Fernsehspiel. Möglichkeiten und Grenzen, München 1975, S. 20–64. Weitere Titel in der Bibliografie im Anhang.
4Joan Kristin Bleicher: Das kleine Kino? TV Movies im Deutschen Fernsehen, in: Harro Segeberg (Hrsg.): Film im Zeitalter Neuer Medien I. Fernsehen und Video, München 2011, S. 225–248; 229.
5Mit einer Ausnahme: Martin Wiebel (Hrsg.): Deutschland auf der Mattscheibe. Die Geschichte der Bundesrepublik im Fernsehspiel, Frankfurt 1999. Diese Publikation ging hervor aus einer Retrospektive des deutschen Fernsehspiels im Rahmen der Ausstellung «Einigkeit und Recht und Freiheit, Wege der Deutschen 1949–1999» in Berlin.
6Bleicher (wie Anm. 4), S. 230.
7Lothar Mikos: Amphibischer Film versus transmediale Erzählung. Zu den komplexen Wechselbeziehungen von Film und Fernsehen, in: Thomas Schick / Tobias Ebbrecht (Hrsg.): Kino in Bewegung. Perspektiven des deutschen Gegenwartsfilms, Wiesbaden 2011, S. 137–154; 140f.
8Durch die vom Deutschen Rundfunkarchiv herausgegebene Reihe von Verzeichnissen: Fernsehspiele in der ARD 1952–1972, Die Fernsehspiele 1973–1977, Lexikon der Fernsehspiele 1978–1987, nachfolgend jeweils Jahresbände.
9Eine wahre Fundgrube, natürlich längst vergriffen: Egon Netenjakob: TV-Filmlexikon. Regisseure, Autoren, Dramaturgen 1952–1992, Frankfurt 1994.
10Siehe Anm. 3.
11Die Fernsehserie ist lexikalisch schon sehr gut erschlossen: Harald Keller: Kultserien und ihre Stars, Reinbek 1999. Martin Compart: Crime TV. Lexikon der Krimi-Serien, Berlin 2000. Thomas Hruska / Joan Evermann: Der neue Serien-Guide, Berlin 2004. Michael Reufsteck / Stefan Niggemeier: Das Fernsehlexikon, München 2005. Thomas Klein / Christian Hißnauer (Hrsg.): Klassiker der Fernsehserie, Stuttgart 2012.
12Zu Definitionen und Differenzkriterien vgl. z. B. Knut Hickethier: Film und Fernsehanalyse, Stuttgart 21996, S. 183 ff., Klein/Hißnauer (wie Anm. 11), S. 9 ff.
13Das Ziel wäre erreicht, wenn zumindest die hier vorgestellten Titel komplett auf DVD vorliegen. Hingewiesen sei auch auf die «Programmgalerie» im Film- und Fernsehmuseum Berlin, ein frei zugängliches Archiv mit Hunderten von Fernsehproduktionen.
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P DFF 1974/79 Sd 1., 4., 6.1.1974, 25.8.1979, DFF (4 Teile) R Klaus Gendries B Hermann Rodigast, Klaus Gendries K Eberhard Borkmann, Hans-Jürgen Sasse M Rudi Werion Sz Norbert Günther, Udo Scharnowski S Vera Nowark T Rosemarie Linde, Horst Mathuschek Ko Maria Welzig
D Erik S. Klein (Erwin Mai), Rolf und Rudi Lemcke (Kalle und Kulle), Marianne Wünscher (Elsbeth), Martin Trettau (Fred), Helga Labudda (Monika), Ewa Szykulska (Sybille), Erich Petraschk (Opa Büttner), Ina Reuter (Fränze), Volkmar Kleinert (Edgar Seinert), Maria Mallé (Ulla Lindig), Hans Teuscher (Buchholz), Janett Koos (Sophia), Kathrin Brose (Birgit), Günter Wolf (Bork)
Der geschiedene Erwin Mai ist als Alleinerziehender mit seinen 11-jährigen Zwillingen Kalle und Kulle überfordert. In seinem Betrieb ist er zwar ein As, aber zu Hause ein Versager. Das findet zumindest seine Schwester Elsbeth, die sich um die Zwillinge kümmert. Sie drängt Erwin, wieder zu heiraten, da die Kinder, die mit ihren Streichen Nachbarn und Lehrer zur Verzweiflung bringen, unbedingt eine Mutter brauchen. Gegen diesen Wunsch sträuben sich sowohl Erwin als auch Kalle und Kulle, aber Erwin kommt schließlich zur Einsicht, dass es so nicht mehr weiter geht. Seine Partnersuche führt zunächst zu einer ziemlich jungen Reisebekanntschaft, doch die Zwillinge favorisieren die Karussellbesitzerin Marion, die er dann auch heiratet. Kalle und Kulle sind zufrieden, sie haben nicht nur eine Mutter, sondern auch eine 7-jährige Schwester. Doch neue Turbulenzen lassen nicht lange auf sich warten, vor allem, als die erste Ehekrise ausbricht. Der vierte Teil spielt fünf Jahre später. Die Kinder sind inzwischen Teenager und haben nun ganz andere Probleme. Außerdem ist noch ein vierjähriges Schwesterchen da. Als die Mutter auf einen Lehrgang geht, steht schon kurz nach ihrer Abreise alles Kopf.
Dieser familienserienartige TV-Mehrteiler war einer der größten Publikumserfolge des DDR-Fernsehens. Er spiegelt einen Trend im DDR-Fernsehspiel der 70er Jahre wider, den des betont apolitischen, komödiantischen Reflektierens der Alltagswelt (vgl. FLORENTINER 73). ABER VATI bezweckte jedoch nicht nur Unterhaltung, sondern sollte auch die Bewältigung alltäglicher Erziehungsprobleme vermitteln. Diese didaktische Komponente zeigt sich vor allem im sich verändernden Verhalten des Vaters, der zu einem größeren Verantwortungsbewusstsein findet und seine neue Frau, die er zunächst nur der Kinder wegen geheiratet hat, als wirkliche Partnerin schätzen lernt. Auf einem wesentlich höheren Niveau und mit negativ akzentuierten Männerfiguren problematisiert der Mehrteiler EVA UND ADAM die Partnerbeziehung in der sozialistischen Gesellschaft.
Literatur: Klaudia Wick: Ein Herz und eine Serie. Wie das Fernsehen Familie spielt, Freiburg 2006, S. 98–112.
DVD: Studio Hamburg / DDR TV-Archiv
ABGEFAHREN! (1995) |
P ZDF 1995 Sd 20.3.1995, ZDF R/B Uwe Frießner K Hartwig Strobel M Axel Donner Ko Anne-Gret Oehme
D Susanne Bormann (Pattie), Pierre René Müller (Sven), Philipp Dümcke (Fabian), Ilona Schulz (Mutter), Eduard Burza (Olaf), Thomas Frindt (Lars), Stefan Riedner (Pit), Markus Kunze (Aki), Janusz Cichocki (Leszek)
Eine Straßengang von noch nicht ganz 14-jährigen (also noch nicht strafmündigen) Kids im Plattenbau-Milieu des Berliner Ostens klaut Autos. Sie veranstalten damit Wettrennen und ab und zu auch einen Crash. Da sie noch nicht strafmündig sind, kann die Polizei nicht mehr tun, als sie jedesmal nach Hause zu schicken zu ihren kaputten Familien. Svens Mutter nimmt Drogen, Patties Mutter, Kassiererin im Supermarkt, angelt sich ständig die falschen Kerle. Den Eltern flattern allerdings saftige Rechnungen der Autoversicherer ins Haus. Pattie unterschlägt diese Post, da ihre Mutter niemals 12000 Mark aufbringen könnte. Deshalb «professionalisieren» Pattie und Sven ihr Hobby: Sie verschachern die geklauten Wagen an eine polnische Autoschieber-Gang. Bei Verfolgungsjagden mit der Polizei gibt es neue Blechschäden und neue Forderungen der Autoversicherer. Aus diesem Teufelskreis finden die Protagonisten nicht mehr heraus, Patties Mutter erhängt sich. Dennoch hat der Film einen harmoniehaft-irrealen, wohl ironisch gemeinten Schluss: Pattie und ihr Freund verlassen Hand in Hand das Bild in eine Mond-Kulisse.
Frießners Film dringt zwar nicht zu den gesellschaftlichen Hintergründen von Jugendkriminalität vor, doch zeichnet er sentimentalitäts- und pathosfrei ein stimmiges Bild einer von ihren Eltern sich selbst überlassenen Generation, die unentschieden zwischen Abenteuerlust und Sehnsucht nach Harmonie schwankt. Die Jury des Adolf-Grimme-Preises würdigte bei ihrer Preiszuerkennung vor allem die Sprache des Mädchens: «Im Mittelpunkt und am Ende des Films (...) steht die knapp 14-jährige Pattie, die eine eigene, überlebenstüchtige Individualität gewonnen hat. Sie ist nicht den Verhältnissen ausgeliefert, sondern gewinnt ein beeindruckend eigenständiges Profil. Dies gelingt vor allem durch zweierlei: Das Mädchen spricht mit anderen (...) in einer Sprache, die genau ist. Kein Wort überflüssig, aufgesetzt, belehrend. Dies wird abgesichert durch die überzeugende schauspielerische Leistung von Susanne Bormann. Was ‹cool› unter Jugendlichen meint, kann man selten so genau erfahren, wie bei Pattie.»
«Kein Meisterwerk, aber eine sehr direkte, zum Nachdenken anregende Momentaufnahme.»
(Dieter Deul, FR,22.3.1995)
ABGEHAUEN (1998) |
P WDR 1998 Sd 3.6.1998, ARD R Frank Beyer B Ulrich Plenzdorf, Frank Beyer L Manfred Krug K Eberhard Geick Sz Thomas Knappe S Clarissa Ambach T Elisabeth Mondi Ko Ingrid Zoré RAss Irene Weigel D Peter Lohmeyer (Manfred Krug), Karoline Eichhorn (Ottilie), Hermann Lause (Werner Lambertz), Peter Donath (Manfred S), Ann-Kathrin Kramer (Erika S), Uwe Kockisch (Jurek Becker), Jürgen Hentsch (Stefan Heym), Ute Lubosch (Christa Wolf), Manfred Gorr (Gerhard W), Karl Kranzkowski (Heiner Müller), Hermann Beyer (Frank Beyer), Thomas Dehler (Ulrich Plenzdorf), Matthias Günther (Klaus S), Ulrich Matthes (Eberhard Esche), Thomas Neumann (Eberhard H), Viktor Deiß (Heinz A), Günter Junghans (Jochen H), Gunter Schoß (Hans Dieter M)
Am 20.11.1976, kurz nach der Biermann-Ausbürgerung, wogegen die herausragenden DDR-Künstler eine Protestnote unterschrieben hatten, versammelten sich in Manfred Krugs Haus Autoren, Regisseure und Schauspieler (u. a. Stefan Heym, Christa Wolf, Jurek Becker, Heiner Müller, Frank Beyer, Ulrich Plenzdorf) und eine Abordnung des Politbüros, um «vertraulich» über die Krise zwischen Staat und Künstlern zu reden. Denn die Protestnote hatte bei den DDR-Oberen wie ein Bombe eingeschlagen: «Das Wort ‹Protest› rast wie eine Bowling-Kugel unter die Politbüro-Kegel: Alle Neune» (Krug). Krug ließ bei dem Gespräch heimlich ein Tonband mitlaufen. Die Künstler drängen auf eine Rücknahme der Ausbürgerungs-Entscheidung und auf eine Veröffentlichung ihrer Protestnote in der DDR (die dort nur aus den West-Medien bekannt ist). Werner Lambertz, Chef der Agitations-Abteilung im Politbüro, mimt den Gekränkten, zu einer Einigung kommt es nicht. Am 19.4.1977 stellt Krug einen Ausreiseantrag und pocht auf den offiziellen Instanzenweg. Der Kulturminister versucht, ihn mit Zugeständnissen zu halten. Lambertz erhebt Einspruch gegen den Antrag und will Krug «zwingen» hierzubleiben, sieht aber letztlich ein, dass es keinen Sinn hat. Krug hat Angst, dass eine Rufmordkampagne das Verhältnis zu seinem Publikum zerstört, und dass er im Westen in seinem Alter von vorn beginnen müsste. Außerdem ist er mit einem IM unter seinen Freunden konfrontiert. Schließlich ist es soweit: Manfred Krug wird an der Bornholmer Brücke von TV-Reporter Dirk Sager in Empfang genommen.
Gedreht wurde zwar im Westen, aber mit Original-Requisiten aus Krugs Haus. Er selbst tritt als ironischer Kommentator zwischen den Szenen auf.
Die als «Docu-Fiction» inszenierte und sich ganz auf die wörtlichen Dialoge konzentrierende Umsetzung von Manfred Krugs Erinnerungsbuch wurde mit dem Adolf-Grimme-Preis ausgezeichnet. Die Jury konstatierte in ihrer Begründung: «Die für Unbeteiligte unbegreifliche Nähe von Geborgenheit und Bedrohung, Freundschaft und Bespitzelung, der Sehnsucht und Zusammengehörigkeit und der Flucht voreinander, auch bei den Mitgliedern der Künstler-Elite, setzten Beyer und Plenzdorf in kaum bewegte, aber um so bewegendere Bilder um.»
ABGETRIEBEN (1992) |
P ZDF 1992 Sd 27.9.1992, ZDF R/B Norbert Kückelmann K Jürgen Jürges M Markus Urchs Sz Franz Bauer S Siegrun Jäger Ko Marianne Schultz T Manfred Banach
D Hanns Zischler (Dr. Heß), Jörg Hube (Gerichtsvorsitzender), Edgar Selge (Block), Axel Milberg (Stern), Bernd Herberger (Staatsanwalt Kranz), Dominik Raacke (Richter Fromm), Günter Gräwert (Oberstaatsanwalt), Monika Schwarz (Frau Heß), Christine Neubauer (Frau Sommer), Saskia Vester (Frau Stein), Aslahan Özay (Frau Zefir), Franziska Walser (Frau Schröder), Barbara Dickmann (Frau Reich), Ruth Drexel (Ministerin), Doris Schade (Frau Dr. Krauss)
Der Gynäkologe Dr. Heß führt Schwangerschaftsabbrüche durch, auch wenn die Frauen kein vorgeschriebenes Beratungsattest haben. Ihm genügt es, wenn er von deren sozialer oder psychischer Notlage und ihrer Entschlossenheit zur Abtreibung überzeugt ist. Nach einem anonymen Hinweis dringt die Steuerfahndung in seine Praxis ein (Dr. Heß hat die Abtreibungsgebühren nicht versteuert), beschlagnahmt die Patientenkartei und leistet faktisch Amtshilfe für die Staatsanwaltschaft, die aufgrund dieser Patientendaten ein großangelegtes Ermittlungsverfahren wegen unerlaubten Schwangerschaftsabbruchs einleitet. Unter Missachtung des Arztgeheimnisses und der Persönlichkeitsrechte werden Hunderte von Frauen zu intimsten Aspekten ihrer privaten Verhältnisse vernommen und mit Verfahren überzogen. Der Arzt kommt in U-Haft, muss für die Kaution sein Haus belasten und die Praxis aufgeben. Der Prozess, der im Mittelpunkt des Films steht, nimmt inquisitionsartige Züge an. Während Staatsanwaltschaft und Richter mit unerbittlicher Härte vorgehen und ein Staats- und Rechtsverständnis zur Schau stellen, das sich vom Gerechtigkeitsdenken weit emanzipiert hat, macht die Verteidigung den Prozess zu einem öffentlichen Forum, das die Fragwürdigkeit der Überprüfung psychischer und sozialer Notlagen durch juristische Kategorien in den Mittelpunkt stellt.
Der Film beruht auf dem aufsehenerregenden Prozess gegen den Memminger Frauenarzt Dr. Theissen, der 1989 zu zweieinhalb Jahren Haft und drei Jahren Berufsverbot verurteilt wurde. 174 Frauen erhielten Geldstrafen (von 900 bis 3200 Mark). Die Spielszenen orientieren sich an den Prozessakten. Dem temporeichen, krimiartigen Beginn folgte der langsame, auf die Verhandlungs-Mechanik fokussierte dokumentarische Gerichts-Teil, der auch nicht vor vermeintlich spröden juristischen Texten zurückschreckt. Bei der Zuerkennung des Adolf-Grimme-Preises bemerkte die Jury: «Mit präziser Schauspielerführung (...) gelang dem Regisseur Kückelmann eine differenzierte Analyse des Gerichtsverfahrens, des gesellschaftlichen Klimas und der Machtverteilung. Diese ZDF-Produktion belegt zudem, dass unspektakuläre Formen des politischen Fernsehspiels eine Dramatik entfalten können, an denen es vielen bunten Stücken heute mangelt.»
P WDR 1972 Sd 29.10., 17.12.1972, 21.1., 18.2., 18.3.1973 (5 Teile), ARD R/B Rainer Werner Fassbinder K Dietrich Lohmann M Jean Gepoint (= Jens Wilhelm Petersen) Sz Kurt Raab S Marie-Anne Gerhardt RAss Renate Leiffer, Eberhard Schubert
D Gottfried John (Jochen), Hanna Schygulla (Marion), Luise Ullrich (Oma), Werner Finck (Gregor), Anita Bucher (Käthe), Wolfrid Lier (Wolf), Christine Oesterlein (Klara), Renate Roland (Monika), Kurt Raab (Harald), Irm Hermann (Irmgard Erlkönig), Andrea Schober (Sylvia), Wolfgang Zerlett (Manfred), Torsten Massinger (Manni), Wolfgang Schenck (Franz), Herb Andress (Rüdiger), Rudolf Waldemar Brem (Rolf), Hans Hirschmüller (Jürgen), Peter Gauhe (Ernst), Karl Scheydt (Peter), Victor Curland (Kretzschmer), Rainer Hauer (Gross)
Fassbinder akzeptierte bei seinem Ausflug in die TV-Unterhaltung zwar die Grundmuster von Unterhaltungsserien, aber zum erstenmal stand nun der Arbeiter im Mittelpunkt, wobei Arbeitswelt und Privatleben nicht nebeneinander herlaufen, sondern miteinander verknüpft sind. Jochen steht mit seiner Werkzeugmacher-Arbeitsgruppe unter Leistungsdruck. Nachdem durch seine Idee der Arbeitsvorgang entscheidend erleichtert wird, bekommt er zwar eine Prämie, doch der Betrieb streicht die Leistungszulage. Die Arbeiter reagieren mit Sabotage und produzieren absichtlich Schrott. Jochen lernt Marion kennen, seine Oma sucht zusammen mit ihrem neuen Freund Gregor zunächst vergeblich eine bezahlbare Wohnung und gründet stattdessen einen Kindergarten, bei dessen Einrichtung Jochens Kollegen helfen. In seinem Betrieb kommt es zum Konflikt zwischen seiner Arbeitsgruppe und der Betriebsleitung, weil ihnen ein neuer Meister von außen vorgesetzt wird, während sie einen von ihren Leuten durchsetzen wollen. In der 4. Folge stehen die Scheidung von Jochens Schwester Monika sowie Jochens und Marions Heiratspläne im Mittelpunkt, die Marions Mutter zu durchkreuzen versucht. In der letzten gedrehten Folge führt die geplante Verlegung des Betriebes an den Stadtrand zu einer Diskussion über die generelle Verbesserung der Arbeitsbedingungen. Die Arbeiter schlagen einen neuen Arbeitsrhythmus vor, dem die Betriebsleitung überraschend zustimmt. Marions Arbeitskollegin Erlkönig überwindet ihre Vorurteile gegen Arbeiter und verliebt sich in einen, den sie auf Marions Hochzeitsfeier kennen gelernt hat. Nach der 5. Folge wurde die Reihe vom WDR aus «dramaturgischen Gründen» abgesetzt, weil die geplanten Fortsetzungen angeblich so viel Gewerkschaftsproblematik enthielten, dass sie den Unterhaltungswert konterkariert hätten.
ACHT STUNDEN SIND KEIN TAG war zwar beim Publikum erfolgreich, wurde jedoch von links und rechts gleichermaßen kritisiert. Der Vorwurf richtete sich vor allem gegen den mangelnden Realismus und die geradezu märchenhaften Züge der Handlung: Alles, was die Arbeiter und solche Außenseiter-Figuren wie Oma und Gregor initiieren und anpacken, wird zum Erfolg. Diesen Märchen-Aspekt verstand Fassbinder aber gerade als den eigentlichen aufklärerischen Impetus. Die Arbeiter sind frei, selbstbewusst, solidarisch und frech und zeigen dadurch modellhaft wie es sein könnte, wenn die tatsächlichen Zustände zu überwinden wären.
Ein Jahr zuvor hatte der WDR einen Arbeiterfilm der ganz anderen Art produziert: die realistische Dokumentation ROTE FAHNEN SIEHT MAN BESSER von Theo Gallehr und Rolf Schübel über die Stilllegung eines Chemiewerks in Krefeld aus der Sicht der entlassenen Arbeiter. Im Film kommen ausschließlich Betroffene zu Wort, ihre Interpretation der Vorgänge, ihre Reaktionsweisen, ihre Formen der Selbstorganisation.
Text in: Fassbinders Filme 4 + 5, Frankfurt: Verlag der Autoren, 1991 (einschl. d. nicht gedrehten Folgen).
Literatur: Peter Märtesheimer: Die Okkupation eines bürgerlichen Genres. Anmerkungen zu der Sendereihe ACHT STUNDEN SIND KEIN TAG, in: Fernsehen und Bildung 7, 1973, S. 25–30. – Wolfgang Gast / Gerhard R. Kaiser: Kritik der Fernsehspielkritik. Das Beispiel von Fassbinders ACHT STUNDEN SIND KEIN TAG, in: Jörg Drews (Hrsg.): Literaturkritik – Medienkritik, Heidelberg 1977, S. 103–116. – Klaus Ulrich Militz: Personal Experience and the Media. Medial Interplay in Rainer Werner Fassbinder’s Work for Theatre, Cinema and Televison, Frankfurt 2006, S. 195–213.
P ZDF 2001 Sd 2., 4., 7., 9., 12., 14.1. 2002, ZDF (6 Teile) R/B Dieter Wedel K Grzegorz Kedzierski M Rainer Kühn, Michael Landau Sz Thomas Gehrig, Winfried Hennig, Maximilian Johannsmann Ko Stefanie Bieker S Benjamin Hembus, Norbert Herzner T Heinz Günther Türksch
D Stefan Kurt (Sigi Semmeling), Heike Makatsch (Silke), Fritz Lichtenhahn (Bruno), Antje Hagen (Trude), Mario Adorf (Beton-Walter), Robert Atzorn (Hennig), Heinz Hoenig (Axel Ropert), Andrea Sawatzki (Susanne Ropert), Heiner Lauterbach (Asmus), Christian Berkel (Fred Kiefer), Florian Martens (Hans Janisch), Anja Kling (Barbara Kramer), Annika Pages (Doris Berg), Richy Müller (Charly Wiesner), Dieter Pfaff (Hermann Schomberg), Jürgen Tarrach (Peter Scheller), Gundi Ellert (Erika Vonhoff), Matthias Redlhammer (Schmalstein), Maja Maranow (Katja Aschberg), Maria Bachmann (Helga Mauer), Magnus Johannsen (Benny)